ISSN 1977-236X KE-BC-11-002-DE-C Leitfaden Soziales Europa Teil 2 Sind Sie an den Veröffentlichungen der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration interessiert? Unter der folgenden Adresse können Sie sich auch gerne für den kostenlosen E-Newsletter Social Europe der Europäischen Kommission anmelden: http://ec.europa.eu/social/e-newsletter http://ec.europa.eu/social/ www.facebook.com/socialeurope Leitfaden Soziales Europa – Teil 2 Dann können Sie diese unter folgender Adresse herunterladen oder kostenfrei abonnieren: http://ec.europa.eu/social/publications Sozialer Dialog Sozialer Dialog WO ERHALTE ICH EU-VERÖFFENTLICHUNGEN? Kostenlose Veröffentlichungen: • über EU Bookshop (http://bookshop.europa.eu); • bei den Vertretungen und Delegationen der Europäischen Union. Die entsprechenden Kontaktdaten finden sich unter http://ec.europa.eu oder können per Fax unter der Nummer +352 2929-42758 angefragt werden. 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Weder die Europäische Kommission noch Personen, die in ihrem Namen handeln, sind für die Verwendung der in dieser Veröffentlichung enthaltenen Informationen verantwortlich. © Illustrationen Umschlag: 123RF Für die Benutzung oder den Nachdruck von Fotos, die nicht dem Copyright der Europäischen Union unterstellt sind, muss eine Genehmigung direkt bei dem/den Inhaber(n) des Copyrights eingeholt werden. Der Dienst Europe Direct soll Ihnen helfen, Antworten auf Ihre Fragen zur Europäischen Union zu finden Einheitliche gebührenfreie Rufnummer (*): 00 800 6 7 8 9 10 11 (*) E inige Mobilfunkanbieter gewähren keinen Zugang zu 00 800-Nummern oder berechnen eine Gebühr. Weitere Informationen über die Europäische Union sind im Internet erhältlich (http://europa.eu). Katalogisierungsdaten und eine Inhaltsangabe befinden sich am Ende der Veröffentlichung. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2012 ISBN 978-92-79-21308-3 ISSN 1977-236X doi:10.2767/44738 © Europäische Union, 2012 Nachdruck mit Quellenangabe gestattet. Printed in Luxembourg Gedruckt auf elementar chlorfrei gebleichtem Papier (ECF) Vorwort László Andor Für Beschäftigung, Soziales und Integration zuständiges Mitglied der Europäischen Kommission In den letzten fünf Jahrzehnten der europäischen Integration wurde deutlich, dass der soziale Dialog auf EU-Ebene eine entscheidende Rolle dabei spielt, das europäische Sozialmodell zum Nutzen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern sowie von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt voranzubringen. Im Oktober 2011 feierten wir das 20-jährige Bestehen der Vereinbarung der Sozialpartner, die später im Maastricht-Vertrag festgelegt wurde. Sie stellte Verfahren für eine enge Einbindung der Sozialpartner in die Gestaltung und Umsetzung der EU-Beschäftigungs- und Sozialpolitik auf. Der soziale Dialog hat beim Aufbau des Binnenmarktes eine zentrale Rolle gespielt. Heute ist er für die Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung und den Aufbau einer Wirtschaftsunion unverzichtbar. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die EU und die Mitgliedstaaten in die Stärkung des sozialen Dialogs sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene investieren, wenn Trennung zwischen Kapital und Arbeit, ein Rückgang des europäischen Wachstums- und Beschäftigungspotenzials, größere wirtschaftliche Ungleichgewichte und eine zunehmende wirtschaftliche Ausgrenzung bestimmter Regionen oder Gruppen im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise verhindert werden sollen. Wir brauchen branchenübergreifenden und sektoralen Dialog sowie den Dialog innerhalb der Unternehmen. Der soziale Dialog ist autonom, die Sozialpartner tragen jedoch eine große Verantwortung, wenn es darum geht, die wichtigsten strukturellen Herausforderungen anzugehen, die in den nächsten Jahren auf Europa zukommen. Die Erfahrung der Krise hat bisher gezeigt, wie der soziale Dialog dazu beitragen kann, die Auswirkungen des Konjunkturabschwungs zu lindern, für Stabilität und Widerstandsfähigkeit zu sorgen und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder gar zu steigern. Besonders auf nationaler Ebene hat die Sozialpartnerschaft in vielen Ländern geholfen, die Krise zu bewältigen. Wie Kapitel 5 verdeutlicht, hielten Mitgliedstaaten mit starkem sozialem Dialog dem Sturm am besten Stand. In einigen Ländern mit traditionell gering ausgeprägtem sozialem Dialog haben sich als Reaktion auf die Krise nationale branchenübergreifende Verhandlungen herausgebildet. Der Weg zur Erholung Europas besteht aus Maßnahmen zur gegenseitigen Stärkung in Bezug auf die Modernisierung der Wirtschaft, die Verbesserung der Umwelt und soziale Investitionen, wie in der Strategie Europa 2020 dargelegt. Institutionen des sozialen Dialogs auf EU-Ebene, wie der Dreigliedrige Sozialgipfel, und die enge Einbindung der Sozialpartner in die Vorbereitung und Umsetzung nationaler Reformprogramme sind entscheidend, wenn gewährleistet werden soll, dass die Haushaltskonsolidierung auf eine Art und Weise durchgeführt wird, die die Wirtschaftsleistung Europas stärkt. Der soziale Dialog hilft ebenfalls sicherzustellen, dass Reformen der Arbeitsmärkte und Sozialschutzsysteme 3 gerecht und wirkungsvoll sind und dass Europa der Übergang zu einer ressourcenschonenden, kohlenstoffarmen Wirtschaft gelingt. Einige dringende Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise, insbesondere in Ländern mit makroökonomischen Stabilisierungsprogrammen, könnten bestehende Formen des sozialen Dialogs und Tarifverträge zunichte machen. Aber wenn Europa tragfähige wirtschaftliche und soziale Strukturen erhalten und langfristigere Herausforderungen angehen möchte, muss es danach streben, aus der Krise mit mehr und nicht mit weniger sozialem Dialog hervorzugehen. Ohne einen starken Dialog zwischen den Sozialpartnern und ohne die institutionellen Kapazitäten, die sein Funktionieren auf allen Ebenen ermöglichen, werden wir weder die Ziele von Europa 2020 erreichen, noch wird Europa in der Lage sein, das von Mitbestimmung geprägte Wesen seiner Wirtschaft und Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Tatsächlich ist der soziale Dialog in vielen der Mitgliedstaaten, die der EU in den Jahren 2004 und 2007 beitraten, jedoch weiterhin schwach ausgebildet. In einigen Fällen gibt es auch eine Tendenz, die dreigliedrigen Strukturen zu untergraben, abzuwerten oder gar zu beseitigen. Die Aushöhlung von Tarifverträgen und anderen sozialen Rechten könnte Teil impliziter „Sozialdumping“-Strategien sein. Derartige Ansätze sind schlecht für Europa und schlecht für die betroffenen Länder sowie wirtschaftlich und sozial untragbar. Das Vertrauen zwischen den Teilnehmern am sozialen Dialog könnte auch durch unterentwickelte institutionelle Kapazitäten eingeschränkt werden. Auf nationaler Ebene hat sich das in manchen Fällen in einer gescheiterten Entwicklung von gemeinsamen zwei- oder dreigliedrigen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise niedergeschlagen. Auf EU-Ebene können derartige Schwächen die Legitimität von Prozessen der wirtschaftspolitischen Steuerung mindern und die Umsetzung politischer Maßnahmen untergraben. Aus diesem Grund bietet die Kommission durch den Europäischen Sozialfonds und zahlreiche transnationale Projekte Unterstützung für den Kapazitätenaufbau der Sozialpartner. Ich ermutige die Sozialpartner und Regierungen, diese Unterstützung in Anspruch zu nehmen und gemeinsam für einen stärkeren, stabileren Dialog in der gesamten EU einzutreten. 4 Inhalt Vorwort............................................................................................3 Kapitel 1 – Eine Einführung in den sozialen Dialog..........................7 Interview mit den branchenübergreifenden Sozialpartnern.......... 24 Kapitel 2 – E in kurzer Überblick über die institutionelle Geschichte des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene............. 33 EWSA‑Meldung.............................................................................. 43 Kapitel 3 – Funktionsweise des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene...... 45 Stimme aus dem Europäischen Parlament..................................... 56 Kapitel 4 – W as wurde beim sozialen Dialog auf EU‑Ebene erreicht?................................................. 59 IAO‑Meldung...............................................................................76 Kapitel 5 – Der soziale Dialog und die Krise.................................79 Kapitel 6 – Künftige Entwicklungen und Herausforderungen Die Sozialpartner und Europa 2020.............................87 Interview mit der Ratspräsidentschaft.........................................92 Anhänge...................................................................99 Weitere Informationen............................................103 Glossar....................................................................104 6 © ImageGlobe Kapitel 1 Eine Einführung in den sozialen Dialog Was ist sozialer Dialog? In den Mitgliedstaaten der EU spielen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer­ organisationen gemeinsam eine wichtige Rolle und nehmen Einfluss auf Entwicklungen am Arbeitsplatz und in der Wirtschaft und Gesellschaft allgemein. Art und Umfang dieser Rolle unterscheiden sich von Land zu Land erheblich (siehe S. 16). Sie beinhaltet die Festlegung von Vergütungs- und Beschäftigungsbedingungen über Tarifverträge auf verschiedenen Ebenen, Stellungnahmen gegenüber Regierungen und anderen Behörden im Rahmen von Anhörungen (womit zur Gestaltung von Recht und Politik in Bereichen wie Beschäftigung beigetragen wird), die gemeinsame Verwaltung oder Überwachung von Bereichen wie soziale Sicherheit, Weiterbildung oder Gesundheit und Sicherheit oder einfach die Erörterung von Fragen von beiderseitigem Interesse. Diese Prozesse können formell oder informell sein, sie können auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen be­grenzt sein oder auch die Regierung und andere Behörden mit einbeziehen. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen – Arbeit­geberverbände und Gewerkschaften – sind in vielen Mitgliedstaaten als die „Sozialpartner“ bekannt. Die Wechselbeziehungen zwischen ihnen und mit den Behörden werden oft als „sozialer Dialog“ bezeichnet. Dieser Begriff wird oftmals weiter gefasst, um den Dialog an einzelnen Arbeitsplätzen einzubeziehen. Hierbei informieren, beraten und verhandeln die Arbeitgeber mit ihren Arbeitnehmern und deren Vertretern über Fragen im Zusammenhang mit Beschäftigung und Unternehmensangelegenheiten. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) definiert sozialen Dialog als „alle Arten von Verhandlungen, Konsultationen oder Informationsaustausch zwischen oder unter Vertretern von Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern über Fragen von gemeinsamem Interesse im Zusammenhang mit der Wirtschaftsund Sozialpolitik“. Der Dialog kann die „Form eines Dreiparteienprozesses annehmen, wobei der Staat offizielle Partei des Dialogs ist, oder auch nur zwischen zwei Parteien – den Vertretern der Arbeitnehmer und der Unternehmensleitung (bzw. der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) – geführt werden, mit oder ohne direkte Beteiligung der Regierung“. Sozialer Dialog hat sich auf der Ebene der Europäischen Union herausgebildet, was seine weit verbreitete Praxis in den Mitgliedstaaten widerspiegelt (und an sie gekoppelt ist). Formen von sozialem Dialog waren bereits bei Gründung 7 der Europäischen Gemeinschaften gegenwärtig, und heute ist der soziale Dialog im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert (Artikel 151-155, siehe Kapitel 2 unten) und spielt in vielen Bereichen der EU‑Politik und EU‑Maßahmen eine Rolle. Die vorliegende Veröffentlichung erläutert diesen Dialog, seinen Hintergrund, seine Entwicklung, seinen Ablauf und seine Errungenschaften sowie die Herausforderungen, denen er heute gegenübersteht. Die Grundlagen des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene Im Rahmen der EU beinhaltet der soziale Dialog eine Reihe von Verfahren und Vorkehrungen, wobei Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf EU‑Ebene Gespräche und Verhandlungen führen, anderweitig zusammenarbeiten und gemeinsam an der politischen Entscheidungsfindung der EU beteiligt sind. Der Dialog nimmt zwei grundlegende Formen an und findet auf zwei Hauptebenen statt. Seine Form ist entweder: • zweigliedrig, d. h., es sind nur die Sozialpartner beteiligt (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen), oder • dreigliedrig, d. h., es sind sowohl die Sozialpartner als auch die EU‑Institutionen beteiligt. Die zwei Hauptebenen des Dialogs sind: • branchenübergreifend, d. h. ein Dialog, dessen Geltungsbereich die gesamte EU‑Wirtschaft und den gesamten EU‑Arbeitsmarkt sowie alle Sektoren umfasst, und • sektoral, d. h., er deckt eine bestimmte Branche in der gesamten EU ab. Die Organisationen, die am Dialog teilnehmen, unterscheiden sich je nach Ebene. Auf branchenübergreifender Ebene (siehe Kasten 1) sind die Gewerkschaften in erster Linie durch den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) und die Arbeitgeber durch BusinessEurope (hauptsächlich Arbeitgeber im privaten Sektor), CEEP (Arbeitgeber im öffentlichen Dienst) und UEAPME Kasten 1. Die branchenübergreifenden Sozialpartner Die wichtigste branchenübergreifende Gewerkschaftsorganisation, die am sozialen Dialog auf EU-Ebene beteiligt ist, ist der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Die Mitglieder des EGB setzen sich aus 83 nationalen Gewerkschaftsverbänden aus 36 Ländern plus zwölf europäischen Gewerkschaftsverbänden zusammen, die nationale Gewerkschaften vereinen, die in bestimmten Branchen tätig sind. Insgesamt vertritt der EGB 60 Millionen Gewerkschaftsmitglieder in ganz Europa. 8 Auch der Rat der europäischen Fach- und Führungskräfte (Eurocadres) ist unter der Schirmherrschaft des EGB tätig. Er vertritt über 5 Millionen Fach- und Führungskräfte, die an den EGB angeschlossenen Gewerkschaften angehören. Außerhalb des EGB führt die Europäische Vereinigung der leitenden Angestellten (CEC) 17 nationale Organisationen zusammen, die Fach- und Führungskräfte aus 15 Ländern vertreten, sowie neun Verbände, die nationale Gewerkschaften von Fach- und Führungskräften bestimmter Branchen vereinen. Die CEC vertritt 1,5 Millionen Mitglieder. Die Europäische Kommission hört sowohl Eurocadres als auch die CEC als branchenübergreifende Sozialpartner an, die bestimmte Kategorien von Arbeitnehmern vertreten. Die beiden Organisationen haben ferner innerhalb der EGB-Delegation einen Verbindungsausschuss eingerichtet, über den sie an branchenübergreifenden Verhandlungen auf EU-Ebene teilnehmen. Auf Arbeitgeberseite gibt es zwei allgemeine branchenübergreifende Sozialpartner: • Zu den Mitgliedern von BusinessEurope zählen 41 nationale Arbeitgeber aus 35 europäischen Ländern. Er vertritt 20 Unternehmen aller Größenordnungen, hauptsächlich im privaten Sektor. • Der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) vertritt einzelne Unternehmen und Arbeitgeberverbände im öffentlichen Dienst – sowohl Organisationen, die teilweise oder vollständig in öffentlicher Hand sind, als auch solche, die Tätigkeiten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ausüben, unabhängig von ihrem rechtlichen/Eigentümerstatus. Er besteht aus 19 Sektionen, die sich aus einzelnen Arbeitgebern und Verbänden zusammensetzen, und vier angeschlossenen Branchenorganisationen auf europäischer Ebene. Die Mitglieder des CEEP beschäftigen 30 % der Arbeitnehmer in der EU. Die Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME) wird von der Kommission als branchenübergreifende Organisation angehört, die bestimmte Unternehmenskategorien vertritt. Die UEAPME vereint 40 nationale branchenübergreifende Verbände für KMU und Handwerksbetriebe aus 26 EU-Mitgliedstaaten, plus assoziierte Mitglieder, darunter nationale KMU-Organisationen aus Drittstaaten und 29 sektorale KMUOrganisationen auf EU-Ebene. Die UEAPME vertritt über 12 Millionen Unternehmen mit mehr als 55 Millionen Beschäftigten. Sie nimmt gemeinsam mit BusinessEurope und dem CEEP an der Arbeitgebergruppe für Dialog und Verhandlungen mit dem EGB teil. 9 (kleine und mittlere Unternehmen) vertreten. Auf Sektorebene (siehe Kasten 2) handelt es sich bei den Sozialpartnern um Organisationen, die nationale Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zusammenbringen, die in ganz Europa in einer bestimmten Branche tätig sind. Zweigliedriger sozialer Dialog – der Schwerpunkt dieser Publikation – findet sowohl branchenübergreifend als auch auf Sektorebene statt. Ausschüsse für den sozialen Dialog wurden, unterstützt von der Europäischen Kommission, auf branchenübergreifender Ebene in 40 Sektoren eingerichtet. In diesen Ausschüssen können die Sozialpartner auf eigene Initiative Fragen von beiderseitigem Interesse erörtern, gemeinsame Aufgaben ausführen sowie Vereinbarungen und andere gemeinsame Entwürfe aushandeln. Des Weiteren hört die Kommission die branchenübergreifenden und sektoralen Sozialpartner zu einer großen Bandbreite von Themen an, und die Partner können über die Ausschüsse für den sozialen Dialog gemeinsame Antworten erarbeiten. Wenn es um Fragen der Beschäftigungs- und Sozialpolitik geht, hat die Kommission die Pflicht, die Sozialpartner zu möglichen EU‑Maßnahmen (z. B. Kasten 2. Die sektoralen Sozialpartner Insgesamt sind 62 Arbeitgeberverbände auf europäischer Ebene, die nationale Arbeitgeberverbände einer bestimmten Branche vertreten, an den Ausschüssen für den sektoralen sozialen Dialog in der EU beteiligt. Diese werden von der Europäischen Kommission zu Fragen der Sozial- und Beschäftigungspolitik angehört. Diese Organisationen variieren beträchtlich in Größe und Umfang. Einige vertreten alle bzw. die meisten großen Branchen (z. B. Metallverarbeitung/ Maschinenbau oder kommunale/regionale Behörden), und andere vertreten relativ kleine Teilsektoren (z. B. Flugabfertigung oder Kaliproduktion). Ausschüsse für den sektoralen Dialog umfassen häufig zwei oder mehr Arbeitgeberorganisationen. Im Gegensatz dazu nehmen nur 17 Gewerkschaftsorganisationen am sektoralen Dialog auf EU‑Ebene teil und werden förmlich von der Kommission angehört. Der Großteil davon sind dem EGB angeschlossene europäische Gewerkschaftsverbände (siehe Kasten 1), wie der Europäische Metallarbeiterbund oder der Europäische Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst. Während die sektoralen Gewerkschaftsorganisationen in der Größe variieren, haben sie tendenziell eine größere Reichweite als sektorale Arbeitgeberverbände auf EU‑Ebene und decken oft mehr als eine Branche ab, wobei mehrere von ihnen in mehr als einem sektoralen Ausschuss vertreten sind. 10 Gesetzgebung) anzuhören, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, einzeln oder gemeinsam zu antworten und gegebenenfalls Vereinbarungen in Bezug auf die betreffenden Fragen auszuhandeln, die unter gewissen Umständen durch eine EU‑Richtlinie Rechtsgültigkeit erlangen können. Der dreigliedrige soziale Dialog findet hauptsächlich auf branchenübergreifender Ebene statt. Er umfasst verschiedene Einrichtungen und Prozesse, die den Sozialpartnern die Möglichkeit geben, Fragen mit den EU‑Institutionen zu erörtern und zur Debatte und Politik in Bereichen wie Wirtschaft und Verkehr beizutragen (siehe Kasten 4). Es ist auch eine Aufgabe der EU, den europäischen sozialen Dialog in einzelnen Unternehmen zu fördern. Die Gesetzgebung ermöglicht die Einrichtung Europäischer Betriebsräte (EBR) in multinationalen Konzernen, die in der EU tätig sind. Diese bieten Vertretern der Unternehmensführung und der Arbeitnehmer ein Forum des Dialogs in Bezug auf transnationale Themen (siehe Kasten 3). Warum brauchen wir sozialen Dialog auf EU‑Ebene? Die Länder Europas haben eine eigene Organisationsweise ihrer Gesellschaften und Volkswirtschaften entwickelt, die als das „europäische Sozialmodell“ bekannt geworden ist. Es wird allgemein anerkannt, dass dieses Modell mindestens nachhaltiges Wirtschaftswachstum, einen hohen und steigenden Lebensstandard, hohe Beschäftigungsniveaus, eine hohe Bildungsqualität, umfassende Systeme für Wohlfahrt und Sozialschutz, ein geringes Maß an Ungleichheit und ein hohes Maß an Solidarität umfasst und – was vor dem aktuellen Hintergrund entscheidend ist – den Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern und dem Dialog zwischen ihnen einen großen Stellenwert einräumt. Der soziale Dialog gilt als integraler Bestandteil des europäischen Sozialmodells. Der Beweis für einen gemeinsamen Glauben an dieses Modell sind die Europäischen Gemeinschaften selbst, die in den 1950er Jahren aus sechs Mitgliedstaaten entstanden, und die Verträge zur Gründung der Gemeinschaften. Nachdem die Gemeinschaften in den folgenden 50 Jahren wuchsen und immer stärker integriert und schließlich zur Europäischen Union wurden, wurden die Werte des europäischen Sozialmodells immer fester in den nachfolgenden Verträgen verankert. Der soziale Dialog ist einer dieser Werte. Aufgrund der bedeutenden Rolle des sozialen Dialogs in den Mitgliedstaaten (besonders in den Gründerstaaten und den Staaten, die bis Ende des 20. Jahrhunderts beitraten) wurde er in die institutionellen Mechanismen und Prozesse sowie in diejenigen der politischen Entscheidungsfindung aufgenommen, die diese Länder auf europäischer Ebene geschaffen haben. 11 Der soziale Dialog ist Teil des europäischen Sozialmodells, weil er den demokratischen Grundsatz vertritt (enthalten in Artikel 11 des Vertrags über die Europäische Union – EUV), dass repräsentative Vereinigungen die Möglichkeit haben sollten, ihre Meinungen zu äußern, von den Behörden angehört zu werden und mit ihnen einen Dialog zu führen, sowie die Ansicht, dass es gerecht ist, Arbeitnehmer und Arbeitgeber in die Entscheidungsfindung zu Themen, die sie direkt betreffen, einzubeziehen. In der Charta der Grundrechte der EU ist ferner das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen (Artikel 27) und das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen (Artikel 28) verankert. Das europäische Sozialmodell beinhaltet den sozialen Dialog jedoch auch, weil dieser Dialog konkrete Vorteile bringt, und das nicht nur für die beteiligten Organisationen. Die Sozialpartner verfügen über einzigartige Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf die Gegebenheiten der Beschäftigungs- und sozialen Situation „an Kasten 3. Europäische Betriebsräte Die wichtigsten Foren für den EU‑weiten sozialen Dialog innerhalb von Unternehmen stellen die Europäischen Betriebsräte (EBR) dar. Ausgehend von einer EU‑Richtlinie, die 1994 verabschiedet (und 2009 geändert) wurde, können EBR – im Zuge seitens der Arbeitnehmer oder der Unternehmensführung eingeleiteter Verhandlungen – in multinationalen Konzernen eingerichtet werden, sofern diese mindestens 1 000 Beschäftigte in den Mitgliedstaaten des Europä­ ischen Wirtschaftsraums und mindestens 150 Beschäftigte in jedem von mindestens zwei Mitgliedstaaten zählen. Im April verfügten gemäß den Daten des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (EGI) 917 multinationale Konzerne über EBR. Etwa 18 000 Arbeitnehmervertreter sitzen in EBR und vertreten die Interessen von ungefähr 18 Millionen Beschäftigten. Der zentrale Zweck von EBR besteht darin, die Arbeitnehmer über transnationale Fragen zu informieren und zu beraten. Einzelheiten über die Arbeitsweise und die Rolle von EBR werden in jedem betroffenen multinationalen Konzern einzeln vereinbart, aber in der Regel bringen sie die zentrale Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertreter aus ganz Europa mindestens einmal im Jahr zu einem Dialog über die Leistung und Aussichten des Unternehmens und Angelegenheiten wie Beschäftigung, Restrukturierung und Personalpolitik zusammen. Treten zwischen regelmäßigen Treffen wichtige Ereignisse ein, wie z. B. Standortschließungen oder Entlassungen größeren Ausmaßes, so muss die Unternehmensleitung in 12 der Regel den EBR unterrichten und anhören. In einigen EBR erfolgen Unterrichtung und Anhörungen kontinuierlicher, oftmals im Rahmen eines kleineren ausgewählten Ausschusses. Während die wichtigste Rolle der EBR gemäß der Richtlinie in einem Forum für Unterrichtung und Anhörung besteht, hat sich der Dialog in einigen Fällen weiterentwickelt, und die Unternehmensführung und die Arbeitnehmervertreter haben über Angelegenheiten auf europäischer Ebene verhandelt. In über 60 EBR wurden Vereinbarungen im Zusammenhang mit Themen wie Restrukturierung, soziale Verantwortung von Unternehmen, Gleichstellung und Gesundheit und Sicherheit unterzeichnet. Untersuchungen zeigen, dass EBR neben einer verbesserten Kommunikation zwischen Arbeitnehmervertretern aus verschiedenen Ländern sowie zwischen diesen Vertretern und der zentralen Unternehmensleitung einen positiven Einfluss auf die Entscheidungsfindung und das Nachvollziehen von Managemententscheidungen durch die Arbeitnehmer haben, das Vertrauen erhöhen, eine europaweite Unternehmenskultur schaffen und Veränderungen antizipieren und bewältigen können. Seit 2004 haben Unternehmen, die in mehr als einem Mitgliedstaat tätig sind, die Möglichkeit, als Gründungsform die eines Europäischen Unternehmens (Societas Europaea oder SE) zu wählen oder sich in ein solches zu transformieren, das statt auf nationalem auf EU‑Recht beruht. Eine Richtlinie legt die besonderen Regelungen in Bezug auf die Arbeitnehmerbeteiligung in SE fest. Die Einzelheiten werden in jedem SE ausgehandelt, aber grundsätzlich beinhaltet die Beteiligung transnationale Unterrichtung und Anhörung durch ein EBR‑artiges Organ sowie die Arbeitnehmerbeteiligung auf Vor­ standsebene, sofern diese Form der Beteiligung in dem oder den Unternehmen, das/die das SE gegründet hat/haben, zur Anwendung kam. (In vielen Mitgliedstaaten gibt es auf nationaler Ebene eine gesetzliche Arbeitnehmervertretung auf Vorstandsebene.) Laut Angaben des EGI waren im Juni 2011 über 800 SE registriert. Viele waren nicht geschäftstätig oder hatten keine Mitarbeiter und existierten in erster Linie auf dem Papier, aber in den solideren SE waren über 70 Vereinbarungen im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerbeteiligung unterzeichnet worden. Alle sorgen für Unterrichtung und Anhörung durch ein EBR‑artiges Organ, während 34 zudem die Beteiligung auf Vorstandsebene festlegen. Diese Arbeitnehmervertretung in Vorständen multinationaler Konzerne ist der größte Beitrag der SE zum sozialen Dialog. 13 der Basis“. Sie zu konsultieren und ihnen zuzuhören kann deshalb die politische Lenkung und Koordination in diesem Bereich verbessern. Darüber hinaus befinden sich die Sozialpartner in einer einmalig günstigen Position, um durch den Dialogund Verhandlungsprozess, der ihre Beziehung auszeichnet, arbeitsbezogene Fragen anzusprechen – wie z B. Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit, Gleichstellung, Gesundheit und Sicherheit sowie Weiterbildung. Mit dem Erreichen von Vereinbarungen können sie auf eine Art und Weise Kompromisse erzielen und ihre Interessen ausgleichen, wie es der Gesetzgebung oft nicht möglich ist. Die Vorzüge des sozialen Dialogs sind in den Mitgliedstaaten seit langem allgemein anerkannt – wenn auch in unterschiedlichem Maße. Mit der stärkeren Integration der europäischen Wirtschaft bzw. des europäischen Arbeitsmarktes und der Herausbildung einer erweiterten politischen Rolle der EU im Bereich Beschäftigung und Soziales sind die EU‑Institutionen und Mitgliedstaaten zunehmend zu der Ansicht gelangt, dass ähnliche Vorteile durch sozialen Dialog auf europäischer Ebene erzielt werden können. Sozialer Dialog und der „gemeinschaftliche Besitzstand“ Der Gesamtbestand an Rechten und Pflichten, der für die Mitgliedstaaten der EU verbindlich ist, wird als „gemeinschaftlicher Besitzstand“ bezeichnet. Er umfasst sämtliche EU‑Verträge, Gesetze, Erklärungen, Resolutionen, internationale Abkommen, Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union und so weiter. Wenn neue Länder der EU beitreten wollen, müssen sie den Besitzstand akzeptieren und anwenden. Der soziale Dialog ist Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes, weil er durch den Vertrag gefördert wird und ihm eine spezielle Rolle im Entscheidungsfindungsprozess der EU zukommt (siehe Kasten 9). Beitrittsstaaten müssen daher über Strukturen und Maßnahmen im Zusammenhang mit dem sozialen Dialog sowie über Sozialpartner verfügen, die in der Lage sind, im Dialog auf EU‑Ebene eine effektive Rolle zu spielen. Sie müssen dem sozialen Dialog auch Rechnung tragen, wenn sie den Besitzstand in ihre einzelstaatlichen Bestimmungen aufnehmen. Kasten 4. Dreigliedriger branchenübergreifender sozialer Dialog Diese Veröffentlichung konzentriert sich in erster Linie auf den zweigliedrigen sozialen Dialog zwischen den Sozialpartnern. Der dreigliedrige Dialog – auch als Konzertierung bezeichnet – zwischen den Sozialpartnern und den EU‑Institutionen spielt jedoch ebenfalls eine wichtige Rolle. Er geht zurück auf eine Reihe von „dreigliedrigen 14 Konferenzen“, die in den 1970er Jahren zu Beschäftigungsfragen abgehalten wurden und auf europäischer Ebene die Sozialpartner, die Kommission und nationale Regierungen an einen Tisch brachten. Im Jahr 1970 richtete der Rat auf Ersuchen der Sozialpartner einen Ständigen Ausschuss für Beschäftigungsfragen (SAB) ein, um einen anhaltenden Dialog, gemeinsame Maßnahmen und Anhörungen im Zusammenhang mit der Beschäftigungspolitik zwischen den EU‑Institutionen, nationalen Regierungen und den Sozialpartnern zu gewährleisten. Der SAB diente bis in die frühen 2000er Jahre als Forum für den dreigliedrigen Dialog. Im Laufe der 1990er Jahre begannen die Sozialpartner und der Rat, außerhalb des SAB zu verhandeln. Branchenübergreifende Partner auf EU‑Ebene begannen im Vorfeld von Zusammenkünften des Rates für Beschäftigung und Soziales, Minister zu treffen, und ab 1996 trafen die Partner die „Troika“ der aktuellen und künftigen Ratspräsidentschaften am Vorabend von Tagungen des Europäischen Rates. Unterdessen wurde die Nützlichkeit des SAB als ein Forum für Anhörung und Dialog von den Beteiligten zunehmend in Frage gestellt. Er wurde im Jahr 1999 reformiert und gestrafft und in die Europäische Beschäftigungsstrategie integriert. Die Sozialpartner fanden allerdings nicht, dass die Reform zu erheblichen Verbesserungen geführt habe. Deshalb forderten sie 2001, den SAB durch einen dreigliedrigen Ausschuss für die Konzertierung im Zusammenhang mit der Lissabon‑Strategie für Wachstum und Beschäftigung zu ersetzen (wie es in der Praxis bereits geschah). Durch einen Beschluss des Rates wurde 2003 offiziell ein Dreigliedriger Sozialgipfel (der den SAB ersetzte) mit der Aufgabe eingerichtet, einen ständigen Dialog zwischen dem Rat, der Kommission und den Sozialpartnern über die Wirtschafts- und Sozialstrategie der Union zu gewährleisten (siehe Kasten 10). Ein Dreigliedriger Dialog über bestimmte EU‑Politikbereiche begann auch Mitte der 1990er Jahre, und heute sind die branchenübergreifenden Partner an strukturierten Debatten und Anhörungen mit den EU‑Institutionen und nationalen Regierungen sowohl auf politischer als auch auf fachlicher Ebene zu einer Vielzahl von Themen beteiligt. Dazu zählen makroökonomische Belange, Beschäftigungspolitik, Sozialschutz und Bildung/Weiterbildung. Im Jahr 2011 organisierte die Kommission das erste „dreigliedrige Sozialforum“, um Fragen rund um ihre Leitinitiative „Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“ und ganz allgemein die Strategie Europa 2020 insgesamt zu erörtern. 15 Sozialer Dialog in den Mitgliedstaaten Sozialer Dialog findet in allen 27 EU‑Mitgliedstaaten statt, wobei seine Bedeutung von Land zu Land beträchtlich schwankt. Er nimmt viele Formen an, sowohl zweigliedrig als auch dreigliedrig (oder eine Kombination aus beiden), und findet auf branchenübergreifender und sektoraler Ebene statt. Die verschiedenen nationalen Strukturen des Dialogs spiegeln die unterschiedlichen geschichtlichen Hintergründe und wirtschaftlichen und politischen Situationen der Länder wider. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht darin, dass in den meisten westeuropäischen Ländern aktuelle Formen des Dialogs weitgehend auf denen beruhen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, während sie sich in den meisten zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten nach der politischen Wende der späten 1980er und frühen 1990er Jahre herausbildeten. An dieser Stelle liefern wir eine kurze Momentaufnahme der aktuellen Situation in der gesamten EU. Es ist jedoch zu beachten, dass Dialogvereinbarungen und -prozesse selten statisch sind und im Laufe der Jahre in vielen Ländern kontinuierliche Veränderungen erfahren haben. Zum Beispiel hat die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise den sozialen Dialog in einigen Mitgliedstaaten angeregt, während sie in anderen zum Zusammenbruch bestehender Vereinbarungen geführt hat (siehe S. 79). 16 Zweigliedriger branchenübergreifender Dialog In vielen Mitgliedstaaten gibt es den zweigliedrigen sozialen Dialog zwischen branchenübergreifenden Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden. In der Regel spielt er jedoch in den Ländern, die der EU vor 2004 beigetreten sind, eine bedeutendere Rolle im Bereich der Arbeitsbeziehungen als in den jüngeren Mitgliedstaaten. In den vor 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten (EU-15) findet der Dialog in Form von regelmäßigen branchenübergreifenden Tarifverhandlungen über Lohnerhöhungen und andere allgemeine Arbeitsbedingungen – was einen Rahmen für Tarifverhandlungen auf Sektor- und/ oder Unternehmensebene schafft – derzeit nur in Belgien, Griechenland und Spanien statt, obwohl er noch bis vor kurzem in Irland und Finnland gängige Praxis war und in der Vergangenheit auch in anderen Ländern zu beobachten war. In den neuen Mitgliedstaaten wurden nationale zweiseitige Vereinbarungen dieser Art vor allem in Rumänien (auch wenn diese Praxis 2011 eingestellt wurde) und, bis zu einem gewissen Grad, in Slowenien geschlossen. Sowohl in Bulgarien als auch in Ungarn haben die branchenübergreifenden Sozial­ partner (in einigen Jahren) unverbindliche allgemeine Empfehlungen zu Lohnerhöhungen vereinbart. Abgesehen von regelmäßigen nationalen Tarifverhandlungen sind branchenübergreifende Vereinbarungen über bestimmte Belange – wie Weiterbildung, Beschäftigung, Gesundheit und Sicherheit und Verhandlungsregeln – in einer Reihe von EU-15-Staaten Teil der Arbeitsbeziehungen. Dazu zählen Belgien, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Schweden und Spanien. In einigen Fällen wird der Dialog zu diesen Themen von der Regierung angestoßen, und die erreichten Vereinbarungen können Rechtsgültigkeit erlangen (womit die Grenze zwischen zweigliedrigem und dreigliedrigem Dialog verschwimmt). Unter besonderen Umständen können die branchenübergreifenden Partner in anderen Ländern gemeinsame Sofortmaßnahmen ergreifen. So gaben z. B. die Partner in Ländern wie Dänemark, Deutschland und Österreich während des derzeitigen Konjunkturabschwungs gemeinsa­me Empfehlungen für Änderungen der Kurzarbeitsregelungen ab. Eine besondere Form von in hohem Maße autonomem branchenübergreifendem Dialog findet sich in Dänemark und Schweden und bis zu einem gewissen Grad in Finnland. Hier stellen vielmehr die nationalen Organisationen der Sozialpartner und weniger die Gesetzgebung durch „grundlegende Vereinbarungen“ viele der verfahrensrechtlichen „Spielregeln“ für Tarifverhandlungen und andere Fragen im Zusammenhang mit den Arbeitsbeziehungen auf. © ImageGlobe Besonders in Belgien und den Niederlanden ist der zweigliedrige branchenübergreifende Dialog tief verwurzelt. Nationale Strukturen bringen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen hier in einer laufenden Debatte und zwecks Verhandlung von Vereinbarungen zusammen. Sie fungieren ferner als beratende Organe für die Regierung. Frankreich verfügt über ein besonderes System, wonach die Sozialpartner gemeinsam und weitgehend autonom für wichtige Bereiche wie soziale Sicherheit, Arbeitslosenversicherung und Berufsausbildung zuständig sind. 17 Zweiseitige Vereinbarungen zu bestimmten Themen sind in den neuen Mitgliedstaaten nicht weit verbreitet. Diese Praxis hat sich in Bulgarien und im Hinblick auf den nationalen Mindestlohn in Estland herausgebildet, während es einige wenige Beispiele in Ländern wie Zypern und Lettland gibt. Darüber hinaus führte die aktuelle Wirtschaftskrise zur ersten zweiseitigen branchenübergreifenden Vereinbarung in Polen (siehe Kasten 14). Seit den 1990er Jahren hat die Zunahme des zweigliedrigen branchenübergreifenden sozialen Dialogs auf EU‑Ebene zur Entwicklung eines nationalen zweigliedrigen Dialogs in einigen Ländern beigetragen, in denen er zuvor weitgehend unbekannt oder begrenzt war. Die Notwendigkeit, auf EU‑Ebene „autonome“ Vereinbarungen umsetzen zu müssen (siehe Kasten 13), hat die nationalen Sozialpartner dazu geführt, dass sie auf nahezu beispiellose Weise den Kasten 5. Aktuelle Beispiele für nationale zweiseitige branchenübergreifende Vereinbarungen • Die in Belgiens zweigliedrigem Nationalen Arbeitsrat vertretenen Sozialpartner gelangten im April 2009 zu einer Vereinbarung, die die Arbeitgeber zur Einführung von vorbeugenden Drogen- und Alkoholrichtlinien verpflichtet. Sie legt die Grundsätze solcher Richtlinien fest und enthält Regelungen zu Themen wie Tests von Mitarbeitern, Information, Beratung und Weiterbildung. • Zwischen April und Juli 2011 unterzeichneten französische Sozialpartnerorganisationen eine Folge von vier Vereinbarungen über die Beschäftigung von Jugendlichen. Die Abkommen legten gemeinsame Maßnahmen und Verpflichtungen in Bereichen wie der Förderung des Zugangs zu Beschäftigung, kombinierte Arbeits- und Ausbildungsprogramme, Praktika und Wohnen fest. • Im Jahr 2010 unterzeichneten die Sozialpartner in Spanien (wie es seit 2002 zumeist üblich ist) eine branchenübergreifende Rahmenvereinbarung, die Richtlinien für Tarifverhandlungen auf Branchen- und Unternehmensebene enthält. Der Hauptzweck dieser Drei‑Jahres‑Vereinbarung besteht im Schutz und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Sie empfiehlt mäßige Lohnerhöhungen und eine Reihe von Maßnahmen zur Vermeidung und Begrenzung von Arbeitsplatzverlusten, zur Förderung unbefris­ teter Beschäftigung, zur Entwicklung von Flexibilität vonseiten der Arbeitnehmer, zur Bewältigung der Restrukturierung und zur Verbesserung der Weiterbildung. 18 zweigliedrigen Dialog aufnahmen und in Ländern wie Lettland, dem Vereinigten Königreich und Zypern neue Formen von Vereinbarungen oder anderen gemeinsamen Vorgehensweisen erreichten. Dreigliedriger branchenübergreifender Dialog Eine Mehrheit der Mitgliedstaaten (und beinahe alle, die der EU in den Jahren 2004 und 2007 beitraten) verfügt über eine offizielle nationale Einrichtung, in deren Rahmen Arbeitgeber-, Gewerkschafts- und Regierungsvertreter (und bisweilen weitere Interessengruppen) allgemeine wirtschaftliche und soziale Fragen erörtern können. Die Rolle und die Befugnisse dieser Stellen unterscheiden sich erheblich; für gewöhnlich haben sie jedoch eine beratende Rolle bei Gesetzesentwürfen und politischen Maßnahmen, insbesondere in beschäftigungsbezogenen Bereichen, und können manchmal ein Forum für die Aushandlung von Vereinbarungen bieten. Zusätzlich verfügen viele Staaten auch über dreigliedrige Gremien, die sich mit bestimmten Fragen auseinandersetzen, darunter soziale Sicherheit, Beschäftigung, Weiterbildung sowie Gesundheit und Sicherheit. Dabei kann es sich um eigenständige Organe oder um Untereinheiten der wichtigsten nationalen dreigliedrigen Institution handeln. In den EU-15 findet sich eine Art nationales wirtschaftliches und soziales Forum mit Vertretung der Sozialpartner in Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal und Spanien, wohingegen es in Finnland ein Forum gibt, das sich nur mit Wirtschaftsfragen befasst. Im Falle von Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien sind die Sozialpartner wie auch Organisationen der Zivilgesellschaft im Allgemeinen in diesen Organen vertreten. Luxemburg und Portugal verfügen ferner über spezifischere nationale dreigliedrige Konzertierungsgremien. In Belgien nehmen die nationalen zweigliedrigen Institutionen eine beratende Rolle gegenüber der Regierung ein. Es kann schwierig sein, die Grenzen zwischen dreigliedrigem und zweigliedrigem Dialog genau zu bestimmen. Zum Beispiel müssen in Frankreich die Sozialpartner zu jedem gesetzgeberischen oder politischen Vorschlag in Bezug auf individuelle und kollektive Arbeitsbeziehungen, Beschäftigung und Berufsausbildung von der Regierung angehört werden. Sie erhalten die Gelegenheit, branchenübergreifende Vereinbarungen im Zusammenhang mit den zur Diskussion stehenden Fragen auszuhandeln, wobei diese einen Rahmen für jeden Gesetzesvorschlag zum betreffenden Thema bieten. Die Regierung legt die Tagesordnung für diese Form des sozialen Dialogs fest. In den vergangenen zehn Jahren wurden in den EU-15 wie Irland, Italien, die Niederlande, Portugal und Spanien bedeutende dreiseitige Vereinbarungen unterzeichnet. Die Themen umfassen die allgemeine wirtschaftliche und soziale Entwicklung, 19 Sozialfürsorge, Renten, die Reform des Arbeitsmarktes/-gesetzes, Weiterbildung, Gesundheit und Sicherheit, Mindestlöhne und Reaktionen auf die Wirtschaftskrise. Die Dreigliedrigkeit ist in Nordeuropa wohl am schwächsten ausgeprägt bzw. am wenigsten sichtbar. In Dänemark, Finnland und Schweden sind die Kompetenzbereiche der Sozialpartner und der Behörden traditionell klar voneinander getrennt. Dies hat zur Folge, dass für dreigliedrige Institutionen nur wenig Spielraum bleibt, während der zweigliedrige Dialog eine Schlüsselrolle einnimmt. Jedoch ist in den letzten Jahren in Dänemark und Finnland zu beobachten, dass die Trennlinie etwas verwischt und die Tendenz in Richtung dreigliedriger Zusammenarbeit bei bestimmten Themen steigend ist. Auch Deutschland verfügt über keine offiziellen dreigliedrigen (bzw. zweigliedrigen) Institutionen, sondern weist hauptsächlich eine informelle und/oder spontane Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Sozialpartnern auf. Das Vereinigte Königreich verfügt kaum über so etwas wie einen nationalen sozialen Dialog. In den nach 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten ist der dreigliedrige Dialog in der Regel die wichtigste oder einzige Form von branchenübergreifendem Dialog. Mit Ausnahme von Zypern gibt es in all diesen Ländern allgemeine Wirtschafts- und Sozialforen, in denen die Sozialpartner vertreten sind. In den meisten Fällen handelt Kasten 6. Die wichtigsten Foren für den nationalen dreigliedrigen Dialog in den neuen Mitgliedstaaten • Bulgarien – Wirtschafts- und Sozialrat (WSR) und Nationaler Rat für Dreigliedrige Zusammenarbeit (NSTS) • Estland – Wirtschafts- und Sozialrat (SM) • Lettland – Nationaler dreigliedriger Kooperationsrat (NTSP) • Litauen – Dreigliedriger Rat (LRTT) • Malta – Rat für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (MCESD) • Polen – Dreierkommission für soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten (TK) • Rumänien – Wirtschafts- und Sozialrat (CES) und Nationaler drei­ gliedriger Rat für sozialen Dialog (CNTDS) • Slowakei – Wirtschafts- und Sozialrat (HSR) • Slowenien – Wirtschafts- und Sozialrat (ESSS) • Tschechische Republik – Rat für das Wirtschafts- und Sozialabkommen (RHSD) • Ungarn – Wirtschafts- und Sozialrat (GSZT) und Staatlicher Schlichtungsrat (OÉT) (sollen bald zum Nationalen Wirtschafts- und Sozialrat, NGTT, zusammengelegt werden) 20 es sich dabei um rein dreigliedrige Organe ohne umfassendere Vertretung der Zivilgesellschaft, und sie haben eine eindeutige Beratungs- und manchmal Verhandlungsfunktion, wobei sie in der Regel ein großes Spektrum an Themen abdecken. Bulgarien und Rumänien, die Wirtschafts- und Sozialforen haben, die die Zivilgesellschaft einschließen, verfügen über zusätzliche nationale Organe für den dreigliedrigen sozialen Dialog. Ungarn legt derzeit ein spezifisches dreiglie­ driges Gremium mit einem breiteren Forum zusammen, das auch andere Interessen umfasst, und schafft damit eine Struktur ohne jegliche Regierungsvertretung und mit weniger Befugnissen als zuvor. Trotz des Übergewichts von dreigliedrigen Institutionen scheint es, als beklagten die Sozialpartner allgemein, dass ihre im Rahmen von Anhörungen geäußerten Ansichten nicht ausreichend von der Regierung berücksichtigt würden (obwohl das nicht auf die neuen Mitgliedstaaten beschränkt ist). Im Hinblick auf die Ergebnisse des dreigliedrigen Dialogs in den neuen Mitgliedstaaten ist festzuhalten, dass seit dem Jahr 2000 in Ländern wie Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien und Ungarn Vereinbarungen erzielt wurden. Diese befassen sich mit folgenden Fragen: allgemeine wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Bulgarien und Slowenien; Umgang mit der aktuellen Wirtschaftskrise in Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen und der Tschechischen Republik; Erhöhung des Mindestlohns in Rumänien und die allgemeine Lohnpolitik in Slowenien. Sektoraler Dialog Der zweigliedrige sektorale soziale Dialog in Form von regelmäßigen Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden über Löhne und sonstige Bedingungen ist in vielen Mitgliedstaaten, vor allem im westlichen Kontinentaleuropa, ein wesentliches Merkmal der Arbeitsbeziehungen. In der EU-15 umfassen sektorale Tarifverhandlungen in Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien einen großen Teil der Wirtschaftssektoren, während sie in Irland, Luxemburg und im Vereinigten Königreich in eingeschränkterer Form existieren. Die erzielten regelmäßigen sektoralen Vereinbarungen regeln bisweilen Löhne und sonstige Bedingungen der Arbeitnehmer in der betreffenden Branche. Typischerweise (und in zunehmendem Maße) liefern sie jedoch eine Untergrenze und einen Rahmen für darauf folgende Tarifverhandlungen auf Unternehmensebene. In Irland, Luxemburg und im Vereinigten Königreich finden die Tarifverhandlungen weitgehend dezentral auf Unternehmensebene statt. Auch in vielen der EU-15-Staaten mit hoher sektoraler Tarifbindung vollzieht sich gerade eine Dezentralisierung. Dies ist weitgehend bedingt durch den Wunsch der Arbeitgeber nach größerer Flexibilität bei der Festlegung von Löhnen und sonstigen Bedingungen auf Unternehmensebene. Während es Beispiele von Arbeitgebern gibt, 21 die sich schlicht und einfach von der Verhandlung sektoraler Tarifvereinbarungen zurückziehen oder diese einstellen, besteht ein weiter verbreiteter Ansatz darin, die Tarifverhandlungen beizubehalten, aber mehr Spielraum für Flexibilität auf Unternehmens­ ebene zuzulassen. Dies war in Ländern wie Dänemark, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Schweden und Spanien der Fall. © 123RF In vielen der neuen Mitgliedstaaten (wo die Tarifbindung insgesamt in der Regel niedriger ist als in der EU-15) sind sektorale Tarifverhandlungen auf wenige Branchen beschränkt oder nicht vorhanden. Relativ weit verbreitet sind sie lediglich in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Slowenien und finden sich in geringerem Maße ebenfalls in der Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und Zypern. Ein gemeinsames Merkmal der Arbeitsbeziehungen in den neuen Mitgliedstaaten ist das häufige Fehlen von sektoralen Tarifverhandlungen und des mit solchen 22 Verhandlungen verbundenen sektoralen Dialogs. Dies unterscheidet sich von der Situation in vielen der EU-15-Staaten. Existieren in den neuen Mitgliedstaaten sektorale Tarifverhandlungen, so können sie dem gleichen Dezentralisierungsdruck ausgesetzt sein, der für die EU-15 gilt. Zum Beispiel haben sich in der Tschechischen Republik und der Slowakei in den letzten Jahren einige Arbeitgeber von der Verhandlung sektoraler Vereinbarungen zurückgezogen oder diese eingestellt. Andererseits haben sich sektorale Tarifverhandlungen in Ländern wie Bulgarien und Estland in jüngerer Zeit weiter verbreitet oder sind neu entstanden. Abgesehen von Tarifverhandlungen findet der zweigliedrige Dialog in Ländern wie Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn zumindest in einigen Branchen statt. In einer Reihe von Fällen zeugt das von den Bemühungen, die beim Aufbau des zweigliedrigen sektoralen Dialogs in den neuen Mitgliedstaaten unternommen wurden, und von der Fähigkeit der (oftmals unzureichend ausgestatteten und manchmal nicht vorhandenen) sektoralen Sozialpartner. So half zum Beispiel ein EU‑finanziertes Projekt in Ungarn bei der Einrichtung von Ausschüssen für den sektoralen Dialog in vielen Branchen. Internationaler Vergleich Durchschnittlich fallen in der EU fast zwei Drittel der Arbeitnehmer unter einen Tarifvertrag, verglichen mit knapp einem Fünftel in Japan und einem Achtel in den USA. Während die Gewerkschaftsmitgliedschaft in all diesen Regionen rückläufig ist, besteht der Unterschied in Europa darin, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber häufig auf einer Stufe oberhalb der Unternehmensebene verhandeln, in der Regel auf Branchenebene und manchmal sogar auf nationaler (branchenübergreifender) Basis. Dies ermöglicht die Einbeziehung einer größeren Arbeitnehmerzahl, wie z. B. derjenigen, die in kleinen und mittleren Unternehmen beschäftigt sind und andernfalls nicht vertreten würden. Es ist auch eine Erklärungshilfe für die bedeutende Rolle des sozialen Dialogs in Europa. Was die Verbindung ihres Programms zum Aufbau des Marktes mit einer sozialen Agenda betrifft, die Regelungen in Bezug auf die entstehenden transnationalen Ar­ beitsbeziehungen enthält, ist die EU anderen Wirtschaftsmächten und Organisationen für regionale Integration voraus und wird manchmal als Beispiel oder Vorbild für die Entwicklung eines regionalen sozialen Dialogs gesehen. Obwohl Tarifverhandlungen und Lohnfestsetzung – Kernpunkte von Arbeitsbeziehungen – weiterhin national spezifisch sind, fördert die EU die Sozialpartnerschaft und Zusammenarbeit, indem sie Mindeststandards für die Arbeitnehmervertretung in nationalen und grenzüberschreitenden Unternehmen festlegt, Sozialpartner auf EU‑Ebene zu politischen Initiativen anhört und ermöglicht, dass deren auf EU‑Ebene ausgehandelte Vereinbarungen in Recht umgesetzt werden. Im Hinblick auf andere regionale Organisationen kommt Mercosur, Südamerikas führender Handelsblock, der EU wahrscheinlich am nächsten, was seine industrielle Organisation und sozialpolitischen Ziele betrifft, wohingegen die Rolle des sozialen Dialogs im Rahmen des NAFTA (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) und im ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen) schwächer ist. 23 Interview mit den branchenübergreifenden Sozialpartnern: Philippe de Buck Generaldirektor von BusinessEurope Bernadette Ségol Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) Der europäische soziale Dialog kam 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam voll zur Geltung. Was sind für Sie seither die größten Errungenschaften des autonomen sozialen Dialogs in Europa? PdB: Der europäische soziale Dialog hat sehr viel erreicht, sowohl vor als auch nach dem Vertrag von Amsterdam. Die Sozialpartner standen an der Spitze der Innovation, wie zum Beispiel die Verabschiedung eines Rahmens für lebenslanges Lernen im Jahr 2002 und die erste Vereinbarung, die von den Sozialpartnern selbst umzusetzen war: die Vereinbarung über Tele­arbeit. Wir haben auch Fortschritte in Richtung eines autonomeren sozialen Dialogs gemacht, wie aus der Verabschiedung mehrjähriger Arbeitsprogramme seit 2003 hervorgeht. Diese ermöglichen uns die Strukturierung und Konsolidierung unseres Dialogs sowie die Bestimmung und Behandlung der größten Herausforderungen für die europäischen Arbeitsmärkte, anstatt auf die Vorschläge der Europäischen Kommission zu warten. Zuletzt möchte ich die gemeinsame Analyse der Arbeitsmärkte im Jahr 2007 erwähnen, ein entscheidendes Dokument, das der Verabschiedung von Flexicurity‑Grundsätzen auf EU‑Ebene den Weg bereitet hat. BS: Der europäische zweigliedrige soziale Dialog wurde 1985 von Jacques Delors effektiv angestoßen, indem Arbeitgeber und Gewerkschaftsvertreter an einen Tisch gebracht wurden. Die folgenden Jahre waren eine formgebende Phase, in der sich die Partner kennen und verstehen lernen und Vertrauen aufbauen mussten. Mit der zweiten Phase wiederum, die mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern am 31. Oktober 1991 eingeläutet wurde (im selben Jahr dem Vertrag von Maastricht beigefügt und 1997 in den Vertrag von Amsterdam aufgenommen), fand die Idee Eingang, dass die Partner einen ausgehandelten Regulierungsraum eröffnen – der Dialog nahm eine vertragliche Dimension an. Nach drei Rahmenvereinbarungen, die durch Richtlinien umgesetzt wurden (Elternurlaub, Teilzeitarbeit und befristete Verträge, zwischen 1996 und 1999), begann für die Sozialpartner eine neue Generation 24 „autonomer“ Vereinbarungen, deren Umsetzung auf nationaler Ebene von den Sozialpartnern selbst durchgeführt wird (Telearbeit, Stress am Arbeitsplatz, Belästigung/Gewalt am Arbeitsplatz und integrative Arbeitsmärkte, zwischen 2002 und 2010). Diesen sind zwei Handlungsrahmen, weitere „Werkzeuge“ des sozialen Dialogs (lebenslange Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen; Gleichstellung der Geschlechter; 2002 und 2005) und etwa 60 gemeinsame Berichte, Empfehlungen, Erklärungen, Stellungnahmen und Zusammenstellungen bewährter Methoden hinzuzufügen. Die Tatsache, dass die Sozialpartner in der Lage waren, auf EU‑Ebene schwierige Fragen zu verhandeln, zeugt in jedem Fall von der Entwicklung, die der Dialog sowohl quantitativ als auch qualitativ seit 1985 und insbesondere seit den frühen 1990er Jahren durchgemacht hat. Diese Bewertung wäre unvollständig, würden wir nicht die bemerkenswerte Entwicklung des sektoralen sozialen Dialogs erwähnen, der nun rund 40 Ausschüsse umfasst, die über 600 Dokumente abgefasst haben – auch wenn das weniger in direkter Verbindung mit dem Vertrag von Amsterdam steht. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation des autonomen sozialen Dialogs in Europa? PdB: Der bisher eingeschlagene Weg war nicht immer einfach, und der soziale Dialog wird sicherlich erneut auf Schwierigkeiten stoßen. Dennoch hat er rund 60 gemeinsame Initiativen zu wichtigen Fragen hervorgebracht. Er hat unstreitig gezeigt, dass eine konstruktive Beziehung geschaffen wurde, auf der wir weiter aufbauen müssen. Der europäische soziale Dialog bereichert die nationalen sozialen Dialoge: indem er neue Themen auf die nationale Tagesordnung setzt (z. B. Tele­ arbeit, Stress), einen Rahmen für gegenseitiges Lernen bietet oder die Leistungsfähigkeit der Sozialpartner stärkt, z. B. nach der Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Länder im Jahr 2004. Nach vorne blickend haben wir aufgrund der Verhandlungen über die Arbeitszeit die Gelegenheit, den Mehrwert des europäischen sozialen Dialogs zu beweisen – dass wir Erfolg haben können, wo andere Formen der Entscheidungsfindung gescheitert sind. BusinessEurope hat sich in gutem Glauben intensiv an diesen Verhandlungen beteiligt, mit Blick auf die Bewältigung der negativen Auswirkungen und rechtlichen Unsicherheit, die durch mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Arbeitgeber und Arbeitnehmer entstanden sind. Es ist klar, dass die derzeitige Debatte über die makroökonomische Steuerung Auswirkungen auf den sozialen Dialog auf europäischer sowie auf nationaler Ebene haben wird. 25 BS: Obwohl der europäische soziale Dialog zweifellos bedeutende Fortschritte gemacht hat, zeigt die gemeinsame (Arbeitgeber und Gewerkschaften) Bewertung, die von Eckhard Voss von Wilke, Maack und Partner im Mai 2011 durchgeführt wurde, dass die europäischen Sozialpartner dennoch vor allem über die „jüngsten Ereignisse sowohl auf europäischer als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten, die die Rolle des sozialen Dialogs in der staatlichen Politik und Entscheidungsfindung untergraben (…)“ besorgt sind. Ferner bedauern sie den schwerwiegenden Mangel an Akzeptanz, Vertrauen und Zuverlässigkeit im Zusammenhang mit dem Dialog, der in einigen Ländern herrscht, was natürlich eine ordnungsgemäße Umsetzung des europäischen sozialen Dialogs und insbesondere seiner autonomen Ergebnisse untergräbt und verhindert. Die eigene Einschätzung der Gewerkschaften durch die Europäische Beobachtungsstelle zur sozialen Lage (Anfang 2011) fiel sogar noch drastischer aus. Sie stellte eine gewisse Unzufriedenheit unter den Arbeitnehmervertretern fest, ausgelöst durch eine in ihren Augen echte Schwächung – sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch auf die Umsetzung – der in den letzten Jahren im Rahmen des sozialen Dialogs verabschiedeten Entwürfe. Die Tatsache, dass der sozioökonomische und politische Hintergrund sich verändert hat, liefert keine umfassende Erklärung. Nach dieser Feststellung haben die Gewerkschaften trotz der Frustration nach wie vor den starken Wunsch, den branchenübergreifenden sozialen Dialog zu verbessern, wie die Diskussionen zu diesem Thema belegen, die im Rahmen des 12. Kongresses des EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund) im Mai 2011 in Athen stattfanden. Die Strategie Europa 2020 verlangt, dass alle Beteiligten ihren Part übernehmen, wenn sie ihre Ziele erreichen soll – Kommission, Mitgliedstaaten, Sozialpartner. Welchen Beitrag können die europäischen Sozialpartner zur dreigliedrigen Steuerung der Strategie Europa 2020 leisten? PdB: Die europäischen Sozialpartner haben in unserem gemeinsamen Statement zur Strategie Europa 2020 die Bedingungen für Wachstum und Möglichkeiten zur Verbesserung der Regierungsführung erörtert. Die Arbeitgeber sind der Überzeugung, dass die Umsetzung von Reformen sowie deren positive Auswirkungen auf die Wirtschaft wahrscheinlicher sind, wenn die Sozialpartner die eingeführten Maßnahmen in die Hand nehmen. Aus diesem Grund unterstützen wir eine starke Beteiligung der Sozialpartner auf allen Ebenen (europäische, nationale, regionale und lokale Ebene) in Bezug auf die Gestaltung und Überwachung europäischer sowie nationaler Reformstrategien. 26 Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass Regierungen selbst die Verantwortung übernehmen müssen, falls der soziale Dialog scheitert. Dies untergräbt nicht die Autonomie der Sozialpartner. Seit der Verabschiedung von Europa 2020 wurden weitere wichtige Maßnahmen ergriffen, und neue müssen vielleicht noch getroffen werden, um die wirtschaftliche Steuerung der EU zu verbessern und die Staatsschuldenkrise einzudämmen. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass die Sozialpartner in einer ordnungsgemäß funktionierenden Währungsunion eine Rolle spielen sollen, solange sie damit einverstanden sind, die bestehenden Sozialsysteme zu reformieren, um deren Nachhaltigkeit zu sichern. Dies erfordert jedoch einen gemeinsamen Verantwortungssinn und ein von Vertrauen und Zuversicht geprägtes Klima zwischen den europä­ ischen Arbeitgebern, dem EGB und den politischen Entscheidungsträgern. BS: Der EGB war von der Umsetzung der Lissabon‑Strategie enttäuscht. Eine Bilanz nach zehn Jahren macht deutlich, dass nur wenige der vielen hochgesteckten Ziele erreicht worden sind. Und es kann nicht die gesamte Schuld auf die Finanzkrise von 2008 geschoben werden. Bedauerlicherweise befasst sich die Strategie Europa 2020 nicht ausreichend mit den vier Aspekten, die die absehbare Zukunft der Union dominieren werden: Arbeitslosigkeit, Klimawandel, Sparpolitik und Bevölkerungsveränderung. Ebenso enthält die Strategie keine innovativen Denkansätze in Bezug auf die soziale Dimension und Sozialpolitik. Wie, abgesehen von einer blinden Sparpolitik, kann die EU die heikle Aufgabe anpacken, die hohen öffentlichen Defizite abzubauen, ohne die aktuelle Rezession zu verschärfen und einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Ungleichheit zu verursachen? Wie sollten wir uns in einem europäischen Kontext zu qualitativer Beschäftigung verpflichten? Am 4. Juni 2010 verabschiedeten die Sozialpartner eine gemeinsame Erklärung in Bezug auf die Strategie. Sie betonten insbesondere die Notwendigkeit, „die europäische Wirtschaft in den Bereichen Innovation, Technologie und Produktivität voranzubringen. … Auch der soziale Zusammenhalt sollte als Voraussetzung für eine dynamische und nachhaltige Wirtschaft betrachtet werden. … Die Förderung neuer Finanzierungsmöglichkeiten für Investitionen und die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit wären Kriterien für den Erfolg der EU. … Unzureichende Investitionen in die Weiterbildung verschärfen die wirtschaftlichen Probleme nur noch weiter. Es werden umfassende Strategien für lebenslanges Lernen benötigt. Ein günstiges öffentliches Umfeld und Zugang zu qualitativ hochwertigen, erschwinglichen und effizienten öffentlichen Dienstleistungen sind notwendig …“. Obwohl einige dieser Botschaften an die Mitgliedstaaten und/oder die Kommission/das Parlament gerichtet sind, 27 ist klar, dass die Sozialpartner einen teilweisen oder umfassenden Beitrag zum Erreichen weiterer Prioritäten zu leisten haben. Die Umsetzung des Arbeitsprogramms für 2012-2014 soll die Sozialpartner dazu befähigen, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv an der Erreichung oben genannter Ziele zu beteiligen. Ebenso erfordert die gegenwärtige Krise, dass alle Beteiligten in einem dreigliedrigen Ansatz an einem Strang ziehen. Worin besteht die Herausforderung für den europäischen sozialen Dialog und den sozialen Dialog in den Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der aktuellen Krise? PdB: Die größte Herausforderung, die dem europäischen sozialen Dialog bevorsteht, besteht darin, effektive Möglichkeiten der Beschäftigungsförderung zu finden. Eine höhere Erwerbsbeteiligung ist die Antwort auf viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind. Sie erweitert die Steuerbasis und trägt damit zu höheren Steuereinnahmen und mehr Finanzstabilität bei. Sie bietet den Arbeitnehmern ein Einkommen, das aus ihrer eigenen Arbeit stammt, anstatt von Sozialleistungen abhängig zu sein. Dies ist der einzige Weg, die Nachhaltigkeit und Angemessenheit der Rentensysteme zu gewährleisten. Die gegenwärtige Krise lässt uns keine Wahl: Wir müssen die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung bringen und gleichzeitig das Wachstum wiederherstellen. Unser Wachstumspotenzial hängt wesentlich von unserer Fähigkeit ab, strukturelle Reformen durchzuführen. Ohne Konsens über die Notwendigkeit struktureller Reformen werden wir große Schwierigkeiten haben, im sozialen Dialog zu irgendwelchen Ergebnissen zu kommen – europäisch oder national betrachtet. BS: Bedauerlicherweise werden die aktuelle Krise und die nun in erster Linie von zwei Mitgliedstaaten und der Kommission auferlegte Form der wirtschaftspolitischen Steuerung von anderen als Vorwand genutzt, eine Politik der „drastischen Kürzungen“ zu verfolgen, die diese Regierungschefs auf nationaler Ebene nicht verfolgen konnten oder wollten. Wir sind Zeugen der ernsten Infragestellung und Aushöhlung einer Reihe sozialer Errungenschaften und des „europäische Sozialmodells“ im Allgemeinen. Darüber hinaus wird die Autonomie der Sozialpartner auf jeder Ebene ernsthaft untergraben. Seit Beginn der Währungsunion vertrat der EGB die Auffassung, dass eine europäische einheitliche Währung und eine Europäische Zentralbank durch eine engere Koordination der nationalen (makro)wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen ergänzt werden müssen. Auch die europäische Gewerkschaftsbewegung ist sich 28 der Schwere der Krise bewusst: Es ist zwingend notwendig, zu ausgeglichenen Staatshaushalten zurückzukehren. Die innerhalb der EU „empfohlenen“ „blinden“ Sparmaßnahmen machen die Lage jedoch nur noch schlimmer. Jeder weiß, dass diese Sparmaßnahmen das fragile Wachstum einiger Länder im Keim ersticken, weil die Regierungsführung die Mitgliedstaaten dazu zwingt, eine systematische Verringerung der Nachfrage herbeizuführen und eine Politik der Nichtkooperation zu verfolgen – mit anderen Worten: Dumping. Es ist deshalb wenig erstaunlich, das die Bevölkerung zunehmend alles ablehnt, was aus „Brüssel“ kommt, kein Wunder, dass der Populismus auf dem Vormarsch ist und der Nationalismus wieder Einzug hält. Es ist dringend notwendig, dass die Sozialpartner an allen Fronten ein „anderes Europa“ verteidigen. Der Aufbau Europas muss wieder gleichbedeutend werden mit Fortschritt und Hoffnung. Und vor diesem Hintergrund darf der soziale Dialog mehr denn je nicht nur ein Schlüsselelement und Pfeiler des europäischen Sozialmodells sein, sondern muss auch ein Vektor der Innovation und Umsetzung von Reformen sein. Wie könnte der europäische soziale Dialog künftig aussehen? PdB: Der soziale Dialog ist ein zentraler Bestandteil unserer sozialen Systeme. Eine der für uns wichtigsten Voraussetzungen zum Erreichen von Ergebnissen hängt von unserer Fähigkeit ab, uns auf Prioritäten und eine realistische und zugleich anspruchsvolle Vorgehensweise zu einigen. Die Priorität ist nun ganz klar der Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Wenn sich die europäischen Sozialpartner auf die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Reformen einigen, dann zweifle ich nicht daran, dass die soziale Partnerschaft weiter im Zentrum des Entscheidungsfindungsprozesses stehen wird. BS: Der europäische soziale Dialog befindet sich nun in einem Stadium der Reife; aus diesem Grund ist es notwendig, sich für einen noch stärker qualitätsorientierten Ansatz zu entscheiden. Kurzfristig müssen die Verhandlungen zum 4. „eigenständigen Arbeitsprogramm“ (2012-2014) der europäischen Sozialpartner dauerhafte Lösungen für die tatsächlichen Probleme liefern, mit denen die Arbeitnehmer und Bürger zu kämpfen haben. Die Beschäftigung muss an erster Stelle stehen, insbesondere wenn es um junge Menschen geht. Die EU zählt derzeit mehr als fünf Millionen junge Arbeitslose; diese Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie die der übrigen erwachsenen Erwerbsbevölkerung. 29 Europa kann nicht eine ganze Generation opfern. Die Stärkung des europäischen sozialen Dialogs ist zweifellos der beste Weg, um das Gleichgewicht zwischen den Herausforderungen zu finden, denen sich der europäische Arbeitsmarkt in quantitativer Hinsicht (mehr Arbeitsplätze) und qualitativer Hinsicht (bessere Arbeitsplätze) gegenübersieht. Die lebenslange Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen ist ein weiteres Thema, das der EGB in das Arbeitsprogramm aufnehmen will. Eine weitere große Aufgabe ist die Neuverhandlung der Arbeitszeitrichtlinie nach dem Scheitern der fünf Jahre andauernden Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Parlament. Mittelfristig müssen die mit den einzelnen Dialogwerkzeugen verbundenen „Rechte und Pflichten“ im Hinblick auf deren Umsetzung, Überwachung und Bewertung geklärt werden. Die Umsetzung „eigenständiger“ Vereinbarungen durch Verhandlungen kann nicht zur Schaffung eines Europa der zwei (oder mehr) Geschwindigkeiten führen. Ein qualitativ hochwertiger sozialer Dialog ergibt sich auch durch größere Synergien zwischen seinen zahlreichen Ebenen – branchenübergreifend, Sektor­ ebene, Unternehmensebene; diese Ebenen müssen besser artikuliert und koordiniert werden. Es ist nach wie vor notwendig, weitere gemeinsame Kapazitäten über mehrere Mitgliedstaaten hinweg zu schaffen. Abschließend ist es mit Blick auf die Währungsunion und die zügig fortschreitende wirtschaftspolitische Steuerung von wesentlicher Bedeutung, dass die Vorgehensweise den sozialen und umweltbezogenen Dimensionen entspricht. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden innerhalb eines gemeinsamen europäischen Rahmens, und auch der europäische soziale Dialog muss gestärkt werden, um ein europäisches Instrument zu schaffen, das nicht einfach die jeweiligen nationalen Systeme nachbildet, sondern die Herausforderungen angeht, die mit dem Prozess der europäischen Integration einhergehen. Zu diesem Zweck ist es unter anderem angezeigt, das Format und die Zusammensetzung des Dreigliedrigen Sozialgipfels sowie die diesbezüglichen Vorbereitungen zu verbessern, um die Bedeutung des Gipfels für die wirtschaftspolitische Steuerung zu stärken; Gleiches gilt für den makroökonomischen Dialog. Abschließend lässt sich Folgendes sagen: Die Sozialpartner müssen das Niveau ihres Dialogs steigern, um die Herausforderungen der EU bewältigen zu können, mit denen man in 30 einem solchen Ausmaß seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr konfrontiert war, wenn sie wollen, dass Europa erhobenen Hauptes aus der Krise hervorgeht und nicht weiter wertvolle Zeit vergeudet, wie es derzeit der Fall ist. 31 32 © 123RF Kapitel 2 Ein kurzer Überblick über die institutionelle Geschichte des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene 1952-1984: Die Anfangsjahre Die erste Europäische Gemeinschaft war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die 1952 von sechs Ländern gegründet wurde. Der soziale Dialog wurde in die EGKS in Form eines Beratungsausschusses integriert, der sich aus Vertretern der Kohle- und Stahlgesellschaften, Arbeitnehmern, Verbrauchern und Händlern zusammensetzte. Als die sechs Gründerstaaten 1958 beschlossen, eine umfassendere Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einzurichten, wurde der soziale Dialog erneut fest verankert durch einen Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss mit beratender Funktion, bestehend aus Vertretern der unterschiedlichen Kategorien der Wirtschafts- und Sozialaktivitäten. Der Ausschuss, der heute als Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss bekannt ist, stellt nach wie vor ein wichtiges Forum für den sozialen Dialog dar. Seine Mitglieder sind unterteilt in Gruppen, die Arbeitgeber, Arbeitnehmer und unterschiedliche Interessen repräsentieren. Die Mitglieder sind Vertreter nationaler Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und sonstiger Interessengruppen, die von den nationalen Regierungen ernannt werden. Bereits kurz nach der Gründung der EGKS wurde eine gemeinsame Bergbaupolitik in Angriff genommen, was zur Einrichtung eines spezifischen gemeinsamen Beratungsausschusses als Vertretung für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer der Branche führte. Nach der Bildung der EWG wurden in den 1960er und 1970er Jahren gemeinsame Regelwerke für die Landwirtschaft, Fischerei und zahlreiche Verkehrsmittel erstellt. Die Europäische Kommission bildete in diesen Sektoren gemeinsame Ausschüsse zur Beratung im Hinblick auf soziale und beschäftigungsspezifische Aspekte dieser Regelwerke. Formen des branchenübergreifen­ den Dialogs auf EU‑Ebene entstan­ den erstmals im Jahr 1970 und hat­ten hauptsächlich dreigliedrige Strukturen (siehe Kasten 4). 1985-1992: Die Geburtsstunde des zweigliedrigen branchenübergreifenden Dialogs Während beim branchenübergreifenden Dialog in den 1970er Jahren noch hauptsächlich auf die dreigliedrige Struktur zurückgegriffen worden war, trat Anfang der 1980er Jahre die Idee der Förderung eines eher zweigliedrigen Dialogs zwischen den Sozialpartnern in den Gemeinschaftsinstitutionen immer stärker in den Vordergrund. Ziel 33 war die Reaktion auf die zu dieser Zeit herrschende Rezession und der Abschluss von Vereinbarungen auf EU‑Ebene in Bezug auf die sozialen und wirtschaftlichen Themen im Zusammenhang mit dem europäischen Binnenmarkt. (Das Binnenmarktprogramm wurde 1985 begonnen.) Die Kommission traf sich mit Vertretern der branchenübergreifenden Sozialpartner (EGB, CEEP und UNICE, später BusinessEurope) im Januar 1985 in Val Duchesse, einem Schloss in der Nähe von Brüssel, um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation zu erörtern. Bei einer zweiten Versammlung im November 1985 wurden zwei Arbeitsgruppen gebildet, die sich aus Vertretern der Sozialpartner zusammensetzten und von der Kommission geleitet wurden, um die Themen Wachstum, Beschäftigung und Investitionen zu diskutieren, sowie die Rolle des sozialen Dialogs bei der Einführung neuer Technologien. Diskussionen in der Arbeitsgruppe für makroökonomische Themen führten dazu, dass sich die branchenübergreifenden Partner im November 1986 auf eine gemeinsame Stellungnahme zur „kooperativen Wachstumsstrategie“ der Kommission einigten. Dabei handelte es sich um den ersten formellen gemeinsamen Entwurf, der aus dem Dialog von Val Duchesse hervorging und dem 1987 weitere gemeinsame Stellungnahmen zu makroökonomischen Themen und Themen im Zusammenhang mit neuen Technologien folgten. 34 1987 trat die Einheitliche Europäische Akte in Kraft, die den EWG‑Vertrag erweiterte und durch die der soziale Dialog auf EU‑Ebene erstmals vertraglich erwähnt wurde. Artikel 118 Buchstabe b des geänderten Vertrags verpflichtete die Kommission, sich darum zu bemühen, „den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln, der, wenn beide Seiten dies für wünschenswert halten, zu vertraglichen Beziehungen führen kann“. Da der neue Vertrag nun in Kraft war und die letzten Maßnahmen zur vollständigen Umsetzung des Binnenmarktes erfolgten (unter dem zunehmenden Druck, eine echte soziale Dimension zu schaffen), wurde der Val‑Duchesse‑Dialog 1989 gestärkt. Ihm wurde mit der Einrichtung eines Lenkungsausschusses eine formellere Struktur gegeben und es wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, um Bildung/Schulung und die Entstehung eines europäischen Arbeitsmarktes zu erörtern. Diese Gruppen verfassten von 1990-1993 zahlreiche gemeinsame Stellungnahmen. Auf Sektor‑Ebene wurden zwischen 1985 und 1992 neue gemeinsame Ausschüsse in den Sektoren gebildet, auf die die Bestimmungen der Gemeinschaft anwendbar waren, wie etwa die Zivilluftfahrt und Telekommunikation. Die Kommission begann ferner damit, eine neue Art des sektoralen Dialogs zu fördern, und setzte informelle Arbeitsgruppen in Bereichen wie Zucker, Handel und Versicherung ein, die in einigen Fällen gemeinsame Entwürfe vereinbarten. Im Oktober 1991 schlossen die branchenübergreifenden Sozialpartner ihr erstes Abkommen – ein gemeinsamer Beitrag über die Bedeutung des sozialen Dialogs, der sich an die Regierungskonferenz richtete, welche mit der Vorbereitung des Vertrags über die Europäische Union (EU‑Vertrag) befasst war, der 1992 in Maastricht unterzeichnet wurde. In diesem Beitrag wurde gefordert, dass den Sozialpartnern bei der Formulierung und Umsetzung der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Gemeinschaft eine weitaus bedeutendere Rolle zukommen müsse, und es wurde ein spezifisches Konsultationsund Verhandlungsverfahren für sie vorgeschlagen. Die Vereinbarung der Partner wurde nahezu unverändert in das Protokoll und das Abkommen über die Sozialpolitik übernommen, das dem EU‑Vertrag beigefügt wurde (siehe Kasten 7) und es elf der zwölf Kasten 7. Sozialer Dialog im Abkommen über die Sozialpolitik (ASP) von 1992 Artikel 3 des ASP beauftragte die Kommission damit, die Anhörung der Sozialpartner auf der Ebene der Gemeinschaft zu fördern und „alle zweckdienlichen Maßnahmen [zu ergreifen], um den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu erleichtern, wobei sie für Ausgewogenheit bei der Unterstützung der Parteien sorgt.” Vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik war die Kommission also angehalten, die Sozialpartner zu der Frage anzuhören, wie eine Gemeinschaftsaktion gegebenenfalls ausgerichtet werden sollte. Hielt die Kommission nach dieser Anhörung eine Gemeinschaftsmaßnahme für zweckmäßig, so hörte sie die Sozialpartner zum Inhalt des in Aussicht genommenen Vorschlags an. Die Sozialpartner mussten der Kommission eine Stellungnahme oder gegebenenfalls eine Empfehlung übermitteln und konnten gegenüber der Kommission den Wunsch zur Einleitung eines Verhandlungsprozesses äußern. Die Verhandlungen durften maximal neun Monate dauern, sofern die betroffenen Sozialpartner und die Kommission nicht gemeinsam eine Verlängerung beschlossen. Laut Artikel 4 des ASP konnte der Dialog auf Gemeinschaftsebene, sofern die Sozialpartner dies wünschen, zur Herstellung „vertraglicher Beziehungen einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen“ führen. Die Durchführung der auf Gemeinschaftsebene geschlossenen Vereinbarungen erfolgte entweder „nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten“ oder – in den durch das ASP erfassten Bereichen – auf gemeinsamen Antrag der Unterzeichnerparteien durch einen „Beschluss des Rates“ auf Vorschlag der Kommission. 35 damaligen Mitgliedstaaten ermöglichte, eine neue Gesetzgebung im Bereich Arbeit und Soziales zu verabschieden, mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs, das sich an diesem neuen Mechanismus nicht beteiligen wollte. 1993-2000: Beginn des zweigliedrigen sozialen Dialogs Der Vertrag von Maastricht und das ASP traten im November 1993 in Kraft und stärkten die Rolle der Sozialpartner auf europäischer Ebe­ne bei der Konzeption und Anwendung der Sozialpolitik der Ge­meinschaft und erhöhten deren Legi­ timität durch ihr neues Recht auf Anhö­ rung bei Vorschlägen zu Ge­mein­ schaftsmaßnahmen. Um ihren Dialog an den neuen institutionellen Rahmen anzupassen, richteten die Sozialpartner einen Ausschuss für den sozialen Dialog ein, der als zentrales Organ für Diskussionen, die Verabschiedung gemeinsamer Entwürfe und zu Planungszwecken fungieren sollte. 1993 verabschiedete die Europäische Kommission zudem zusätzliche formelle Verfahren, durch die beschlossen wurde, welche Sozialpartnerorganisationen beteiligt sein sollten, und die die praktischen Gesichtspunkte vertragsbasierter Anhörungen und Verhandlungen festlegten (siehe S. 47). Sobald der Vertrag von Maastricht und das ASP in Kraft waren, ging der branchenübergreifende Dialog in zwei verschiedene Richtungen. 36 Einerseits folgten die Sozialpartner ihrer eigenen unabhängigen Agenda, andererseits prägten die Anhörungen auf der Grundlage der legislativen Agenda der Kommission den Dialog der Partner recht stark. Im Hinblick auf den eigenständigen Dialog einigten sich die branchenübergreifenden Partner weiterhin auf gemeinsame Stellungnahmen zu Aspekten der gemeinschaftlichen Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik. Sie unterzeichneten ferner „autonome“ gemeinsame Entwürfe wie z. B. eine Erklärung zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im Jahr 1999. Was die zweite Form des Dialogs anbelangt, so hörte die Kommission die branchenübergreifenden Partner zu zahlreichen Themen an, zu denen sie während des Zeitraums 1993-2000 Gemeinschaftsmaßnahmen plante. Zwei dieser Anhörungen führten zu Verhandlungen zwischen den Partnern und der anschließenden Unterzeichnung von EU‑Rahmenvereinbarungen. Anhörungen in Bezug auf die Vereinbarkeit von Berufsleben und Familie führten im Dezember 1995 zu einer Vereinbarung über Elternurlaub – die erste bedeutende Übereinkunft, die von den branchenübergreifenden Partnern unterzeichnet wurde. Aus Anhörungen zur Flexibilität bei der Arbeitszeit und Sicherheit der Arbeitnehmer resultierten zwei Vereinbarungen: im Juni 1997 über Teilzeitarbeit und im März 1999 über befristete Arbeitsverträge. In allen drei Fällen beantragten die Sozialpartner bei der Kommission die Einreichung der Vereinbarungen beim Rat, um eine diesbezügliche Entscheidung zu erwirken und die Anforderungen in den Mitgliedstaaten verbindlich zu machen, und die Kommission schlug entsprechende Richtlinien vor, die vom Rat verabschiedet wurden. 1999 kam es zu bedeutenden institutionellen Veränderungen, als der Vertrag von Amsterdam in Kraft trat, der die bestehenden Verträge abänderte. © ImageGlobe Den sektoralen sozialen Dialog betreffend bedeutete das Inkrafttreten des ASP, dass die Kommission begann, die Sozialpartner formell anzuhören, die sie als repräsentativ für bestimmte Branchen bestimmt hatte, und zwar zu geplanten Maßnahmen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales. Die Anhörungen führten in einigen Fällen zu Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern über sektorspezifische Themen. Beispielsweise wurden in den gemeinsamen Ausschüssen der Schifffahrt und Zivilluftfahrt Vereinbarungen über die Arbeitszeit geschlossen, die auf Anfrage der Partner durch Richtlinien des Rates umgesetzt wurden. In den 1990er Jahren wurden zahlreiche neue gemeinsame sektorspezifische Ausschüsse und informelle Arbeitsgruppen gegründet. Die Kommission war jedoch mit der Effektivität des Stückwerks der gemeinsamen Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die sich seit den 1950er Jahren weiterentwickelt hatten, nicht zufrieden. Sie kam 1998 zu dem Schluss, dass ein stärker harmonisierter Ansatz vonnöten sei, um eine gerechtere Behandlung der unterschiedlichen Sektoren zu gewährleisten und es allen Sektoren zu ermöglichen, effektiv an der Ausarbeitung der betreffenden Bestimmungen auf Gemeinschafts­ ebene mitzuwirken. Daher wurde entschieden, alle bestehenden sektoralen Strukturen durch neue Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog zu ersetzen (siehe Kasten 8). 37 Das Vereinigte Königreich hatte beschlossen, sich nun doch den Bestimmungen zur Sozialpolitik an­ zu­­schließen, und ermöglichte damit die Rückkehr zur einheitlichen Entscheidungsfindung auf Gemein- schaftsebene in der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Der Vertrag von Amsterdam nahm das ASP in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG‑Vertrag) in Form der Artikel 138 und 139 auf. Kasten 8. Die Reform des sektoralen sozialen Dialogs von 1998 In einer im Mai 1998 veröffentlichten Entscheidung ersetzte die Europäische Kommission die bestehenden Strukturen für den sektoralen Dialog durch Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog (ASSD) mit Wirkung zum Jahr 1999. ASSD können in Sektoren gebildet werden, in denen die Sozialpartner gemeinsam den Dialog auf europäischer Ebene fordern und in denen die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände: • sich auf spezifische Sektoren oder Kategorien beziehen und auf europäischer Ebene organisiert sind; • aus Organisationen bestehen, die selbst „in ihrem Land integraler und anerkannter Bestandteil des Systems der Arbeitsbeziehungen sind“, Vereinbarungen aushandeln können und mehrere Mitgliedstaaten vertreten; • über geeignete Strukturen verfügen, um an der Arbeit der Ausschüsse „effektiv […] teilnehmen zu können“. Die ASSD werden fristgerecht und umfassend zu den Entwicklungen auf Gemeinschaftsebene angehört, welche sozialen Auswirkungen auf ihre Sektoren haben, und haben ferner die Aufgabe, den sozialen Dialog weiterzuentwickeln und zu fördern. Sie setzen sich jeweils zur Hälfte aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zusammen, die von der Kommission auf der Grundlage eines Vorschlags der Sozialpartner, die die Einrichtung der ASSD gefordert hatten, eingeladen werden. Die ASSD müssen mindestens einmal im Jahr zusammenkommen, und die Kommission bietet Sekretariatsdienste sowie technische Unterstützung für Versammlungen. Ursprünglich wurden im Jahr 1999 21 ASSD gebildet, und zwar in Branchen, die zuvor durch gemeinsame Ausschüsse und Arbeitsgruppen vertreten worden waren. Seit 1999 ist die Anzahl der ASSD um durchschnittlich zwei pro Jahr gestiegen, und 2011 gab es 40 Ausschüsse (siehe Anhang 1). Sie repräsentieren Branchen, in denen rund 145 Millionen Arbeitnehmer beschäftigt sind; das entspricht drei Vierteln der EU‑Erwerbsbevölkerung. 