Leitfaden zum Sozialen Dialog - Europäische Kommission

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ISSN 1977-236X
KE-BC-11-002-DE-C
Leitfaden Soziales Europa
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Leitfaden Soziales Europa
Teil 2
Sozialer Dialog
Europäische Kommission
Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration
Manuskript abgeschlossen im Januar 2012
Der vorliegende Leitfaden wurde von Mark Carley und Mitarbeitern der Kommission verfasst.
Weder die Europäische Kommission noch Personen, die in ihrem Namen handeln, sind für die Verwendung
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Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2012
ISBN 978-92-79-21308-3
ISSN 1977-236X
doi:10.2767/44738
© Europäische Union, 2012
Nachdruck mit Quellenangabe gestattet.
Printed in Luxembourg
Gedruckt auf elementar chlorfrei gebleichtem Papier (ECF)
Vorwort
László Andor
Für Beschäftigung, Soziales und Integration
zuständiges Mitglied der Europäischen Kommission
In den letzten fünf Jahrzehnten der europäischen Integration wurde deutlich, dass der soziale Dialog
auf EU-Ebene eine entscheidende Rolle dabei spielt, das europäische Sozialmodell zum Nutzen von
Arbeitgebern, Arbeitnehmern sowie von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt voranzubringen. Im
Oktober 2011 feierten wir das 20-jährige Bestehen der Vereinbarung der Sozialpartner, die später im
Maastricht-Vertrag festgelegt wurde. Sie stellte Verfahren für eine enge Einbindung der Sozialpartner in
die Gestaltung und Umsetzung der EU-Beschäftigungs- und Sozialpolitik auf.
Der soziale Dialog hat beim Aufbau des Binnenmarktes eine zentrale Rolle gespielt. Heute ist er für die
Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung und den Aufbau einer Wirtschaftsunion unverzichtbar.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die EU und die Mitgliedstaaten in die Stärkung des sozialen
Dialogs sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene investieren, wenn Trennung zwischen Kapital und
Arbeit, ein Rückgang des europäischen Wachstums- und Beschäftigungspotenzials, größere wirtschaftliche Ungleichgewichte und eine zunehmende wirtschaftliche Ausgrenzung bestimmter Regionen oder
Gruppen im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise verhindert werden sollen. Wir brauchen
branchenübergreifenden und sektoralen Dialog sowie den Dialog innerhalb der Unternehmen. Der soziale Dialog ist autonom, die Sozialpartner tragen jedoch eine große Verantwortung, wenn es darum geht,
die wichtigsten strukturellen Herausforderungen anzugehen, die in den nächsten Jahren auf Europa
zukommen.
Die Erfahrung der Krise hat bisher gezeigt, wie der soziale Dialog dazu beitragen kann, die Auswirkungen des Konjunkturabschwungs zu lindern, für Stabilität und Widerstandsfähigkeit zu sorgen und die
Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder gar zu steigern. Besonders auf nationaler Ebene hat die Sozialpartnerschaft in vielen Ländern geholfen, die Krise zu bewältigen. Wie Kapitel 5 verdeutlicht, hielten Mitgliedstaaten mit starkem sozialem Dialog dem Sturm am besten Stand. In einigen Ländern mit traditionell
gering ausgeprägtem sozialem Dialog haben sich als Reaktion auf die Krise nationale branchenübergreifende Verhandlungen herausgebildet.
Der Weg zur Erholung Europas besteht aus Maßnahmen zur gegenseitigen Stärkung in Bezug auf die
Modernisierung der Wirtschaft, die Verbesserung der Umwelt und soziale Investitionen, wie in der Strategie Europa 2020 dargelegt. Institutionen des sozialen Dialogs auf EU-Ebene, wie der Dreigliedrige
Sozialgipfel, und die enge Einbindung der Sozialpartner in die Vorbereitung und Umsetzung nationaler
Reformprogramme sind entscheidend, wenn gewährleistet werden soll, dass die Haushaltskonsolidierung auf eine Art und Weise durchgeführt wird, die die Wirtschaftsleistung Europas stärkt. Der soziale
Dialog hilft ebenfalls sicherzustellen, dass Reformen der Arbeitsmärkte und Sozialschutzsysteme
3
gerecht und wirkungsvoll sind und dass Europa der Übergang zu einer ressourcenschonenden, kohlenstoffarmen Wirtschaft gelingt. Einige dringende Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise,
insbesondere in Ländern mit makroökonomischen Stabilisierungsprogrammen, könnten bestehende
Formen des sozialen Dialogs und Tarifverträge zunichte machen. Aber wenn Europa tragfähige wirtschaftliche und soziale Strukturen erhalten und langfristigere Herausforderungen angehen möchte,
muss es danach streben, aus der Krise mit mehr und nicht mit weniger sozialem Dialog hervorzugehen.
Ohne einen starken Dialog zwischen den Sozialpartnern und ohne die institutionellen Kapazitäten, die
sein Funktionieren auf allen Ebenen ermöglichen, werden wir weder die Ziele von Europa 2020 erreichen, noch wird Europa in der Lage sein, das von Mitbestimmung geprägte Wesen seiner Wirtschaft und
Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
Tatsächlich ist der soziale Dialog in vielen der Mitgliedstaaten, die der EU in den Jahren 2004 und 2007
beitraten, jedoch weiterhin schwach ausgebildet. In einigen Fällen gibt es auch eine Tendenz, die dreigliedrigen Strukturen zu untergraben, abzuwerten oder gar zu beseitigen. Die Aushöhlung von Tarifverträgen und anderen sozialen Rechten könnte Teil impliziter „Sozialdumping“-Strategien sein. Derartige
Ansätze sind schlecht für Europa und schlecht für die betroffenen Länder sowie wirtschaftlich und sozial
untragbar. Das Vertrauen zwischen den Teilnehmern am sozialen Dialog könnte auch durch unterentwickelte institutionelle Kapazitäten eingeschränkt werden. Auf nationaler Ebene hat sich das in manchen
Fällen in einer gescheiterten Entwicklung von gemeinsamen zwei- oder dreigliedrigen Maßnahmen zur
Bewältigung der Krise niedergeschlagen. Auf EU-Ebene können derartige Schwächen die Legitimität
von Prozessen der wirtschaftspolitischen Steuerung mindern und die Umsetzung politischer Maßnahmen untergraben. Aus diesem Grund bietet die Kommission durch den Europäischen Sozialfonds und
zahlreiche transnationale Projekte Unterstützung für den Kapazitätenaufbau der Sozialpartner. Ich
ermutige die Sozialpartner und Regierungen, diese Unterstützung in Anspruch zu nehmen und gemeinsam für einen stärkeren, stabileren Dialog in der gesamten EU einzutreten.
4
Inhalt
Vorwort............................................................................................3
Kapitel 1 – Eine Einführung in den sozialen Dialog..........................7
Interview mit den branchenübergreifenden Sozialpartnern.......... 24
Kapitel 2 – E in kurzer Überblick über die institutionelle
Geschichte des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene............. 33
EWSA‑Meldung.............................................................................. 43
Kapitel 3 – Funktionsweise des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene...... 45
Stimme aus dem Europäischen Parlament..................................... 56
Kapitel 4 – W
as wurde beim sozialen Dialog
auf EU‑Ebene erreicht?................................................. 59
IAO‑Meldung...............................................................................76
Kapitel 5 – Der soziale Dialog und die Krise.................................79
Kapitel 6 – Künftige Entwicklungen und Herausforderungen
Die Sozialpartner und Europa 2020.............................87
Interview mit der Ratspräsidentschaft.........................................92
Anhänge...................................................................99
Weitere Informationen............................................103
Glossar....................................................................104
6
© ImageGlobe
Kapitel 1
Eine Einführung in den sozialen Dialog
Was ist sozialer Dialog?
In den Mitgliedstaaten der EU spielen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer­
organisationen gemeinsam eine
wichtige Rolle und nehmen Einfluss
auf Entwicklungen am Arbeitsplatz
und in der Wirtschaft und Gesellschaft allgemein. Art und Umfang
dieser Rolle unterscheiden sich von
Land zu Land erheblich (siehe S. 16).
Sie beinhaltet die Festlegung von
Vergütungs- und Beschäftigungsbedingungen über Tarifverträge auf
verschiedenen Ebenen, Stellungnahmen gegenüber Regierungen
und anderen Behörden im Rahmen
von Anhörungen (womit zur Gestaltung von Recht und Politik in Bereichen wie Beschäftigung beigetragen
wird), die gemeinsame Verwaltung
oder Überwachung von Bereichen
wie soziale Sicherheit, Weiterbildung
oder Gesundheit und Sicherheit
oder einfach die Erörterung von Fragen von beiderseitigem Interesse.
Diese Prozesse können formell oder
informell sein, sie können auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen be­grenzt sein oder auch die
Regierung und andere Behörden mit
einbeziehen.
Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen – Arbeit­geberverbände
und Gewerkschaften – sind in vielen
Mitgliedstaaten als die „Sozialpartner“ bekannt. Die Wechselbeziehungen zwischen ihnen und mit den
Behörden werden oft als „sozialer
Dialog“ bezeichnet. Dieser Begriff
wird oftmals weiter gefasst, um den
Dialog an einzelnen Arbeitsplätzen
einzubeziehen. Hierbei informieren,
beraten und verhandeln die Arbeitgeber mit ihren Arbeitnehmern und
deren Vertretern über Fragen im
Zusammenhang mit Beschäftigung
und Unternehmensangelegenheiten.
Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) definiert sozialen Dialog
als „alle Arten von Verhandlungen,
Konsultationen oder Informationsaustausch zwischen oder unter
Vertretern von Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern über Fragen von gemeinsamem Interesse im
Zusammenhang mit der Wirtschaftsund Sozialpolitik“. Der Dialog kann
die „Form eines Dreiparteienprozesses annehmen, wobei der Staat
offizielle Partei des Dialogs ist, oder
auch nur zwischen zwei Parteien –
den Vertretern der Arbeitnehmer
und der Unternehmensleitung (bzw.
der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) – geführt werden, mit
oder ohne direkte Beteiligung der
Regierung“.
Sozialer Dialog hat sich auf der
Ebene der Europäischen Union
herausgebildet, was seine weit
verbreitete Praxis in den Mitgliedstaaten widerspiegelt (und an sie
gekoppelt ist). Formen von sozialem
Dialog waren bereits bei Gründung
7
der Europäischen Gemeinschaften gegenwärtig, und heute ist
der soziale Dialog im Vertrag über
die Arbeitsweise der Europäischen
Union verankert (Artikel 151-155,
siehe Kapitel 2 unten) und spielt in
vielen Bereichen der EU‑Politik und
EU‑Maßahmen eine Rolle. Die vorliegende Veröffentlichung erläutert
diesen Dialog, seinen Hintergrund,
seine Entwicklung, seinen Ablauf
und seine Errungenschaften sowie
die Herausforderungen, denen er
heute gegenübersteht.
Die Grundlagen
des sozialen Dialogs
auf EU‑Ebene
Im Rahmen der EU beinhaltet der
soziale Dialog eine Reihe von Verfahren und Vorkehrungen, wobei
Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf EU‑Ebene Gespräche und Verhandlungen führen,
anderweitig
zusammenarbeiten
und gemeinsam an der politischen
Entscheidungsfindung der EU
beteiligt sind. Der Dialog nimmt
zwei grundlegende Formen an und
findet auf zwei Hauptebenen statt.
Seine Form ist entweder:
• zweigliedrig, d. h., es sind nur die
Sozialpartner beteiligt (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen), oder
• dreigliedrig, d. h., es sind sowohl
die Sozialpartner als auch die
EU‑Institutionen beteiligt.
Die zwei Hauptebenen des Dialogs
sind:
• branchenübergreifend, d. h. ein
Dialog, dessen Geltungsbereich
die gesamte EU‑Wirtschaft und
den gesamten EU‑Arbeitsmarkt
sowie alle Sektoren umfasst, und
• sektoral, d. h., er deckt eine
bestimmte Branche in der gesamten EU ab.
Die Organisationen, die am Dialog
teilnehmen, unterscheiden sich je
nach Ebene. Auf branchenübergreifender Ebene (siehe Kasten 1)
sind die Gewerkschaften in erster Linie durch den Europäischen
Gewerkschaftsbund (EGB) und die
Arbeitgeber durch BusinessEurope
(hauptsächlich Arbeitgeber im privaten Sektor), CEEP (Arbeitgeber im
öffentlichen Dienst) und UEAPME
Kasten 1. Die branchenübergreifenden
Sozialpartner
Die wichtigste branchenübergreifende Gewerkschaftsorganisation,
die am sozialen Dialog auf EU-Ebene beteiligt ist, ist der Europäische
Gewerkschaftsbund (EGB). Die Mitglieder des EGB setzen sich aus
83 nationalen Gewerkschaftsverbänden aus 36 Ländern plus zwölf
europäischen Gewerkschaftsverbänden zusammen, die nationale
Gewerkschaften vereinen, die in bestimmten Branchen tätig sind.
Insgesamt vertritt der EGB 60 Millionen Gewerkschaftsmitglieder in
ganz Europa.
8
Auch der Rat der europäischen Fach- und Führungskräfte (Eurocadres) ist unter der Schirmherrschaft des EGB tätig. Er vertritt über
5 Millionen Fach- und Führungskräfte, die an den EGB angeschlossenen Gewerkschaften angehören. Außerhalb des EGB führt die
Europäische Vereinigung der leitenden Angestellten (CEC) 17 nationale Organisationen zusammen, die Fach- und Führungskräfte aus
15 Ländern vertreten, sowie neun Verbände, die nationale Gewerkschaften von Fach- und Führungskräften bestimmter Branchen
vereinen. Die CEC vertritt 1,5 Millionen Mitglieder. Die Europäische
Kommission hört sowohl Eurocadres als auch die CEC als branchenübergreifende Sozialpartner an, die bestimmte Kategorien von
Arbeitnehmern vertreten. Die beiden Organisationen haben ferner
innerhalb der EGB-Delegation einen Verbindungsausschuss eingerichtet, über den sie an branchenübergreifenden Verhandlungen
auf EU-Ebene teilnehmen.
Auf Arbeitgeberseite gibt es zwei allgemeine branchenübergreifende Sozialpartner:
• Zu den Mitgliedern von BusinessEurope zählen 41 nationale
Arbeitgeber aus 35 europäischen Ländern. Er vertritt 20 Unternehmen aller Größenordnungen, hauptsächlich im privaten
Sektor.
• Der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft
(CEEP) vertritt einzelne Unternehmen und Arbeitgeberverbände
im öffentlichen Dienst – sowohl Organisationen, die teilweise
oder vollständig in öffentlicher Hand sind, als auch solche, die
Tätigkeiten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ausüben,
unabhängig von ihrem rechtlichen/Eigentümerstatus. Er besteht
aus 19 Sektionen, die sich aus einzelnen Arbeitgebern und Verbänden zusammensetzen, und vier angeschlossenen Branchenorganisationen auf europäischer Ebene. Die Mitglieder des CEEP
beschäftigen 30 % der Arbeitnehmer in der EU.
Die Europäische Union des Handwerks und der Klein- und
Mittelbetriebe (UEAPME) wird von der Kommission als branchenübergreifende Organisation angehört, die bestimmte Unternehmenskategorien vertritt. Die UEAPME vereint 40 nationale
branchenübergreifende Verbände für KMU und Handwerksbetriebe
aus 26 EU-Mitgliedstaaten, plus assoziierte Mitglieder, darunter nationale KMU-Organisationen aus Drittstaaten und 29 sektorale KMUOrganisationen auf EU-Ebene. Die UEAPME vertritt über 12 Millionen
Unternehmen mit mehr als 55 Millionen Beschäftigten. Sie nimmt
gemeinsam mit BusinessEurope und dem CEEP an der Arbeitgebergruppe für Dialog und Verhandlungen mit dem EGB teil.