38 Seit 2001: größere Autonomie der Sozialpartner Die branchenübergreifenden Sozialpartner (zu denen nun auch UEAPME und CEC/Eurocadres zählen) kündigten 2001 an (in einem gemeinsamen Beitrag zum Europäischen Rat in Laeken), dass sie ihren Dialog neu ausrichten wollten, um Herausforderungen wie die EU‑Erweiterung, die Debatte um die künftige politische Führung Europas und die Einführung der einheitlichen Währung zu berücksichtigen. Die Partner beschlossen, ihren zweigliedrigen Dialog (ob durch offizielle Anhörungen ausgelöst oder nicht) besser zu organisieren und eigenständiger zu gestalten und nach einem Arbeitsprogramm auszurichten, das zur EU‑Strategie für Wachstum und Beschäftigung sowie zur Erweiterung beiträgt, wenngleich es unabhängig konzipiert und umgesetzt wird. Der etwas autonomere Ansatz der Partner wurde 2002 in einer neuen Form des gemeinsamen Entwurfs vorgestellt, einem „Aktionsrahmen“ für die lebenslange Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen. Dieser legte Prioritäten und Leitlinien fest und schlug Maßnahmen vor, die auf nationaler Ebene durch die Mitgliedsverbände der Unterzeichner gefördert werden sollten (siehe S. 68). Ferner unterzeichneten die Sozialpartner im Juli 2002 im Anschluss an Anhörungen durch die Kommission eine Rahmenvereinbarung über Telearbeit. Im Gegensatz zu vorangegangenen branchenübergreifenden Vereinbarungen forderten die Sozialpartner nicht, dass die Vereinbarung über Telearbeit durch eine Richtlinie umgesetzt werden müsse. Die Vereinbarung sollte stattdessen durch die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner umgesetzt werden, und zwar „nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten“. Das erste von den Sozialpartnern vereinbarte branchenübergreifende mehrjährige Arbeitsprogramm deckte den Zeitraum 2003-2005 ab. Darin wurden drei Prioritäten festgelegt – Beschäftigung, Mobilität und Erweiterung –, und es enthielt eine Mischung aus vorgeschlagenen Instrumenten und Aktivitäten, die größtenteils unabhängig in die Wege geleitet wurden, in manchen Fällen jedoch zumindest teilweise durch Anhörungen der Kommission angestoßen wurden. Aus dem Arbeitsprogramm gingen 2004 eine Rahmenvereinbarung zu arbeitsbedingtem Stress hervor, die durch die nationalen Mitglieder der Unterzeichner umgesetzt wurde, sowie ein zweiter Aktionsrahmen zur Geschlechtergleichstellung im Jahr 2005. Die branchenübergreifenden Part­­ ner vereinbarten in der Folge Ar­ beitsprogramme für 2006-2008 und 2009-2010. Das Programm für 2006-2008 führte 2007 zu einer Vereinbarung über Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, die „nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner“ umgesetzt wurde, sowie ebenfalls 2007 zu einer gemeinsamen Analyse der Herausforderungen in Bezug auf den europäischen Arbeitsmarkt. 39 Das bedeutendste Ergebnis des Programms für 2009-2010 war eine Vereinbarung über integrative Arbeitsmärkte, welche ebenfalls durch die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner umgesetzt wurden. Neben der eigenständigen Arbeit der branchenübergreifenden Sozialpartner wurde ihr Dialog weiterhin stark durch die Anhörungen der Kommission beeinflusst. Während zahlreiche Anhörungen keine Verhandlungen nach sich zogen, war dies doch bei einigen der Fall. Wie die Vereinbarung von 2010 über integrative Arbeitsmärkte (die zum Teil auf früheren Anhörungen basierte) zählte auch eine 2009 geschlossene Rahmenvereinbarung zur Änderung des Abkommens von 1995 über Elternurlaub zu den wichtigsten Resultaten. Das geänderte Abkommen wurde durch eine Richtlinie umgesetzt. Die Sozialpartner entwickelten ferner eine neue Art der gemeinsamen Einflussnahme auf die EU‑Gesetzgebung. 2004-2005 hielt die Kommission Anhörungen zu Maßnahmen zur Verbesserung der Wirksamkeit der EBR ab, einschließlich einer möglichen Überarbeitung der Richtlinie von 1994. Die branchenübergreifenden Partner wollten keine Vereinbarung aushandeln. 2008 schlug die Kommission eine Neufassung der Richtlinie vor. An dieser Stelle einigten sich die Sozialpartner auf ein „gemeinsames Gutachten” mit Änderungsvorschlägen zum Entwurf der Kommission. Der Rat und das Parlament akzeptierten die meisten dieser Vorschläge in der 2009 verabschiedeten Neufassung der Richtlinie. Neben der Teilnahme an legislativen Anhörungen durch die Kommission leisteten die branchenübergreifenden Partner auch zahlreiche Beiträge zu breiter gefassten EU‑Debatten im Zeitraum 20012011, wie etwa zu Vertragsänderungen sowie zur Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik. Kasten 9. Der soziale Dialog und die EU‑Erweiterung Die EU wurde von ursprünglich sechs Mitgliedstaaten auf neun Staaten im Jahr 1973, zehn im Jahr 1981, zwölf im Jahr 1986 und 15 im Jahr 1995 erweitert. Diese Erweiterungen umfassten westeuropäische Länder, die in einigen wichtigen Gesichtspunkten ihrer Bestimmungen zum sozialen Dialog größtenteils übereinstimmten. So verfügten die meisten beispielsweise über: unabhängige und relativ repräsentative Sozialpartnerorganisationen; ein Tarifverhandlungssystem mit hoher Abdeckung, das normalerweise auf Vereinbarungen auf Sektor‑Ebene basierte; eine Reihe zweigliedriger und/oder dreigliedriger Anhörungsmechanismen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Beitritt dieser Länder zur EU ermöglichte 40 es ihren Sozialpartnern, ihren Platz im sozialen Dialog auf europäischer Ebene recht problemlos einzunehmen und ihre Funktion bei der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Bereich Beschäftigung und Soziales (siehe S. 14) auf nationaler Ebene zu erfüllen. Die EU‑Erweiterung in den Jahren 2004 und 2007 zur Aufnahme von zwölf neuen Mitgliedstaaten im Süden und Osten – Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern – brachte gewisse Herausforderungen mit sich. Historisch begründet hatten viele dieser Länder recht schwache Sozialpartnerorganisationen, und ein unabhängiger zweigliedriger Dialog sowie Tarifverhandlungen und Tarifverträge waren kaum vorhanden, insbesondere in Bezug auf sektorale Abkommen. Dies erwies sich bei der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und der Teilnahme am sozialen Dialog auf EU‑Ebene als problematisch. Im Vorfeld zum Beitritt führte die Europäische Kommission entsprechend zahlreiche Projekte durch, mit denen finanzielle und technische Unterstützung geleistet wurde, die auf die Stärkung des branchenübergreifenden und sektoralen sozialen Dialogs abzielten und die Bildung unabhängiger repräsentativer Sozialpartnerorganisationen sowie deren Handlungsfähigkeit förderten. Die branchenübergreifenden Sozialpartner auf EU‑Ebene boten ihrerseits ebenfalls Hilfe und Beratung an und unterstützten den Ausbau der Kapazitäten der Sozialpartner sowie die Weiterentwicklung des sozialen Dialogs in den neuen Mitgliedstaaten. In vielen Sektoren ergriffen die Partner auf EU‑Ebene ähnliche Maßnahmen und bemühten sich, die betreffenden nationalen Organisationen der neuen Mitgliedstaaten in ihren Dialog einzubinden. Heute verfügen die neuen Mitgliedstaaten allgemein über bessere Systeme des sozialen Dialogs als vor der Erweiterung, wenn auch nicht überall. Die branchenübergreifenden und sektoralen Sozialpartnerorganisationen auf EU‑Ebene haben allesamt Partner aus den neuen Mitgliedstaaten aufgenommen. Fast alle Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog verfügen über Vertreter aus den neuen Mitgliedstaaten, wenngleich die Anzahl beträchtlich schwankt. Während diese Schwankungen teilweise auf die relative Bedeutung bestimmter Sektoren in den neuen Mitgliedstaaten zurückzuführen sind, liegt die Ursache in einigen Sektoren auch in den Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Sozialpartnerorganisationen in diesen Ländern. 41 Während dieses Zeitraums kam es neben der Konsolidierung und Verbreitung der ASSD zu keinen grundlegenden institutionellen Veränderungen an der Struktur des sozialen Dialogs (siehe Kasten 8). Man traf mehrere Vereinbarungen im Anschluss an formelle Anhörungen durch die Kommission, die auf Antrag der Unterzeichner durch Richtlinien des Rates umgesetzt wurden (siehe S. 53). Eine Reihe weiterer sektoraler Vereinbarungen, die üblicherweise nach Anhörungen durch die Kommission zu verwandten Themen ausgehandelt wurden, wurden durch die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner umgesetzt (siehe Kasten 12). Die beratende Funktion der ASSD wurde 2009 gestärkt, als die Kommission neue Leitlinien für die Folgenabschätzungen, die sie bei all ihren Initiativen durchführt, einführte. Der betreffende ASSD muss nun zu diesen Folgenabschätzungen angehört 42 werden, wenn die betreffende Initiative soziale Auswirkungen auf die entsprechende Branche hat. Der Vertrag von Lissabon trat im Dezember 2009 in Kraft und änderte den EU‑Vertrag; ferner ersetzte er den EG‑Vertrag durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Den sozialen Dialog betreffend wurden die Bestimmungen zu den Anhörungen und Verhandlungen der Sozialpartner (zuvor in Artikel 138 und 139 des EG‑Vertrag festgelegt) nahezu unverändert im AEUV in Artikel 154 und 155 übernommen (diese werden auf S. 45-54 ausführlicher erläutert). Die größte Veränderung besteht darin, dass der AEUV einen neuen Artikel 152 enthält, der besagt: „Die Union anerkennt und fördert die Rolle der Sozialpartner auf der Ebene der Union unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme“ und „fördert den sozialen Dialog und achtet dabei die Autonomie der Sozialpartner“. EWSA‑Meldung Staffan Nilsson Präsident Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Der soziale Dialog ist die raison d’être der Sozialpartner und aus diesem Grund auch ein zentrales Element der Arbeit des EWSA sowie zahlreicher nationaler Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbarer Strukturen in den EU‑Mitgliedstaaten. Der soziale Dialog ist vielleicht nicht so faszinierend wie die täglichen Auseinandersetzungen zwischen den „echten“ Politikern und erhält definitiv nicht so viel Aufmerksamkeit vonseiten der Medien. In mancher Hinsicht ist er jedoch eine interessantere Art der Politik, da die Sozialpartner, die häufig äußerst unterschiedliche Ausgangspositionen haben, sich am Ende immer irgendwie einigen müssen. Es ist immer ein Geben und Nehmen. Der soziale Dialog ist die Grundlage der europäischen Gesellschaften. Ohne ihn sind Fortschritt oder Stabilität im wirtschaftlichen und sozialen Bereich nicht möglich. Der soziale Dialog ist das Instrument, mit dem die Forderungen der Arbeitnehmer mit denen der Arbeitgeber und anderen wirtschaftlichen Interessen in Einklang gebracht werden und wovon wir hoffentlich alle profitieren. Entsprechend müssen in Krisenzeiten die Sozialpartner und alle Akteure der Zivilgesellschaft ebenfalls Teil des Reformprozesses sein. Der EU‑Vertrag verpflichtet sämtliche EU‑Institutionen zur Teilnahme am strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft. Der EWSA ist mit mehr als einem halben Jahrhundert Erfahrung auf dem Gebiet der Konsensbildung bestens auf diese Aufgabe vorbereitet und bereit zu helfen. Wir vertreten die Ansicht, dass sachgemäß ausgearbeitete Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken – bei denen der soziale Dialog stets ein elementarer Bestandteil ist – eine positive Triebkraft darstellen, und das nicht nur im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit, sondern auch in Sachen wirtschaftliche Gesamtleistung. Nur gemeinsam mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft kann die Strategie Europa 2020 konkrete Ergebnisse erzielen und allen Europäern ein besseres Leben bieten. 43 44 © 123RF Kapitel 3 Funktionsweise des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene Der branchenübergreifende und sektorale soziale Dialog auf EU‑Ebene setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen – Maßnahmen als Reaktion auf die Anhörungen durch die Europäische Kommission und unabhängige Tätigkeiten in Bezug auf Themen, die von den Sozialpartnern selbst bestimmt werden (wenngleich diese so gestaltet werden können, dass sie sich in die EU‑Debatten und -Politik einfügen). Vertragsbasierte Anhörungen durch die Kommission sind sowohl beim branchenübergreifenden als auch sektoralen Dialog üblich, und Anhörungs- und Verhandlungsverfahren gemäß Artikel 154 und 155 Sozialpartner Kommission Choice Wahl Erste Anhörung zur etwaigen Ausrichtung der Gemeinschaftsmaßnahme Verhandlungen Rat/Parlament Stellungnahmen max. 9 Monate Erfolg Zweite Anhörung zum Inhalt des vorgesehenen Vorschlags Scheitern Wahl Choice Verhandlungen Stellungnahmen max. 9 Monate Gesetzesvorschlag Scheitern Erfolg Diskussion, Änderungen und Annahme als EU-Gesetz Vereinbarung 22possibilities Umsetzungsfor implementation möglichkeiten Anfrage Autonome Vereinbarung: Umsetzung durch nationale Sozialpartner in allen Mitgliedstaaten Bewertung Gesetzesvorschlag (mit Vereinbarung im Anhang) Annahme als EUGesetz (oder Ablehnung) nur durch Rat 45 wir befassen uns zunächst mit den Mechanismen dieses Prozesses. Anhörungen zu Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik Laut Artikel 154 AEUV muss die Kommission vor dem Einreichen von Vorschlägen im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik die Sozialpartner zur möglichen Ausrichtung einer Gemeinschaftsaktion anhören. Die von ihr angehörten Sozialpartnerorganisationen erfüllen folgende Voraussetzungen: • Sie sind branchenübergreifend, beziehen sich auf spezifische Sektoren oder Kategorien und sind auf europäischer Ebene organisiert; • sie bestehen aus Organisationen, die selbst „in ihrem Land integra­ ler und anerkannter Bestandteil des Systems der Arbeitsbeziehungen sind“, können Vereinbarungen aushandeln und alle Mitgliedstaaten weitestgehend vertreten; • sie verfügen über „geeignete Strukturen“, um am Anhörungsprozess effektiv teilnehmen zu können. Die Kommission führt und aktualisiert eine Liste mit Organisationen, die ihrer Ansicht nach diese Voraussetzungen für die Anhörung erfüllen. Die aktuelle Liste (beigefügt in Anhang 1) setzt sich zusammen aus: • drei allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen (BusinessEurope, CEEP und EGB); • drei branchenübergreifenden Or­­ ganisationen, die bestimmte Arbeitnehmer- oder Unternehmens­ ka­te­go­rien repräsentieren (Euro­ cadres, UEAPME und CEC); 46 • einer „spezifischen Organisation“ (Eurochambres – die Vereinigung der Europäischen Industrie- und Handelskammern); • 62 sektoralen Arbeitgeberorga­ni­ sationen; • 17 sektoralen europäischen Gewerkschaftsorganisationen. Diese Organisationen müssen innerhalb von sechs Wochen auf die anfängliche Anhörung reagieren, in der normalerweise die entsprechenden Themen erläutert und allgemeine Fragen zu möglichen Maßnahmen gestellt werden. Die Kommission fragt die Sozialpartner nach ihrer Meinung, sowohl zum wesentlichen Thema als auch zu der Frage, ob eine gemeinschaftliche Aktion vonnöten ist (und wenn ja, welcher Art diese sein soll), und fragt nach, ob sie die Einleitung eines Dialogs in Betracht ziehen. Sollte die Kommission im Anschluss an diese erste Anhörung EU‑Maßnahmen für angebracht halten, hört sie die Sozialpartnerorganisationen auf ihrer Liste ein zweites Mal an, dieses Mal zum Inhalt des geplanten Vorschlags. Die Sozialpartner müssen sich ein weiteres Mal innerhalb von sechs Wochen äußern. Das Dokument zur zweiten Anhörungsstufe fasst üblicherweise die Reaktionen auf die anfängliche Anhörung zusammen und nennt konkretere Optionen für EU‑Maßnahmen. Die Partner werden darin nach ihren Ansichten zu den Optionen gefragt und ob sie bereit sind, in Verhandlungen zu allen oder einigen der betreffenden Themen zu treten. Die Sozialpartner können als Reaktion darauf eine Stellungnahme oder Empfehlung zu den betreffenden Themen an die Kommission richten. Im Anschluss an eine Anhörung der ersten oder zweiten Stufe können die Sozialpartner gemeinsam beschließen, Verhandlungen auf EU‑Ebene zu den betreffenden Themen aufzunehmen. Vertragsbasierte Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern Artikel 155 AEUV besagt, dass der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf EU‑Ebene zur Herstellung „vertraglicher Beziehungen einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen“ führen kann, wenn diese es so wünschen. Wenn die Sozialpartner beschließen, im Anschluss an eine Anhörung durch die Kommission über einen Vorschlag zu EU‑Maßnahmen im Bereich Sozialpolitik zu verhandeln, dann müssen sie die Kommission darüber informieren, die dann vorübergehend die Arbeit am Vorschlag unterbricht. Die Partner haben anschließend neun Monate Zeit, um zu einer Vereinbarung zu gelangen, es sei denn, sie beschließen gemeinsam mit der Kommission eine Verlängerung. Erfolgt die Aufnahme der Verhandlungen ausschließlich auf Initiative der Sozialpartner, gibt es keine derartige Frist für die Gespräche. Gelangen die Sozialpartner zu einer Vereinbarung auf EU‑Ebene, gibt es zwei Möglichkeiten für deren Umsetzung: • In allen Fällen können die Partner beschließen, das Abkommen „nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten” umzusetzen, d. h., die Vereinbarung wird durch die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner gemäß den Systemen für Arbeitsbeziehungen in jedem Mitgliedstaat umgesetzt, oder • in den Fällen, die sich mit beschäftigungsspezifischen/sozialen The­ men befassen, die in die Zuständigkeit der EU fallen, können die Sozialpartner bei der Kommission den Vorschlag einer Entscheidung (d. h. einer Richtlinie) beantragen, die vom Rat verabschiedet werden muss, damit die Vereinbarung innerhalb der EU rechtsgültig wird. Beantragen die Sozialpartner bei der Kommission den Vorschlag einer Richtlinie an den Rat zur Umsetzung einer Vereinbarung, die im Anschluss an Anhörungen gemäß Artikel 154 getroffen wurde, führt die Kommission zunächst eine Prüfung durch. Sie prüft den Vertreterstatus der unterzeichnenden Organisationen, ihr Mandat und die Legalität des Inhalts der Vereinbarung in Bezug auf die EU‑Gesetzgebung sowie die Bestimmungen hinsichtlich KMU. (Der Vertrag legt fest, dass die Gesetzgebung im Bereich Beschäftigung möglichst keine administrativen, finanziellen und gesetzlichen Beschränkungen auferlegt, welche die Gründung und Entwicklung von KMU beeinträchtigen würden.) Die Kommission 47 formuliert erst dann eine Richtlinie, wenn das Prüfungsergebnis zufriedenstellend ist. Durch die Richtlinie wird die betreffende Vereinbarung EU‑weit rechtsgültig, und die Vereinbarung wird als Anhang beigefügt. Der Rat entscheidet lediglich, ob die Richtlinie verabschiedet wird; er kann die Bestimmungen der Vereinbarung nicht abändern. Die Verabschiedung der Richtlinie bedeutet, dass die Kommission ihre Arbeit am Vorschlag in den von der Vereinbarung abgedeckten Bereichen unterbricht. Treffen die Sozialpartner im Anschluss an Anhörungen gemäß Artikel 154 eine Vereinbarung und beschließen, diese gemäß den Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten umzusetzen, so führt die Kommission eine Prüfung auf die gleiche Art und Weise durch, wie es auch bei durch eine Richtlinie umzusetzenden Vereinbarungen der Fall ist. Die Kommission unterbricht zwar ihre Arbeit im Zusammenhang mit den betreffenden Themen, überwacht jedoch die EU‑weite Umsetzung der Vereinbarung und bewertet das Ausmaß, in dem diese zur Erreichung der Ziele der EU beiträgt. Wenn die Kommission beschließt, dass die Vereinbarung diesen Zielen nicht entspricht, kann sie jederzeit die Arbeit zum betreffenden Thema wieder aufnehmen und gegebenenfalls Gesetze vorschlagen. Im Hinblick auf die Wahl zwischen der Umsetzung von im Anschluss an formelle Anhörungen getroffenen Vereinbarungen auf EU‑Ebene 48 durch eine Richtlinie oder die Unterzeichner selbst lautet die allgemeine Regel, dass die Umsetzung durch eine Richtlinie bevorzugt anzuwenden ist, wenn sich die Vereinbarungen mit Grundrechten oder bedeutenden politischen Themen befassen oder wenn es erforderlich ist, dass die Regeln einheitlich und innerhalb der gesamten EU angewandt werden bzw. wenn eine bestehende Richtlinie geändert werden soll. Funktionsweise des branchenübergreifenden sozialen Dialogs Das Hauptforum für den zweigliedrigen branchenübergreifenden Dia­ log ist der Ausschuss für den sozialen Dialog (ASD). Der 1992 gegründete ASD besteht aus 32 Gewerkschaftsvertretern (EGB, mit Eurocadres und CEC als Teil seiner Delegation) und 32 Arbeitgebervertretern (BusinessEurope, CEEP und UEAPME). Den Vorsitz hat die Europäische Kommission inne. Er kommt normalerweise dreimal im Jahr zusammen und kann Arbeitsgruppen bilden, die sich mit spezifischen Themen befassen. Im Falle einer Anhörung gemäß Artikel 154, bei der sich mindestens ein Partner für Verhandlungen zum betreffenden Thema ausspricht, werden üblicherweise die anderen Partner zur Möglichkeit von Gesprächen befragt. Entscheiden sich die Partner für die Aufnahme von Verhandlungen, erteilen sowohl die Gewerkschafts- als auch die Arbeitgeberseite ihre spezifischen Mandate, die von den Entscheidungsträgern sämtlicher betroffenen Sozialpartner auf EU‑Ebene genehmigt werden müssen. Beide Seiten ernennen anschließend Verhandlungsteams, und die Verhandlungen werden unter dem Vorsitz eines unabhängigen Schlichters aufgenommen. Die Verhandlungen müssen innerhalb von neun Monaten abgeschlossen sein, sofern mit der Kommission keine Verlängerung vereinbart wird. Der eigenständige Dialog der branchenübergreifenden Partner hat zahlreiche Formen, darunter: • Erstellen eigenständiger Arbeitsprogramme (während des Zeitraums 2003-2010 basierten die gemeinsamen Maßnahmen der Partner auf drei mehrjährigen Programmen; ein viertes Programm für den Zeitraum 2012-2014 wird voraussichtlich im ersten Quartal 2012 verabschiedet); • Festlegung von Themen für eigenständige Verhandlungen • • • • und anschließende Gespräche, die Vereinbarungen oder sonstige gemeinsame Verpflichtungen, wie etwa Aktionsrahmen, zur Folge haben können; Diskussion der Auswirkungen der EU‑Politik und -Strategien auf die Bereiche Beschäftigung und Soziales sowie häufig Verfassen gemeinsamer Stellungnahmen, Statements und ähnlicher Entwürfe, die an die EU‑Institutionen gerichtet werden; Durchführung gemeinsamer transnationaler Projekte zur För­ derung des Austauschs von Meinungen und bewährten Methoden, aus denen häufig die gemeinsame Veröffentlichung von Leitfäden und vergleichbaren Dokumenten resultiert; Veranstaltung ge­meinsamer Semi­ nare und Konferenzen; Nachbereitung der Umsetzung vorangegangener Vereinbarungen und Aktionsrahmen auf nationaler Ebene. Kasten 10. Der Dreigliedrige Sozialgipfel Der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung wurde im Jahr 2003 durch einen Beschluss des Rates (2003/174/EG) offiziell eingerichtet und 2009 durch den Vertrag von Lissabon anerkannt und mit der Aufgabe betraut, einen Beitrag zum sozialen Dialog zu leisten. Seine Funktion besteht in der Gewährleistung des kontinuierlichen Dialogs zwischen dem Rat, der Europäischen Kommission und den Sozialpartnern auf EU‑Ebene, indem er Letzteren ermöglicht, zu den zahlreichen Komponenten der integrierten Wirtschafts- und Sozialstrategie der EU sowie ihrer Dimension der nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Der Gipfel stützt sich auf die Arbeit der zahlreichen spezialisierten Konzertierungsforen zu Themen aus den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Beschäftigung (siehe Kasten 4). 49 Im Rahmen des Gipfels kommen hochrangige Vertreter der aktuellen Ratspräsidentschaft und der zwei nachfolgenden Präsidentschaften (einschließlich der zuständigen Minister für Arbeit und Soziales sowie je nach Tagesordnung anderer Minister), die Kommission und die Sozialpartner zusammen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden jeweils durch eine Delegation aus je zehn Mitgliedern vertreten (in denen Frauen und Männer gleichermaßen vertreten sind), die sich aus Vertretern branchenübergreifender Sozialpartnerorganisationen auf EU‑Ebene zusammensetzen. Die Delegation der Arbeitnehmer wird vom EGB koordiniert und die Delegation der Arbeitgeber von BusinessEurope, wobei beide gewährleisten, dass die Ansichten spezifischer und sektoraler Organisationen umfassend berücksichtigt werden und diese Organisationen, sofern angemessen, über Vertreter innerhalb der Delegationen verfügen. Die Agenda des Gipfels wird gemeinsam von der Ratspräsidentschaft, der Kommission und den branchenübergreifenden Sozialpartnern festgelegt. Die Tagesordnungsthemen werden ferner vom Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz diskutiert. Der Gipfel ist seit seiner Einrichtung im Jahr 2003 zweimal jährlich zusammengetreten. Die Präsidenten des Europäischen Rates, des Rates der Europäischen Union und der Kommission haben gemeinsam den Vorsitz des Gipfels inne. Der Gipfel hat es den Sozialpartnern ermöglicht, einen Beitrag zur Strategie von Lissabon für Wachstum und Beschäftigung und später zur Strategie Europa 2020 zu leisten. Sie stellten beispielsweise ihre branchenübergreifende Vereinbarung zu integrativen Arbeitsmärkten (siehe S. 64) auf dem Gipfel im März 2010 als Beitrag zur Agenda für integratives Wachstum von Europa 2020 vor sowie eine gemeinsame Analyse der wesentlichen Herausforderungen für die europäischen Arbeitsmärkte auf dem Gipfel im Oktober 2007 als Beitrag zur EU‑Debatte über Flexicurity. Während der Wirtschaftskrise stellte der Gipfel insbesondere ein Forum für die Sozialpartner dar, in dem diese ihre Ansichten zur Bewältigung der Krise und ihrer Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sowie hinsichtlich der Rückkehr zum Wachstum äußern konnten. 