9
(kleine und mittlere Unternehmen)
vertreten. Auf Sektorebene (siehe
Kasten 2) handelt es sich bei den
Sozialpartnern um Organisationen,
die nationale Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände
zusammenbringen, die in ganz Europa in einer
bestimmten Branche tätig sind.
Zweigliedriger sozialer Dialog – der
Schwerpunkt dieser Publikation –
findet sowohl branchenübergreifend als auch auf Sektorebene
statt. Ausschüsse für den sozialen
Dialog wurden, unterstützt von
der Europäischen Kommission, auf
branchenübergreifender Ebene in
40 Sektoren eingerichtet. In diesen
Ausschüssen können die Sozialpartner auf eigene Initiative Fragen
von beiderseitigem Interesse erörtern, gemeinsame Aufgaben ausführen sowie Vereinbarungen und
andere gemeinsame Entwürfe
aushandeln. Des Weiteren hört die
Kommission die branchenübergreifenden und sektoralen Sozialpartner zu einer großen Bandbreite
von Themen an, und die Partner
können über die Ausschüsse für
den sozialen Dialog gemeinsame
Antworten erarbeiten. Wenn es um
Fragen der Beschäftigungs- und
Sozialpolitik geht, hat die Kommission die Pflicht, die Sozialpartner zu
möglichen EU‑Maßnahmen (z. B.
Kasten 2. Die sektoralen Sozialpartner
Insgesamt sind 62 Arbeitgeberverbände auf europäischer Ebene, die
nationale Arbeitgeberverbände einer bestimmten Branche vertreten, an den Ausschüssen für den sektoralen sozialen Dialog in der EU
beteiligt. Diese werden von der Europäischen Kommission zu Fragen
der Sozial- und Beschäftigungspolitik angehört. Diese Organisationen variieren beträchtlich in Größe und Umfang. Einige vertreten
alle bzw. die meisten großen Branchen (z. B. Metallverarbeitung/
Maschinenbau oder kommunale/regionale Behörden), und andere
vertreten relativ kleine Teilsektoren (z. B. Flugabfertigung oder Kaliproduktion). Ausschüsse für den sektoralen Dialog umfassen häufig
zwei oder mehr Arbeitgeberorganisationen.
Im Gegensatz dazu nehmen nur 17 Gewerkschaftsorganisationen
am sektoralen Dialog auf EU‑Ebene teil und werden förmlich von
der Kommission angehört. Der Großteil davon sind dem EGB angeschlossene europäische Gewerkschaftsverbände (siehe Kasten 1),
wie der Europäische Metallarbeiterbund oder der Europäische
Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst. Während die sektoralen Gewerkschaftsorganisationen in der Größe variieren, haben
sie tendenziell eine größere Reichweite als sektorale Arbeitgeberverbände auf EU‑Ebene und decken oft mehr als eine Branche ab,
wobei mehrere von ihnen in mehr als einem sektoralen Ausschuss
vertreten sind.
10
Gesetzgebung) anzuhören, indem
sie ihnen die Möglichkeit gibt, einzeln oder gemeinsam zu antworten
und gegebenenfalls Vereinbarungen in Bezug auf die betreffenden
Fragen auszuhandeln, die unter
gewissen Umständen durch eine
EU‑Richtlinie
Rechtsgültigkeit
erlangen können.
Der dreigliedrige soziale Dialog
findet hauptsächlich auf branchenübergreifender Ebene statt. Er
umfasst verschiedene Einrichtungen
und Prozesse, die den Sozialpartnern die Möglichkeit geben, Fragen
mit den EU‑Institutionen zu erörtern
und zur Debatte und Politik in Bereichen wie Wirtschaft und Verkehr beizutragen (siehe Kasten 4).
Es ist auch eine Aufgabe der EU, den
europäischen sozialen Dialog in einzelnen Unternehmen zu fördern. Die
Gesetzgebung ermöglicht die Einrichtung Europäischer Betriebsräte
(EBR) in multinationalen Konzernen,
die in der EU tätig sind. Diese bieten Vertretern der Unternehmensführung und der Arbeitnehmer
ein Forum des Dialogs in Bezug
auf transnationale Themen (siehe
Kasten 3).
Warum brauchen wir
sozialen Dialog auf
EU‑Ebene?
Die Länder Europas haben eine
eigene Organisationsweise ihrer
Gesellschaften und Volkswirtschaften entwickelt, die als das „europäische Sozialmodell“ bekannt
geworden ist. Es wird allgemein
anerkannt, dass dieses Modell
mindestens nachhaltiges Wirtschaftswachstum, einen hohen
und steigenden Lebensstandard,
hohe Beschäftigungsniveaus, eine
hohe Bildungsqualität, umfassende Systeme für Wohlfahrt und
Sozialschutz, ein geringes Maß an
Ungleichheit und ein hohes Maß
an Solidarität umfasst und – was
vor dem aktuellen Hintergrund
entscheidend ist – den Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern
und dem Dialog zwischen ihnen
einen großen Stellenwert einräumt.
Der soziale Dialog gilt als integraler Bestandteil des europäischen
Sozialmodells.
Der Beweis für einen gemeinsamen
Glauben an dieses Modell sind die
Europäischen
Gemeinschaften
selbst, die in den 1950er Jahren aus
sechs Mitgliedstaaten entstanden,
und die Verträge zur Gründung
der Gemeinschaften. Nachdem die
Gemeinschaften in den folgenden
50 Jahren wuchsen und immer stärker integriert und schließlich zur
Europäischen Union wurden, wurden die Werte des europäischen
Sozialmodells immer fester in den
nachfolgenden Verträgen verankert. Der soziale Dialog ist einer
dieser Werte. Aufgrund der bedeutenden Rolle des sozialen Dialogs
in den Mitgliedstaaten (besonders
in den Gründerstaaten und den
Staaten, die bis Ende des 20. Jahrhunderts beitraten) wurde er in
die institutionellen Mechanismen
und Prozesse sowie in diejenigen
der politischen Entscheidungsfindung aufgenommen, die diese
Länder auf europäischer Ebene
geschaffen haben.
11
Der soziale Dialog ist Teil des europäischen Sozialmodells, weil er den
demokratischen Grundsatz vertritt
(enthalten in Artikel 11 des Vertrags
über die Europäische Union – EUV),
dass repräsentative Vereinigungen
die Möglichkeit haben sollten, ihre
Meinungen zu äußern, von den
Behörden angehört zu werden und
mit ihnen einen Dialog zu führen,
sowie die Ansicht, dass es gerecht ist,
Arbeitnehmer und Arbeitgeber in die
Entscheidungsfindung zu Themen,
die sie direkt betreffen, einzubeziehen. In der Charta der Grundrechte
der EU ist ferner das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen (Artikel 27)
und das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen
(Artikel 28) verankert. Das europäische Sozialmodell beinhaltet den
sozialen Dialog jedoch auch, weil dieser Dialog konkrete Vorteile bringt,
und das nicht nur für die beteiligten
Organisationen. Die Sozialpartner
verfügen über einzigartige Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf
die Gegebenheiten der Beschäftigungs- und sozialen Situation „an
Kasten 3. Europäische Betriebsräte
Die wichtigsten Foren für den EU‑weiten sozialen Dialog innerhalb
von Unternehmen stellen die Europäischen Betriebsräte (EBR) dar.
Ausgehend von einer EU‑Richtlinie, die 1994 verabschiedet (und
2009 geändert) wurde, können EBR – im Zuge seitens der Arbeitnehmer oder der Unternehmensführung eingeleiteter Verhandlungen –
in multinationalen Konzernen eingerichtet werden, sofern diese
mindestens 1 000 Beschäftigte in den Mitgliedstaaten des Europä­
ischen Wirtschaftsraums und mindestens 150 Beschäftigte in jedem
von mindestens zwei Mitgliedstaaten zählen.
Im April verfügten gemäß den Daten des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (EGI) 917 multinationale Konzerne über EBR. Etwa
18 000 Arbeitnehmervertreter sitzen in EBR und vertreten die Interessen von ungefähr 18 Millionen Beschäftigten.
Der zentrale Zweck von EBR besteht darin, die Arbeitnehmer über
transnationale Fragen zu informieren und zu beraten. Einzelheiten über die Arbeitsweise und die Rolle von EBR werden in jedem
betroffenen multinationalen Konzern einzeln vereinbart, aber in der
Regel bringen sie die zentrale Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertreter aus ganz Europa mindestens einmal im Jahr zu
einem Dialog über die Leistung und Aussichten des Unternehmens
und Angelegenheiten wie Beschäftigung, Restrukturierung und
Personalpolitik zusammen. Treten zwischen regelmäßigen Treffen
wichtige Ereignisse ein, wie z. B. Standortschließungen oder Entlassungen größeren Ausmaßes, so muss die Unternehmensleitung in
12
der Regel den EBR unterrichten und anhören. In einigen EBR erfolgen Unterrichtung und Anhörungen kontinuierlicher, oftmals im
Rahmen eines kleineren ausgewählten Ausschusses.
Während die wichtigste Rolle der EBR gemäß der Richtlinie in einem
Forum für Unterrichtung und Anhörung besteht, hat sich der Dialog
in einigen Fällen weiterentwickelt, und die Unternehmensführung
und die Arbeitnehmervertreter haben über Angelegenheiten auf
europäischer Ebene verhandelt. In über 60 EBR wurden Vereinbarungen im Zusammenhang mit Themen wie Restrukturierung, soziale
Verantwortung von Unternehmen, Gleichstellung und Gesundheit
und Sicherheit unterzeichnet.
Untersuchungen zeigen, dass EBR neben einer verbesserten Kommunikation zwischen Arbeitnehmervertretern aus verschiedenen
Ländern sowie zwischen diesen Vertretern und der zentralen Unternehmensleitung einen positiven Einfluss auf die Entscheidungsfindung und das Nachvollziehen von Managemententscheidungen
durch die Arbeitnehmer haben, das Vertrauen erhöhen, eine europaweite Unternehmenskultur schaffen und Veränderungen antizipieren und bewältigen können.
Seit 2004 haben Unternehmen, die in mehr als einem Mitgliedstaat
tätig sind, die Möglichkeit, als Gründungsform die eines Europäischen
Unternehmens (Societas Europaea oder SE) zu wählen oder sich in
ein solches zu transformieren, das statt auf nationalem auf EU‑Recht
beruht. Eine Richtlinie legt die besonderen Regelungen in Bezug auf die
Arbeitnehmerbeteiligung in SE fest. Die Einzelheiten werden in jedem
SE ausgehandelt, aber grundsätzlich beinhaltet die Beteiligung transnationale Unterrichtung und Anhörung durch ein EBR‑artiges Organ
sowie die Arbeitnehmerbeteiligung auf Vor­
standsebene, sofern
diese Form der Beteiligung in dem oder den Unternehmen, das/die
das SE gegründet hat/haben, zur Anwendung kam. (In vielen Mitgliedstaaten gibt es auf nationaler Ebene eine gesetzliche Arbeitnehmervertretung auf Vorstandsebene.)
Laut Angaben des EGI waren im Juni 2011 über 800 SE registriert.
Viele waren nicht geschäftstätig oder hatten keine Mitarbeiter und
existierten in erster Linie auf dem Papier, aber in den solideren SE
waren über 70 Vereinbarungen im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerbeteiligung unterzeichnet worden. Alle sorgen für Unterrichtung und Anhörung durch ein EBR‑artiges Organ, während 34
zudem die Beteiligung auf Vorstandsebene festlegen. Diese Arbeitnehmervertretung in Vorständen multinationaler Konzerne ist der
größte Beitrag der SE zum sozialen Dialog.
13
der Basis“. Sie zu konsultieren und
ihnen zuzuhören kann deshalb die
politische Lenkung und Koordination in diesem Bereich verbessern.
Darüber hinaus befinden sich die
Sozialpartner in einer einmalig günstigen Position, um durch den Dialogund Verhandlungsprozess, der ihre
Beziehung auszeichnet, arbeitsbezogene Fragen anzusprechen – wie
z B. Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit, Gleichstellung, Gesundheit und
Sicherheit sowie Weiterbildung. Mit
dem Erreichen von Vereinbarungen
können sie auf eine Art und Weise
Kompromisse erzielen und ihre Interessen ausgleichen, wie es der Gesetzgebung oft nicht möglich ist.
Die Vorzüge des sozialen Dialogs
sind in den Mitgliedstaaten seit langem allgemein anerkannt – wenn
auch in unterschiedlichem Maße.
Mit der stärkeren Integration der
europäischen Wirtschaft bzw. des
europäischen Arbeitsmarktes und
der Herausbildung einer erweiterten
politischen Rolle der EU im Bereich
Beschäftigung und Soziales sind die
EU‑Institutionen und Mitgliedstaaten
zunehmend zu der Ansicht gelangt,
dass ähnliche Vorteile durch sozialen
Dialog auf europäischer Ebene erzielt
werden können.
Sozialer Dialog und der
„gemeinschaftliche
Besitzstand“
Der Gesamtbestand an Rechten
und Pflichten, der für die Mitgliedstaaten der EU verbindlich ist, wird
als „gemeinschaftlicher Besitzstand“
bezeichnet. Er umfasst sämtliche
EU‑Verträge, Gesetze, Erklärungen,
Resolutionen, internationale Abkommen, Urteile des Gerichtshofs der
Europäischen Union und so weiter.
Wenn neue Länder der EU beitreten
wollen, müssen sie den Besitzstand
akzeptieren und anwenden.
Der soziale Dialog ist Teil des
gemeinschaftlichen Besitzstandes,
weil er durch den Vertrag gefördert
wird und ihm eine spezielle Rolle
im Entscheidungsfindungsprozess
der EU zukommt (siehe Kasten 9).
Beitrittsstaaten müssen daher über
Strukturen und Maßnahmen im
Zusammenhang mit dem sozialen
Dialog sowie über Sozialpartner
verfügen, die in der Lage sind, im
Dialog auf EU‑Ebene eine effektive
Rolle zu spielen. Sie müssen dem
sozialen Dialog auch Rechnung
tragen, wenn sie den Besitzstand in
ihre einzelstaatlichen Bestimmungen aufnehmen.
Kasten 4. Dreigliedriger branchenübergreifender
sozialer Dialog
Diese Veröffentlichung konzentriert sich in erster Linie auf den zweigliedrigen sozialen Dialog zwischen den Sozialpartnern. Der dreigliedrige Dialog – auch als Konzertierung bezeichnet – zwischen
den Sozialpartnern und den EU‑Institutionen spielt jedoch ebenfalls
eine wichtige Rolle. Er geht zurück auf eine Reihe von „dreigliedrigen
14
Konferenzen“, die in den 1970er Jahren zu Beschäftigungsfragen
abgehalten wurden und auf europäischer Ebene die Sozialpartner,
die Kommission und nationale Regierungen an einen Tisch brachten.
Im Jahr 1970 richtete der Rat auf Ersuchen der Sozialpartner einen
Ständigen Ausschuss für Beschäftigungsfragen (SAB) ein, um einen
anhaltenden Dialog, gemeinsame Maßnahmen und Anhörungen
im Zusammenhang mit der Beschäftigungspolitik zwischen den
EU‑Institutionen, nationalen Regierungen und den Sozialpartnern
zu gewährleisten. Der SAB diente bis in die frühen 2000er Jahre als
Forum für den dreigliedrigen Dialog.
Im Laufe der 1990er Jahre begannen die Sozialpartner und der Rat,
außerhalb des SAB zu verhandeln. Branchenübergreifende Partner
auf EU‑Ebene begannen im Vorfeld von Zusammenkünften des Rates
für Beschäftigung und Soziales, Minister zu treffen, und ab 1996 trafen die Partner die „Troika“ der aktuellen und künftigen Ratspräsidentschaften am Vorabend von Tagungen des Europäischen Rates.