50 Funktionsweise des sektoralen sozialen Dialogs Die anerkannten sektoralen Sozialpartner werden von der Europä­ ischen Kommission zu Vorschlägen in den Bereichen Sozial- und Beschäftigungspolitik genauso angehört wie die branchenübergreifenden Partner (wie in Artikel 154 AEUV festgelegt). Wenn das betreffende Thema spezifisch für einen bestimmten Sektor ist bzw. bestimmte Auswirkungen auf einen Sektor hat, können die sektoralen Sozialpartner beschließen, zu diesem Thema eine Vereinbarung auf europäischer Ebene auszuhandeln. Die geschlossenen Vereinbarungen können durch die nationalen Mitglieder der unterzeichnenden Organisationen oder, auf Anfrage vonseiten der Unterzeichner, durch eine Richtlinie umgesetzt werden. © ImageGlobe Die ASSD stellen zwar das Forum für Verhandlungen auf der Grundlage von Anhörungen gemäß Artikel 154 dar, es sind jedoch eher die individuellen Sozialpartnerorganisationen, die von der Kommission im Rahmen dieses Verfahrens angehört werden. Die ASSD haben ihre eigene spezifische beratende Funktion in Bezug auf Entwicklungen auf EU‑Ebene in anderen Bereichen als der Sozialpolitik, die soziale Auswirkungen auf ihren Sektor haben. Die zahlreichen Dienststellen der Europä­ ischen Kommission müssen prüfen, ob die vorgeschlagenen Initiativen soziale Auswirkungen auf irgendeinen Sektor haben, und wenn ja, die betreffenden ASSD anhören. So muss die Kommission z. B. bei der Konzeption der verbindlichen Folgenabschätzungen, die ihren Gesetzesinitiativen vorangehen, die ASSD der betroffenen Branchen anhören und das betreffende Thema, die politischen Optionen und deren potenzielle soziale und beschäftigungsbezogene Auswirkungen erörtern. Als Reaktion können die 51 ASSD durch gemeinsame Stellungnahmen, Positionen oder Erklärungen einen Beitrag zur politischen Entscheidungsfindung der Kommission leisten, was sie auch relativ häufig tun. Lediglich ein Teil der Arbeit der ASSD bezieht sich auf die Anhörungen der Europäischen Kommission. Zu ihren Aufgaben zählen auch die Schaffung und Förderung eines eigenständigen zweigliedrigen so­ zialen Dialogs in ihrem Sektor. Die ASSD legen ihre eigene Vorgehensweise fest und erstellen in den meisten Fällen Arbeitsprogramme, nach denen ihre Aktivitäten für ein Jahr bzw. mehrere Jahre ausgerichtet sind. Diese Programme definieren normalerweise mehrere zentrale Themen für die Tätigkeiten während des betreffenden Zeitraums, mit denen sich gewöhnlich von Fall zu Fall gebildete oder permanente Arbeitsgruppen befassen. Die Sozialpartner können Nachforschungen zu den betreffenden Themen durchführen oder in Auftrag geben, Seminare oder Konferenzen veranstalten, bewährte Verfahren austauschen oder sonstige gemeinsame Entwürfe zum sozialen Dialog Vereinbarungen zur Etablierung von Standards (Artikel 155 Absatz 2 AEUV) Empfehlungen zu Standards und Grundsätzen (prozessorientierte Entwürfe) Informations­ austausch Rahmenvereinbarungen Autonome Vereinbarungen Aktionsrahmen Leitfäden und Verhaltenskodizes Folgemaßnahmen auf nationaler Ebene Politische Leitlinien Gemeinsame Stellungnahmen Erklärungen Werkzeuge 52 Umsetzung Verbreitung von Informationen Projektaktivitäten durchführen, häufig mit Fördermitteln aus den Budgets für den sozialen Dialog der Kommission. In einigen Fällen führt dies zur Unterzeichnung von Vereinbarungen oder sonstigen gemeinsamen Entwürfen. Instrumente Die von den Sozialpartnern vereinbarten gemeinsamen Entwürfe oder „Instrumente“ können unterschiedliche Formen annehmen, je nach Ursprung der Initiative, dem betreffenden Thema und den Zielsetzungen und Kompetenzen der Unterzeichnenden. Sie können grob in die folgenden Kategorien unterteilt werden: • Vereinbarungen; • „verfahrensorientierte“ Entwürfe; • gemeinsame Stellungnahmen und Werkzeuge; • prozessbezogene Entwürfe. Vereinbarungen EU‑weite Vereinbarungen legen Mindeststandards fest, die innerhalb der gesamten EU anzuwenden sind, und erteilen bestimmte Auflagen, die innerhalb einer gewissen Frist erfüllt sein müssen. Wie bereits auf S. 45 erläutert, können diese aus formellen Anhörungen der Sozialpartner gemäß Artikel 154 AEUV oder Verhandlungen auf Initiative der Sozialpartner resultieren. Vereinbarungen können auf eine der beiden in Artikel 155 dargelegten Arten umgesetzt werden: • durch eine von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Richtlinie des Rates auf gemeinsamen Antrag der Unterzeichnerparteien, wodurch die Vereinbarung EU‑weit rechtsgültig wird; oder • nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten – d. h. durch die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichnerparteien. Die Verantwortung für die Gewährleistung der Einführung von durch eine Richtlinie umgesetzten Vereinbarungen liegt bei den Mitgliedstaaten, und die Verantwortung für die Überwachung der Umsetzung liegt in erster Linie bei der Kommission. Im Gegensatz dazu liegt die Verantwortung für die Umsetzung „eigenständiger“ Vereinbarungen und die Überwachung dieser Umsetzung bei den Sozialpartnern. Die Unterzeichner sind jedoch insbesondere dann, wenn solche Vereinbarungen im Anschluss an Anhörungen gemäß Artikel 154 ausgehandelt wurden, dazu verpflichtet, diese umzusetzen und ihre Mitgliedsverbände dahin gehend zu beeinflussen. Verfahrensorientierte Entwürfe Einige von den Sozialpartnern unterzeichnete gemeinsame Entwürfe müssen wie Vereinbarungen umgesetzt werden, werden tatsächlich jedoch in mehreren Stufen und auf eine stärker prozessorientierte Weise umgesetzt. Diese Entwürfe enthalten Empfehlungen der Partner auf EU‑Ebene an ihre Mitglieder im Hinblick auf Folgemaßnahmen 53 und legen eine regelmäßige Bewertung der Fortschritte bei der Erreichung der Zielsetzung fest. Verfahrensorientierte Entwürfe werden in folgende Kategorien unterteilt: • Aktionsrahmen legen politische Prioritäten fest, und die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner verpflichten sich, auf die Verwirklichung dieser Prioritäten hinzuarbeiten. Diese Prioritäten fungieren als Benchmarks, und die Sozialpartner erstatten regelmäßig Bericht über die diesbezüglich ergriffenen Folgemaßnahmen. • Leitlinien und Verhaltenskodizes enthalten Empfehlungen und/ oder Vorgaben der Unterzeichner für die nationalen Mitgliedsverbände bezüglich der Schaffung von Standards oder Grundsätzen. • Politische Leitlinien sind Entwürfe, in denen die Unterzeichner aktiv für bestimmte Politiken bei ihren Mitgliedern werben, erklären, wie diese zu verwirklichen sind (z. B. durch die Sammlung und den Austausch bewährter Verfahren oder Sensibilisierungsmaßnahmen), und festlegen, wie die Sozialpartner die Folgemaßnahmen und deren Auswirkungen bewerten. Gemeinsame Stellungnahmen und Werkzeuge Einige gemeinsame Entwürfe tragen im Wesentlichen zur Bereitstellung oder zum Austausch von Informationen bei, entweder aufwärts von den Sozialpartnern hin zu den EU‑Institutionen und/oder nationalen Behörden oder abwärts, 54 indem den nationalen Mitgliedern der Sozialpartner die Auswirkungen von EU‑Politiken erläutert werden. Mit diesen Instrumenten sind keine Umsetzungs-, Überwachungs- oder Folgemaßnahmen verbunden. Es gibt drei verschiedene Arten: • Gemeinsame Stellungnahmen (und Erläuterungen) sollen im Allgemeinen den EU‑Institutionen und/ oder nationalen Behörden Informationen liefern. Diese Entwürfe können Reaktionen auf EU‑Anhörungen sein (wie etwa Grün- oder Weißbücher und Diskussionspapiere), eine gemeinsame Haltung gegenüber einer spezifischen EU‑Politik ausdrücken oder die Kommission dazu aufrufen, eine bestimmte Haltung einzunehmen oder Maßnahmen zu ergreifen. • Erklärungen sind üblicherweise an die Sozialpartner selbst gerichtet und beinhalten deren geplante künftige Tätigkeiten und Maßnahmen. • Instrumente, die von den Sozialpartnern häufig mithilfe von EU‑Zuschüssen entwickelt werden, umfassen Leitfäden und Handbücher, die Beschäftigten und Unternehmen praktische Ratschläge erteilen, beispielsweise durch Erklären der Auswirkungen der EU‑Gesetzgebung zu bestimmten Themen oder die Förderung des Austauschs bewährter Verfahren. Prozessbezogene Entwürfe Die Sozialpartner haben ferner mehrere gemeinsame Entwürfe unterzeichnet, die zwar keinen wesentlichen Inhalt haben, jedoch die Regeln für ihren zweigliedrigen Dialog festlegen. Bei den meisten Entwürfen dieser Art handelt es sich um die Verfahrensordnung, auf die sich die Partner für die Ausschüsse für sektoralen sozialen Dialog geeinigt haben. 55 Stimme aus dem Europäischen Parlament Thomas Mann Mitglied des Europäischen Parlaments (EVP) Was sind Ihre Ansichten als Parlamentsmitglied zum europäischen sozialen Dialog als zweigliedrigem eigenständigem Prozess? Ich bin ein starker Befürworter des sozialen Dialogs! Diese regelmäßigen Zusammenkünfte der Vertreter der europäischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben eine lange und beeindruckende Tradition. Diese Partner vertreten derzeit 145 Millionen Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union. Meiner Meinung nach ist eine kooperative und konsensuelle Beziehung zwischen den Sozialpartnern ein Grundpfeiler des EU‑Sozialmodells. Wenn wir nun die dreigliedrige Dimension betrachten, welchen Beitrag können die europäischen Sozialpartner Ihrer Meinung nach zur Umsetzung der Strategie Europa 2020 leisten? Die europäischen Sozialpartner sind von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Strategie Europa 2020. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Sie verfolgen das tägliche Leben der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sozusagen hautnah. Die Strategie Europa 2020 kann also mit größerem Erfolg umgesetzt werden, wenn die Sozialpartner ihre Ziele und Maßnahmen unterstützen. Die Kommunikation ist ein wichtiges Instrument, das sie beisteuern können. Europa 2020 ist ein komplexes Projekt, das erklärt werden muss; andernfalls laufen wir Gefahr, dass es nicht verstanden wird. Das ist die tägliche Arbeit der Parlamentsmitglieder! Artikel 154-155 AEUV sehen die Regelung durch die Sozialpartner für die Sozialpartner vor. Glauben Sie, dass die Sozialpartner von ihren Kompetenzen umfassend Gebrauch machen sollten, um Vereinbarungen zur besseren Regelung der Beschäftigungs- und Sozialpolitik auszuhandeln? Ich bin überzeugt davon, dass die Sozialpartner ihre Möglichkeiten vollständig ausschöpfen sollten. Ein Blick auf die Geschichte der EU zeigt, dass die 56 Vereinbarungen der Sozialpartner noch nie negative Auswirkungen hatten – eine Erfolgsgeschichte! Beide Seiten profitieren von einer Win‑Win‑Situation. Die hohe und steigende Zahl der Ausschüsse für den sozialen Dialog ist ein klarer Indikator für die Attraktivität und die Vorteile der damit verbundenen politischen Instrumente. Glauben Sie, dass der europäische soziale Dialog in der aktuellen Krise eine Funktion übernehmen kann? Wie könnte diese aussehen? Der Dialog zwischen Unternehmen, Arbeitnehmern und der Europäischen Union half und hilft in der aktuellen Krise bei der Verwirklichung von Entscheidungen. Die Sozialpartner in den Mitgliedstaaten haben Verhandlungen aufgenommen, um die Auswirkungen der Krise zu mindern. Zahlreiche Vereinbarungen wurden auf nationaler Ebene unterzeichnet, insbesondere im Bereich Arbeitszeit, um einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Derzeit finden die Länder mit den stärksten Sozialpartnerschaften die besseren Lösungen zur Bewältigung der Krise. Wie beurteilen Sie die Rolle und die zentralen Herausforderungen für den sozialen Dialog in den Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und von Europa 2020? Die Krise spielt eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche und soziale Geschichte Europas. Sie hat massiven Druck auf den Antagonismus ausgeübt. Der soziale Dialog während der Krise hat das Vertrauen zwischen den Arbeitgebern und Gewerkschaften verstärkt, da Massenentlassungen in vielen Mitgliedstaaten vermieden werden konnten. Die Sozialpartner sollten nun diesen Weg der engen Zusammenarbeit weitergehen. Es müssen weitere Fortschritte verzeichnet werden, insbesondere im Hinblick auf die Schaffung von Wohlstand und die Verringerung der Ungleichheiten. 57 58 © ImageGlobe Kapitel 4 Was wurde beim sozialen Dialog auf EU‑Ebene erreicht? Überblick über unterzeich‑ nete gemeinsame Entwürfe des sozialen Dialogs Ein Teil des Werts des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene kommt vom Vorgang selbst sowie den Kontakten, dem Aufbau von Vertrauen, Austausch von Ansichten und Informationen und der gemeinsamen Arbeit, die damit einhergehen. Solche Errungenschaften lassen sich aufgrund ihrer Natur nur schwer quantifizieren und auswerten. Zum Dialog zählen auch Maßnahmen wie gemeinsame Studien, Konferenzen und Seminare sowie Initiativen zum Kapazitätenausbau in den neuen Mitgliedstaaten. Die sichtbarsten und bekanntesten Ergebnisse des Dialogs sind die zahlreichen gemeinsamen Entwürfe der Sozialpartner. Durch diese können die Errungenschaften des Dialogs am besten bewertet werden. Die Europäische Kommission führt eine Datenbank aus gemeinsamen Entwürfen, die von den Sozialpartnern auf branchenübergreifender und sektoraler Ebene vereinbart wurden. Mit Stand vom Oktober 2011 (alle hier verwendeten Zahlen beziehen sich auf den Inhalt der Datenbank zu diesem Zeitpunkt) wurden 650 Entwürfe im Rahmen des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene verfasst. Diese gehen zurück bis in das Jahr 1978, die große Mehrheit wurde jedoch seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vereinbart, als der zweigliedrige Dialog branchenübergreifend ernsthaft aufgenommen und in zahlreichen Sektoren eingeführt wurde. Die gesamten gemeinsamen Entwürfe (siehe Abbildung 1) setzen sich zu drei Vierteln aus gemeinsamen Stellungnahmen und Werkzeugen zusammen, während jeder zehnte ein verfahrensorientierter Entwurf ist. Bei den restlichen Entwürfen handelt es sich um prozessbezogene Entwürfe, Berichte über Folgemaßnahmen (die sich mit der Umsetzung vorangegangener gemeinsamer Entwürfe befassen) und Vereinbarungen (die lediglich 3 % der Gesamtzahl ausmachen). Abbildung 1. Entwürfe des sozialen Dialogs auf EU-Ebene, nach Typ 6% 3% 3% 10 % 77 % Gemeinsame Stellungnahmen und Werkzeuge Verfahrensorientierte Entwürfe Prozessbezogene Entwürfe Vereinbarungen Berichte über Folgemaßnahmen 59 Die Themen der vereinbarten gemeinsamen Entwürfe verweisen deutlich auf die Tagesordnungsthemen des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene (siehe Abbildung 2). Die elf am häufigsten behandelten Themen (jedes einzelne macht mindestens 3 % aller gemeinsamen Entwürfe aus) sind in Abbildung 2 angegeben. Abbildung 2. Entwürfe des sozialen Dialogs auf EU-Ebene, nach Thema 11 % 21 % 3% 3% 3% 4% 12 % 7% 7% 8% 11 % 10 % Wirtschaftliche und/oder sektorale Themen Sozialer Dialog (z. B. Verfahren, Verpflichtung zur Dialogführung) Weiterbildung und lebenslanges Lernen Gesundheit und Sicherheit Förderung der Beschäftigung Arbeitsbedingungen Soziale Aspekte der EU-Politiken Soziale Verantwortung der Unternehmen Arbeitszeit Gleichstellung der Geschlechter Nachhaltige Entwicklung Sonstige Themen Weitere Themen, die weniger häufig Gegenstand von gemeinsamen Entwürfen sind: 60 • die EU‑Erweiterung, üblicherweise vor dem Hintergrund der Erweiterungen 2004 und 2007, mit Schwerpunkt auf Themen wie Integration von Partnern aus den neuen Mitgliedstaaten in den sozialen Dialog; • Mobilität, insbesondere im Hinblick auf soziale Sicherheit oder Qualifikationen im Zusammenhang mit der Mobilität innerhalb der EU; • öffentliches Beschaffungswesen, häu­ fig Förderung sozial ver­ ant­ wortlicher Beschaffungsme­tho­den bzw. Beschaffungsmetho­den mit dem besten Preis‑Leistungs‑Verhältnis; • Umstrukturierung, insbesondere die sozial verantwortliche Handhabung von Veränderungen auf Sektor- oder Betriebsebene; • Telearbeit, mit Themen wie Behandlung der betroffenen Mitarbeiter und praktische Vorkehrungen; • die alternde Erwerbsbevölkrung, mit Themen wie Altersstruktur und demografische Her­ausfor­de­ rungen; • Belästigung, einschließlich Ge­walt am Arbeitsplatz; • junge Menschen, mit Themen wie deren Beschäftigungssituation oder Beiträgen zur EU‑Politik; • Rassismus, mit dem Ziel der Vor­ beugung solcher Verhaltens­wei­ sen, einschließlich Fremden­feind­ lichkeit; • Schwarzarbeit, im Allgemeinen mit dem Ziel ihrer Bekämpfung in bestimmten Sektoren; • Behinderung, z. B. Förderung der Beschäftigung und Integration von Menschen mit Behinderungen. Wesentliche Erfolge: durch Richtlinien umgesetzte Vereinbarungen Die sichtbarsten Ergebnisse des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene sind im Hinblick auf den Arbeitsalltag der Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Vereinbarungen, die mithilfe von Richtlinien des Rates innerhalb der EU Rechtskraft erlangt haben. Es gibt vier solcher branchenübergreifenden Vereinbarungen, zwei davon befassen sich mit Elternurlaub und jeweils eine mit Teilzeitarbeit und befristeten Arbeitsverträgen (siehe Kasten 11). Diese Vereinbarungen haben Änderungen an der Gesetzgebung zahlreicher Mitgliedstaaten bewirkt (wenngleich die nationalen Bestimmungen in manchen Fällen die von der Vereinbarung festgelegten Voraussetzungen bereits übertroffen hatten) und Millionen von Arbeitnehmern neue Rechte verliehen, was zu verbesserten Beschäftigungsbedingungen für Arbeitnehmer in Teilzeit und mit befristeten Arbeitsverträgen sowie für berufstätige Eltern geführt hat. Kasten 11. Die vier branchenübergreifenden durch Richtlinien umgesetzten Vereinbarungen • Durch die Rahmenvereinbarung vom Dezember 1995 über Elternurlaub erhalten alle Beschäftigten das individuelle und nicht übertragbare Recht auf mindestens drei Monate Elternurlaub, bis ihr Kind ein bestimmtes Alter (das auf nationaler Ebene festgelegt werden muss) von bis zu acht Jahren erreicht hat. Die Vereinbarung ermöglicht den Beschäftigten ebenfalls das Fernbleiben vom Arbeitsplatz aus dringenden familiären Gründen. Die Vereinbarung wurde durch die Richtlinie 96/34/EG umgesetzt, welche die Mitgliedstaaten bis Juni 1998 in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen hatten (bzw. zum Beitrittszeitpunkt bei Mitgliedstaaten, die der EU erst im Anschluss daran beigetreten sind). • Die Rahmenvereinbarung vom Juni 1997 über Teilzeitarbeit legt den Grundsatz fest, dass Teilzeitkräfte in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden dürfen. Sie wurde durch die Richtlinie 97/81/EG umgesetzt, welche die Mitgliedstaaten bis Januar 2000 in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen hatten (bzw. zum Beitrittszeitpunkt bei Mitgliedstaaten, die der EU erst im Anschluss daran beigetreten sind). • Die Rahmenvereinbarung vom März 1999 über befristete Arbeitsverträge legte den Grundsatz fest, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil für sie ein befristeter Arbeitsvertrag oder ein befristetes Arbeitsverhältnis 61 gilt, gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden dürfen. Das Abkommen wurde durch die Richt­ linie 1999/70/EG umgesetzt, welche die Mitgliedstaaten bis Juli 2001 in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen hatten (bzw. zum Beitrittszeitpunkt bei Mitgliedstaaten, die der EU erst im Anschluss daran beigetreten sind). • Im Juni 2009 unterzeichneten die Sozialpartner eine überarbeitete Version ihrer Vereinbarung von 1995 über Elternurlaub. Die Änderungen umfassten unter anderem eine Erhöhung des Mindestanspruchs auf Elternurlaub von drei auf vier Monate je Mitarbeiter, wobei mindestens ein Monat nicht von einem Elternteil auf den anderen übertragen werden kann. Die Vereinbarung wurde durch die Richtlinie 2010/18/EU umgesetzt, welche die Richtlinie von 1996 aufhebt und ersetzt und die von den Mitgliedstaaten bis März 2012 in die nationale Gesetzgebung übernommen werden muss. Fünf sektorale Vereinbarungen wurden wie folgt durch Richtlinien umgesetzt: • Eine Vereinbarung zur Arbeitszeit von Seeleuten wurde von den sektoralen Sozialpartnern (ECSA und ETF) im September 1998 unterzeichnet und regelt Aspekte wie Arbeits- und Ruhezeiten für diese Arbeitnehmergruppe, die nicht vollständig durch die EU‑Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) abgedeckt ist. Die Vereinbarung wurde umgesetzt durch die Richtlinie 1999/63/EG, die von den Mitgliedstaaten bis Juni 2002 in die nationale Gesetzgebung übernommen werden musste. • Ferner wurde eine Vereinbarung zur Arbeitszeit des fliegenden Personals der Zivilluftfahrt, einer weiteren Gruppe, die nicht vollständig durch die Arbeitszeitrichtlinie abgedeckt ist, von den sektoralen Partnern (AEA, ETF, ECA, ERA und IACA) im März 2000 unterzeichnet 62 und durch die Richtlinie 2000/79/ EG umgesetzt, mit Umsetzung in den Mitgliedstaaten bis Dezember 2003. • Im Januar 2004 unterzeichneten die Partner im Eisenbahnsektor (CER und ETF) eine Vereinbarung über die Einsatzbedingungen des fahrenden Personals im inter­ operablen grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr. Die Vereinbarung befasst sich hauptsächlich mit den Ruhezeiten/Pausen und den Fahrzeiten und legt spezifischere Bedingungen fest als die Arbeitszeitrichtlinie. Sie wurde umgesetzt durch die Richtlinie 2005/47/EG, die von den Mitgliedstaaten bis Juli 2008 in die nationale Gesetzgebung übernommen werden musste. • Eine im Mai 2008 durch die Sozialpartner im Seeverkehr unterzeichnete Vereinbarung befasste sich mit der Übernahme des 2006 von der IAO vereinbarten S e e­a r b e i t s ü b e r e i n k o m m e n s in die EU‑Gesetzgebung. Das Übereinkommen legt Mindestanforderungen an die Beschäftigungsbedingungen von Seeleuten fest, und die Vereinbarung der Sozialpartner führt die Änderungen an der EU‑Gesetzgebung auf, die zur Einhaltung des Übereinkommens erforderlich sind. Die Vereinbarung wurde durch die Richtlinie 2009/13/EG umgesetzt, welche die Mitgliedstaaten innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Übereinkommens in die nationale Gesetzgebung übernehmen mussten. • Im Juli 2009 trafen die Sozialpartner (HOSPEEM und EPSU) eine Vereinbarung über die Vermeidung von Verletzungen durch scharfe/spitze Gegenstände (z. B. Nadeln oder Skalpelle) im Krankenhaus- und Gesundheitssektor. Das Abkommen bezieht sich auf Bereiche wie Prävention, Schutz, Risikobewertung, Schulung und Information. Es wurde umgesetzt durch die Richtlinie 2010/32/EU und muss bis Mai 2013 in die nationale Gesetzgebung übernommen werden. Da die branchenübergreifenden Vereinbarungen durch Richtlinien umgesetzt wurden, haben diese sektoralen Vereinbarungen praktische und rechtsverbindliche Verbesserungen der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer in der gesamten EU bewirkt bzw. werden diese bewirken, insbesondere für Seeleute, fliegendes Personal der Zivilluftfahrt, Eisenbahnpersonal im grenzüberschreitenden Verkehr und Krankenhauspersonal. Wesentliche Erfolge: von den Sozialpartnern umgesetzte Vereinbarungen Vier branchenübergreifende Vereinbarungen wurden oder werden durch die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner „nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten“ wie folgt umgesetzt: • Die Rahmenvereinbarung vom Juli 2002 über Telearbeit legt fest, dass Telearbeiter als Beschäftigte die gleichen Rechte wie andere Mitarbeiter erhalten, und etabliert Garantien in Bereichen wie Zugang, Kosten, Gesundheit und Sicherheit, Arbeitszeit und kollektive Rechte. Die Mitglieder der branchenübergreifenden Sozialpartner mussten die Vereinbarung bis Juli 2005 umsetzen. • Im Oktober 2004 unterzeichneten die Partner eine Rahmenvereinbarung über arbeitsbedingten Stress, durch die das Bewusstsein und das Verständnis verbessert werden sollen und Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein „maßnahmenorientierter Rahmen“ zur Erkennung, Vorbeugung bzw. Bewältigung von Problemen bereitgestellt werden soll. Die nationalen Mitgliedsverbände mussten die Vereinbarung bis Oktober 2007 umsetzen. • Eine Rahmenvereinbarung über Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz wurde im April 2007 unterzeichnet. Sie wirbt für Sensibilisierung und Schulung, verpflichtet Unternehmen zu klaren Aussagen und Verfahren und 63 fordert die Ergreifung angemessener Maßnahmen gegen Täter und Hilfe für die Opfer. Die Frist für die Umsetzung durch die nationalen Mitglieder endete im April 2010. • Im März 2010 unterzeichneten die Sozialpartner eine Rahmenvereinbarung über integrative Arbeitsmärkte, die der Unterstützung von Menschen diente, die Probleme beim Zugang zum oder der Integration in den Arbeitsmarkt haben oder deren Arbeitsplatz bedroht ist. Die Vereinbarung skizziert Maßnahmen in Bereichen wie Aus- und Weiterbildung, Personaleinstellung und Einarbeitung, individuelle Entwicklung von Kompetenzen, geografische und berufliche Mobilität, die Förderung der Vielfalt in der Arbeitnehmerschaft, Sensibilisierung, Informationsverbreitung und Aktionspläne. Die Vereinbarung muss bis März 2013 umgesetzt werden. Vier bemerkenswerte sektorale Vereinbarungen sehen ebenfalls eine solche Umsetzung durch die Mitglieder der Unterzeichner vor – siehe Kasten 12. Kasten 12. Sektorale Vereinbarungen, die nach den Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten umgesetzt wurden • Im Januar 2004 unterzeichneten die Sozialpartner des Eisenbahnsektors (CER und ETF) eine Vereinbarung über einen europäischen Führerschein für den interoperablen grenzüberschreitenden Verkehr. Diese sieht einen auf Mindeststandards basierenden gemeinsamen Führerschein für Fahrzeugführer im grenzüberschreitenden Schienenverkehr in anderen Ländern vor. Diese Vereinbarung sollte durch Mitgliedsunternehmen des CER umgesetzt werden. Im Anschluss an die Verabschiedung einer Richt­linie über die Zertifizierung von Fahrzeugführern im Jahr 2007 (die zum Teil auf der vorangegangenen Vereinbarung basierte) veröffentlichten die Sozialpartner 2009 eine gemeinsame Erklärung zur Klarstellung der Anwendung ihrer im Jahr 2004 getroffenen Vereinbarung. • Die Sozialpartner in 14 Branchen, in denen kristalline Kieselsäure (ein Gefahrstoff ) verwendet wird, trafen 2006 eine multisektorale Vereinbarung über den Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer durch angemessene Handhabung und Verwendung des Stoffes. Die Vereinbarung führt bewährte Verfahren auf, die Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter gemeinsam auf Betriebsebene umsetzen werden. Die Umsetzung durch die nationalen Mitglieder ist derzeit im Gange und wird durch einen gemeinsamen Rat beaufsichtigt. 64 • Im Juni 2009 unterzeichneten die sektoralen Partner (Coiffure EU und Uni Europa) eine Vereinbarung über die Einführung europä­ ischer Zertifikate für Friseure, die auf gemeinsamen Ausbildungsstandards basieren. Die Mitglieder der Unterzeichner mussten sie auf nationaler Ebene bis Juni 2011 umsetzen. • Die Rahmenvereinbarung vom April 2011 über Kompetenzprofile zwischen den Partnern der chemischen Industrie (ECEG und EMCEF) legt EU‑weit geltende Mindestkernkompetenzen für Chemikanten und Industriemeister in diesem Sektor fest. Die Mitglieder der Unterzeichner werden die Vereinbarung in jedem Land berücksichtigen, und ECEG und EMCEF werden die Bestimmungen der Vereinbarung durch ihre Mitglieder auf EU-, nationaler, sektoraler, regionaler, lokaler und auf Betriebsebene unterstützen. Wenn eine Vereinbarung auf EU‑Ebene nach den „jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner“ in den einzelnen Ländern umgesetzt wird, dann bedeutet der Umstand, dass die Verfahren und Vorgehensweisen stark voneinander abweichen, dass die Umsetzung unterschiedliche Formen annimmt und die Auswirkungen der Vereinbarung möglicherweise schwierig zu beurteilen sind. Wie aus den Nachweisen zur Umsetzung der ersten beiden branchenübergreifenden Vereinbarungen hervorgeht (siehe Kasten 13), wurden diese mithilfe einer breiten Palette von bindenden und nichtbindenden Vereinbarungen, Empfehlungen, Erklärungen sowie durch die Gesetzgebung umgesetzt. In beiden Fällen wurden damit im Allgemeinen der verbesserte Schutz der Arbeitnehmer und Fortschritte in Richtung der EU‑weiten Zielsetzungen erreicht, dies jedoch nur uneinheitlich, da die Vereinbarungen in manchen Mitgliedstaaten lückenhaft oder gar nicht umgesetzt wurden. Einige Länder, die der EU 2004 und 2007 beitraten, stellte dieser Bereich vor gewisse Probleme. 65 Kasten 13. Die Schwierigkeit der Umsetzung eigenständiger Vereinbarungen der Sozialpartner Die beiden ersten branchenübergreifenden Vereinbarungen auf EU‑Ebene, die gemäß den Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollten, waren diejenigen über Telearbeit und arbeitsbedingten Stress. Sie sollten durch die Mitgliedsverbände der Unterzeichner bis 2005 bzw. 2007 umgesetzt werden. Ihre Umsetzung wurde durch die Sozialpartner und die Europäische Kommission bewertet; die Ergebnisse belegen die Schwierigkeiten, die mit einer derartigen Umsetzung der Vereinbarungen verbunden sind. Aufgrund der Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitsbeziehungen und Rechtssystemen und dem unterschiedlich hohen Änderungsbedarf zur Einhaltung der Vereinbarungen hat die Umsetzung in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Formen angenommen (in einigen Ländern sogar mehr als eine). Zur Umsetzung einer oder beider Vereinbarungen wurde auf Folgendes zurückgegriffen: • nationale branchenübergreifende Tarifverträge (z. B. in Belgien, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Luxemburg und Rumänien); • sektorale Tarifverträge (z. B. in Dänemark und den Niederlanden); • Leitlinien oder Empfehlungen der branchenübergreifenden Partner an niedrigere Verhandlungsstufen und/oder einzelne Unternehmen und Arbeitnehmer (z. B. in Deutschland, Finnland, Irland, Lettland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Spanien, Schweden, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich); • von den Sozialpartnern konzipierte Modellvereinbarungen oder -instrumente (z. B. in Deutschland, Irland, Österreich und dem Vereinigten Königreich); • gemeinsame Erklärungen der nationalen Sozialpartner (z. B. in Deutschland, Polen, Slowenien und Zypern); • Gesetze (z. B. in Italien, Lettland, Polen, Portugal, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn), die mit unterschiedlich starker Beteiligung der Sozialpartner entworfen wurden. 