Unterdessen wurde die Nützlichkeit des SAB als ein Forum für Anhörung und Dialog von den Beteiligten zunehmend in Frage gestellt.
Er wurde im Jahr 1999 reformiert und gestrafft und in die Europäische Beschäftigungsstrategie integriert. Die Sozialpartner fanden
allerdings nicht, dass die Reform zu erheblichen Verbesserungen
geführt habe. Deshalb forderten sie 2001, den SAB durch einen dreigliedrigen Ausschuss für die Konzertierung im Zusammenhang mit
der Lissabon‑Strategie für Wachstum und Beschäftigung zu ersetzen
(wie es in der Praxis bereits geschah). Durch einen Beschluss des
Rates wurde 2003 offiziell ein Dreigliedriger Sozialgipfel (der den
SAB ersetzte) mit der Aufgabe eingerichtet, einen ständigen Dialog
zwischen dem Rat, der Kommission und den Sozialpartnern über die
Wirtschafts- und Sozialstrategie der Union zu gewährleisten (siehe
Kasten 10).
Ein Dreigliedriger Dialog über bestimmte EU‑Politikbereiche begann
auch Mitte der 1990er Jahre, und heute sind die branchenübergreifenden Partner an strukturierten Debatten und Anhörungen mit den
EU‑Institutionen und nationalen Regierungen sowohl auf politischer
als auch auf fachlicher Ebene zu einer Vielzahl von Themen beteiligt.
Dazu zählen makroökonomische Belange, Beschäftigungspolitik,
Sozialschutz und Bildung/Weiterbildung. Im Jahr 2011 organisierte
die Kommission das erste „dreigliedrige Sozialforum“, um Fragen
rund um ihre Leitinitiative „Agenda für neue Kompetenzen und neue
Beschäftigungsmöglichkeiten“ und ganz allgemein die Strategie
Europa 2020 insgesamt zu erörtern.
15
Sozialer Dialog in den
Mitgliedstaaten
Sozialer Dialog findet in allen 27
EU‑Mitgliedstaaten statt, wobei
seine Bedeutung von Land zu Land
beträchtlich schwankt. Er nimmt
viele Formen an, sowohl zweigliedrig als auch dreigliedrig (oder eine
Kombination aus beiden), und findet auf branchenübergreifender
und sektoraler Ebene statt. Die
verschiedenen nationalen Strukturen des Dialogs spiegeln die
unterschiedlichen geschichtlichen
Hintergründe und wirtschaftlichen
und politischen Situationen der
Länder wider. Ein bemerkenswerter
Unterschied besteht darin, dass in
den meisten westeuropäischen Ländern aktuelle Formen des Dialogs
weitgehend auf denen beruhen, die
sich nach dem Zweiten Weltkrieg
entwickelt haben, während sie sich
in den meisten zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten nach
der politischen Wende der späten
1980er und frühen 1990er Jahre
herausbildeten.
An dieser Stelle liefern wir eine
kurze Momentaufnahme der aktuellen Situation in der gesamten EU.
Es ist jedoch zu beachten, dass Dialogvereinbarungen und -prozesse
selten statisch sind und im Laufe der
Jahre in vielen Ländern kontinuierliche Veränderungen erfahren haben.
Zum Beispiel hat die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise den sozialen Dialog in einigen Mitgliedstaaten
angeregt, während sie in anderen
zum Zusammenbruch bestehender
Vereinbarungen geführt hat (siehe
S. 79).
16
Zweigliedriger
branchenübergreifender
Dialog
In vielen Mitgliedstaaten gibt es
den zweigliedrigen sozialen Dialog
zwischen branchenübergreifenden
Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden. In der Regel spielt er jedoch
in den Ländern, die der EU vor 2004
beigetreten sind, eine bedeutendere Rolle im Bereich der Arbeitsbeziehungen als in den jüngeren
Mitgliedstaaten.
In den vor 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten (EU-15) findet der
Dialog in Form von regelmäßigen
branchenübergreifenden
Tarifverhandlungen über Lohnerhöhungen
und andere allgemeine Arbeitsbedingungen – was einen Rahmen für
Tarifverhandlungen auf Sektor- und/
oder Unternehmensebene schafft –
derzeit nur in Belgien, Griechenland
und Spanien statt, obwohl er noch
bis vor kurzem in Irland und Finnland
gängige Praxis war und in der Vergangenheit auch in anderen Ländern zu
beobachten war. In den neuen Mitgliedstaaten wurden nationale zweiseitige Vereinbarungen dieser Art
vor allem in Rumänien (auch wenn
diese Praxis 2011 eingestellt wurde)
und, bis zu einem gewissen Grad, in
Slowenien geschlossen. Sowohl in
Bulgarien als auch in Ungarn haben
die branchenübergreifenden Sozial­
partner (in einigen Jahren) unverbindliche allgemeine Empfehlungen
zu Lohnerhöhungen vereinbart.
Abgesehen von regelmäßigen nationalen Tarifverhandlungen sind branchenübergreifende Vereinbarungen
über bestimmte Belange – wie Weiterbildung, Beschäftigung, Gesundheit
und Sicherheit und Verhandlungsregeln – in einer Reihe von EU-15-Staaten Teil der Arbeitsbeziehungen.
Dazu zählen Belgien, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Schweden und
Spanien. In einigen Fällen wird der
Dialog zu diesen Themen von der
Regierung angestoßen, und die
erreichten Vereinbarungen können
Rechtsgültigkeit erlangen (womit die
Grenze zwischen zweigliedrigem und
dreigliedrigem Dialog verschwimmt).
Unter besonderen Umständen können die branchenübergreifenden
Partner in anderen Ländern gemeinsame Sofortmaßnahmen ergreifen.
So gaben z. B. die Partner in Ländern
wie Dänemark, Deutschland und
Österreich während des derzeitigen
Konjunkturabschwungs gemeinsa­me
Empfehlungen für Änderungen der
Kurzarbeitsregelungen ab.
Eine besondere Form von in hohem
Maße autonomem branchenübergreifendem Dialog findet sich in
Dänemark und Schweden und bis
zu einem gewissen Grad in Finnland.
Hier stellen vielmehr die nationalen Organisationen der Sozialpartner und weniger die Gesetzgebung
durch „grundlegende Vereinbarungen“ viele der verfahrensrechtlichen
„Spielregeln“ für Tarifverhandlungen
und andere Fragen im Zusammenhang mit den Arbeitsbeziehungen
auf.
© ImageGlobe
Besonders in Belgien und den Niederlanden ist der zweigliedrige
branchenübergreifende Dialog tief
verwurzelt. Nationale Strukturen
bringen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen hier in einer
laufenden Debatte und zwecks
Verhandlung von Vereinbarungen
zusammen. Sie fungieren ferner als
beratende Organe für die Regierung.
Frankreich verfügt über ein besonderes System, wonach die Sozialpartner gemeinsam und weitgehend
autonom für wichtige Bereiche wie
soziale Sicherheit, Arbeitslosenversicherung und Berufsausbildung
zuständig sind.
17
Zweiseitige Vereinbarungen
zu
bestimmten Themen sind in den
neuen Mitgliedstaaten nicht weit
verbreitet. Diese Praxis hat sich in
Bulgarien und im Hinblick auf den
nationalen Mindestlohn in Estland
herausgebildet, während es einige
wenige Beispiele in Ländern wie
Zypern und Lettland gibt. Darüber
hinaus führte die aktuelle Wirtschaftskrise zur ersten zweiseitigen branchenübergreifenden Vereinbarung in
Polen (siehe Kasten 14).
Seit den 1990er Jahren hat die
Zunahme des zweigliedrigen branchenübergreifenden sozialen Dialogs
auf EU‑Ebene zur Entwicklung eines
nationalen zweigliedrigen Dialogs
in einigen Ländern beigetragen, in
denen er zuvor weitgehend unbekannt oder begrenzt war. Die Notwendigkeit, auf EU‑Ebene „autonome“
Vereinbarungen umsetzen zu müssen
(siehe Kasten 13), hat die nationalen
Sozialpartner dazu geführt, dass sie
auf nahezu beispiellose Weise den
Kasten 5. Aktuelle Beispiele für nationale
zweiseitige branchenübergreifende
Vereinbarungen
• Die in Belgiens zweigliedrigem Nationalen Arbeitsrat vertretenen Sozialpartner gelangten im April 2009 zu einer Vereinbarung, die die Arbeitgeber zur Einführung von vorbeugenden
Drogen- und Alkoholrichtlinien verpflichtet. Sie legt die Grundsätze solcher Richtlinien fest und enthält Regelungen zu Themen wie Tests von Mitarbeitern, Information, Beratung und
Weiterbildung.
• Zwischen April und Juli 2011 unterzeichneten französische Sozialpartnerorganisationen eine Folge von vier Vereinbarungen
über die Beschäftigung von Jugendlichen. Die Abkommen legten gemeinsame Maßnahmen und Verpflichtungen in Bereichen
wie der Förderung des Zugangs zu Beschäftigung, kombinierte
Arbeits- und Ausbildungsprogramme, Praktika und Wohnen fest.
• Im Jahr 2010 unterzeichneten die Sozialpartner in Spanien (wie
es seit 2002 zumeist üblich ist) eine branchenübergreifende Rahmenvereinbarung, die Richtlinien für Tarifverhandlungen auf
Branchen- und Unternehmensebene enthält. Der Hauptzweck
dieser Drei‑Jahres‑Vereinbarung besteht im Schutz und der
Schaffung von Arbeitsplätzen. Sie empfiehlt mäßige Lohnerhöhungen und eine Reihe von Maßnahmen zur Vermeidung und
Begrenzung von Arbeitsplatzverlusten, zur Förderung unbefris­
teter Beschäftigung, zur Entwicklung von Flexibilität vonseiten
der Arbeitnehmer, zur Bewältigung der Restrukturierung und
zur Verbesserung der Weiterbildung.
18
zweigliedrigen Dialog aufnahmen
und in Ländern wie Lettland, dem
Vereinigten Königreich und Zypern
neue Formen von Vereinbarungen
oder anderen gemeinsamen Vorgehensweisen erreichten.
Dreigliedriger
branchenübergreifender
Dialog
Eine Mehrheit der Mitgliedstaaten
(und beinahe alle, die der EU in den
Jahren 2004 und 2007 beitraten)
verfügt über eine offizielle nationale Einrichtung, in deren Rahmen
Arbeitgeber-, Gewerkschafts- und
Regierungsvertreter (und bisweilen
weitere Interessengruppen) allgemeine wirtschaftliche und soziale
Fragen erörtern können. Die Rolle
und die Befugnisse dieser Stellen
unterscheiden sich erheblich; für
gewöhnlich haben sie jedoch eine
beratende Rolle bei Gesetzesentwürfen und politischen Maßnahmen,
insbesondere in beschäftigungsbezogenen Bereichen, und können
manchmal ein Forum für die Aushandlung von Vereinbarungen bieten. Zusätzlich verfügen viele Staaten
auch über dreigliedrige Gremien, die
sich mit bestimmten Fragen auseinandersetzen, darunter soziale Sicherheit, Beschäftigung, Weiterbildung
sowie Gesundheit und Sicherheit.
Dabei kann es sich um eigenständige
Organe oder um Untereinheiten der
wichtigsten nationalen dreigliedrigen Institution handeln.
In den EU-15 findet sich eine Art
nationales wirtschaftliches und soziales Forum mit Vertretung der Sozialpartner in Frankreich, Griechenland,
Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal und
Spanien, wohingegen es in Finnland
ein Forum gibt, das sich nur mit Wirtschaftsfragen befasst. Im Falle von
Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien sind die
Sozialpartner wie auch Organisationen der Zivilgesellschaft im Allgemeinen in diesen Organen vertreten.
Luxemburg und Portugal verfügen
ferner über spezifischere nationale
dreigliedrige
Konzertierungsgremien. In Belgien nehmen die nationalen zweigliedrigen Institutionen
eine beratende Rolle gegenüber der
Regierung ein.
Es kann schwierig sein, die Grenzen zwischen dreigliedrigem und
zweigliedrigem Dialog genau zu
bestimmen. Zum Beispiel müssen in
Frankreich die Sozialpartner zu jedem
gesetzgeberischen oder politischen
Vorschlag in Bezug auf individuelle
und kollektive Arbeitsbeziehungen,
Beschäftigung und Berufsausbildung
von der Regierung angehört werden.
Sie erhalten die Gelegenheit, branchenübergreifende Vereinbarungen
im Zusammenhang mit den zur Diskussion stehenden Fragen auszuhandeln, wobei diese einen Rahmen für
jeden Gesetzesvorschlag zum betreffenden Thema bieten. Die Regierung
legt die Tagesordnung für diese Form
des sozialen Dialogs fest.
In den vergangenen zehn Jahren wurden in den EU-15 wie Irland, Italien,
die Niederlande, Portugal und Spanien bedeutende dreiseitige Vereinbarungen unterzeichnet. Die Themen
umfassen die allgemeine wirtschaftliche und soziale Entwicklung,
19
Sozialfürsorge, Renten, die Reform
des Arbeitsmarktes/-gesetzes, Weiterbildung, Gesundheit und Sicherheit,
Mindestlöhne und Reaktionen auf die
Wirtschaftskrise.
Die Dreigliedrigkeit ist in Nordeuropa
wohl am schwächsten ausgeprägt
bzw. am wenigsten sichtbar. In Dänemark, Finnland und Schweden sind
die Kompetenzbereiche der Sozialpartner und der Behörden traditionell
klar voneinander getrennt. Dies hat
zur Folge, dass für dreigliedrige Institutionen nur wenig Spielraum bleibt,
während der zweigliedrige Dialog
eine Schlüsselrolle einnimmt. Jedoch
ist in den letzten Jahren in Dänemark
und Finnland zu beobachten, dass die
Trennlinie etwas verwischt und die
Tendenz in Richtung dreigliedriger
Zusammenarbeit bei bestimmten
Themen steigend ist. Auch Deutschland verfügt über keine offiziellen
dreigliedrigen (bzw. zweigliedrigen)
Institutionen, sondern weist hauptsächlich eine informelle und/oder
spontane Zusammenarbeit zwischen
der Regierung und den Sozialpartnern auf. Das Vereinigte Königreich
verfügt kaum über so etwas wie
einen nationalen sozialen Dialog.
In den nach 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten ist der dreigliedrige Dialog in der Regel die wichtigste oder
einzige Form von branchenübergreifendem Dialog. Mit Ausnahme von
Zypern gibt es in all diesen Ländern
allgemeine Wirtschafts- und Sozialforen, in denen die Sozialpartner vertreten sind. In den meisten Fällen handelt
Kasten 6. Die wichtigsten Foren
für den nationalen dreigliedrigen Dialog
in den neuen Mitgliedstaaten
• Bulgarien – Wirtschafts- und Sozialrat (WSR) und Nationaler Rat für
Dreigliedrige Zusammenarbeit (NSTS)
• Estland – Wirtschafts- und Sozialrat (SM)
• Lettland – Nationaler dreigliedriger Kooperationsrat (NTSP)
• Litauen – Dreigliedriger Rat (LRTT)
• Malta – Rat für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (MCESD)
• Polen – Dreierkommission für soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten (TK)
• Rumänien – Wirtschafts- und Sozialrat (CES) und Nationaler drei­
gliedriger Rat für sozialen Dialog (CNTDS)
• Slowakei – Wirtschafts- und Sozialrat (HSR)
• Slowenien – Wirtschafts- und Sozialrat (ESSS)
• Tschechische Republik – Rat für das Wirtschafts- und Sozialabkommen (RHSD)
• Ungarn – Wirtschafts- und Sozialrat (GSZT) und Staatlicher Schlichtungsrat (OÉT) (sollen bald zum Nationalen Wirtschafts- und
Sozialrat, NGTT, zusammengelegt werden)
20
es sich dabei um rein dreigliedrige
Organe ohne umfassendere Vertretung der Zivilgesellschaft, und sie
haben eine eindeutige Beratungs- und
manchmal
Verhandlungsfunktion,
wobei sie in der Regel ein großes Spektrum an Themen abdecken. Bulgarien
und Rumänien, die Wirtschafts- und
Sozialforen haben, die die Zivilgesellschaft einschließen, verfügen über
zusätzliche nationale Organe für den
dreigliedrigen sozialen Dialog. Ungarn
legt derzeit ein spezifisches dreiglie­
driges Gremium mit einem breiteren
Forum zusammen, das auch andere
Interessen umfasst, und schafft damit
eine Struktur ohne jegliche Regierungsvertretung und mit weniger
Befugnissen als zuvor. Trotz des Übergewichts von dreigliedrigen Institutionen scheint es, als beklagten die
Sozialpartner allgemein, dass ihre im
Rahmen von Anhörungen geäußerten Ansichten nicht ausreichend von
der Regierung berücksichtigt würden
(obwohl das nicht auf die neuen Mitgliedstaaten beschränkt ist).
Im Hinblick auf die Ergebnisse des
dreigliedrigen Dialogs in den neuen
Mitgliedstaaten ist festzuhalten, dass
seit dem Jahr 2000 in Ländern wie
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen,
Rumänien, der Slowakei, Slowenien
und Ungarn Vereinbarungen erzielt
wurden. Diese befassen sich mit
folgenden Fragen: allgemeine wirtschaftliche und soziale Entwicklung
in Bulgarien und Slowenien; Umgang
mit der aktuellen Wirtschaftskrise in
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen
und der Tschechischen Republik;
Erhöhung des Mindestlohns in Rumänien und die allgemeine Lohnpolitik
in Slowenien.
Sektoraler Dialog
Der zweigliedrige sektorale soziale Dialog in Form von regelmäßigen Tarifverhandlungen zwischen
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden über Löhne und sonstige
Bedingungen ist in vielen Mitgliedstaaten, vor allem im westlichen
Kontinentaleuropa, ein wesentliches
Merkmal der Arbeitsbeziehungen.
In der EU-15 umfassen sektorale Tarifverhandlungen in Belgien, Dänemark,
Deutschland, Finnland, Frankreich,
Griechenland, Italien, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Schweden
und Spanien einen großen Teil der
Wirtschaftssektoren, während sie in
Irland, Luxemburg und im Vereinigten Königreich in eingeschränkterer
Form existieren. Die erzielten regelmäßigen sektoralen Vereinbarungen
regeln bisweilen Löhne und sonstige
Bedingungen der Arbeitnehmer in
der betreffenden Branche. Typischerweise (und in zunehmendem
Maße) liefern sie jedoch eine Untergrenze und einen Rahmen für darauf folgende Tarifverhandlungen auf
Unternehmensebene.
In Irland, Luxemburg und im Vereinigten Königreich finden die Tarifverhandlungen weitgehend dezentral
auf Unternehmensebene statt. Auch
in vielen der EU-15-Staaten mit hoher
sektoraler Tarifbindung vollzieht sich
gerade eine Dezentralisierung. Dies
ist weitgehend bedingt durch den
Wunsch der Arbeitgeber nach größerer Flexibilität bei der Festlegung von
Löhnen und sonstigen Bedingungen
auf Unternehmensebene. Während
es Beispiele von Arbeitgebern gibt,
21
die sich schlicht und einfach von der
Verhandlung sektoraler Tarifvereinbarungen zurückziehen oder diese einstellen, besteht ein weiter verbreiteter
Ansatz darin, die Tarifverhandlungen
beizubehalten, aber mehr Spielraum
für Flexibilität auf Unternehmens­
ebene zuzulassen. Dies war in Ländern wie Dänemark, Deutschland,
Italien, den Niederlanden, Schweden
und Spanien der Fall.
© 123RF
In vielen der neuen Mitgliedstaaten (wo die Tarifbindung insgesamt
in der Regel niedriger ist als in der
EU-15) sind sektorale Tarifverhandlungen auf wenige Branchen
beschränkt oder nicht vorhanden.
Relativ weit verbreitet sind sie lediglich in Bulgarien, Rumänien, der
Slowakei und Slowenien und finden
sich in geringerem Maße ebenfalls in
der Tschechischen Republik, Ungarn,
Polen und Zypern. Ein gemeinsames
Merkmal der Arbeitsbeziehungen in
den neuen Mitgliedstaaten ist das
häufige Fehlen von sektoralen Tarifverhandlungen und des mit solchen
22
Verhandlungen verbundenen sektoralen Dialogs. Dies unterscheidet
sich von der Situation in vielen der
EU-15-Staaten.
Existieren in den neuen Mitgliedstaaten sektorale Tarifverhandlungen, so
können sie dem gleichen Dezentralisierungsdruck ausgesetzt sein,
der für die EU-15 gilt. Zum Beispiel
haben sich in der Tschechischen
Republik und der Slowakei in den
letzten Jahren einige Arbeitgeber
von der Verhandlung sektoraler Vereinbarungen zurückgezogen oder
diese eingestellt. Andererseits haben
sich sektorale Tarifverhandlungen in
Ländern wie Bulgarien und Estland
in jüngerer Zeit weiter verbreitet
oder sind neu entstanden.
Abgesehen von Tarifverhandlungen
findet der zweigliedrige Dialog in
Ländern wie Bulgarien, Rumänien,
der Slowakei und Ungarn zumindest in einigen Branchen statt. In
einer Reihe von Fällen zeugt das von
den Bemühungen, die beim Aufbau
des zweigliedrigen sektoralen Dialogs in den neuen Mitgliedstaaten
unternommen wurden, und von der
Fähigkeit der (oftmals unzureichend
ausgestatteten und manchmal nicht
vorhandenen) sektoralen Sozialpartner. So half zum Beispiel ein
EU‑finanziertes Projekt in Ungarn
bei der Einrichtung von Ausschüssen für den sektoralen Dialog in vielen Branchen.
Internationaler Vergleich
Durchschnittlich fallen in der EU fast
zwei Drittel der Arbeitnehmer unter
einen Tarifvertrag, verglichen mit
knapp einem Fünftel in Japan und
einem Achtel in den USA. Während
die Gewerkschaftsmitgliedschaft in
all diesen Regionen rückläufig ist,
besteht der Unterschied in Europa
darin, dass Gewerkschaften und
Arbeitgeber häufig auf einer Stufe
oberhalb der Unternehmensebene
verhandeln, in der Regel auf Branchenebene und manchmal sogar
auf
nationaler
(branchenübergreifender) Basis. Dies ermöglicht
die Einbeziehung einer größeren
Arbeitnehmerzahl, wie z. B. derjenigen, die in kleinen und mittleren
Unternehmen beschäftigt sind und
andernfalls nicht vertreten würden.
Es ist auch eine Erklärungshilfe für
die bedeutende Rolle des sozialen
Dialogs in Europa.
Was die Verbindung ihres Programms zum Aufbau des Marktes
mit einer sozialen Agenda betrifft,
die Regelungen in Bezug auf die
entstehenden transnationalen Ar­
beitsbeziehungen enthält, ist die
EU anderen Wirtschaftsmächten
und Organisationen für regionale
Integration voraus und wird manchmal als Beispiel oder Vorbild für
die Entwicklung eines regionalen
sozialen Dialogs gesehen. Obwohl
Tarifverhandlungen und Lohnfestsetzung – Kernpunkte von Arbeitsbeziehungen – weiterhin national
spezifisch sind, fördert die EU die
Sozialpartnerschaft und Zusammenarbeit, indem sie Mindeststandards
für die Arbeitnehmervertretung in
nationalen und grenzüberschreitenden Unternehmen festlegt, Sozialpartner auf EU‑Ebene zu politischen
Initiativen anhört und ermöglicht,
dass deren auf EU‑Ebene ausgehandelte Vereinbarungen in Recht
umgesetzt werden. Im Hinblick auf
andere regionale Organisationen
kommt Mercosur, Südamerikas führender Handelsblock, der EU wahrscheinlich am nächsten, was seine
industrielle Organisation und sozialpolitischen Ziele betrifft, wohingegen die Rolle des sozialen Dialogs im
Rahmen des NAFTA (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) und
im ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen) schwächer ist.
23
Interview mit den
branchenübergreifenden
Sozialpartnern:
Philippe de Buck
Generaldirektor von BusinessEurope
Bernadette Ségol
Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB)
Der europäische soziale Dialog kam 1997 mit dem
Vertrag von Amsterdam voll zur Geltung. Was sind
für Sie seither die größten Errungenschaften des
autonomen sozialen Dialogs in Europa?
PdB: Der europäische soziale Dialog hat sehr viel erreicht, sowohl vor als
auch nach dem Vertrag von Amsterdam. Die Sozialpartner standen an der
Spitze der Innovation, wie zum Beispiel die Verabschiedung eines Rahmens für lebenslanges Lernen im Jahr 2002 und die erste Vereinbarung,
die von den Sozialpartnern selbst umzusetzen war: die Vereinbarung
über Tele­arbeit. Wir haben auch Fortschritte in Richtung eines autonomeren sozialen Dialogs gemacht, wie aus der Verabschiedung mehrjähriger
Arbeitsprogramme seit 2003 hervorgeht. Diese ermöglichen uns die Strukturierung und Konsolidierung unseres Dialogs sowie die Bestimmung und
Behandlung der größten Herausforderungen für die europäischen Arbeitsmärkte, anstatt auf die Vorschläge der Europäischen Kommission zu warten. Zuletzt möchte ich die gemeinsame Analyse der Arbeitsmärkte im Jahr
2007 erwähnen, ein entscheidendes Dokument, das der Verabschiedung
von Flexicurity‑Grundsätzen auf EU‑Ebene den Weg bereitet hat.
BS: Der europäische zweigliedrige soziale Dialog wurde 1985 von Jacques
Delors effektiv angestoßen, indem Arbeitgeber und Gewerkschaftsvertreter an einen Tisch gebracht wurden. Die folgenden Jahre waren eine
formgebende Phase, in der sich die Partner kennen und verstehen lernen
und Vertrauen aufbauen mussten. Mit der zweiten Phase wiederum, die
mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern
am 31. Oktober 1991 eingeläutet wurde (im selben Jahr dem Vertrag von
Maastricht beigefügt und 1997 in den Vertrag von Amsterdam aufgenommen), fand die Idee Eingang, dass die Partner einen ausgehandelten
Regulierungsraum eröffnen – der Dialog nahm eine vertragliche Dimension an. Nach drei Rahmenvereinbarungen, die durch Richtlinien umgesetzt wurden (Elternurlaub, Teilzeitarbeit und befristete Verträge, zwischen
1996 und 1999), begann für die Sozialpartner eine neue Generation
24
„autonomer“ Vereinbarungen, deren Umsetzung auf nationaler Ebene
von den Sozialpartnern selbst durchgeführt wird (Telearbeit, Stress am
Arbeitsplatz, Belästigung/Gewalt am Arbeitsplatz und integrative Arbeitsmärkte, zwischen 2002 und 2010). Diesen sind zwei Handlungsrahmen,
weitere „Werkzeuge“ des sozialen Dialogs (lebenslange Entwicklung von
Kompetenzen und Qualifikationen; Gleichstellung der Geschlechter;
2002 und 2005) und etwa 60 gemeinsame Berichte, Empfehlungen, Erklärungen, Stellungnahmen und Zusammenstellungen bewährter Methoden
hinzuzufügen. Die Tatsache, dass die Sozialpartner in der Lage waren, auf
EU‑Ebene schwierige Fragen zu verhandeln, zeugt in jedem Fall von der
Entwicklung, die der Dialog sowohl quantitativ als auch qualitativ seit 1985
und insbesondere seit den frühen 1990er Jahren durchgemacht hat. Diese
Bewertung wäre unvollständig, würden wir nicht die bemerkenswerte Entwicklung des sektoralen sozialen Dialogs erwähnen, der nun rund 40 Ausschüsse umfasst, die über 600 Dokumente abgefasst haben – auch wenn
das weniger in direkter Verbindung mit dem Vertrag von Amsterdam steht.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation des
autonomen sozialen Dialogs in Europa?
PdB: Der bisher eingeschlagene Weg war nicht immer einfach, und der
soziale Dialog wird sicherlich erneut auf Schwierigkeiten stoßen. Dennoch hat er rund 60 gemeinsame Initiativen zu wichtigen Fragen hervorgebracht. Er hat unstreitig gezeigt, dass eine konstruktive Beziehung geschaffen wurde, auf der wir weiter aufbauen müssen.
Der europäische soziale Dialog bereichert die nationalen sozialen Dialoge:
indem er neue Themen auf die nationale Tagesordnung setzt (z. B. Tele­
arbeit, Stress), einen Rahmen für gegenseitiges Lernen bietet oder die
Leistungsfähigkeit der Sozialpartner stärkt, z. B. nach der Erweiterung um
die mittel- und osteuropäischen Länder im Jahr 2004.
Nach vorne blickend haben wir aufgrund der Verhandlungen über die
Arbeitszeit die Gelegenheit, den Mehrwert des europäischen sozialen Dialogs zu beweisen – dass wir Erfolg haben können, wo andere Formen der
Entscheidungsfindung gescheitert sind. BusinessEurope hat sich in gutem
Glauben intensiv an diesen Verhandlungen beteiligt, mit Blick auf die
Bewältigung der negativen Auswirkungen und rechtlichen Unsicherheit,
die durch mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Arbeitgeber
und Arbeitnehmer entstanden sind.
Es ist klar, dass die derzeitige Debatte über die makroökonomische Steuerung Auswirkungen auf den sozialen Dialog auf europäischer sowie auf
nationaler Ebene haben wird.
25
BS: Obwohl der europäische soziale Dialog zweifellos bedeutende Fortschritte gemacht hat, zeigt die gemeinsame (Arbeitgeber und Gewerkschaften) Bewertung, die von Eckhard Voss von Wilke, Maack und Partner im Mai
2011 durchgeführt wurde, dass die europäischen Sozialpartner dennoch vor
allem über die „jüngsten Ereignisse sowohl auf europäischer als auch auf der
Ebene der Mitgliedstaaten, die die Rolle des sozialen Dialogs in der staatlichen Politik und Entscheidungsfindung untergraben (…)“ besorgt sind. Ferner bedauern sie den schwerwiegenden Mangel an Akzeptanz, Vertrauen
und Zuverlässigkeit im Zusammenhang mit dem Dialog, der in einigen Ländern herrscht, was natürlich eine ordnungsgemäße Umsetzung des europäischen sozialen Dialogs und insbesondere seiner autonomen Ergebnisse
untergräbt und verhindert. Die eigene Einschätzung der Gewerkschaften
durch die Europäische Beobachtungsstelle zur sozialen Lage (Anfang 2011)
fiel sogar noch drastischer aus. Sie stellte eine gewisse Unzufriedenheit unter
den Arbeitnehmervertretern fest, ausgelöst durch eine in ihren Augen echte
Schwächung – sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch auf die Umsetzung –
der in den letzten Jahren im Rahmen des sozialen Dialogs verabschiedeten
Entwürfe.
Die Tatsache, dass der sozioökonomische und politische Hintergrund sich
verändert hat, liefert keine umfassende Erklärung. Nach dieser Feststellung
haben die Gewerkschaften trotz der Frustration nach wie vor den starken
Wunsch, den branchenübergreifenden sozialen Dialog zu verbessern, wie die
Diskussionen zu diesem Thema belegen, die im Rahmen des 12. Kongresses
des EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund) im Mai 2011 in Athen stattfanden.