66 • Zum Zeitpunkt der Durchführung der Bewertungen durch die Kommission (2008 für Telearbeit, 2011 für arbeitsbedingten Stress) hatten Bulgarien, Estland, Litauen und Malta die Umsetzung der beiden Vereinbarungen noch nicht bestätigt. In Bezug auf die Vereinbarung über Telearbeit war die Lage in Zypern und Rumänien ähnlich. Die Kommission zog im Hinblick auf die Vereinbarung über Telearbeit den Schluss, dass die zur Umsetzung gewählten Instrumente und das Niveau des gewährten Schutzes und der angebotenen Beratung in den meisten Ländern angemessen und die Ziele größtenteils erreicht worden waren. Sie stellte jedoch Probleme in zahlreichen Ländern fest, wie etwa die nicht erfolgte Umsetzung (bzw. die nicht gemeinsam, sondern einseitig erfolgte Umsetzung) oder lediglich zum Teil erfolgte Umsetzung, und stellte die Frage, ob die Empfehlungen der nationalen Sozialpartner auf den niedrigeren Verhandlungsstufen berücksichtigt wurden. Was die Vereinbarung über arbeitsbedingten Stress angeht, so stellte die Kommission fest, dass diese zur Sensibilisierung, der Förderung einer Reihe von Grundsätzen und Bestimmungen und der Konsensfindung innerhalb der EU beigetragen hatte. Sie konstatierte jedoch auch zahlreiche Mängel im Hinblick auf die Reichweite und Auswirkungen der Maßnahmen. Einige Länder hatten die Vereinbarung nicht umgesetzt, während sich die Sozialpartner in anderen Ländern für nichtbindende Instrumente oder einseitige Maßnahmen entschieden hatten, die nicht alle Arbeitnehmer mit einbezogen hatten bzw. nicht vollständig eingehalten worden waren. Die Kommission gab an, dass es anhaltende Diskrepanzen im Hinblick auf das Maß an Schutzvorkehrungen gegen Stress in den einzelnen Mitgliedstaaten gebe und somit nicht festgestellt werden könne, ob ein Mindestmaß an Schutz in der gesamten EU erreicht worden sei. Spezifische Probleme bei der Umsetzung ergeben sich in einigen der neuen Mitgliedstaaten, wo die Sozialpartner noch recht unerfahren in Sachen eigenständige Verhandlungen sind und die Struktur des sozialen Dialogs unterentwickelt und dessen Reichweite gering ist. Letzteres gilt auch für einige andere Mitgliedstaaten, ebenso wie das Problem, dass nicht alle nationalen Mitgliedsverbände der Sozialpartner auf EU‑Ebene direkt an den Tarifverhandlungen ihrer Partner beteiligt bzw. diesbezüglich weisungsbefugt sind. 67 Wesentliche Erfolge: verfahrensorientierte Entwürfe Aktionsrahmen Die branchenübergreifenden Sozialpartner haben zwei Aktionsrahmen unterzeichnet: • einen Aktionsrahmen zur lebenslangen Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen, der im Februar 2002 unterzeichnet wurde und vier Aktionsschwerpunkte festlegte: Identifizierung und Antizipierung des Bedarfs an Kompetenzen und Qualifikationen; Anerkennung und Bewertung von Kompetenzen und Qualifikationen; Informationen, Unterstützung und Anleitung; Mobilisierung von Ressourcen. Diese Schwerpunkte mussten innerhalb eines Zeitrahmens von vier Jahren auf nationaler Ebene mithilfe des Dialogs und der Partnerschaft umgesetzt werden; • einen im März 2005 vereinbarten Aktionsrahmen zur Gleichstellung der Geschlechter, der die Herausforderungen in diesem Bereich identifizierte und vier Schwerpunkte für die Maßnahmen der nationalen Sozialpartner festlegte: Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen; verstärkte Einbindung von Frauen in Entscheidungsprozesse; bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben; Bekämpfung des geschlechterspezifischen Lohngefälles. Die Umsetzung sollte über einen Zeitraum von fünf Jahren erfolgen. Die branchenübergreifenden Partner bewerteten die Umsetzung der beiden Aktionsrahmen auf 68 Jahresbasis und dann am Ende ihrer Zeitrahmen, jeweils 2006 und 2009. In beiden Fällen gelangten sie zu dem Schluss, dass die Aktionsrahmen den nationalen Sozialpartnern in den meisten Ländern eine „eindeutige Botschaft“ und einen „Sinn für das Wesentliche“ vermitteln. Sie hatten den Anstoß gegeben bzw. als Instrument in Bezug auf den Wandel fungiert, unterstützten bereits bestehende Maßnahmen der Sozialpartner und halfen bei der Ausarbeitung neuer konkreter Maßnahmen. Die Aktionsrahmen brachten eine Reihe von Entwicklungen auf europäischer, nationaler, sektoraler und Unternehmensebene hervor. Die Bewertungen zeigen, dass die Auswirkungen der Aktionsrahmen auf Sektor- und Länderebene etwas uneinheitlich ausfielen (insbesondere traten Schwierigkeiten in Bezug auf die Beurteilung der Folgemaßnahmen in einigen neuen Mitgliedstaaten auf ). Der Ansatz des „Aktionsrahmens“ wurde auf Sektorebene noch nicht im erforderlichen Umfang aufgegriffen. Seltene Beispiele sind: ein Rahmen für Personaleinstellung und -bindung, der im Dezember 2010 von den Sozialpartnern in Krankenhäusern und im Gesundheitswesen (EPSU und HOSPEEM) angenommen wurde, damit die aktuellen und künftigen Personalengpässe und Kompetenzanforderungen bewältigt werden können, und ein Aktionsrahmen über Gleichstellung der Geschlechter, der im Oktober 2011 von den Sozialpartnern des audiovisuellen Sektors angenommen wurde. Leitfäden und Verhaltenskodizes und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung. Die Vereinbarung über Leitfäden und Verhaltenskodizes ist auf die sektoralen Sozialpartner beschränkt, es liegen zurzeit keine branchenübergreifenden Beispiele vor. Die Verfahren für die Einführung und Nachbereitung von Leitfäden weichen in ihrem jeweiligen Umfang erheblich voneinander ab und reichen von der bloßen Aufforderung an die Mitglieder zur Einhaltung der Leitlinien bis zur Aufstellung eines spezifischen abgestuften Umsetzungs- und Bewertungsverfahrens. In 16 Sektoren wurden Leitfäden vereinbart, wobei sich Landwirtschaft, Strombranche, Telekommunikation und Handel besonders produktiv bei der Ausarbeitung dieser Entwürfe zeigten. Ein Beispiel dafür ist die gemeinsame Erklärung, die die Partner im Telekommunikationssektor (ETNO und UNI Europa) im Februar 2011 unterzeichneten, mit der eine Reihe von Leitfäden für bewährte Methoden unter dem Titel „Gute Arbeit – gute Gesundheit: Verbesserung des psy­chischen Wohlbefindens der Arbeitnehmer im Telekommunikationssektor“ ge­fördert wurde. Eine der bemerkenswertesten Initiativen für den branchenübergreifenden sozialen Dialog liegt in Form von Leitfäden vor. Im Juli 2010 vereinbarten Partner in fünf Sektoren auf EU‑Ebene – kommunale/regionale Behörden, Gesundheitswesen, Handel, private Sicherheitsdienste und Bildung – Leitfäden über die Bekämpfung der Gewalt und Belästigung durch Dritte am Arbeitsplatz. Die Leitlinien fordern die Einführung einer „ergebnisorientierten Politik“ für dieses Problem an allen Arbeitsplätzen und beschreiben praktische Schritte zur Verringerung, Vorbeugung Verhaltenskodizes sind ferner als ausschließlich sektorales Instrument anzusehen und weniger als allgemeingültige Leitfäden. Sie wurden für Krankenhäuser, private Sicherheitsdienste, die Zuckerindustrie, die Holzverarbeitung, das Friseurgewerbe, die Schuhindustrie (zwei Beispiele), die Lederwaren-/ Gerbereiindustrie, den Handel und die Textil-/Bekleidungsbranche un­ terzeichnet. Die meisten Kodizes sind weitreichend und befassen sich mit verschiedenen Aspekten von Beschäftigungsstandards oder dem Bereich „Corporate Social Responsibility“ (z. B. ein Verhaltens- und Ethikkodex für private Sicherheitsdienste, unterzeichnet im Juli 2003). Einige Kodizes beschäftigen sich mit besonderen Fragen, darunter grenzüberschreitende Personaleinstellung und -bindung in Krankenhäusern unter ethischen Gesichtspunkten (2008). Typischerweise verpflichten Verhaltenskodizes ihre Unterzeichner zur Umsetzung über ihre nationalen Mitgliedsverbände und sehen die Ergebnisberichte und -bewertung (im Allgemeinen jährlich) vor. 69 Politische Leitlinien Die branchenübergreifenden Sozialpartner haben zwei gemeinsamen Entwürfen zugestimmt, die als politische Leitlinien gelten: • Im Oktober 2003 beschlossen die Partner die „Referenzleitlinien für die Bewältigung des Wandels und seiner sozialen Folgen“ auf der Grundlage der Erfahrungen aus einer Reihe von Fallstudien. Dieses Dokument definiert Faktoren, die dazu dienen können, negative Auswirkungen auf die Beschäftigung und das soziale Umfeld zu vermeiden oder zu lindern. • Im April 2005 einigten sich die Partner auf einen Entwurf mit dem Titel „Erfahrungen der Europäischen Betriebsräte“, in dem Faktoren, die die effiziente Funktionsweise der EBR unterstützen, sowie etwaige Probleme beschrieben werden. Keiner der beiden Entwürfe machte eindeutige Aussagen zum genauen Status und zu den erwarteten Auswirkungen oder enthielt konkrete Vorgaben zu Umsetzung oder Folgemaßnahmen. Auf Sektorebene wurden EU‑weite politische Leitlinien vereinbart, und zwar für die Sektoren Versicherungswesen, Strom (zwei Fälle), Telekommunikation, Eisenbahn (zwei Beispiele), Catering, Bauwesen, Postdienste, Gaststättengewerbe, Reinigung, Handel und Zuckerindustrie. Einige enthalten umfangreiche Leitlinien zur Unternehmensführung und Corporate 70 Social Responsibility (CSR), darunter Entwürfe zur CSR für Handel (2003), Gaststättengewerbe (2004), Postdienste (2005), Catering (2007), Telekommunikation (2007) und den Stromsektor (2007). Andere sehen Leitlinien zu spezifischen Themen vor, darunter eine gemeinsame Empfehlung vom Januar 2006 über das Vorbeugen von berufsbedingtem Stress im Bausektor. Die sektorbezogenen politischen Leitlinien enthalten im Allgemeinen Anweisungen zur Umsetzung, Überwachung und zu Folgemaßnahmen, die unterschiedlich detailliert ausgeprägt sind. Abbildung 3. Verfahrensorientierte Entwürfe, die auf sektoraler Ebene vereinbart wurden, nach Typ 2% 17 % 22 % Leitfäden Politische Leitlinien Verhaltenskodizes Aktionsrahmen 59 % Wesentliche Erfolge: gemeinsame Stellung‑ nahmen/Erklärungen und Instrumente Gemeinsame Stellungnahmen Gemeinsame Stellungnahmen, die im Allgemeinen für die EU‑Institutionen und/oder nationale Behörden bestimmt sind, sind der bei Weitem größte Beitrag des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene (siehe Abbildung 4). Die 30 gemeinsamen Stellungnahmen, die branchenübergreifend er­ zielt wurden, stellen die Beiträge der Sozialpartner zu verschiedenen EU‑Debatten und Politiken dar, die auf Betreiben der EU‑Institutionen oder auf eigene Initiative verfasst wurden. Etwa ein Drittel davon bildet den Beitrag der Sozialpartner zur gesamten Beschäftigungs- und/ oder Wirtschaftsstrategie der EU. Rund ein Fünftel bezieht sich auf Vereinbarungen des EU‑weiten sozialen Dialogs, die Rolle der Sozialpartner oder institutionelle Fragen (wie Vertragsänderungen). Die übrigen Stellungnahmen befassen sich mit spezifischen Politiken oder Initiativen – darunter EU‑Programme für berufliche Weiterbildung – oder spezifischen Themen, wie die Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund der Rasse oder die Weiterbildung. Auf Sektorebene sind gemeinsame Stellungnahmen die bevorzugten Beiträge des sozialen Dialogs. Sie wurden für alle Sektoren mit einem ASSD vereinbart, ausgenommen eine kleine Anzahl derjenigen mit erst seit Kurzem bestehenden Dialogen. Besonders zahlreich sind sie in den Bereichen Seefischerei, Telekommunikation, Eisenbahnen, Zivilluftfahrt, Landwirtschaft und Straßenverkehr. Sektorale gemeinsame Stellungnahmen beschäftigen sich in der Mehrheit mit wirtschaftlichen und/ oder sektoralen Fragen oder sozialen Aspekten der jeweiligen EU‑Politik. Abgesehen von diesen Themen betreffen die behandelten Themen zumeist die Bereiche Beschäftigung, Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit, Weiterbildung, nachhaltige Entwicklung und Sozialdialog. Naturgemäß erfordern die gemeinsamen Stellungnahmen keine ge­ sonderten Umsetzungs- und Folge­ maßnahmen, da sie hauptsächlich dazu dienen, Ansichten darzustellen und Beiträge zu liefern. Ihre Auswirkungen sind nicht quantifizierbar, da ihr Einfluss auf die jeweils relevante EU- oder nationale Politik nicht ohne weiteres gemessen werden kann. Abbildung 4. Gemeinsame Stellungnahmen als Teil gemein‑ samer Entwürfe auf EU‑Ebene Alle gemeinsamen Entwürfe Branchenübergreifende gemeinsame Entwürfe 54 % 44 % Sektorale gemeinsame Entwürfe 0 10 20 30 40 55 % 50 60 71 Erklärungen Werkzeuge Erklärungen beschreiben im Wesentlichen, was die Unterzeichner in einem bestimmten Bereich zu tun gedenken. Die branchenübergreifenden Partner haben zehn derartige Entwürfe vereinbart. Sie umfassen die Arbeitsprogramme der Partner selbst, ihren Beitrag zum Europäischen Rat von 2001 in Laeken (wo sie ihre Pläne für einen eigenständigeren Dialog vorstellten – siehe S. 39) und mehrere Erklärungen, wie Partner bei spezifischen EU‑Initiativen oder Politikbereichen mitwirken sollen, darunter das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen, die Europäische Beschäftigungsstrategie und die Förderung des sozialen Dialogs in Bewerberländern. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die branchenübergreifenden Sozialpartner im Großen und Ganzen den Erklärungen entsprechend Maßnahmen ergriffen haben. Die Entwicklung von Werkzeugen zur praktischen Anleitung und Beratung erfolgt im Wesentlichen in den Sektoren, und es liegen nur zwei branchenübergreifende Beispiele vor. Es handelt sich um eine Beispielsammlung aus dem Jahr 1999 für bewährte Methoden die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen betreffend und eine Sammlung aus dem Jahr 2000 über Initiativen von Sozialpartnern in Bezug auf EU‑Beschäftigungsleitlinien. In der großen Mehrheit der Sektoren mit sozialem Dialog wurden Erklärungen unterzeichnet. Die Sektoren Chemie, Handel, Strom, Reinigung und Telekommunikation scheinen diese Art von Texten zu bevorzugen. Die gängigsten Bereiche für Maßnahmen der Sozialpartner sind Weiterbildung/lebenslanges Lernen, Gesundheit und Sicherheit sowie der soziale Dialog. Im Dezember 2009 gaben die Sozialpartner der Zeitarbeitsbranche (Eurociett und UNI Europa) eine Erklärung über gemeinsame Maßnahmen mit dem Ziel heraus, die Kompetenzen der Zeitarbeiter zu verbessern. 72 Auf Sektorebene sind Werkzeuge in einer etwas geringeren Anzahl von Sektoren anzutreffen, als dies bei gemeinsamen Stellungnahmen und Erklärungen der Fall ist, sie wurden aber in mehr als der Hälfte der Sektoren mit sozialem Dialog entwickelt, wobei sie oft die Form von Werkzeugarsenalen, Leitfäden und Sammlungen bewährter Methoden annehmen, die auf EU‑finanzierten Projekten beruhen. Die Sektoren, die mit diesem Ansatz am weitesten vorangekommen sind, sind Postdienste, private Sicherheitsdienste und Telekommunikation. Die Kernthemen sind Gesundheit und Sicherheit sowie Weiterbildung/ lebenslanges Lernen. Ein Beispiel dafür ist ein Werkzeugarsenal zur Bekämpfung von Gewalt vonseiten Dritter im Handelssektor, das von den sektoralen Sozialpartnern (EuroCommerce und UNI Europa) in Oktober 2009 erstellt wurde und Unternehmen, Mitarbeitern und nationalen Sozialpartnern praktische Anleitung bietet. Abbildung 5. Gemeinsame Stellungnahmen/Erklärungen und Werkzeuge, die auf sektoraler Ebene vereinbart wurden, nach Typ 14 % 17 % 69 % Gemeinsame Stellungnahmen Erklärungen Werkzeuge Fehlschläge, Probleme und Spannungen Wenngleich der soziale Dialog auf EU‑Ebene sowohl branchenübergreifend als auch sektorspezifisch zahlreiche Vereinbarungen, Leitfäden und sonstige Ergebnisse hervorgebracht und auf europäischer wie auf nationaler Ebene einiges bewegt hat, verlief dieser Prozess in keiner Weise reibungslos, einheitlich oder konfliktfrei. Die Beteiligten hatten oftmals äußerst unterschiedliche Ziele und Erwartungen, was zu Unstimmigkeiten und Stillstand führte, während andererseits verschiedene Dialogstrukturen versagten und im Laufe der Jahre verworfen wurden. So hat zum Beispiel der dreigliedrige Ständige Ausschuss für Beschäftigungsfragen die meisten seiner ursprünglichen Ziele nicht erreichen können und galt immer mehr als größtenteils unsinniges Forum für die rituelle Zurschaustellung von Positionen, bevor er schließlich abgeschafft wurde (siehe Kasten 4). Der zweigliedrige branchenübergreifende Dialog verlief mit wechselndem Erfolg. Der eigenständige Teil des Dialogs verzeichnete Zeiten verminderter Aktivität mit relativ wenig Tagesordnungspunkten und wenig Output an gemeinsamen Stellungnahmen. Die Sozialpartner strukturierten ihren Dialog von 2003 bis 2010 durch drei Arbeitsprogramme, doch verloren diese mit der Zeit wohl an Relevanz. Seit dem Ende des dritten Programms klafft eine Lücke, obzwar im ersten Quartal 2012 die Vereinbarung eines Programms für 2012-2014 erwartet wird. Zwar wurden die meisten Maßnahmen der Programme durchgeführt, doch gelang dies nicht bei allen, darunter eine gemeinsame Stellungnahme über Schwarzarbeit im Programm für 2003-2005. Einige Verhandlungen scheiterten, wie z. B. 2009 in Bezug auf die gemeinsame Erklärung über Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise (siehe S. 83). Im Hinblick auf den branchenübergreifenden sozialen Dialog, der auf Anhörungen der Kommission zurückgeht, übertreffen die Fragen, die die Sozialpartner nicht verhandeln wollen oder können, bei weitem die Erfolge, die sich in Vereinbarungen niederschlagen. Beispielsweise führten die Sozialpartner 73 keine Verhandlungen im Anschluss an Anhörungen zu Fragen wie sexuelle Belästigung (1996-1997), Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer auf nationaler Ebene (1997) (obwohl in diesem Fall die Partner zumindest die Gespräche analysierten), Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (2000) oder Übertragbarkeit der betrieblichen Altersversorgung (2002-2003). 2000-2001 wurden zwar Verhandlungen über die Zeitarbeit aufgenommen, diese scheiterten jedoch. 74 Bei verschiedenen Themen unternahm die Kommission über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholte Anläufe, die Sozialpartner zu Verhandlungen zu bewegen, dies führte jedoch nicht zu einer Vereinbarung oder wesentlichen gemeinsamen Entwürfen. Dies war der Fall bei den EBR, der Unternehmensrestrukturierung und der möglichen Änderung der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG). Die Sozialpartner stimmten jedoch 2008 schließlich einem „gemeinsamen Gutachten“ über Änderungen der Betriebsratsrichtlinie zu (siehe S. 40), und im Dezember 2011 nahmen sie Verhandlungen über die Arbeitszeit auf. Es ist eine neue Anhörung über die Restrukturierung vorgesehen. die Arbeitgeberverbände, insbesondere BusinessEurope, neuen EU‑Vorschriften für Arbeitnehmerrechte grundsätzlich ablehnend gegenüber stehen und die Meinung vertreten, dass dies auf nationaler Ebene zu regeln sei, falls derartige Angelegenheiten überhaupt einer gesetzlichen Regelung bedürften. Wenn die Kommission Anhörungen über etwaige Maßnahmen durchführt und Gesetzesvorlagen bevorzustehen scheinen, sind Arbeitgeber eher bereit, mit dem EGB über das betreffende Thema zu verhandeln, da ihnen diese Option größeren Einfluss auf den Ausgang verschafft – die Verhandlungen über eine Vereinbarung werden also als das „kleinere Übel“ angesehen. Dagegen zeigt der EGB, obwohl bestrebt, direkten Einfluss auszuüben und die Tarifautonomie der Sozialpartner zu wahren, wenig Neigung, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, die ihren Mitgliedern erheblich weniger Vorteile bringt als eine EU‑weit geltende Gesetzgebung. Diese Spannungen bedeuten, dass echte Verhandlungen und Vereinbarungen nur relativ selten zustande kommen, und das auch nur, wenn alle erforderlichen Voraussetzungen ordnungsgemäß erfüllt sind. Die Antworten der branchenübergreifenden Partner auf die Anhörungen laut Artikel 154 gestalteten sich je nach Ansicht und Beweggrund verschieden. Allgemein formuliert, tritt der EGB für die Schaffung rechtsverbindlicher neuer EU‑weiter Rechte und Schutzmechanismen für die Arbeitnehmer ein, während Der sektorale soziale Dialog hat auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Wie die SCE (Europäische Genossenschaft) tendierten die frühen sektoralen Dialogstrukturen dazu, überinstitutionalisiert und ineffektiv zu werden; sie wurden daher 1998 durch die harmonisierten ASSD ersetzt. Aus dem Gesamtbild der sektoralen Strukturen in den letzten 50 Jahren ergibt sich, dass ihre Aktivitäten dazu neigen, im Laufe der Zeit erheblich zu schwanken, mit Zeiten der Ruhe und des Wiederauflebens. Sie folgen dabei allgemein der Entwicklung der jeweiligen EU‑Politik, die für ihren Industriezweig maßgeblich ist, sind aber auch Reaktion auf Differenzen zwischen den Sozialpartnern. Die ASSD können Schwierigkeiten mit ihrem Vertretungsanspruch haben, die auf die wechselnde Zusammensetzung ihrer Sektoren zurückzuführen sind. Den Mitgliedsverbänden der Sozialpartner in einigen Ländern kann es an der Fähigkeit mangeln, vollständig am Dialog teilzunehmen oder die vereinbarten Ziele zu erreichen. Da die meisten sektoralen Organisationen der Sozialpartner auf EU‑Ebene nur über begrenzte Fähigkeiten verfügen, Einfluss auf ihre nationalen Mitglieder zu nehmen, können Folgemaßnahmen und Umsetzung in Bezug auf die Ergebnisse ein Problem darstellen. In einigen Sektoren, wo große multinationale Unternehmen bestimmend sind (z. B. Stahl, Telekommunikation, Chemie und Zivilluftfahrt), kann es sich als schwierig erweisen, Vereinbarungen auf EU‑Sektorebene auszuhandeln, weil Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen eher auf Unternehmensebene verhandeln wollen, so wie im Rahmen der EBR. 75 © ILO PHOTO IAO‑Meldung Juan Somavia Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) Ausschnitte aus der Ansprache vor dem Europäischen Parlament, Straßburg, 14. September 2011 Nach jahrzehntelangen sozialen Kämpfen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts schufen [die Gründer der Internationalen Arbeitsorganisation] eine dreigliedrige Institution zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit, damit durch internationale Arbeitsmarktstandards der Friede gesichert werden könne. Man war überzeugt, dass die Arbeitskraft keine Ware ist, dass Armut immer eine Gefahr für den Wohlstand im Allgemeinen darstellt, egal wo sie herrscht. Unsere Gründer waren durchaus praktisch veranlagt. Sie begriffen, dass die gleichberechtigte Zusammenarbeit von Regierungen, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern der Schlüssel zur Erreichung fairer Ergebnisse für alle war. Sie erfanden den internationalen sozialen Dialog und boten große Unterstützung und Handlungsspielraum für Arbeitnehmerorganisationen und Tarifverhandlungen. Die EU und die IAO sind sich darin einig, dass dauerhafter Friede nur durch regionale und internationale Zusammenarbeit für soziale Gerechtigkeit gesichert werden kann, wobei die Politik auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sein muss. … Der soziale Dialog [bringt] Regierungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen, um im Wege des Konsens Politiken zu konzipieren, die seriös, effektiv und gerecht sind. … In der Europäischen Union bestehen große beschäftigungs- und sozialpolitische Herausforderungen in Bezug auf Erwerbsarmut, prekäre Arbeitsbedingungen, Niedriglöhne, soziale Ausgrenzung, Langzeitarbeitslosigkeit. … Der soziale Dialog [ist] ein Katalysator für eine gut funktionierende Realwirtschaft. Der echte Dialog mit anerkannten Sozialpartnern ist von grundlegender Bedeutung für die Auslotung realwirtschaftlicher Optionen in Unternehmen, die Förderung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen und das Respektieren der Tarif­ autonomie. … 76 Die Neuausrichtung der Weltwirtschaft … erfordert mehr Hinwendung zu Beschäftigung, Sozialschutz und zum sozialen Dialog. … Das Gewicht der Europäischen Union macht sie zu einem Schlüsselfaktor bei der Bewältigung der Globalisierung. Die EU muss ihre Fähigkeit zur Verteidigung, Erhaltung und Weiterentwicklung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells vollständig einsetzen, um die Globalisierung fairer zu gestalten. http://www.ilo.org/global/about‑the‑ilo/press‑and‑media‑centre/ statements‑and‑speeches/WCMS_162828/lang–en/index.htm 77 78 © iStock Kapitel 5 Der soziale Dialog und die Krise Der soziale Dialog existiert nicht im luftleeren Raum. Er wird durch sein institutionelles, politisches, wirtschaftliches und soziales Umfeld geformt. Es versteht sich von selbst, dass seit 2008 das Umfeld wesentlich durch die Finanz-, Wirtschaftsund Schuldenkrise beherrscht wird, die Europa plagt. Die Bewältigung der Krise steht in vielen Mitgliedstaaten im Mittelpunkt des sozialen Dialogs, und der Prozess hat die verschiedenen Formen und Fähigkeiten der nationalen Dialogsysteme deutlich gemacht. Auf EU‑Ebene war die Reaktion des sozialen Dialogs auf die Krise jedoch wohl weniger klar ausgeprägt. Die Reaktion des sozialen Dialogs auf nationaler Ebene In den Mitgliedstaaten haben die Sozialpartner ihre Ansichten zur Krise gegenüber ihrer Regierung zum Ausdruck gebracht und ihre Gegenmaßnahmen über verschiedene nationale Beratungs- und Abstimmungsverfahren koordiniert (siehe S. 51). Genauer gesagt, wurden in den kritischsten Momenten der Krise zwischen 2008 und 2010 in mindestens 16 Mitgliedstaaten Anstrengungen unternommen, um zwei- oder dreigliedrige nationale branchenübergreifende Vereinbarungen über ein Maßnahmenpaket zu erzielen, das auf verschiede­ne Aspekte der Wirtschaftskrise ab­ zielte. In elf Ländern wurde eine gewisse Form von Vereinbarung erzielt – in Belgien, Bulgarien, Estland, Frankreich, Lettland, Litauen, den Niederlanden, Polen, der Slowakei, Spanien und der Tschechischen Republik (im Falle einer zweigliedrigen Vereinbarung) (siehe Beispiele in Kasten 14). In den baltischen Staaten, der Tschechischen Republik und Polen stellen diese Vereinbarungen ein Novum im nationalen sozialen Dialog dar. Gegenstand der Vereinbarungen waren Themenbereiche wie Kurzarbeit, Lohnzurückhaltung, Maßnahmen die Lohnnebenkosten betreffend, Beschäftigungsprogramme und Unterstützung von Arbeitslosen, Flexibilität am Arbeitsplatz sowie Weiterbildung/lebenslanges Lernen. In Ländern wie Dänemark, Deutschland, Österreich und Slowenien, wo keine Vereinbarungen zur Krisenbewältigung erzielt wurden, waren die Sozialpartner dennoch maßgeblich insbesondere an der Verbesserung bestehender Kurzarbeiterregelun­ gen (wobei Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit vorübergehend vermindern und einen Ausgleich für die Lohneinbuße erhalten, statt arbeitslos zu werden) oder der Einführung neuer Regelungen beteiligt. 