Die Strategie Europa 2020 verlangt, dass alle
Beteiligten ihren Part übernehmen, wenn sie ihre
Ziele erreichen soll – Kommission, Mitgliedstaaten,
Sozialpartner. Welchen Beitrag können die
europäischen Sozialpartner zur dreigliedrigen
Steuerung der Strategie Europa 2020 leisten?
PdB: Die europäischen Sozialpartner haben in unserem gemeinsamen Statement zur Strategie Europa 2020 die Bedingungen für Wachstum und Möglichkeiten zur Verbesserung der Regierungsführung erörtert.
Die Arbeitgeber sind der Überzeugung, dass die Umsetzung von Reformen
sowie deren positive Auswirkungen auf die Wirtschaft wahrscheinlicher sind,
wenn die Sozialpartner die eingeführten Maßnahmen in die Hand nehmen.
Aus diesem Grund unterstützen wir eine starke Beteiligung der Sozialpartner auf allen Ebenen (europäische, nationale, regionale und lokale Ebene) in
Bezug auf die Gestaltung und Überwachung europäischer sowie nationaler
Reformstrategien.
26
Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass Regierungen selbst die Verantwortung übernehmen müssen, falls der soziale Dialog scheitert. Dies untergräbt nicht die Autonomie der Sozialpartner.
Seit der Verabschiedung von Europa 2020 wurden weitere wichtige Maßnahmen ergriffen, und neue müssen vielleicht noch getroffen werden, um
die wirtschaftliche Steuerung der EU zu verbessern und die Staatsschuldenkrise einzudämmen. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass die Sozialpartner in einer ordnungsgemäß funktionierenden Währungsunion eine
Rolle spielen sollen, solange sie damit einverstanden sind, die bestehenden Sozialsysteme zu reformieren, um deren Nachhaltigkeit zu sichern.
Dies erfordert jedoch einen gemeinsamen Verantwortungssinn und ein
von Vertrauen und Zuversicht geprägtes Klima zwischen den europä­
ischen Arbeitgebern, dem EGB und den politischen Entscheidungsträgern.
BS: Der EGB war von der Umsetzung der Lissabon‑Strategie enttäuscht.
Eine Bilanz nach zehn Jahren macht deutlich, dass nur wenige der vielen
hochgesteckten Ziele erreicht worden sind. Und es kann nicht die gesamte
Schuld auf die Finanzkrise von 2008 geschoben werden. Bedauerlicherweise befasst sich die Strategie Europa 2020 nicht ausreichend mit den
vier Aspekten, die die absehbare Zukunft der Union dominieren werden:
Arbeitslosigkeit, Klimawandel, Sparpolitik und Bevölkerungsveränderung.
Ebenso enthält die Strategie keine innovativen Denkansätze in Bezug auf
die soziale Dimension und Sozialpolitik.
Wie, abgesehen von einer blinden Sparpolitik, kann die EU die heikle
Aufgabe anpacken, die hohen öffentlichen Defizite abzubauen, ohne
die aktuelle Rezession zu verschärfen und einen weiteren Anstieg der
Arbeitslosigkeit und der Ungleichheit zu verursachen? Wie sollten wir uns
in einem europäischen Kontext zu qualitativer Beschäftigung verpflichten? Am 4. Juni 2010 verabschiedeten die Sozialpartner eine gemeinsame Erklärung in Bezug auf die Strategie. Sie betonten insbesondere
die Notwendigkeit, „die europäische Wirtschaft in den Bereichen Innovation, Technologie und Produktivität voranzubringen. … Auch der soziale
Zusammenhalt sollte als Voraussetzung für eine dynamische und nachhaltige Wirtschaft betrachtet werden. … Die Förderung neuer Finanzierungsmöglichkeiten für Investitionen und die Bekämpfung von Armut
und Ungleichheit wären Kriterien für den Erfolg der EU. … Unzureichende
Investitionen in die Weiterbildung verschärfen die wirtschaftlichen Probleme nur noch weiter. Es werden umfassende Strategien für lebenslanges
Lernen benötigt. Ein günstiges öffentliches Umfeld und Zugang zu qualitativ hochwertigen, erschwinglichen und effizienten öffentlichen Dienstleistungen sind notwendig …“. Obwohl einige dieser Botschaften an die
Mitgliedstaaten und/oder die Kommission/das Parlament gerichtet sind,
27
ist klar, dass die Sozialpartner einen teilweisen oder umfassenden Beitrag
zum Erreichen weiterer Prioritäten zu leisten haben. Die Umsetzung des
Arbeitsprogramms für 2012-2014 soll die Sozialpartner dazu befähigen,
Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv an der Erreichung oben
genannter Ziele zu beteiligen.
Ebenso erfordert die gegenwärtige Krise, dass alle
Beteiligten in einem dreigliedrigen Ansatz an einem
Strang ziehen. Worin besteht die Herausforderung für
den europäischen sozialen Dialog und den sozialen
Dialog in den Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund
der aktuellen Krise?
PdB: Die größte Herausforderung, die dem europäischen sozialen Dialog
bevorsteht, besteht darin, effektive Möglichkeiten der Beschäftigungsförderung zu finden. Eine höhere Erwerbsbeteiligung ist die Antwort auf
viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind. Sie erweitert die Steuerbasis und trägt damit zu höheren Steuereinnahmen und mehr Finanzstabilität bei. Sie bietet den Arbeitnehmern ein Einkommen, das aus ihrer
eigenen Arbeit stammt, anstatt von Sozialleistungen abhängig zu sein.
Dies ist der einzige Weg, die Nachhaltigkeit und Angemessenheit der Rentensysteme zu gewährleisten.
Die gegenwärtige Krise lässt uns keine Wahl: Wir müssen die öffentlichen
Finanzen wieder in Ordnung bringen und gleichzeitig das Wachstum wiederherstellen. Unser Wachstumspotenzial hängt wesentlich von unserer
Fähigkeit ab, strukturelle Reformen durchzuführen. Ohne Konsens über
die Notwendigkeit struktureller Reformen werden wir große Schwierigkeiten haben, im sozialen Dialog zu irgendwelchen Ergebnissen zu kommen – europäisch oder national betrachtet.
BS: Bedauerlicherweise werden die aktuelle Krise und die nun in erster
Linie von zwei Mitgliedstaaten und der Kommission auferlegte Form der
wirtschaftspolitischen Steuerung von anderen als Vorwand genutzt, eine
Politik der „drastischen Kürzungen“ zu verfolgen, die diese Regierungschefs auf nationaler Ebene nicht verfolgen konnten oder wollten. Wir sind
Zeugen der ernsten Infragestellung und Aushöhlung einer Reihe sozialer
Errungenschaften und des „europäische Sozialmodells“ im Allgemeinen.
Darüber hinaus wird die Autonomie der Sozialpartner auf jeder Ebene
ernsthaft untergraben. Seit Beginn der Währungsunion vertrat der EGB
die Auffassung, dass eine europäische einheitliche Währung und eine
Europäische Zentralbank durch eine engere Koordination der nationalen
(makro)wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen ergänzt
werden müssen. Auch die europäische Gewerkschaftsbewegung ist sich
28
der Schwere der Krise bewusst: Es ist zwingend notwendig, zu ausgeglichenen Staatshaushalten zurückzukehren. Die innerhalb der EU „empfohlenen“ „blinden“ Sparmaßnahmen machen die Lage jedoch nur noch
schlimmer. Jeder weiß, dass diese Sparmaßnahmen das fragile Wachstum
einiger Länder im Keim ersticken, weil die Regierungsführung die Mitgliedstaaten dazu zwingt, eine systematische Verringerung der Nachfrage
herbeizuführen und eine Politik der Nichtkooperation zu verfolgen – mit
anderen Worten: Dumping. Es ist deshalb wenig erstaunlich, das die Bevölkerung zunehmend alles ablehnt, was aus „Brüssel“ kommt, kein Wunder,
dass der Populismus auf dem Vormarsch ist und der Nationalismus wieder
Einzug hält.
Es ist dringend notwendig, dass die Sozialpartner an allen Fronten ein
„anderes Europa“ verteidigen. Der Aufbau Europas muss wieder gleichbedeutend werden mit Fortschritt und Hoffnung. Und vor diesem Hintergrund darf der soziale Dialog mehr denn je nicht nur ein Schlüsselelement
und Pfeiler des europäischen Sozialmodells sein, sondern muss auch ein
Vektor der Innovation und Umsetzung von Reformen sein.
Wie könnte der europäische soziale Dialog künftig
aussehen?
PdB: Der soziale Dialog ist ein zentraler Bestandteil unserer sozialen Systeme. Eine der für uns wichtigsten Voraussetzungen zum Erreichen von
Ergebnissen hängt von unserer Fähigkeit ab, uns auf Prioritäten und eine
realistische und zugleich anspruchsvolle Vorgehensweise zu einigen.
Die Priorität ist nun ganz klar der Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung,
um die Arbeitslosigkeit zu senken. Wenn sich die europäischen Sozialpartner auf die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Reformen einigen,
dann zweifle ich nicht daran, dass die soziale Partnerschaft weiter im Zentrum des Entscheidungsfindungsprozesses stehen wird.
BS: Der europäische soziale Dialog befindet sich nun in einem Stadium der
Reife; aus diesem Grund ist es notwendig, sich für einen noch stärker qualitätsorientierten Ansatz zu entscheiden.
Kurzfristig müssen die Verhandlungen zum 4. „eigenständigen Arbeitsprogramm“ (2012-2014) der europäischen Sozialpartner dauerhafte Lösungen für die tatsächlichen Probleme liefern, mit denen die Arbeitnehmer
und Bürger zu kämpfen haben. Die Beschäftigung muss an erster Stelle
stehen, insbesondere wenn es um junge Menschen geht. Die EU zählt derzeit mehr als fünf Millionen junge Arbeitslose; diese Arbeitslosenquote ist
doppelt so hoch wie die der übrigen erwachsenen Erwerbsbevölkerung.
29
Europa kann nicht eine ganze Generation opfern. Die Stärkung des europäischen sozialen Dialogs ist zweifellos der beste Weg, um das Gleichgewicht
zwischen den Herausforderungen zu finden, denen sich der europäische
Arbeitsmarkt in quantitativer Hinsicht (mehr Arbeitsplätze) und qualitativer Hinsicht (bessere Arbeitsplätze) gegenübersieht. Die lebenslange Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen ist ein weiteres Thema,
das der EGB in das Arbeitsprogramm aufnehmen will. Eine weitere große
Aufgabe ist die Neuverhandlung der Arbeitszeitrichtlinie nach dem Scheitern der fünf Jahre andauernden Verhandlungen zwischen dem Rat und
dem Parlament.
Mittelfristig müssen die mit den einzelnen Dialogwerkzeugen verbundenen „Rechte und Pflichten“ im Hinblick auf deren Umsetzung, Überwachung und Bewertung geklärt werden. Die Umsetzung „eigenständiger“
Vereinbarungen durch Verhandlungen kann nicht zur Schaffung eines
Europa der zwei (oder mehr) Geschwindigkeiten führen. Ein qualitativ
hochwertiger sozialer Dialog ergibt sich auch durch größere Synergien
zwischen seinen zahlreichen Ebenen – branchenübergreifend, Sektor­
ebene, Unternehmensebene; diese Ebenen müssen besser artikuliert und
koordiniert werden. Es ist nach wie vor notwendig, weitere gemeinsame
Kapazitäten über mehrere Mitgliedstaaten hinweg zu schaffen. Abschließend ist es mit Blick auf die Währungsunion und die zügig fortschreitende
wirtschaftspolitische Steuerung von wesentlicher Bedeutung, dass die
Vorgehensweise den sozialen und umweltbezogenen Dimensionen entspricht. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden innerhalb eines gemeinsamen europäischen Rahmens, und auch der europäische soziale Dialog
muss gestärkt werden, um ein europäisches Instrument zu schaffen, das
nicht einfach die jeweiligen nationalen Systeme nachbildet, sondern die
Herausforderungen angeht, die mit dem Prozess der europäischen Integration einhergehen. Zu diesem Zweck ist es unter anderem angezeigt, das
Format und die Zusammensetzung des Dreigliedrigen Sozialgipfels sowie
die diesbezüglichen Vorbereitungen zu verbessern, um die Bedeutung
des Gipfels für die wirtschaftspolitische Steuerung zu stärken; Gleiches gilt
für den makroökonomischen Dialog. Abschließend lässt sich Folgendes
sagen: Die Sozialpartner müssen das Niveau ihres Dialogs steigern, um
die Herausforderungen der EU bewältigen zu können, mit denen man in
30
einem solchen Ausmaß seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr konfrontiert war, wenn sie wollen, dass Europa erhobenen Hauptes aus der Krise
hervorgeht und nicht weiter wertvolle Zeit vergeudet, wie es derzeit der
Fall ist.
31
32
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Kapitel 2 
Ein kurzer Überblick über die institutionelle
Geschichte des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene
1952-1984: Die Anfangsjahre
Die erste Europäische Gemeinschaft
war die Europäische Gemeinschaft
für Kohle und Stahl (EGKS), die 1952
von sechs Ländern gegründet wurde.
Der soziale Dialog wurde in die EGKS
in Form eines Beratungsausschusses
integriert, der sich aus Vertretern
der Kohle- und Stahlgesellschaften,
Arbeitnehmern, Verbrauchern und
Händlern zusammensetzte.
Als die sechs Gründerstaaten 1958
beschlossen, eine umfassendere Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) einzurichten, wurde der soziale Dialog erneut fest verankert durch
einen Europäischen Wirtschafts- und
Sozialausschuss mit beratender
Funktion, bestehend aus Vertretern
der unterschiedlichen Kategorien der
Wirtschafts- und Sozialaktivitäten.
Der Ausschuss, der heute als Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss bekannt ist, stellt nach wie vor
ein wichtiges Forum für den sozialen
Dialog dar. Seine Mitglieder sind unterteilt in Gruppen, die Arbeitgeber,
Arbeitnehmer und unterschiedliche
Interessen repräsentieren. Die Mitglieder sind Vertreter nationaler Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände
und sonstiger Interessengruppen,
die von den nationalen Regierungen
ernannt werden.
Bereits kurz nach der Gründung
der EGKS wurde eine gemeinsame
Bergbaupolitik in Angriff genommen, was zur Einrichtung eines
spezifischen gemeinsamen Beratungsausschusses als Vertretung für
die Arbeitgeber und Arbeitnehmer
der Branche führte. Nach der Bildung
der EWG wurden in den 1960er und
1970er Jahren gemeinsame Regelwerke für die Landwirtschaft, Fischerei und zahlreiche Verkehrsmittel
erstellt. Die Europäische Kommission
bildete in diesen Sektoren gemeinsame Ausschüsse zur Beratung im
Hinblick auf soziale und beschäftigungsspezifische Aspekte dieser
Regelwerke.
Formen des branchenübergreifen­
den Dialogs auf EU‑Ebene entstan­
den erstmals im Jahr 1970 und hat­ten
hauptsächlich dreigliedrige Strukturen (siehe Kasten 4).
1985-1992:
Die Geburtsstunde
des zweigliedrigen
branchenübergreifenden
Dialogs
Während beim branchenübergreifenden Dialog in den 1970er Jahren
noch hauptsächlich auf die dreigliedrige Struktur zurückgegriffen
worden war, trat Anfang der 1980er
Jahre die Idee der Förderung eines
eher zweigliedrigen Dialogs zwischen den Sozialpartnern in den
Gemeinschaftsinstitutionen immer
stärker in den Vordergrund. Ziel
33
war die Reaktion auf die zu dieser
Zeit herrschende Rezession und
der Abschluss von Vereinbarungen
auf EU‑Ebene in Bezug auf die sozialen und wirtschaftlichen Themen
im Zusammenhang mit dem europäischen Binnenmarkt. (Das Binnenmarktprogramm wurde 1985
begonnen.)
Die Kommission traf sich mit Vertretern der branchenübergreifenden Sozialpartner (EGB, CEEP und
UNICE, später BusinessEurope) im
Januar 1985 in Val Duchesse, einem
Schloss in der Nähe von Brüssel, um
die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation zu erörtern. Bei einer
zweiten Versammlung im November
1985 wurden zwei Arbeitsgruppen
gebildet, die sich aus Vertretern der
Sozialpartner
zusammensetzten
und von der Kommission geleitet
wurden, um die Themen Wachstum,
Beschäftigung und Investitionen zu
diskutieren, sowie die Rolle des sozialen Dialogs bei der Einführung neuer
Technologien.
Diskussionen in der Arbeitsgruppe
für makroökonomische Themen
führten dazu, dass sich die branchenübergreifenden Partner im November 1986 auf eine gemeinsame
Stellungnahme zur „kooperativen
Wachstumsstrategie“ der Kommission einigten. Dabei handelte es sich
um den ersten formellen gemeinsamen Entwurf, der aus dem Dialog
von Val Duchesse hervorging und
dem 1987 weitere gemeinsame
Stellungnahmen zu makroökonomischen Themen und Themen im
Zusammenhang mit neuen Technologien folgten.
34
1987 trat die Einheitliche Europäische
Akte in Kraft, die den EWG‑Vertrag
erweiterte und durch die der soziale
Dialog auf EU‑Ebene erstmals vertraglich erwähnt wurde. Artikel 118
Buchstabe b des geänderten Vertrags
verpflichtete die Kommission, sich
darum zu bemühen, „den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln, der, wenn
beide Seiten dies für wünschenswert
halten, zu vertraglichen Beziehungen
führen kann“.
Da der neue Vertrag nun in Kraft
war und die letzten Maßnahmen zur
vollständigen Umsetzung des Binnenmarktes erfolgten (unter dem
zunehmenden Druck, eine echte
soziale Dimension zu schaffen),
wurde der Val‑Duchesse‑Dialog 1989
gestärkt. Ihm wurde mit der Einrichtung eines Lenkungsausschusses
eine formellere Struktur gegeben
und es wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, um Bildung/Schulung
und die Entstehung eines europäischen Arbeitsmarktes zu erörtern. Diese Gruppen verfassten von
1990-1993 zahlreiche gemeinsame
Stellungnahmen.
Auf Sektor‑Ebene wurden zwischen
1985 und 1992 neue gemeinsame
Ausschüsse in den Sektoren gebildet, auf die die Bestimmungen der
Gemeinschaft anwendbar waren, wie
etwa die Zivilluftfahrt und Telekommunikation. Die Kommission begann
ferner damit, eine neue Art des sektoralen Dialogs zu fördern, und setzte
informelle Arbeitsgruppen in Bereichen wie Zucker, Handel und Versicherung ein, die in einigen Fällen
gemeinsame Entwürfe vereinbarten.
Im Oktober 1991 schlossen die branchenübergreifenden
Sozialpartner
ihr erstes Abkommen – ein gemeinsamer Beitrag über die Bedeutung
des sozialen Dialogs, der sich an die
Regierungskonferenz richtete, welche mit der Vorbereitung des Vertrags über die Europäische Union
(EU‑Vertrag) befasst war, der 1992
in Maastricht unterzeichnet wurde.
In diesem Beitrag wurde gefordert,
dass den Sozialpartnern bei der
Formulierung und Umsetzung der
Sozial- und Beschäftigungspolitik der
Gemeinschaft eine weitaus bedeutendere Rolle zukommen müsse, und es
wurde ein spezifisches Konsultationsund Verhandlungsverfahren für sie
vorgeschlagen. Die Vereinbarung der
Partner wurde nahezu unverändert
in das Protokoll und das Abkommen
über die Sozialpolitik übernommen,
das dem EU‑Vertrag beigefügt wurde
(siehe Kasten 7) und es elf der zwölf
Kasten 7. Sozialer Dialog im Abkommen über
die Sozialpolitik (ASP) von 1992
Artikel 3 des ASP beauftragte die Kommission damit, die Anhörung
der Sozialpartner auf der Ebene der Gemeinschaft zu fördern und
„alle zweckdienlichen Maßnahmen [zu ergreifen], um den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu erleichtern, wobei sie für Ausgewogenheit bei der Unterstützung der Parteien sorgt.” Vor der Unterbreitung
von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik war die Kommission
also angehalten, die Sozialpartner zu der Frage anzuhören, wie eine
Gemeinschaftsaktion gegebenenfalls ausgerichtet werden sollte. Hielt
die Kommission nach dieser Anhörung eine Gemeinschaftsmaßnahme
für zweckmäßig, so hörte sie die Sozialpartner zum Inhalt des in Aussicht genommenen Vorschlags an. Die Sozialpartner mussten der Kommission eine Stellungnahme oder gegebenenfalls eine Empfehlung
übermitteln und konnten gegenüber der Kommission den Wunsch zur
Einleitung eines Verhandlungsprozesses äußern. Die Verhandlungen
durften maximal neun Monate dauern, sofern die betroffenen Sozialpartner und die Kommission nicht gemeinsam eine Verlängerung
beschlossen.
Laut Artikel 4 des ASP konnte der Dialog auf Gemeinschaftsebene,
sofern die Sozialpartner dies wünschen, zur Herstellung „vertraglicher
Beziehungen einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen“
führen. Die Durchführung der auf Gemeinschaftsebene geschlossenen Vereinbarungen erfolgte entweder „nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten“
oder – in den durch das ASP erfassten Bereichen – auf gemeinsamen
Antrag der Unterzeichnerparteien durch einen „Beschluss des Rates“
auf Vorschlag der Kommission.
35
damaligen Mitgliedstaaten ermöglichte, eine neue Gesetzgebung
im Bereich Arbeit und Soziales zu
verabschieden, mit Ausnahme des
Vereinigten Königreichs, das sich an
diesem neuen Mechanismus nicht
beteiligen wollte.
1993-2000:
Beginn des zweigliedrigen
sozialen Dialogs
Der Vertrag von Maastricht und das
ASP traten im November 1993 in
Kraft und stärkten die Rolle der Sozialpartner auf europäischer Ebe­ne
bei der Konzeption und Anwendung
der Sozialpolitik der Ge­meinschaft
und erhöhten deren Legi­
timität
durch ihr neues Recht auf Anhö­
rung bei Vorschlägen zu Ge­mein­
schaftsmaßnahmen.
Um ihren Dialog an den neuen institutionellen Rahmen anzupassen,
richteten die Sozialpartner einen
Ausschuss für den sozialen Dialog ein, der als zentrales Organ für
Diskussionen, die Verabschiedung
gemeinsamer Entwürfe und zu Planungszwecken fungieren sollte.
1993 verabschiedete die Europäische Kommission zudem zusätzliche formelle Verfahren, durch die
beschlossen wurde, welche Sozialpartnerorganisationen
beteiligt
sein sollten, und die die praktischen
Gesichtspunkte
vertragsbasierter
Anhörungen und Verhandlungen
festlegten (siehe S. 47).
Sobald der Vertrag von Maastricht
und das ASP in Kraft waren, ging
der branchenübergreifende Dialog
in zwei verschiedene Richtungen.
36
Einerseits folgten die Sozialpartner ihrer eigenen unabhängigen
Agenda, andererseits prägten die
Anhörungen auf der Grundlage der
legislativen Agenda der Kommission
den Dialog der Partner recht stark.
Im Hinblick auf den eigenständigen
Dialog einigten sich die branchenübergreifenden Partner weiterhin
auf gemeinsame Stellungnahmen
zu Aspekten der gemeinschaftlichen
Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik. Sie unterzeichneten ferner
„autonome“ gemeinsame Entwürfe
wie z. B. eine Erklärung zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im Jahr 1999.
Was die zweite Form des Dialogs
anbelangt, so hörte die Kommission
die branchenübergreifenden Partner zu zahlreichen Themen an, zu
denen sie während des Zeitraums
1993-2000 Gemeinschaftsmaßnahmen plante. Zwei dieser Anhörungen
führten zu Verhandlungen zwischen
den Partnern und der anschließenden
Unterzeichnung von EU‑Rahmenvereinbarungen. Anhörungen in Bezug
auf die Vereinbarkeit von Berufsleben und Familie führten im Dezember 1995 zu einer Vereinbarung über
Elternurlaub – die erste bedeutende
Übereinkunft, die von den branchenübergreifenden Partnern unterzeichnet wurde. Aus Anhörungen zur
Flexibilität bei der Arbeitszeit und
Sicherheit der Arbeitnehmer resultierten zwei Vereinbarungen: im Juni
1997 über Teilzeitarbeit und im März
1999 über befristete Arbeitsverträge.
In allen drei Fällen beantragten die
Sozialpartner bei der Kommission
die Einreichung der Vereinbarungen
beim Rat, um eine diesbezügliche
Entscheidung zu erwirken und die
Anforderungen in den Mitgliedstaaten verbindlich zu machen, und die
Kommission schlug entsprechende
Richtlinien vor, die vom Rat verabschiedet wurden.
1999 kam es zu bedeutenden institutionellen Veränderungen, als der Vertrag von Amsterdam in Kraft trat, der
die bestehenden Verträge abänderte.
© ImageGlobe
Den sektoralen sozialen Dialog
betreffend bedeutete das Inkrafttreten des ASP, dass die Kommission
begann, die Sozialpartner formell
anzuhören, die sie als repräsentativ
für bestimmte Branchen bestimmt
hatte, und zwar zu geplanten Maßnahmen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales. Die Anhörungen
führten in einigen Fällen zu Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern über sektorspezifische
Themen. Beispielsweise wurden in
den gemeinsamen Ausschüssen
der Schifffahrt und Zivilluftfahrt
Vereinbarungen über die Arbeitszeit
geschlossen, die auf Anfrage der
Partner durch Richtlinien des Rates
umgesetzt wurden.
In den 1990er Jahren wurden zahlreiche neue gemeinsame sektorspezifische Ausschüsse und informelle
Arbeitsgruppen gegründet. Die Kommission war jedoch mit der Effektivität des Stückwerks der gemeinsamen
Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die
sich seit den 1950er Jahren weiterentwickelt hatten, nicht zufrieden. Sie
kam 1998 zu dem Schluss, dass ein
stärker harmonisierter Ansatz vonnöten sei, um eine gerechtere Behandlung der unterschiedlichen Sektoren
zu gewährleisten und es allen Sektoren zu ermöglichen, effektiv an
der Ausarbeitung der betreffenden
Bestimmungen auf Gemeinschafts­
ebene mitzuwirken. Daher wurde
entschieden, alle bestehenden sektoralen Strukturen durch neue Ausschüsse für den sektoralen sozialen
Dialog zu ersetzen (siehe Kasten 8).
37
Das Vereinigte Königreich hatte beschlossen, sich nun doch den
Bestimmungen zur Sozialpolitik an­
zu­­schließen, und ermöglichte damit die Rückkehr zur einheitlichen
Entscheidungsfindung auf Gemein-
schaftsebene in der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Der Vertrag von
Amsterdam nahm das ASP in den
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG‑Vertrag) in
Form der Artikel 138 und 139 auf.
Kasten 8. Die Reform des sektoralen sozialen
Dialogs von 1998
In einer im Mai 1998 veröffentlichten Entscheidung ersetzte die Europäische Kommission die bestehenden Strukturen für den sektoralen
Dialog durch Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog (ASSD) mit
Wirkung zum Jahr 1999. ASSD können in Sektoren gebildet werden, in
denen die Sozialpartner gemeinsam den Dialog auf europäischer Ebene
fordern und in denen die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände:
• sich auf spezifische Sektoren oder Kategorien beziehen und auf
europäischer Ebene organisiert sind;
• aus Organisationen bestehen, die selbst „in ihrem Land integraler
und anerkannter Bestandteil des Systems der Arbeitsbeziehungen
sind“, Vereinbarungen aushandeln können und mehrere Mitgliedstaaten vertreten;
• über geeignete Strukturen verfügen, um an der Arbeit der Ausschüsse „effektiv […] teilnehmen zu können“.
Die ASSD werden fristgerecht und umfassend zu den Entwicklungen
auf Gemeinschaftsebene angehört, welche sozialen Auswirkungen
auf ihre Sektoren haben, und haben ferner die Aufgabe, den sozialen Dialog weiterzuentwickeln und zu fördern. Sie setzen sich jeweils
zur Hälfte aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zusammen,
die von der Kommission auf der Grundlage eines Vorschlags der Sozialpartner, die die Einrichtung der ASSD gefordert hatten, eingeladen
werden. Die ASSD müssen mindestens einmal im Jahr zusammenkommen, und die Kommission bietet Sekretariatsdienste sowie technische
Unterstützung für Versammlungen.
Ursprünglich wurden im Jahr 1999 21 ASSD gebildet, und zwar in Branchen, die zuvor durch gemeinsame Ausschüsse und Arbeitsgruppen
vertreten worden waren. Seit 1999 ist die Anzahl der ASSD um durchschnittlich zwei pro Jahr gestiegen, und 2011 gab es 40 Ausschüsse
(siehe Anhang 1). Sie repräsentieren Branchen, in denen rund 145 Millionen Arbeitnehmer beschäftigt sind; das entspricht drei Vierteln der
EU‑Erwerbsbevölkerung.
38
Seit 2001: größere
Autonomie der Sozialpartner
Die branchenübergreifenden Sozialpartner (zu denen nun auch UEAPME
und CEC/Eurocadres zählen) kündigten 2001 an (in einem gemeinsamen Beitrag zum Europäischen Rat
in Laeken), dass sie ihren Dialog neu
ausrichten wollten, um Herausforderungen wie die EU‑Erweiterung, die
Debatte um die künftige politische
Führung Europas und die Einführung
der einheitlichen Währung zu berücksichtigen. Die Partner beschlossen,
ihren zweigliedrigen Dialog (ob
durch offizielle Anhörungen ausgelöst oder nicht) besser zu organisieren und eigenständiger zu gestalten
und nach einem Arbeitsprogramm
auszurichten, das zur EU‑Strategie für
Wachstum und Beschäftigung sowie
zur Erweiterung beiträgt, wenngleich
es unabhängig konzipiert und umgesetzt wird.
Der etwas autonomere Ansatz der
Partner wurde 2002 in einer neuen
Form des gemeinsamen Entwurfs
vorgestellt, einem „Aktionsrahmen“
für die lebenslange Entwicklung von
Kompetenzen und Qualifikationen.
Dieser legte Prioritäten und Leitlinien
fest und schlug Maßnahmen vor, die
auf nationaler Ebene durch die Mitgliedsverbände der Unterzeichner
gefördert werden sollten (siehe S. 68).
Ferner unterzeichneten die Sozialpartner im Juli 2002 im Anschluss
an Anhörungen durch die Kommission eine Rahmenvereinbarung über
Telearbeit. Im Gegensatz zu vorangegangenen branchenübergreifenden
Vereinbarungen forderten die Sozialpartner nicht, dass die Vereinbarung
über Telearbeit durch eine Richtlinie
umgesetzt werden müsse. Die Vereinbarung sollte stattdessen durch
die nationalen Mitgliedsverbände
der Unterzeichner umgesetzt werden, und zwar „nach den jeweiligen
Verfahren und Gepflogenheiten der
Sozialpartner in den Mitgliedstaaten“.
Das erste von den Sozialpartnern vereinbarte branchenübergreifende
mehrjährige
Arbeitsprogramm
deckte den Zeitraum 2003-2005 ab.