79 Trotzdem konnten auch bestehende branchenübergreifende Vereinbarungen des sozialen Dialogs nicht immer zur Bewältigung der Krise beitragen. Gespräche über Vereinbarungen zur Krisenbewältigung endeten in Finnland, Irland, Luxemburg, Slowenien, Spanien und Ungarn (im Falle einer dreigliedrigen Vereinbarung) ergebnislos. In Irland, Slowenien und Spanien führten die krisenbedingten Spannungen und die Meinungsverschiedenheiten über geeignete Maßnahmen zur Krisenbewältigung (zumindest zeitweise) zum Kollaps langjähriger branchenübergreifender zwei- bzw. dreigliedriger Vereinbarungen. Dreigliedrige Vereinbarungen gerieten ebenfalls in Ländern wie Bulgarien unter Druck. In Ländern wie Griechenland, Malta, Portugal, Rumänien, Schweden, dem Vereinigten Königreich und Zypern gab es nur wenige oder gar keine gemeinsamen branchenübergreifenden Maßnahmen zur Krisenbewältigung seitens der Sozialpartner. Der nationale soziale Dialog auf Sektor‑Ebene (sofern er existiert – siehe S. 10) spielte bei der Krisenbewältigung ebenfalls eine wichtige Rolle. Zwischen 2008 und 2010 gab es Beispiele für besondere sektorale Vereinbarungen über Themen wie Kurzarbeit oder die Einbeziehung von Krisenbewältigungsmaßnahmen in reguläre Tarifverträge, darunter Unterstützung von Arbeitslosen oder die Schaffung größerer 80 Flexibilität und/oder die Dezentralisierung der Lohnfestsetzung. Diese sektoralen Abhilfemaßnahmen waren sowohl auf nationaler als auch auf Sektor‑Ebene nur Flickwerk. Die Vereinbarungen waren größtenteils auf Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, die Niederlande und Schweden beschränkt und fehlten insbesondere in vielen Mitgliedstaaten, die 2004 und 2007 der EU beitraten. Die Vereinbarungen waren ferner im verarbeitenden Gewerbe – und vor allem in der Metallverarbeitung – weitaus verbreiteter als im Dienstleistungssektor. Ein Beispiel für eine sektorale Gegenmaßnahme war eine Vereinbarung im März 2009, die das gesamte verarbeitende Gewerbe Schwedens einbezog. Diese Vereinbarung erlaubte zeitweilig die Einführung der Kurzarbeit, die in Schweden normalerweise unzulässig ist, um Arbeitslosigkeit während des Konjunkturabschwungs zu vermeiden. Der Einsatz der Kurzarbeit erforderte eine lokale Vereinbarung. Die betroffenen Arbeitnehmer erhielten mindestens 80 % des normalen Verdienstes, und während der nicht geleisteten Arbeitszeit sahen die lokalen Vereinbarungen gegebenenfalls Weiterbildungsmaßnahmen vor. Allgemein wurde bei Tarifverträgen und im sozialen Dialog auf allen Ebenen und europaweit mit großflächiger Mäßigung bei Lohn- und Gehaltsrunden auf die Krise reagiert. Kasten 14. Beispiele für branchenübergreifende Vereinbarungen, 2008-2010 • Die belgischen Sozialpartner reagierten mit ihrem branchenübergreifenden Tarifvertrag für 2009-2010 (diese Vereinbarungen werden normalerweise alle zwei Jahre geschlossen) auf die Krise, der darauf abzielte, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, Kaufkraft der Arbeitnehmer und dem Beschäftigungsniveau herzustellen. Er sah moderate Steigerungen der Kaufkraft, Steuersenkungen bei Nachtarbeit und Überstunden, die Erhöhung der Kurzarbeitervergütung und Steuersenkungen vor, um Arbeitgeber zur Einstellung von Langzeitarbeitslosen zu bewegen. • Die bulgarische Regierung und die Sozialpartner erzielten im März 2010 eine dreigliedrige Vereinbarung über ein weitreichendes Paket von Krisenbewältigungsmaßnahmen. Die beschäftigungsbezogenen Maßnahmen umfassten: einen Mechanismus zur Anhebung des Mindestlohns, Erhöhung des Arbeitslosengeldes, Programme zur Förderung von Beschäftigung in Unternehmen in schwieriger Lage, Beschäftigungszuschüsse und Stärkung der Arbeitskräftemobilität. • Zwischen Februar und April 2010 vereinbarten die tschechischen Sozialpartner und die Regierung eine Reihe von kurzfristigen Krisenbewältigungsmaßnahmen. Diese umfassten Weiterbildungsprogramme, eine mögliche größere Steuerharmonisierung zwischen Arbeitnehmern und Freiberuflern, Maßnahmen zur Bekämpfung des unrechtmäßigen Bezugs von Arbeitslosengeld und die Möglichkeit der Einführung neuer Kurzarbeiterregelungen. • In Estland wurde im März 2009 ein dreigliedriges Abkommen getroffen, das die Grundlagen für die Aufrechterhaltung des Beschäftigungsniveaus enthielt, darunter Lebenslanges Lernen und flexible Beschäftigungsverhältnisse sowie die effektivere Unterstützung von Arbeitslosen. • Im Juli 2009 konnten sich die Sozialpartner in Frankreich auf eine Vereinbarung auf nationaler Ebene einigen, die sich mit den krisenbedingten Folgen für die Beschäftigungssituation befasst. Dies umfasste: die Erweiterung der gesetzlichen Kurzarbeiterregelung auf weitere Arbeitnehmergruppen, eine Verlängerung der Anspruchsdauer auf Kurzarbeitergeld, ein Rahmen für „Mitarbeiter‑Leasing“ unter Unternehmen, die Förderung der geografischen und Beschäftigungsmobilität der Arbeitnehmer, verbesserte Maßnahmen als Hilfe zur Wiedereinstellung von Arbeitslosen und 81 Unterstützung für spezielle Zielgruppen wie Langzeitarbeitslose. • Im Juni 2009 wurde in Lettland ein dreigliedriges Abkommen zur Verminderung des Haushaltsdefizits geschlossen, das sowohl die Erhöhung der Staatseinnahmen als auch die Kürzung der Staatsausgaben vorsah, darunter Kürzungen bei Löhnen und Gehältern sowie Renten und Leistungen im Staatssektor. • Eine dreigliedrige Vereinbarung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik auf nationaler Ebene im Falle eines Konjunktureinbruchs, die im Oktober in Litauen unterzeichnet wurde, befasste sich mit Bereichen wie Steuern, öffentliche Ausgaben, das Lohngefüge im öffentlichen Dienst, die Kürzung von Sozialleistungen, die Reform des öffentlichen Dienstes, wirtschaftliche Anreize, Bildung und Weiterbildung sowie die Bekämpfung der Schattenwirtschaft. • Im Oktober 2008 erzielten die niederländische Regierung und die Sozialpartner eine weitreichende Vereinbarung zu Themen wie Zurückhaltung bei Lohnforderungen, Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, Reform des Kündigungsschutzes, Unterstützung von Geringverdienern und benachteiligten Gruppen, Schaffung von Arbeitsplätzen und Weiterbildung. Im März 2009 schloss die aus zwei Partnern bestehende Stiftung der Arbeit eine Vereinbarung zur Bewältigung der Krise, die den Zeitraum von 2009 bis 2010 betraf und Fragen der Beschäftigung, Lohnzurückhaltung, Weiterbildung, Unterstützung Arbeitsloser und der flexiblen Beschäftigung behandelte. • Im März 2009 trafen die polnischen Sozialpartner eine zweigliedrige Vereinbarung über ein Paket von Krisenbewältigungsmaßnahmen, darunter größere Arbeitszeitflexibilität, die Einführung einer Kurzarbeiterregelung und Beschränkungen für befristete Arbeitsverhältnisse sowie Mindestlohn, soziale Sicherheit und steuerliche Maßnahmen. 82 Die Reaktion des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene Während die Sozialpartner ihren Beitrag zur EU‑Debatte über die Bewältigung der Krise leisteten, insbesondere durch den Dreigliedrigen Sozialgipfel (siehe Kasten 10), fiel ihre gemeinsame Reaktion auf branchenübergreifender Ebene bescheiden aus. 2009 führten die Sozialpartner eine Diskussion in Bezug auf eine gemeinsame Erklärung über Maßnahmen zur Krisenbewältigung, die jedoch an den verschiedenen Auffassungen über die Ursachen der Krise und die geeigneten Gegenmaßnahmen scheiterte. Es gelang ihnen allerdings, einen gewissen Konsens über einige Aspekte der Krisenbewältigung zu erzielen, der seinen Ausdruck in einem gemeinsamen Statement über die neue Strategie Europa 2020 der EU fand (siehe S. 87). Beispielsweise: • wurde darin hervorgehoben, dass uns die Krise vor Augen geführt hat, das es höchste Zeit ist, die langfristigen Herausforderungen der EU – darunter die Globalisierung, eine alternde Bevölkerung und der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft – durch eine kohärente und zielorientierte politische Agenda anzugehen; • wurde nach einer Strategie verlangt, die Europa auf einen nachhaltigen Wachstumskurs bringt und eine rasche Rückkehr zu mehr und besseren Arbeitsplätzen sichert, wobei gleichzeitig haushaltspolitische Nachhaltigkeit gewährleistet wird; • wurde die Bedeutung hervorgehoben, die richtigen Schlüsse aus der Krise zu ziehen und so zu gewährleisten, dass die Fehler der Vergangenheit sich nicht wiederholen – das heißt konkret, die Reformierung des globalen Finanzsystems, die Bewältigung der Jobkrise und die Wiederherstellung und Verbesserung des dynamischen Wachstums; • wurde vorgebracht, dass Europa 2020 ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Maßnahmen zur Bewältigung der krisenbedingten Arbeitslosigkeit und den Reformen im Hinblick auf die mittel- und langfristigen Herausforderungen des Arbeitsmarktes herstellen solle, insbesondere durch Modernisierungs- und Flexicurity‑Maßnahmen; • wurde festgestellt, dass die Lohnpolitik, für die ausschließlich die Sozialpartner zuständig sind, gewährleisten soll, dass Reallohnzuwächse an die Produktivitätsentwicklung gekoppelt werden, während Lohnnebenkosten nach Möglichkeit gesenkt werden sollen, um die Nachfrage nach Arbeitskräften zu stärken. Des Weiteren enthält die branchenübergreifende Vereinbarung der Sozialpartner über integrative Arbeitsmärkte vom März 2010 (siehe S. 64), obwohl nicht als Krisenabhilfe gedacht, Bestimmungen in Bezug auf die Bewältigung der krisenbedingten Beschäftigungsprobleme, darunter Maßnahmen zur Unterstützung von Jugendlichen bei der Arbeitsplatzsuche. Im Wortlaut: „Das schwierige wirtschaftliche und soziale Klima, in dem diese Rahmenvereinbarung 2008-2009 ausgehandelt wurde, 83 stärkt den Willen der Sozialpartner zur Zusammenarbeit, um integrative Arbeitsmärkte zu fördern, das gesamte Arbeitskräftepotenzial Europas voll auszuschöpfen, die Beschäftigungsquote zu erhöhen und die Arbeitsplatzqualität zu verbessern, einschließlich Weiterbildung und Entwicklung von Kompetenzen.“ Auf Sektorebene haben sich verschiedene Ausschüsse auf gemeinsame Entwürfe geeinigt und dabei die Auswirkungen auf ihre Branche hervorgehoben, wobei sie die EU- und nationalen Behörden zu Maßnahmen zur Abmilderung aufforderten (siehe Beispiele in Kasten 15). Substanziellere Reaktionen blieben zumeist aus – eine seltene Ausnahme bildet eine gemeinsame Erklärung vom März 2009 vonseiten der Sozialpartner des Chemiesektors (ECEG und EMCEF) über (zeitlich befristete) Entlassungen oder Kurzarbeit und ähnliche Maßnahmen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Neben der Forderung an die EU- und nationalen Behörden nach finanzieller und sonstiger Unterstützung für Unternehmen und Arbeitnehmer enthielt die Erklärung einige Grundzüge für nachrangige Sozialpartner und die Empfehlung, dass: • Entlassungen oder Kurzarbeit nur nach Beratung mit den Arbeitnehmern und deren Vertretern erfolgen sollen; 84 • wo Entlassungen oder Kurzarbeit auftreten, jede Anstrengung unternommen werden soll, um die frei gewordene Zeit für die Verbesserung der Kompetenzen der Arbeitnehmer durch Weiterbildung und Bildung zu nutzen; • Weiterbildung, die während Zeiten der Entlassung oder Kurzarbeit erfolgt, bescheinigt werden sollte, um sicherzustellen, dass erworbene Kompetenzen nicht verloren gehen, so dass der Sektor in Zukunft über wertvolle Humanressourcen verfügt, wenn sich die wirtschaftliche Lage gebessert hat. Die Fähigkeit des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene, Möglichkeiten zur Bewältigung gewisser Aspekte der Krise zu finden, ist bis zu einem gewissen Grad unbekannt, wobei das Potenzial allerdings noch nicht völlig ausgeschöpft zu sein scheint. Möglicherweise neigen Gewerkschaften und Arbeitgeber in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten da­­ zu, ihre Anstrengungen auf die nationale und Unternehmensebene zu konzentrieren, wo der Kampf um Arbeitsplätze und das wirtschaftliche Überleben am härtesten und unmittelbar spürbar ist und häufig vor dem Hintergrund des Drucks auf Vereinbarungen des nationalen Dialogs stattfindet. Kasten 15. Gemeinsame Statements auf der Ebene des EU‑weiten sektoralen sozialen Dialogs zur Krisensituation • In einer „gemeinsamen Antwort“ vom Dezember 2008 auf die Wirtschaftskrise forderten die Partner im Handelssektor (EuroCommerce und UNI Europa) Maßnahmen in Bezug auf die Stützung der Kaufkraft der Verbraucher, den Zugang zu bezahlbaren Krediten, die Erhaltung der Arbeitsplätze und Förderung der Weiterbildung. • Die lokalen und regionalen Sozialpartner auf staatlicher Ebene (CEMR und EPSU) ließen den Teilnehmern am Treffen des Europäischen Rates vom März 2009 eine gemeinsame Mitteilung zukommen, in der sie geeignete finanzielle Mittel forderten, um den gestiegenen Bedarf zu decken, und die Bedeutung der Erhaltung der Arbeitsplätze im Sektor betonten. Sie einigten sich auf ein weiteres gemeinsames Statement, in der sie ihre Positionen zur Wirtschaftskrise anlässlich des Treffens des Europäischen Rates vom Februar 2010 erneut bekräftigten. • Im Mai 2009 erarbeiteten die Sozialpartner des Sektors Straßenverkehr (ETF und IRU) ein gemeinsames Statement über die Auswirkungen der Krise auf ihren Sektor. Sie legten ein sechs Punkte umfassendes Konjunkturprogramm vor, das unter anderem den Zugang zu Kreditmitteln, Investitionen und den EU‑weiten Einsatz von Kurzarbeiterregelungen vorsah. • Die Sozialpartner der darstellenden Künste (EAEA und Pearle) verfassten im Mai 2009 ein gemeinsames Statement, in der Maßnahmen zur Wiederherstellung des Verbrauchervertrauens, verbesserter Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten und Krediten für KMU, die Unterstützung staatlicher Finanzierung und die Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität verlangt wurden. • Die Sozialpartner des Bausektors (EFBH und FIEC) verfassten im Juni 2009 eine gemeinsame Erklärung zur Weltwirtschaftskrise und ihren Folgen für den Sektor. Darin wurde von den Behörden auf EU- und nationaler Ebene verlangt, eine Reihe von Maßnahmen zur Unterstützung der Industrie zu treffen, darunter verstärkte öffentliche Investitionen. Die Partner verfassten im Januar 2010 einen weiteren gemeinsamen Aufruf, in dem sie die EU und die Mitgliedstaaten aufforderten, die Maßnahmen zur Schaffung einer nachhaltigen Bauindustrie zu verstärken. • Zu den weiteren sektoralen Ausschüssen, die gemeinsame Entwürfe zur Krise angenommen hatten, zählen diejenigen in der Holzverarbeitung, Möbelindustrie, Binnenschifffahrt und Chemiebranche, während es ebenfalls in Industriezweigen wie Bekleidung und Textil, Gerbereiund Lederwarenindustrie sowie Schuhindustrie zu entsprechenden Diskussionen kam. 85 86 © 123RF Kapitel 6 Künftige Entwicklungen und Herausforderungen Die Sozialpartner und Europa 2020 Grundlegend für den EU‑Ansatz zur Überwindung der Krise ist die Strategie Europa 2020 für mehr Wachstum, die 2010 beschlossen wurde. Ziel ist es, eine intelligente, nachhaltige und integrative Volkswirtschaft in Europa aufzubauen, die sich durch eine hohe Beschäftigungsquote, hohe Produktivität und starken sozialen Zusammenhalt auszeichnet. Die Strategie umfasst Ziele im Bereich Beschäftigung (Erreichung einer EU‑weiten Beschäftigungsquote von 75 % bis 2020), Forschung und Entwicklung, Treibhausgasemissionen und Energie, Bildung und Armutsbekämpfung. Die Mitgliedstaaten haben sich in Anlehnung an die EU‑Vorgaben eigene nationale Ziele gesetzt und nationale Reformprogramme zur Umsetzung der Strategie eingeleitet. Die Umsetzung von Europa 2020 wird außerdem durch sieben EU‑Leit­initiativen gestützt, darunter die „Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“ und die Initiative „Jugend in Bewegung“, durch die die Bildung und die Beschäftigungslage Jugendlicher verbessert werden sollen. Die Mitwirkung der Sozialpartner wird von der Europäischen Kommission als Schlüsselelement zur Umsetzung von Europa 2020 angesehen. Dies kommt am deutlichsten in der Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten zum Ausdruck. Die Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten ist ein Maßnahmenpaket, das sich mit der Modernisierung der Arbeitsmärkte befasst und darauf abzielt, die Beschäftigungsquoten zu erhöhen und Menschen beim Erwerb neuer Kompetenzen zu unterstützen. Dadurch sollen einerseits die Arbeitnehmer in die Lage versetzt werden, sich auf neue Bedingungen und einen eventuellen Berufswechsel vorzubereiten, und andererseits Arbeitslosigkeit vermindert und Arbeitsproduktivität erhöht werden. Um die Agenda durchsetzen zu können, ist die Kommission bestrebt, die Leistungsfähigkeit der Sozialpartner zu steigern und das Problemlösungspotenzial des sozialen Dialogs auf allen Ebenen voll auszuschöpfen (auch auf EU‑Ebene). Die Kommission hat die Sozialpartner auf EU‑Ebene in vielen Bereichen einbezogen, darunter bei der Festlegung und Umsetzung weiterer Flexicurity‑Maßnahmen und bei der Umsetzung der Grundzüge des Lebenslangen Lernens (u. a. Anhörung der Partner zur Entwicklung einer eigenen Initiative in diesem Bereich). Es wurde ferner stets die Rolle der Sozialpartner bei der Umsetzung der Initiative „Chancen für junge Menschen“ vom Dezember 2011 betont, z. B. durch die Erstellung von Programmen für Weiterbildung am Arbeitsplatz. Die Kommission hat ein „dreigliedriges 87 Sozialforum“ eingerichtet, insbesondere um zu gewährleisten, dass die Sozialpartner auf EU‑Ebene an der Umsetzung der Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten und im weiteren Sinne an der Strategie Europa 2020 mitwirken können. Die branchenübergreifenden Sozialpartner verfassten im Juni 2010 ein gemeinsames Statement zur Strategie Europa 2020. In diesem Statement wurden Empfehlungen zu politischen Prioritäten der EU und der Mitgliedstaaten in Bereichen wie Beschäftigung, Wirtschaftspolitik, öffentliche Finanzen, Investitionen, Besteuerung, öffentlicher Dienst, soziale Sicherheit, Bildung, Weiterbildung und Forschung formuliert. Es wurde eine stärkere Beteiligung der Sozialpartner auf allen Ebenen angemahnt, und zwar bei Entwurf und Überwachung EU‑weiter und nationaler Reformstrategien. Ferner wurde im Bedarfsfall Unterstützung bei der Entwicklung der Fähigkeiten der Sozialpartner gefordert. Insbesondere sollen die Sozialpartner aktiv an der Konzeption und der Umsetzung von Flexicurity‑Politiken mitarbeiten. Flexicurity ist ein Ansatz für Beschäftigungspolitik, der Flexibilität an den Arbeitsmärkten, Arbeitsorganisation und Beschäftigungsbeziehungen mit Beschäftigung und sozialer Sicherheit kombiniert. Die branchenübergreifenden Sozialpartner haben einen großen Beitrag (eine gemeinsame Analyse der Herausforderungen des europäischen Arbeitsmarktes) zu den EU‑weiten 88 Grundsätzen der Flexicurity geleistet, die 2007 vom Rat angenommen wurden und für die EU‑Beschäftigungspolitik maßgebend sind. Im Rahmen ihres Arbeitsprogramms für 2009-2010 erstellten die branchenübergreifenden Partner eine gemeinsame Studie über die Rolle der Sozialpartner bei der Umsetzung dieser Grundsätze. Im November 2011 zogen Kommission und Sozialpartner auf einer Stakeholder‑Konferenz Bilanz in Bezug auf die Umsetzung der Flexicurity‑Maßnahmen. Hierbei sind insbesondere der Beitrag der Sozialpartner und die Unterstützung für künftige Maßnahmen in diesem Bereich im Rahmen von Europa 2020 und des Beschäftigungspakets, das 2012 von der Kommission vorgestellt werden soll, von vorrangiger Bedeutung. Hinsichtlich des umweltbezogenen Teils von Europa 2020 haben die branchenübergreifenden Sozialpartner bereits eine erste gemeinsame Studie über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Beschäftigung durchgeführt. Die Arbeit zu diesem Thema ist wohl noch nicht abgeschlossen und wird durch die Schaffung eines Anhörungsmechanismus zum Klimawandel, an dem verschiedene Dienststellen der Kommission mitwirken werden, vorangebracht. Ein robuster Dialog, der trotz Rückschlägen fortbesteht Seit seinem Beginn vor 50 Jahren hat der soziale Dialog auf EU‑Ebene bei der politischen Entscheidungsfindung und Gestaltung enorm an Umfang und Bedeutung gewonnen. Er ist nun in den Vertragswerken und institutionellen Vereinbarungen der EU tief verankert. Er bewirkte neun Richtlinien und ähnlich viele Vereinbarungen, die von den Sozialpartnern selbst umgesetzt wurden und Millionen Arbeitnehmern in ganz Europa spürbare Vorteile brachten. Er hat außerdem zahlreiche weitere Instrumente hervorgebracht, die bei der europaweiten Verbreitung bewährter Methoden und hoher Standards sehr hilfreich waren. Der Dialog hat den europäischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine Stimme verliehen, die bei wichtigen Debatten über die Entwicklung und Zukunft der EU Gehör findet. Der sektorbezogene Dialog hat in Branchen Eingang gefunden, die drei Viertel der Arbeitnehmer der EU beschäftigen, und leistete einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung vieler sektorspezifischer EU‑Politiken. Das Wachstum und die Weiterentwicklung des sozialen Dialogs verliefen jedoch nicht als reibungsloser oder geradliniger Prozess. Im Laufe der Jahre gab es Erfolge, Fortschritte und Zeiten intensiver gemeinsamer Arbeit, aber auch mangelnde Aktivität, Fehlschläge, Stillstand und Krisen. Dieser uneinheitliche Verlauf ergab sich aus einem Komplex von Faktoren, die stetigem Wandel unterworfen sind, darunter das politische und wirtschaftliche Umfeld, die unterschiedlichen Prioritäten und Ziele von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern sowie die Agenden und Ansätze der EU‑Institutionen. Ein weiterer Schlüsselfaktor ist der Umstand, dass nationale Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen im Laufe der Zeit nicht immer in gleichem Umfang auf EU‑Ebene „investiert“ haben und es auch Zeiten gab, in denen der Schwerpunkt auf nationaler Ebene lag. Zum Zeitpunkt der Berichterstellung befindet sich der branchenübergreifende soziale Dialog auf EU‑Ebene in der Übergangsphase. Hinsichtlich des eigenständigen Dialogs war das Arbeitsprogramm 2009-2010 wohl etwas weniger ehrgeizig als seine Vorgänger, obwohl es zu Initiativen führte wie der Rahmenvereinbarung über integrative Arbeitsmärkte (siehe S. 64), gemeinsame Studien über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Beschäftigung und über die Rolle der Sozialpartner bei der Umsetzung der Flexicurity‑Grundsätze der EU, einem gemeinsamen Bericht über den sozialen Dialog der vergangenen 20 Jahre sowie einem gemeinsamen Bericht zur Umsetzung der Vereinbarung über Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz von 2007. Vor dem Hintergrund, dass der EGB zu dieser Zeit interne Veränderungen durchlief, sollten diese gemeinsam erreichten Ergebnisse nicht unterbewertet werden. Nachdem die Serie der Arbeitsprogramme 2011 unterbrochen wurde, soll voraussichtlich im ersten Quartal 2012 ein Programm für den Zeitraum 20122014 beschlossen werden. Im Hinblick auf die branchenübergreifenden Verhandlungen als Reaktion auf die Anhörungen gemäß Artikel 154 gab es 2011 Anzeichen 89 für eine neu einsetzende Aktivität, nachdem seit 2009 sozusagen Ruhe geherrscht hatte. Nachdem es dem Rat und dem Europäischen Parlament nicht gelungen war, eine Änderung der Arbeitszeitrichtlinie zu erreichen, beschloss die Kommission eine Anhörung der Sozialpartner, um in Erfahrung zu bringen, ob sie Verhandlungen aufzunehmen wünschten. Die Partner erklärten, dass sie im Dezember 2011 Verhandlungen aufnehmen würden. Die Erfahrung zeigt, dass der soziale Dialog stabil genug ist, um Perioden relativer Untätigkeit oder Rückschläge zu verkraften. Wo der Dialog an einem spezifischen Punkt scheitert, geht der Prozess dennoch weiter. Themen können sogar nach einem Scheitern des Dialogs wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden, und die Sozialpartner können, dann unter günstigeren Umständen, beim zweiten oder sogar dritten Anlauf einen wichtigen Beitrag leisten (Beispiele dafür sind der EBR und vielleicht die Arbeitszeitregelung). Der Einfluss, den der Dialog den Sozialpartnern auf EU‑Ebene verschafft, ist zu wichtig, als dass sie allzu lange auf ihn verzichten könnten. Wesentliche Herausforderungen Zu den künftigen Herausforderungen zählen: • Die Verbindung zwischen dem sozialen Dialog auf EU- und nationaler Ebene muss gestärkt werden. Erkenntnisse legen nahe, dass ein enger Zusammenhang hinsichtlich der Effektivität des Dialogs 90 • • • • auf beiden Ebenen besteht und dass beide sich gegenseitig be­ einflussen. Die Leitungsfähigkeit der Sozialpartner und die soziale Dialogstruktur sind und bleiben in einigen Ländern schwach ausgebildet, insbesondere in Mittelund Osteuropa, wodurch sich die Umsetzung autonomer Vereinbarungen und verfahrensorientierter Entwürfe EU‑weit uneinheitlich gestaltet und in manchen Mitgliedstaaten zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Die Umsetzung solcher Instrumente kann ferner in hohem Maße davon abhängen, ob sie zu den Agenden der nationalen Regierungen passen. Die Verbindung zwischen den branchenübergreifenden und den sektoralen Dialogen ist relativ schwach ausgeprägt, und die Verbindungen zwischen Dialogen in den verschiedenen Sektoren, so sie bestehen, sind unterentwickelt. Die Stärkung dieser Verbindungen könnte den Dialog kohärenter machen und seine Wirkungsmöglichkeiten verbessern. Die Ergebnisse des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene sind nicht immer allgemein bekannt bzw. werden auf nationaler und Unternehmensebene nicht umfassend verstanden. Einige Sozialpartner befürchten, dass die jüngsten Entwicklungen die Rolle des sozialen Dialogs für die politische Gestaltung und Entscheidungsfindung schwächen könnten (laut den Ergebnissen der Untersuchung der Standpunkte der Sozialpartner zum sozialen Dialog auf nationaler Ebene, die von den brachenübergreifenden Partnern auf EU‑Ebene 2011 in Auftrag gegeben wurde). Ihrer Auffassung nach sollten die branchenübergreifenden Partner nicht nur zu Themen wie Arbeitslosigkeit und sozialen Anliegen gehört werden, sondern auch zur größer werdenden Bandbreite politischer Vorschläge der EU mit potenziellen Auswirkungen auf die Beschäftigung, während die Kommission in steigendem Maße weitreichende Anhörungen aller Interessengruppen organisiert. • Die Sozialpartner müssen eventuell nach Wegen suchen, in Zukunft mehr konfliktträchtige Themen anzugehen, wenn der Dialog weiterhin seinen Einfluss behalten soll. In diesem Zusammenhang könnten die Organisationen auf europäischer Ebene gezwungen sein, eine aktivere Rolle bei der Beteiligung ihrer jeweiligen Mitglieder zu spielen. 91 Interview mit der Ratspräsidentschaft Jolanta Fedak Polnische Ministerin für Arbeits- und Sozialpolitik (2007-2011) Wie sehen Sie aus Ihrer Perspektive als Ratspräsidentin und polnische Ministerin den europäischen sozialen Dialog? Polen hat in diesen schwierigen Krisenzeiten, die insbesondere negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben, den Ratsvorsitz inne. Natürlich ist es in Zeiten der Krise weitaus schwieriger, Vertrauen zu gewinnen und zu einer Verständigung zu gelangen. Das heißt jedoch nicht, dass der soziale Dialog für die Lösung der krisenbedingten Probleme nutzlos ist. Um die neuen Herausforderungen bewältigen zu können, sollten wir alle Formen und Plattformen des Dialogs nutzen. Auf europäischer Ebene betrifft dies sowohl den zweigliedrigen Dialog der europäischen Sozialpartner auf der Grundlage der Artikel 154 und 155 AEUV als auch den dreigliedrigen Dialog. Beispielhaft für Letzteren ist der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung, der als Forum für den Meinungsaustausch zwischen den europäischen Sozialpartnern und den Institutionen der Europäischen Union fungiert. Während der polnischen Präsidentschaft wurde am 17. Oktober in Brüssel eine Herbsttagung des Gipfels abgehalten. Das Leitthema der Konferenz lautete: „Stärkung des Vertrauens und des sozialen Dialogs zur Unterstützung der (wirtschaftlichen) Erholung und des Strukturwandels“. Polen erkennt die Rolle und die Notwendigkeit zur Verbesserung und Förderung des europäischen sozialen Dialogs als eines der Werkzeuge zur Krisenbewältigung an. Der Grund hierfür liegt in unseren eigenen Erfahrungen mit den Krisenbewältigungsmaßnahmen, die die Sozialpartner beim Dreiparteien‑Ausschuss für soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten ausgehandelt haben, der auf der Grundlage des sogenannten Antikrisengesetzes in Kraft trat. Daher sollten wir Initiativen unterstützen – sowohl auf nationaler als auch auf EU‑Ebene –, die darauf abzielen, einen effektiven sozialen Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern sowie Unternehmen mit supranationaler Struktur zu etablieren, wie etwa die Einrichtung von Europäischen Betriebsräten. Deshalb müssen wir, vom polnischen Standpunkt aus betrachtet, die Notwendigkeit hervorheben, geeignete Bedingungen und vor allem eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens zu schaffen, um für alle Parteien des Dialogs die richtige Form des Dialogs zu finden und den Themenbereich für die Diskussionen zu umreißen. 92 Die Prioritäten der polnischen Präsidentschaft im Bereich Beschäftigung und Soziales mit der Bezeichnung „Solidarität zwischen den Generationen – auf dem Weg zur demografischen Zukunft Europas“ konzentrieren sich auf das Thema „Die Rolle des sozialen Dialogs bei der Suche nach Lösungen für die demografischen Herausforderungen“. Ein weiterer Bereich der Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und anderen Interessenvertretern umfasst die Umsetzung der Strategie Europa 2020 mithilfe sogenannter Leit­ initiativen und nationaler Reformprogramme – angesichts der Förderung der Einführung eines neuen Elements der wirtschaftlichen Koordinierung, des sogenannten „Europäischen Semesters“. Sind Sie der Meinung, dass die Sozialpartner in Europa bei der Umsetzung der Strategie Europa 2020 eine Funktion haben? In welcher Hinsicht? Die Strategie Europa 2020, eine kohärente Plattform für Maßnahmen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, verlangt – abgesehen von der neuen wirtschaftlichen Herangehensweise durch das sogenannte Europä­ ische Semester – einen intensiven und konstruktiven sozialen Dialog sowohl auf nationaler Ebene als auch EU‑weit. Dies betrifft hauptsächlich den prioritären Bereich der Strategie, in dem die Humanressourcen die wichtigste Rolle spielen, d. h. der Aufbau einer wissensbasierten Wirtschaft, die auf einer hohen Beschäftigungsquote mit hoher Produktivität beruht und die sozioökonomische Kohäsion fördert. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise mit wachsender Arbeitslosigkeit und Armut, die dramatischen sozialen Unruhen den Boden bereitet, wird dieser Dialog besonders dringend erwartet und gebraucht. Als Werkzeug für die Entwicklung und Einführung von Lösungen für den Arbeitsmarkt mittels Rahmenvereinbarungen stellt der europäische soziale Dialog eine wesentliche Stütze bei der Planung, Umsetzung, Überwachung und Bewertung des Vorhabens auf EU‑Ebene und folglich auch auf nationaler Ebene dar, einschließlich der Gesetzgebung, damit die Initiative der Strategie Europa 2020 in den arbeitsmarktrelevanten Themenbereichen umgesetzt werden kann. Dazu zählen z. B.: Arbeitsrecht, Sozialgesetzgebung, Bildung und Berufsausbildung (lebenslanges Lernen), Vermittlungsprogramme, Beobachtung des Angebots an und der Nachfrage nach Kompetenzen am Arbeitsmarkt, Mobilität am Arbeitsmarkt, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Corporate Social Responsibility, Altersmanagement. In diesen Bereichen gibt es immer noch Hürden für das Beschäftigungswachstum und das Funktionieren der EU‑Arbeitsmärkte. Sie können und müssen beseitigt werden, indem z. B. Lösungen im Bereich der 93 Rahmenvereinbarungen genutzt werden, die das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den europäischen Sozialpartnern sind. Folglich können diese Vorschläge, die von den Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen in den einzelnen EU‑Staaten gefördert und in nationales Recht umgesetzt werden, durch nationale Reformprogramme, die jährlich gemäß den Leitlinien der Europäischen Kommission aktualisiert werden, in der Praxis eingeführt werden. Es wird daran erinnert, dass die Mehrheit der genannten Bereiche, die innerhalb des Wirkungskreises des Europäischen sozialen Dialogs angesiedelt sind, für die Umsetzung der effizientesten EU‑Arbeitsmarktmodelle der Vergangenheit von großer Bedeutung sind und soziale Sicherheit mit Beschäftigungsflexibilität kombinieren, d. h. die sogenannte Flexicurity. Da das Konzept der Flexicurity weiterhin im Mittelpunkt der Europäischen Beschäftigungsstrategie steht – die in Zeiten einer älter werdenden Arbeitnehmerschaft ein entscheidendes Element für die Erreichung der Ziele der Strategie darstellt –, kann die Bedeutung der europäischen Sozialpartner für die Umsetzung der Strategie Europa 2020 nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als Ministerin für Arbeits- und Sozialpolitik muss ich darauf hinweisen, dass es für die EU‑Institutionen und Regierungen der Mitgliedstaaten unerlässlich ist, politisch zielgerichtet mit den europäischen Sozialpartnern zusammenzuarbeiten, damit sie in der Lage sind, ihr Potenzial bei der Durchführung der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung der Europäischen Union effizient einzusetzen. Aufgrund seines repräsentativen sozialen Charakters sollte der europäische soziale Dialog sowohl von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als auch von den Regierungen der Mitgliedstaaten als glaubwürdige und realitätsbezogene Quelle für Wissen und Initiativen im Bereich des Arbeitsmarktes akzeptiert und als ein Element zur Gewährleistung einer EU‑weiten sozioökonomischen Politik gesehen werden, die für eine nachhaltige Entwicklung wegweisend ist. Vertreten Sie die Auffassung, dass die Sozialpartner ihr Verhandlungsgeschick bestmöglich nutzen sollten, um Vereinbarungen zu erzielen, die per Richtlinie im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik umgesetzt werden können, und zwar gemäß Verfahren nach Artikel 154 und 155 AEUV? Bei der Beantwortung der Frage könnte man zunächst darauf hinweisen, dass sich dieses Jahr die Unterzeichnung der Vereinbarung durch die europäischen Sozialpartner zum 20. Mal jährt und dass diese auf der Grundlage 94 des Sozialprotokolls zum Maastricht‑Vertrag zum Fundament für Verhandlungen zum Abschluss von europäischen Vereinbarungen wurde. Die Vereinbarung von 1991 bildet das beste Beispiel für einen effizienten europäischen Dialog. Als Ergebnis der aktiven Haltung der europäischen Sozialpartner rückte der von ihnen geführte Dialog in den Mittelpunkt des Entscheidungsfindungsprozesses im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, ja, er erhielt sogar fast gesetzgeberische Befugnisse. Die Europäische Kommission sah sich gezwungen, die europäischen Sozialpartner in Bezug auf Initiativen im Bereich der Beschäftigung und Soziales anzuhören, außerdem erwarben diese das Recht, eigenständig Verhandlungen über allgemeingültige europäische Vereinbarungen zu führen. Diese Vereinbarungen können anschließend in die Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedstaaten übernommen werden, entsprechend den Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten, oder, bei Themenbereichen gemäß Artikel 153, auf gemeinsamen Antrag der Unterzeichnerparteien, durch eine Entscheidung des Rates auf Vorschlag der Kommission. Im AEUV ist die Rechtsgrundlage für diesen Dialog in Artikel 154 und 155 niedergelegt. Dieser Dialog führt – im übersektoralen Bereich – zu drei Vereinbarungen, die in Richtlinien umgesetzt wurden, d. h. die Richtlinie über Elternurlaub von 1995, über Teilzeitbeschäftigung von 1997, über befristete Arbeitsverhältnisse von 1999 sowie vier Vereinbarungen, die durch Maßnahmen der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten umgesetzt wurden, d. h. die Vereinbarung über Telearbeit von 2002, die Vereinbarung über arbeitsbedingten Stress von 2004, die Vereinbarung über Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz von 2007 sowie die Vereinbarung zu integrativen Arbeitsmärkten 2010. Die Leistungen des europäischen sozialen Dialogs in den einzelnen Sektoren sind ebenfalls von Bedeutung. Aufgrund des Fördersystems der Kommission wurden bereits 40 sektorale Ausschüsse für den sozialen Dialog eingerichtet (gemäß Beschluss der Kommission 98/500/EG). Die immer komplizierter werdenden wirtschaftlichen und sozialen Prozesse auf Makro- und Mikroebene, z. B. im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, stellen eine ernste Herausforderung für die Sozialpartner dar. Sie sollten für die Bereiche, für die sie mitverantwortlich sind, ihre herausragende Rolle im Entscheidungsfindungsprozess der EU bestätigen. In Krisenzeiten ist es viel schwieriger, eine Vereinbarung zwischen Dialogparteien zu erzielen, deren Interessenlage naturgemäß unterschiedlich ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass bei Einzelthemen zwischen den Sozialpartnern keine Zusammenarbeit stattfindet. Die Beispiele von 95 Aktionsplänen, die von den europäischen Sozialpartnern mehrere Jahre in Folge oder in festgelegten Bereichen von gemeinsamem Interesse ausgearbeitet wurden, belegen die Kompetenz, sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die beide Parteien zusammenbringen. Daher sind nicht nur die sogenannten konfliktträchtigen Aktionen des europäischen sozialen Dialogs von Bedeutung, sondern ebenfalls die unauffälligen Maßnahmen, wie Erklärungen, Stellungnahmen, Standpunkte, Empfehlungen und gemeinsame Maßnahmen. Sie tragen zur Herstellung eines gegenseitigen Vertrauensverhältnisses und zur gemeinsamen Suche nach Kompromisslösungen bei und gewährleisten so eine stabile wirtschaftliche Entwicklung, ein sicheres Umfeld und eine hohe Beschäftigungsquote. Glauben Sie, dass der europäische soziale Dialog als Modell dienen und eine Motivation für den sozialen Dialog in allen Mitgliedstaaten sein kann, auch in Staaten, wo er vielleicht weniger verbreitet ist? Die Erfahrung in Polen mit der Einführung des sozialen Dialogs zeigt deutlich, wie wichtig bewährte Methoden und Modelle für die Entwicklung des Dialogs auf nationaler Ebene sind. Obwohl Polen bereits 1919 zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation gehörte, hatte unser Land aufgrund der nachfolgenden geschichtlichen Ereignisse nicht die Möglichkeit, freie sozioökonomische Beziehungen nach internationalen Standards aufzubauen. Wie auch andere Länder der Region begann Polen nach 1989 den Rückstand aufzuholen, und die Bemühungen um die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft führten zu verstärktem Interesse am europäischen sozialen Dialog. Zunächst wurde die Gesetzgebung der Gemeinschaft umgesetzt, z. B. in Bezug auf Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern; ferner wurden die Strukturen des Dialogs entwickelt. Ein weiterer Anreiz betraf die Beteiligung von Vertretern der nationalen Organisationen der Sozialpartner an der Arbeit der dreigliedrigen Strukturen der EU (Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss oder Agenturen und Ausschüsse, z. B. die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, Ausschuss über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer) oder der Ausschuss für den sozialen Dialog. Die bereits gewonnene Erfahrung wird zurzeit durch Schulungen der Sozialpartner vertieft, die im Rahmen von Programmen umgesetzt werden, die aus dem Europäischen Sozialfonds kofinanziert werden. 96 Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft des europäischen sozialen Dialogs aus? Zum jetzigen Zeitpunkt ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. Wie die Geschichte der Entwicklung des europäischen sozialen Dialogs bereits gezeigt hat, geht die Entwicklung entgegen den allgemeinen Erwartungen häufig in eine andere Richtung, z. B. die Entwicklung des Dialogs zwischen den Sektoren in den 1990er Jahren. Andererseits kann seit kurzem die größte Aktivität im europäischen sozialen Dialog auf Sektorebene verzeichnet werden. Es scheint daher angebracht, die Initiativen zu unterstützen, die auf die Steigerung der aktuellen Anzahl sektoraler Ausschüsse abzielen, die mit ihren Aktivitäten fast 145 Millionen Arbeitnehmer repräsentieren. Dies kann an den jüngsten Maßnahmen verdeutlicht werden, die die Einrichtung von drei neuen Ausschüssen bezwecken (Papier-, Metall- und Bildungssektor), oder durch laufende Verhandlungen (in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz im Friseurgewerbe, Umsetzung der IAO‑Konvention im Fischereisektor und die vertraglichen Mindestanforderungen für Fußballspieler) sowie die Ausarbeitung neuer Kriterien für den repräsentativen Charakter der Organisationen der Sozialpartner. Man darf jedoch nicht vergessen, dass mit der Entwicklung des Dialogs auf europäischer Ebene einhergeht, dass mindestens die folgenden Themen einbezogen werden müssen: • die Rolle des Rates im Prozess der Verabschiedung von Richtlinien über Vereinbarungen der Sozialpartner; • etwaige Zusagen vonseiten der Mitgliedstaaten in Bezug auf Gesetzes­ änderungen zur Umsetzung solcher Vereinbarungen der Sozialpartner; • Transparenz der Vereinbarungen der Sozialpartner; • keine Verpflichtung zur Erstellung und Beifügung dieser Vereinbarungen zum Dokument im Hinblick auf die Auswirkung der Regelung. Vor dem Hintergrund der Krise und des erwarteten Restrukturierungsprozesses sind erhebliche Aktivitäten der Europäischen Betriebsräte und weiterer Unterrichtungs- und Anhörungsinstrumente der Arbeitnehmer auf überregionaler Ebene festzustellen. Der Arbeitsplan der Europäischen Kommission für 2011 enthält Angaben zum Beginn der Verhandlungen mit den europäischen Sozialpartnern im Hinblick auf eine Überprüfung der Bestimmungen der Richtlinie 2001/86/ EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer. Die Kommission weist darauf hin, dass mit allen Gesetzesänderungen in Bezug auf die Richtlinie die etwaige Änderung von Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 einhergeht. 97 Wir sollten ebenfalls die Initiative der Europäischen Kommission in Bezug auf die Einrichtung von Expertengruppen zur Analyse der Bestimmungen der Richtlinien 98/59/EG (Massenentlassungen), 2001/23/EG (Übergang) und 2002/14/EG (Unterrichtung und Anhörung) über das Recht auf Unterrichtung und Anhörung berücksichtigen. 98 Anhänge Anhang 1: Liste von Ausschüssen für den sektoralen sozialen Dialog Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog (ASSD) Europäische Sozialpartner Arbeitnehmer Arbeitgeber Sektor Branchenübergreifend EGB BusinessEurope, UEAPME, CEEP Audiovisueller Sektor Banken Bauindustrie Bergbau Bildung Binnenschifffahrt Chemische Industrie Darstellende Kunst Eisenbahnverkehr Elektrizitätswirtschaft Gas Gemeinschaftsverpflegung Gerberei und Leder Handel Holzindustrie Hotel- und Gastgewerbe Industrielle Reinigung Kommunal- und Regionalbehörden Krankenhaus- und Gesundheitssektor Landwirtschaft Metallindustrie Möbelindustrie Papierindustrie Personengebundene Dienstleistungen/Friseurhandwerk Postdienstleistungen Private Sicherheitsdienste Profifußball Schiffbau Schuhindustrie Seefischerei Seeschifffahrt Stahl Straßenverkehr Telekommunikation Textil und Bekleidung Versicherungen Zeitarbeitsvermittlung Zentralbehörden EUROMEI, EFJ, FIA, IFM UNI Europa EFBWW EMCEF ETUCE ETF EMCEF EAEA ETF EGÖD, EMCEF EMCEF, EPSU EFFAT, EGÖD ETUF:TCL UNI Europa UNI Europa EMCEF, EPSU EGÖD EPSU, UNI Europa EPSU, EGÖD EFFAT, EGÖD EMF EFBWW EMCEF EBU, ACT, AER, CEPI, FIAPF EBF-BCESA, ESBG,EACB FIEC APEP, EURACOAL, UEPG, IMA, Euromines EFEE EBU, ESO/OEB ECEG Pearle CER, EIM Eurelectric EUROGAS FERCO COTANCE EuroCommerce CEI-Bois EUROGAS EFCI CEMR HOSPEEM GEOPA/COPA CEEMET UEA, EFIC CEPI UNI Europa Coiffure EU UNI Europa UNI Europa EPFL, ECA EMF ETUF:TCL ETF ETF EMF ETF UNI Europa ETUF:TCL UNI Europa UNI Europa TUNED (EGÖD+CESI) Zivilluftfahrt ECA, ETF Zuckerindustrie EFFAT PostEurop CoESS FIFPro CESA CEC Europêche, COGECA ECSA Eurofer IRU ETNO Euratex ACME, BIPAR, CEA Eurociett EUPAN ACI-Europe, AEA, ASA, CANSO, ERA, IACA CEFS Diese Liste gibt den aktuellen Stand wieder – sie wird auf der Website der Kommission http://ec.europa.eu/social/ main.jsp?catId=522&langId=de regelmäßig aktualisiert. 99 Anhang 2: Liste von Organisationen der europäischen Sozialpartner, die gemäß Artikel 154 EG‑Vertrag angehört werden 1. Allgemeine branchenübergreifende Organisationen • BusinessEurope • Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) • Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) 2. Branchenübergreifende Organisationen, die bestimmte Kategorien von Arbeitnehmern oder Unternehmen vertreten • Eurocadres • Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME) • Rat der europäischen Fach- und Führungskräfte (CEC) 3. Spezifische Organisationen • Eurochambres 4. Branchenbezogene Arbeitgeberorganisationen • Vereinigung kommerzieller Fernsehsender in Europa (ACT) • Airports Council International – Europe (ACI-Europe) (Internationaler Flughafenrat) • Verband Europäischer Fluggesellschaften (AEA) • Airport Services Association (ASA) (Internationale Vereinigung der Flugabfertiger) • Verband europäischer professioneller Fußballligen (EPFL) • Verband der öffentlichen Postbetreiber in Europa/Organisation der europäischen Postverwaltungen und Postunternehmen (PostEurop) • Vereinigung europäischer Rundfunksender (AER) • Europäische Vereinigung der gegenseitigen und genossenschaftlichen Versicherer (AMICE) • Vereinigung der nationalen Verbände von Fischereiunternehmen in der Europäischen Union (EUROPECHE) • Banking Committee for European Social Affairs (EBF-BCESA) (Bankenausschuss für europäische soziale Angelegenheiten) • Civil Air Navigation Services Association (CANSO) (Verband von Flug­ sicherungsanbietern) • Coiffure EU • Ausschuss der berufsständischen landwirtschaftlichen Organisationen der Europäischen Union (COPA) • Gemeinschaft der europäischen Bahnen und Infrastrukturgesellschaften (CER) • Gemeinschaft der europäischen Werftvereinigungen (CESA) • Confederation of European Paper Industries (CEPI) (Verband der Europäischen Papierindustrie) • Europäischer Verband der Gerbervereinigungen (COTANCE) • Council of European Employers of the Metal, Engineering and Technology‑Based 100 • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Industries (CEEMET) (Rat der Europäischen Arbeitgeber der Metallindustrie, des Maschinenbaus und der technologiegestützten Branchen) Rat der Gemeinden und Regionen Europas (CCRE) Arbeitgebergruppe der landwirtschaftlichen Berufsverbände der Europäischen Union (GEOPA) Euracoal Euromines Europäischer Gesteinsverband (UEPG) Europäische Organisation für Textil und Bekleidung (EURATEX) Europäische Vereinigung der Genossenschaftsbanken (EACB) Vereinigung der europäischen Kaliproduzenten (APEP) Europäische Binnenschifffahrtsunion (EBU) Europäische Rundfunk‑Union (EBU) European Chemical Employers Group (ECEG) (Europäische Gruppe der Arbeitgeber in der chemischen Industrie) European Club Association (ECA) (Vereinigung der Europäischen Fußballvereine) Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) Europäischer Verband der Zuckerindustrie (CEFS) Zusammenschluss der Schuhverbände in Europa (CEC) European Confederation of Iron and Steel Industries (Eurofer) (Wirtschaftsverband der europäischen Eisen- und Stahlindustrie) European Confederation of Private Employment Agencies (Eurociett) (Europä­ ischer Dachverband der Zeitarbeitsfirmen) Europäischer Holzindustrieverband (CEIBois) Verband der europäischen Bauwirtschaft (FIEC) Europäische Koordination unabhängiger Produzenten (CEPI) Europäischer Dachverband der Reinigungsbranche (EFCI) Fédération européenne de la restauration collective concédée (FERCO) (Europäischer Dachverband der nationalen Arbeitgeberverbände der Ge­mein­ schaftsverpflegung) European Federation of Education Employers (EFEE) European Federation of National Insurance Associations (CEA) (Europäischer Versicherungsverband) Europäische Vereinigung der Sicherheitsdienste (CoESS) Verband der Europäischen Möbelindustrie (UEA) European Furniture Industries’ Confederation (EFIC) (Europäischer Verband der Möbelindustrie) Europäische Arbeitgebervereinigung für Kliniken und Gesundheitswesen (HOSPEEM) Europäische Vereinigung für industrielle Mineralien (IMA) European Public Administrations Employers (EUPAE) (Vereinigung öffentlicher Arbeitgeber in Europa) European Rail Infrastructure Managers (EIM) (Europäische Vereinigung der Schieneninfrastrukturbetreiber) European Regions Airline Association (ERA) (Dachverband der europäischen Regionalfluggesellschaften) Europäische Sparkassenvereinigung (GECE) Europäische Schifferorganisation (ESO) Europäischer Verband der Telekommunikationsbetreiber (ETNO) 101 • European Union of the Natural Gas Industry (EUROGAS) (Europäische Vereinigung der Erdgaswirtschaft) • Allgemeiner Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften der Europä­ ischen Union (COGECA) • Hotels, Restaurants und Cafés in Europa (HOTREC) • International Air Carrier Association (IACA) (Internationaler Verband der Fluggesellschaften) • Internationaler Verband der Filmproduzenten (FIAPF) • Internationaler Verband der Versicherungsvermittler (BIPAR) • Internationale Straßenverkehrsunion (IRU) • Europäische Liga der Arbeitgeberverbände der darstellenden Kunst (PEARLE) • Einzel-, Groß- und Außenhandel in Europa (EuroCommerce) • Europäische Vereinigung der Elektrizitätswirtschaft (EURELECTRIC) 5. B ranchenbezogene europäische Gewerkschaftsorganisationen • Europäische Allianz für Kunst und Unterhaltung EAEA) • Europäische Union der Unabhängigen Gewerkschaften (CESI) • European Cockpit Association (ECA) (Europäischer Dachverband der Piloten­ verbände) • Europäische Föderation der Bau- und Holzarbeiter (EFBH) • Europäischer Journalistenverband (EFJ) • Europäischer Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EGÖD) • Europäische Föderation der Gewerkschaften des Lebens-, Genussmittel-, Landwirtschafts- und Tourismussektors und verwandter Branchen (EFFAT) • Europäischer Metallarbeiterbund (EMB) • Europäische Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) • Europäischer Gewerkschaftsausschuss für Bildung und Wissenschaft (ETUCE) • Europäischer Gewerkschaftsverband: Textil, Bekleidung, Leder (EGV:TBL) • Europäische Transportarbeiter‑Föderation (ETF) • Internationaler Schauspielerverband (FIA) • Internationaler Musikerverband (IFM) • International Federation of Professional Footballers’ Associations – Division Europe (FIFPro) (Internationale Spielergewerkschaft – Abteilung Europa) • Union Network International – Europa (UNI Europa) • Union Network International – Media and Entertainment International – Europe (EUROMEI) (Medien und Unterhaltung International – Technische Berufe im Unterhaltungssektor) 102 Weitere Informationen • Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa (2011), Europäische Kommission http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=89&newsId=1137& furtherNews=yes • Arbeitsbeziehungen in Europa (2010), Europäische Kommission http://ec.europa.eu/social/keyDocuments.jsp?type=0&policyArea=0& subCategory=0&country=0&year=0&advSearchKey=IRIE&mode=advan ced Submit&langId=en • Restrukturierung – Website der Europäischen Kommission http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=782&langId=de • Sozialer Dialog – Website der Europäischen Kommission http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=329&langId=de • Sozialer Dialog – Website der Internationalen Arbeitsorganisation http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/decent-work-agenda/socialdialogue/lang–en/index.htm • Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission zu Arbeitsweise und Potenzial der Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog in Europa (2010) http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=5591&langId=de Erscheinende Leitfäden • Alt werden und Altersversorgung (Juni 2012) • Arbeitsrecht und Arbeitsbedingungen (Dezember 2012) • Sozialwirtschaft (Juni 2013) • ESF und andere Finanzierungsinstrumente (Dezember 2013) • Soziale Integration (Juni 2014) 103 Glossar Dreigliedrig Eine Form des sozialen Dialogs mit Beteiligung der Sozialpartner und der Behörden (z. B. eine Regierung oder EU‑Institutionen). Europäische Betriebsräte (EBR) Plattformen für den EU‑weiten sozialen Dialog innerhalb multinationaler Großunternehmen. Die EBR bringen üblicherweise zentral organisierte Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter aus Ländern zusammen, in denen die Unternehmen tätig sind. Sie ermöglichen die Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern zu transnationalen Themen. Manchmal schaffen sie einen Rahmen für Verhandlungen. Flexicurity Hauptansatz zum Arbeitsmarkt der Europäischen Union, der auf einen Ausgleich zwischen der Notwendigkeit der Arbeitsmarktflexibilität und der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Sicherheit der Arbeitnehmer abzielt. Die Hauptkomponenten umfassen flexible, jedoch zuverlässige vertraglich festgelegte Vereinbarungen, umfassende Strategien für lebenslanges Lernen, effiziente Arbeitsmarktpolitik und moderne soziale Sicherungssysteme, die angemessene Einkommenssicherung bieten, Beschäftigung fördern und die Arbeitsmarktmobilität erleichtern. Folgenabschätzung Ein Prozess, mit dessen Hilfe die Europäische Kommission (unter Nutzung ihrer eigenen Erkenntnisse und der Beiträge von Interessengruppen) die potenziellen wirtschaftlichen, sozialen und Umweltfolgen neuer zur Debatte stehender politischer Initiativen abschätzt und die Vor- und Nachteile möglicher politischer Optionen abwägt. Gemeinschaftlicher Besitzstand Die Gesamtheit des EU‑Rechts; er umfasst alle für die Mitgliedstaaten verbindlichen Rechtsakte sowie die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union. Programm des Binnenmarktes (1985-1992) Auf der Grundlage des Weißbuchs der Kommission über die Vollendung des Binnenmarktes (Juni 1985) wurde das Programm des Binnenmarktes mit dem Ziel eingeleitet, nichttarifliche Schranken zu beseitigen, darunter nationale Reglementierungen von Produkten und Dienstleistungen, Personen- und 104 Warenkontrollen an den Grenzübergängen oder Unterschiede bei indirekten Steuern. Das Konzept des Binnenmarktes und eine Frist für seine Vollendung (31. Dezember 1992) wurden in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 niedergelegt, die außerdem einen Beschlussfassungsmechanismus vorsah, bei dem bei den meisten den Binnenmarkt betreffenden Themen Beschlüsse nicht mehr einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden sollten. Sozialer Dialog Interaktionen (darunter Verhandlungen, Anhörungen oder einfacher Informationsaustausch) zwischen oder innerhalb von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen (Sozialpartner) und Behörden (auf EU-, nationaler oder sonstiger Ebene). Der Begriff „Sozialer Dialog“ wird bisweilen in weiterem Sinne gebraucht, um ebenfalls den Dialog zwischen den Sozialpartnern am jeweiligen Arbeitsplatz einzubeziehen. Sozialer Dialog auf EU‑Ebene Eine Reihe von Verfahren und Vorkehrungen, wobei Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf EU‑Ebene Gespräche und Verhandlungen führen, anderweitig zusammenarbeiten und gemeinsam an der politischen Entscheidungsfindung der EU beteiligt sind. Der soziale Dialog auf EU‑Ebene kann zwei- oder dreigliedrig sein und auf branchenübergreifender oder Sektorebene erfolgen. Sozialpartner Organisationen, die die Arbeitgeber oder Arbeitnehmer vertreten, insbesondere die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften. Tarifverhandlungen Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler, sektoraler, Unternehmens- oder sonstiger Ebene, die Lohn- und Gehaltsfragen und sonstige Arbeitsbedingungen betreffen. Sie führen zu Tarifverträgen, die in einem Land, einer Region, einem Sektor oder Unternehmen Allgemeingültigkeit erlangen können. Zweigliedrig Eine Form des sozialen Dialogs ausschließlich mit Beteiligung von Organisationen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer (die Sozialpartner) vertreten. 105 Europäische Kommission Leitfaden Soziales Europa – Teil 2: Sozialer Dialog Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union 2012 – 105 S. – 14,8 x 21 cm ISBN 978-92-79-21308-3 ISSN 1977-236X doi:10.2767/44738 Der Leitfaden Soziales Europa ist eine halbjährlich erscheinende Veröffentlichung, deren Ziel es ist, einem interessierten, jedoch nicht notwendigerweise spezialisierten Publikum einen Überblick über verschiedene Bereiche der EU-Politik auf dem Gebiet Beschäftigung, Soziales und Integration zu verschaffen. Er befasst sich mit den Kernfragen und Herausforderungen, erläutert politische Maßnahmen und Instrumente auf EU-Ebene und gibt Beispiele für bewährte Verfahren von EU-Mitgliedstaaten. Darüber hinaus stellt er Ansichten der Ratspräsidentschaft und des Europäischen Parlaments zu diesem Thema vor. Der zweite Teil in dieser Reihe beschreibt die Geschichte, Arbeitsweise und Errungenschaften des sozialen Dialogs auf EU-Ebene. Verhandlungen, Anhörungen und Informationsaustausch unter Arbeitgeberund Arbeitnehmerorganisationen (die Sozialpartner) und Behörden sind ein wesentliches Element des europäischen Sozialmodells und spielen eine entscheidende Rolle bei der Festlegung und Umsetzung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik der EU sowie der jeweiligen sektoralen Politik. In Teil 2 wird ferner untersucht, wie sich der soziale Dialog in den einzelnen Mitgliedstaaten als Reaktion auf die Wirtschaftskrise entwickelt hat. Der Leitfaden ist in deutscher, englischer und französischer Sprache erhältlich. WO ERHALTE ICH EU-VERÖFFENTLICHUNGEN? Kostenlose Veröffentlichungen: • über EU Bookshop (http://bookshop.europa.eu); • bei den Vertretungen und Delegationen der Europäischen Union. Die entsprechenden Kontaktdaten finden sich unter http://ec.europa.eu oder können per Fax unter der Nummer +352 2929-42758 angefragt werden. Kostenpflichtige Veröffentlichungen: • über EU Bookshop (http://bookshop.europa.eu). Kostenpflichtige Abonnements (wie z. B. das Amtsblatt der Europäischen Union oder die Sammlungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union): • über eine Vertriebsstelle des Amts für Veröffentlichungen der Europäischen Union (http://publications.europa.eu/eu_bookshop/index_de.htm). ISSN 1977-236X KE-BC-11-002-DE-C Leitfaden Soziales Europa Teil 2 Sind Sie an den Veröffentlichungen der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration interessiert? Unter der folgenden Adresse können Sie sich auch gerne für den kostenlosen E-Newsletter Social Europe der Europäischen Kommission anmelden: http://ec.europa.eu/social/e-newsletter http://ec.europa.eu/social/ www.facebook.com/socialeurope Leitfaden Soziales Europa – Teil 2 Dann können Sie diese unter folgender Adresse herunterladen oder kostenfrei abonnieren: http://ec.europa.eu/social/publications Sozialer Dialog Sozialer Dialog