Darin wurden drei Prioritäten festgelegt – Beschäftigung, Mobilität
und Erweiterung –, und es enthielt
eine Mischung aus vorgeschlagenen Instrumenten und Aktivitäten,
die größtenteils unabhängig in die
Wege geleitet wurden, in manchen
Fällen jedoch zumindest teilweise
durch Anhörungen der Kommission angestoßen wurden. Aus dem
Arbeitsprogramm gingen 2004 eine
Rahmenvereinbarung zu arbeitsbedingtem Stress hervor, die durch
die nationalen Mitglieder der Unterzeichner umgesetzt wurde, sowie
ein zweiter Aktionsrahmen zur
Geschlechtergleichstellung im Jahr
2005.
Die branchenübergreifenden Part­­
ner vereinbarten in der Folge
Ar­
beitsprogramme für 2006-2008
und 2009-2010. Das Programm für
2006-2008 führte 2007 zu einer Vereinbarung über Belästigung und
Gewalt am Arbeitsplatz, die „nach
den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner“
umgesetzt wurde, sowie ebenfalls
2007 zu einer gemeinsamen Analyse der Herausforderungen in Bezug
auf den europäischen Arbeitsmarkt.
39
Das bedeutendste Ergebnis des Programms für 2009-2010 war eine
Vereinbarung über integrative Arbeitsmärkte, welche ebenfalls durch
die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner umgesetzt
wurden.
Neben der eigenständigen Arbeit der
branchenübergreifenden Sozialpartner wurde ihr Dialog weiterhin stark
durch die Anhörungen der Kommission beeinflusst. Während zahlreiche
Anhörungen keine Verhandlungen
nach sich zogen, war dies doch bei
einigen der Fall. Wie die Vereinbarung von 2010 über integrative
Arbeitsmärkte (die zum Teil auf früheren Anhörungen basierte) zählte
auch eine 2009 geschlossene Rahmenvereinbarung zur Änderung des
Abkommens von 1995 über Elternurlaub zu den wichtigsten Resultaten.
Das geänderte Abkommen wurde
durch eine Richtlinie umgesetzt.
Die Sozialpartner entwickelten ferner eine neue Art der gemeinsamen
Einflussnahme auf die EU‑Gesetzgebung. 2004-2005 hielt die Kommission Anhörungen zu Maßnahmen
zur Verbesserung der Wirksamkeit
der EBR ab, einschließlich einer
möglichen Überarbeitung der Richtlinie von 1994. Die branchenübergreifenden Partner wollten keine
Vereinbarung aushandeln. 2008
schlug die Kommission eine Neufassung der Richtlinie vor. An dieser
Stelle einigten sich die Sozialpartner
auf ein „gemeinsames Gutachten” mit
Änderungsvorschlägen zum Entwurf
der Kommission. Der Rat und das
Parlament akzeptierten die meisten
dieser Vorschläge in der 2009 verabschiedeten Neufassung der Richtlinie.
Neben der Teilnahme an legislativen Anhörungen durch die
Kommission leisteten die branchenübergreifenden Partner auch zahlreiche Beiträge zu breiter gefassten
EU‑Debatten im Zeitraum 20012011, wie etwa zu Vertragsänderungen sowie zur Beschäftigungs- und
Wirtschaftspolitik.
Kasten 9. Der soziale Dialog und
die EU‑Erweiterung
Die EU wurde von ursprünglich sechs Mitgliedstaaten auf neun
Staaten im Jahr 1973, zehn im Jahr 1981, zwölf im Jahr 1986 und
15 im Jahr 1995 erweitert. Diese Erweiterungen umfassten westeuropäische Länder, die in einigen wichtigen Gesichtspunkten ihrer
Bestimmungen zum sozialen Dialog größtenteils übereinstimmten.
So verfügten die meisten beispielsweise über: unabhängige und
relativ repräsentative Sozialpartnerorganisationen; ein Tarifverhandlungssystem mit hoher Abdeckung, das normalerweise auf
Vereinbarungen auf Sektor‑Ebene basierte; eine Reihe zweigliedriger und/oder dreigliedriger Anhörungsmechanismen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Beitritt dieser Länder zur EU ermöglichte
40
es ihren Sozialpartnern, ihren Platz im sozialen Dialog auf europäischer Ebene recht problemlos einzunehmen und ihre Funktion bei
der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Bereich
Beschäftigung und Soziales (siehe S. 14) auf nationaler Ebene zu
erfüllen.
Die EU‑Erweiterung in den Jahren 2004 und 2007 zur Aufnahme
von zwölf neuen Mitgliedstaaten im Süden und Osten – Bulgarien,
Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern – brachte
gewisse Herausforderungen mit sich. Historisch begründet hatten
viele dieser Länder recht schwache Sozialpartnerorganisationen,
und ein unabhängiger zweigliedriger Dialog sowie Tarifverhandlungen und Tarifverträge waren kaum vorhanden, insbesondere in
Bezug auf sektorale Abkommen. Dies erwies sich bei der Umsetzung
des gemeinschaftlichen Besitzstandes und der Teilnahme am sozialen Dialog auf EU‑Ebene als problematisch. Im Vorfeld zum Beitritt
führte die Europäische Kommission entsprechend zahlreiche Projekte durch, mit denen finanzielle und technische Unterstützung
geleistet wurde, die auf die Stärkung des branchenübergreifenden
und sektoralen sozialen Dialogs abzielten und die Bildung unabhängiger repräsentativer Sozialpartnerorganisationen sowie deren
Handlungsfähigkeit förderten.
Die branchenübergreifenden Sozialpartner auf EU‑Ebene boten
ihrerseits ebenfalls Hilfe und Beratung an und unterstützten den
Ausbau der Kapazitäten der Sozialpartner sowie die Weiterentwicklung des sozialen Dialogs in den neuen Mitgliedstaaten. In vielen
Sektoren ergriffen die Partner auf EU‑Ebene ähnliche Maßnahmen
und bemühten sich, die betreffenden nationalen Organisationen der
neuen Mitgliedstaaten in ihren Dialog einzubinden.
Heute verfügen die neuen Mitgliedstaaten allgemein über bessere
Systeme des sozialen Dialogs als vor der Erweiterung, wenn auch
nicht überall. Die branchenübergreifenden und sektoralen Sozialpartnerorganisationen auf EU‑Ebene haben allesamt Partner aus den
neuen Mitgliedstaaten aufgenommen. Fast alle Ausschüsse für den
sektoralen sozialen Dialog verfügen über Vertreter aus den neuen
Mitgliedstaaten, wenngleich die Anzahl beträchtlich schwankt.
Während diese Schwankungen teilweise auf die relative Bedeutung
bestimmter Sektoren in den neuen Mitgliedstaaten zurückzuführen
sind, liegt die Ursache in einigen Sektoren auch in den Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Sozialpartnerorganisationen in diesen
Ländern.
41
Während dieses Zeitraums kam
es neben der Konsolidierung und
Verbreitung der ASSD zu keinen
grundlegenden
institutionellen
Veränderungen an der Struktur des
sozialen Dialogs (siehe Kasten 8).
Man traf mehrere Vereinbarungen
im Anschluss an formelle Anhörungen durch die Kommission, die
auf Antrag der Unterzeichner durch
Richtlinien des Rates umgesetzt
wurden (siehe S. 53). Eine Reihe
weiterer sektoraler Vereinbarungen, die üblicherweise nach Anhörungen durch die Kommission zu
verwandten Themen ausgehandelt wurden, wurden durch die
nationalen Mitgliedsverbände der
Unterzeichner umgesetzt (siehe
Kasten 12).
Die beratende Funktion der ASSD
wurde 2009 gestärkt, als die Kommission neue Leitlinien für die Folgenabschätzungen, die sie bei all ihren
Initiativen durchführt, einführte. Der
betreffende ASSD muss nun zu diesen Folgenabschätzungen angehört
42
werden, wenn die betreffende Initiative soziale Auswirkungen auf die
entsprechende Branche hat.
Der Vertrag von Lissabon trat im
Dezember 2009 in Kraft und änderte
den EU‑Vertrag; ferner ersetzte er
den EG‑Vertrag durch den Vertrag
über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Den sozialen Dialog betreffend wurden die
Bestimmungen zu den Anhörungen
und Verhandlungen der Sozialpartner (zuvor in Artikel 138 und 139 des
EG‑Vertrag festgelegt) nahezu unverändert im AEUV in Artikel 154 und
155 übernommen (diese werden auf
S. 45-54 ausführlicher erläutert). Die
größte Veränderung besteht darin,
dass der AEUV einen neuen Artikel
152 enthält, der besagt: „Die Union
anerkennt und fördert die Rolle der
Sozialpartner auf der Ebene der
Union unter Berücksichtigung der
Unterschiedlichkeit der nationalen
Systeme“ und „fördert den sozialen
Dialog und achtet dabei die Autonomie der Sozialpartner“.
EWSA‑Meldung
Staffan Nilsson
Präsident Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss
Der soziale Dialog ist die raison d’être der Sozialpartner und aus diesem
Grund auch ein zentrales Element der Arbeit des EWSA sowie zahlreicher
nationaler Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbarer Strukturen in den
EU‑Mitgliedstaaten. Der soziale Dialog ist vielleicht nicht so faszinierend
wie die täglichen Auseinandersetzungen zwischen den „echten“ Politikern
und erhält definitiv nicht so viel Aufmerksamkeit vonseiten der Medien. In
mancher Hinsicht ist er jedoch eine interessantere Art der Politik, da die Sozialpartner, die häufig äußerst unterschiedliche Ausgangspositionen haben,
sich am Ende immer irgendwie einigen müssen. Es ist immer ein Geben und
Nehmen. Der soziale Dialog ist die Grundlage der europäischen Gesellschaften. Ohne ihn sind Fortschritt oder Stabilität im wirtschaftlichen und sozialen Bereich nicht möglich. Der soziale Dialog ist das Instrument, mit dem
die Forderungen der Arbeitnehmer mit denen der Arbeitgeber und anderen
wirtschaftlichen Interessen in Einklang gebracht werden und wovon wir hoffentlich alle profitieren.
Entsprechend müssen in Krisenzeiten die Sozialpartner und alle Akteure
der Zivilgesellschaft ebenfalls Teil des Reformprozesses sein. Der EU‑Vertrag
verpflichtet sämtliche EU‑Institutionen zur Teilnahme am strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft. Der EWSA ist mit mehr als einem halben Jahrhundert Erfahrung auf dem Gebiet der Konsensbildung bestens auf diese
Aufgabe vorbereitet und bereit zu helfen. Wir vertreten die Ansicht, dass
sachgemäß ausgearbeitete Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken – bei denen
der soziale Dialog stets ein elementarer Bestandteil ist – eine positive Triebkraft darstellen, und das nicht nur im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit,
sondern auch in Sachen wirtschaftliche Gesamtleistung. Nur gemeinsam mit
den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft kann die Strategie Europa 2020
konkrete Ergebnisse erzielen und allen Europäern ein besseres Leben bieten.
43
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Kapitel 3
Funktionsweise des sozialen Dialogs
auf EU‑Ebene
Der branchenübergreifende und sektorale soziale Dialog auf EU‑Ebene
setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen 
– Maßnahmen
als Reaktion auf die Anhörungen
durch die Europäische Kommission und unabhängige Tätigkeiten
in Bezug auf Themen, die von den
Sozialpartnern selbst bestimmt werden (wenngleich diese so gestaltet
werden können, dass sie sich in die
EU‑Debatten und -Politik einfügen). Vertragsbasierte Anhörungen
durch die Kommission sind sowohl
beim branchenübergreifenden als
auch sektoralen Dialog üblich, und
Anhörungs- und Verhandlungsverfahren gemäß Artikel 154 und 155
Sozialpartner
Kommission
Choice
Wahl
Erste Anhörung zur
etwaigen Ausrichtung der
Gemeinschaftsmaßnahme
Verhandlungen
Rat/Parlament
Stellungnahmen
max. 9 Monate
Erfolg
Zweite Anhörung zum
Inhalt des vorgesehenen
Vorschlags
Scheitern
Wahl
Choice
Verhandlungen
Stellungnahmen
max. 9 Monate
Gesetzesvorschlag
Scheitern
Erfolg
Diskussion, Änderungen
und Annahme als
EU-Gesetz
Vereinbarung
22possibilities
Umsetzungsfor
implementation
möglichkeiten
Anfrage
Autonome Vereinbarung:
Umsetzung durch nationale
Sozialpartner in allen Mitgliedstaaten
Bewertung
Gesetzesvorschlag (mit
Vereinbarung im Anhang)
Annahme als EUGesetz (oder Ablehnung)
nur durch Rat
45
wir befassen uns zunächst mit den
Mechanismen dieses Prozesses.
Anhörungen zu Vorschlägen
im Bereich der Sozialpolitik
Laut Artikel 154 AEUV muss die Kommission vor dem Einreichen von Vorschlägen im Bereich der Sozial- und
Beschäftigungspolitik die Sozialpartner zur möglichen Ausrichtung
einer Gemeinschaftsaktion anhören.
Die von ihr angehörten Sozialpartnerorganisationen erfüllen folgende
Voraussetzungen:
• Sie sind branchenübergreifend,
beziehen sich auf spezifische Sektoren oder Kategorien und sind auf
europäischer Ebene organisiert;
• sie bestehen aus Organisationen,
die selbst „in ihrem Land integra­
ler und anerkannter Bestandteil
des Systems der Arbeitsbeziehungen sind“, können Vereinbarungen
aushandeln und alle Mitgliedstaaten weitestgehend vertreten;
• sie verfügen über „geeignete Strukturen“, um am Anhörungsprozess
effektiv teilnehmen zu können.
Die Kommission führt und aktualisiert eine Liste mit Organisationen,
die ihrer Ansicht nach diese Voraussetzungen für die Anhörung erfüllen. Die aktuelle Liste (beigefügt
in Anhang 1) setzt sich zusammen
aus:
• drei allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen (BusinessEurope, CEEP und EGB);
• drei branchenübergreifenden Or­­
ganisationen, die bestimmte Arbeitnehmer- oder Unternehmens­
ka­te­go­rien repräsentieren (Euro­
cadres, UEAPME und CEC);
46
• einer „spezifischen Organisation“
(Eurochambres – die Vereinigung
der Europäischen Industrie- und
Handelskammern);
• 62 sektoralen Arbeitgeberorga­ni­
sationen;
• 17 sektoralen europäischen Gewerkschaftsorganisationen.
Diese Organisationen müssen innerhalb von sechs Wochen auf die
anfängliche Anhörung reagieren,
in der normalerweise die entsprechenden Themen erläutert und
allgemeine Fragen zu möglichen
Maßnahmen gestellt werden. Die
Kommission fragt die Sozialpartner
nach ihrer Meinung, sowohl zum
wesentlichen Thema als auch zu der
Frage, ob eine gemeinschaftliche
Aktion vonnöten ist (und wenn ja,
welcher Art diese sein soll), und fragt
nach, ob sie die Einleitung eines Dialogs in Betracht ziehen.
Sollte die Kommission im Anschluss
an diese erste Anhörung EU‑Maßnahmen für angebracht halten, hört
sie die Sozialpartnerorganisationen
auf ihrer Liste ein zweites Mal an,
dieses Mal zum Inhalt des geplanten Vorschlags. Die Sozialpartner
müssen sich ein weiteres Mal innerhalb von sechs Wochen äußern. Das
Dokument zur zweiten Anhörungsstufe fasst üblicherweise die Reaktionen auf die anfängliche Anhörung
zusammen und nennt konkretere
Optionen für EU‑Maßnahmen. Die
Partner werden darin nach ihren
Ansichten zu den Optionen gefragt
und ob sie bereit sind, in Verhandlungen zu allen oder einigen der
betreffenden Themen zu treten. Die
Sozialpartner können als Reaktion
darauf eine Stellungnahme oder
Empfehlung zu den betreffenden
Themen an die Kommission richten.
Im Anschluss an eine Anhörung
der ersten oder zweiten Stufe können die Sozialpartner gemeinsam
beschließen, Verhandlungen auf
EU‑Ebene zu den betreffenden Themen aufzunehmen.
Vertragsbasierte
Verhandlungen zwischen
den Sozialpartnern
Artikel 155 AEUV besagt, dass der
Dialog zwischen den Sozialpartnern auf EU‑Ebene zur Herstellung
„vertraglicher Beziehungen einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen“ führen kann, wenn
diese es so wünschen.
Wenn die Sozialpartner beschließen, im Anschluss an eine Anhörung
durch die Kommission über einen
Vorschlag zu EU‑Maßnahmen im
Bereich Sozialpolitik zu verhandeln,
dann müssen sie die Kommission
darüber informieren, die dann vorübergehend die Arbeit am Vorschlag
unterbricht. Die Partner haben
anschließend neun Monate Zeit, um
zu einer Vereinbarung zu gelangen,
es sei denn, sie beschließen gemeinsam mit der Kommission eine Verlängerung. Erfolgt die Aufnahme der
Verhandlungen ausschließlich auf Initiative der Sozialpartner, gibt es keine
derartige Frist für die Gespräche.
Gelangen die Sozialpartner zu einer
Vereinbarung auf EU‑Ebene, gibt
es zwei Möglichkeiten für deren
Umsetzung:
• In allen Fällen können die Partner beschließen, das Abkommen
„nach den jeweiligen Verfahren
und Gepflogenheiten der Sozialpartner in den Mitgliedstaaten” umzusetzen, d. h., die
Vereinbarung wird durch die
nationalen Mitgliedsverbände der
Unterzeichner gemäß den Systemen für Arbeitsbeziehungen in
jedem Mitgliedstaat umgesetzt,
oder
• in den Fällen, die sich mit beschäftigungsspezifischen/sozialen The­
men befassen, die in die Zuständigkeit der EU fallen, können die
Sozialpartner bei der Kommission den Vorschlag einer Entscheidung (d. h. einer Richtlinie) beantragen, die vom Rat verabschiedet
werden muss, damit die Vereinbarung innerhalb der EU rechtsgültig wird.
Beantragen die Sozialpartner bei
der Kommission den Vorschlag
einer Richtlinie an den Rat zur
Umsetzung einer Vereinbarung,
die im Anschluss an Anhörungen
gemäß Artikel 154 getroffen wurde,
führt die Kommission zunächst eine
Prüfung durch. Sie prüft den Vertreterstatus der unterzeichnenden
Organisationen, ihr Mandat und
die Legalität des Inhalts der Vereinbarung in Bezug auf die EU‑Gesetzgebung sowie die Bestimmungen
hinsichtlich KMU. (Der Vertrag legt
fest, dass die Gesetzgebung im
Bereich Beschäftigung möglichst
keine administrativen, finanziellen
und gesetzlichen Beschränkungen
auferlegt, welche die Gründung und
Entwicklung von KMU beeinträchtigen würden.) Die Kommission
47
formuliert erst dann eine Richtlinie,
wenn das Prüfungsergebnis zufriedenstellend ist. Durch die Richtlinie
wird die betreffende Vereinbarung
EU‑weit rechtsgültig, und die Vereinbarung wird als Anhang beigefügt. Der Rat entscheidet lediglich,
ob die Richtlinie verabschiedet
wird; er kann die Bestimmungen
der Vereinbarung nicht abändern.
Die Verabschiedung der Richtlinie
bedeutet, dass die Kommission ihre
Arbeit am Vorschlag in den von der
Vereinbarung abgedeckten Bereichen unterbricht.
Treffen die Sozialpartner im
Anschluss an Anhörungen gemäß
Artikel 154 eine Vereinbarung und
beschließen, diese gemäß den Verfahren und Gepflogenheiten der
Sozialpartner in den Mitgliedstaaten umzusetzen, so führt die Kommission eine Prüfung auf die gleiche
Art und Weise durch, wie es auch bei
durch eine Richtlinie umzusetzenden Vereinbarungen der Fall ist. Die
Kommission unterbricht zwar ihre
Arbeit im Zusammenhang mit den
betreffenden Themen, überwacht
jedoch die EU‑weite Umsetzung
der Vereinbarung und bewertet
das Ausmaß, in dem diese zur Erreichung der Ziele der EU beiträgt.
Wenn die Kommission beschließt,
dass die Vereinbarung diesen Zielen
nicht entspricht, kann sie jederzeit
die Arbeit zum betreffenden Thema
wieder aufnehmen und gegebenenfalls Gesetze vorschlagen.
Im Hinblick auf die Wahl zwischen
der Umsetzung von im Anschluss
an formelle Anhörungen getroffenen Vereinbarungen auf EU‑Ebene
48
durch eine Richtlinie oder die
Unterzeichner selbst lautet die allgemeine Regel, dass die Umsetzung
durch eine Richtlinie bevorzugt
anzuwenden ist, wenn sich die
Vereinbarungen mit Grundrechten oder bedeutenden politischen
Themen befassen oder wenn es
erforderlich ist, dass die Regeln einheitlich und innerhalb der gesamten EU angewandt werden bzw.
wenn eine bestehende Richtlinie
geändert werden soll.
Funktionsweise des
branchenübergreifenden
sozialen Dialogs
Das Hauptforum für den zweigliedrigen branchenübergreifenden Dia­
log ist der Ausschuss für den
sozialen Dialog (ASD). Der 1992
gegründete ASD besteht aus 32
Gewerkschaftsvertretern (EGB, mit
Eurocadres und CEC als Teil seiner
Delegation) und 32 Arbeitgebervertretern (BusinessEurope, CEEP und
UEAPME). Den Vorsitz hat die Europäische Kommission inne. Er kommt
normalerweise dreimal im Jahr zusammen und kann Arbeitsgruppen
bilden, die sich mit spezifischen
Themen befassen.
Im Falle einer Anhörung gemäß
Artikel 154, bei der sich mindestens
ein Partner für Verhandlungen zum
betreffenden Thema ausspricht,
werden üblicherweise die anderen
Partner zur Möglichkeit von Gesprächen befragt. Entscheiden sich
die Partner für die Aufnahme von
Verhandlungen, erteilen sowohl
die Gewerkschafts- als auch die
Arbeitgeberseite ihre spezifischen
Mandate, die von den Entscheidungsträgern sämtlicher betroffenen Sozialpartner auf EU‑Ebene
genehmigt werden müssen. Beide
Seiten ernennen anschließend Verhandlungsteams, und die Verhandlungen werden unter dem Vorsitz
eines unabhängigen Schlichters
aufgenommen. Die Verhandlungen
müssen innerhalb von neun Monaten abgeschlossen sein, sofern mit
der Kommission keine Verlängerung vereinbart wird.
Der eigenständige Dialog der branchenübergreifenden Partner hat
zahlreiche Formen, darunter:
• Erstellen eigenständiger Arbeitsprogramme (während des Zeitraums 2003-2010 basierten die
gemeinsamen Maßnahmen der
Partner auf drei mehrjährigen Programmen; ein viertes Programm
für den Zeitraum 2012-2014 wird
voraussichtlich im ersten Quartal
2012 verabschiedet);
• Festlegung von Themen für
eigenständige
Verhandlungen
•
•
•
•
und anschließende Gespräche,
die Vereinbarungen oder sonstige gemeinsame Verpflichtungen, wie etwa Aktionsrahmen,
zur Folge haben können;
Diskussion der Auswirkungen
der EU‑Politik und -Strategien auf
die Bereiche Beschäftigung und
Soziales sowie häufig Verfassen
gemeinsamer Stellungnahmen,
Statements und ähnlicher Entwürfe, die an die EU‑Institutionen
gerichtet werden;
Durchführung
gemeinsamer
transnationaler Projekte zur För­
derung des Austauschs von Meinungen und bewährten Methoden, aus denen häufig die gemeinsame Veröffentlichung von
Leitfäden und vergleichbaren
Dokumenten resultiert;
Veranstaltung ge­meinsamer Semi­
nare und Konferenzen;
Nachbereitung der Umsetzung
vorangegangener Vereinbarungen und Aktionsrahmen auf nationaler Ebene.
Kasten 10. Der Dreigliedrige Sozialgipfel
Der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung wurde
im Jahr 2003 durch einen Beschluss des Rates (2003/174/EG) offiziell
eingerichtet und 2009 durch den Vertrag von Lissabon anerkannt und
mit der Aufgabe betraut, einen Beitrag zum sozialen Dialog zu leisten.
Seine Funktion besteht in der Gewährleistung des kontinuierlichen
Dialogs zwischen dem Rat, der Europäischen Kommission und den
Sozialpartnern auf EU‑Ebene, indem er Letzteren ermöglicht, zu den
zahlreichen Komponenten der integrierten Wirtschafts- und Sozialstrategie der EU sowie ihrer Dimension der nachhaltigen Entwicklung
beizutragen. Der Gipfel stützt sich auf die Arbeit der zahlreichen spezialisierten Konzertierungsforen zu Themen aus den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Beschäftigung (siehe Kasten 4).
49
Im Rahmen des Gipfels kommen hochrangige Vertreter der aktuellen Ratspräsidentschaft und der zwei nachfolgenden Präsidentschaften (einschließlich der zuständigen Minister für Arbeit
und Soziales sowie je nach Tagesordnung anderer Minister), die
Kommission und die Sozialpartner zusammen. Arbeitnehmer und
Arbeitgeber werden jeweils durch eine Delegation aus je zehn
Mitgliedern vertreten (in denen Frauen und Männer gleichermaßen vertreten sind), die sich aus Vertretern branchenübergreifender Sozialpartnerorganisationen auf EU‑Ebene zusammensetzen.
Die Delegation der Arbeitnehmer wird vom EGB koordiniert und
die Delegation der Arbeitgeber von BusinessEurope, wobei beide
gewährleisten, dass die Ansichten spezifischer und sektoraler
Organisationen umfassend berücksichtigt werden und diese Organisationen, sofern angemessen, über Vertreter innerhalb der Delegationen verfügen.
Die Agenda des Gipfels wird gemeinsam von der Ratspräsidentschaft, der Kommission und den branchenübergreifenden Sozialpartnern festgelegt. Die Tagesordnungsthemen werden ferner
vom Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz diskutiert.
Der Gipfel ist seit seiner Einrichtung im Jahr 2003 zweimal jährlich zusammengetreten. Die Präsidenten des Europäischen Rates,
des Rates der Europäischen Union und der Kommission haben
gemeinsam den Vorsitz des Gipfels inne.
Der Gipfel hat es den Sozialpartnern ermöglicht, einen Beitrag zur
Strategie von Lissabon für Wachstum und Beschäftigung und später zur Strategie Europa 2020 zu leisten. Sie stellten beispielsweise
ihre branchenübergreifende Vereinbarung zu integrativen Arbeitsmärkten (siehe S. 64) auf dem Gipfel im März 2010 als Beitrag zur
Agenda für integratives Wachstum von Europa 2020 vor sowie eine
gemeinsame Analyse der wesentlichen Herausforderungen für die
europäischen Arbeitsmärkte auf dem Gipfel im Oktober 2007 als
Beitrag zur EU‑Debatte über Flexicurity. Während der Wirtschaftskrise stellte der Gipfel insbesondere ein Forum für die Sozialpartner dar, in dem diese ihre Ansichten zur Bewältigung der Krise und
ihrer Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sowie hinsichtlich der
Rückkehr zum Wachstum äußern konnten.
50
Funktionsweise des
sektoralen sozialen Dialogs
Die anerkannten sektoralen Sozialpartner werden von der Europä­
ischen Kommission zu Vorschlägen
in den Bereichen Sozial- und Beschäftigungspolitik genauso angehört
wie die branchenübergreifenden
Partner (wie in Artikel 154 AEUV
festgelegt). Wenn das betreffende
Thema spezifisch für einen bestimmten Sektor ist bzw. bestimmte Auswirkungen auf einen Sektor hat,
können die sektoralen Sozialpartner beschließen, zu diesem Thema
eine Vereinbarung auf europäischer
Ebene auszuhandeln. Die geschlossenen Vereinbarungen können
durch die nationalen Mitglieder der
unterzeichnenden Organisationen
oder, auf Anfrage vonseiten der
Unterzeichner, durch eine Richtlinie
umgesetzt werden.
© ImageGlobe
Die ASSD stellen zwar das Forum für
Verhandlungen auf der Grundlage
von Anhörungen gemäß Artikel 154
dar, es sind jedoch eher die individuellen Sozialpartnerorganisationen,
die von der Kommission im Rahmen
dieses Verfahrens angehört werden.
Die ASSD haben ihre eigene spezifische beratende Funktion in Bezug
auf Entwicklungen auf EU‑Ebene
in anderen Bereichen als der Sozialpolitik, die soziale Auswirkungen
auf ihren Sektor haben. Die zahlreichen Dienststellen der Europä­
ischen Kommission müssen prüfen,
ob die vorgeschlagenen Initiativen
soziale Auswirkungen auf irgendeinen Sektor haben, und wenn ja,
die betreffenden ASSD anhören. So
muss die Kommission z. B. bei der
Konzeption der verbindlichen Folgenabschätzungen, die ihren Gesetzesinitiativen vorangehen, die ASSD
der betroffenen Branchen anhören
und das betreffende Thema, die
politischen Optionen und deren
potenzielle soziale und beschäftigungsbezogene
Auswirkungen
erörtern. Als Reaktion können die
51
ASSD durch gemeinsame Stellungnahmen, Positionen oder Erklärungen einen Beitrag zur politischen
Entscheidungsfindung der Kommission leisten, was sie auch relativ
häufig tun.
Lediglich ein Teil der Arbeit der
ASSD bezieht sich auf die Anhörungen der Europäischen Kommission. Zu ihren Aufgaben zählen auch
die Schaffung und Förderung eines
eigenständigen zweigliedrigen so­
zialen Dialogs in ihrem Sektor. Die
ASSD legen ihre eigene Vorgehensweise fest und erstellen in den
meisten Fällen Arbeitsprogramme,
nach denen ihre Aktivitäten für ein
Jahr bzw. mehrere Jahre ausgerichtet sind. Diese Programme definieren normalerweise mehrere zentrale Themen für die Tätigkeiten während des betreffenden Zeitraums,
mit denen sich gewöhnlich von Fall
zu Fall gebildete oder permanente
Arbeitsgruppen befassen. Die Sozialpartner können Nachforschungen zu den betreffenden Themen
durchführen oder in Auftrag geben,
Seminare oder Konferenzen veranstalten, bewährte Verfahren austauschen oder sonstige gemeinsame
Entwürfe zum sozialen Dialog
Vereinbarungen
zur Etablierung von
Standards (Artikel
155 Absatz 2 AEUV)
Empfehlungen
zu Standards
und Grundsätzen
(prozessorientierte
Entwürfe)
Informations­
austausch
Rahmenvereinbarungen
Autonome
Vereinbarungen
Aktionsrahmen
Leitfäden und
Verhaltenskodizes
Folgemaßnahmen
auf nationaler
Ebene
Politische Leitlinien
Gemeinsame
Stellungnahmen
Erklärungen
Werkzeuge
52
Umsetzung
Verbreitung von
Informationen
Projektaktivitäten
durchführen,
häufig mit Fördermitteln aus den
Budgets für den sozialen Dialog der
Kommission. In einigen Fällen führt
dies zur Unterzeichnung von Vereinbarungen oder sonstigen gemeinsamen Entwürfen.
Instrumente
Die von den Sozialpartnern vereinbarten gemeinsamen Entwürfe
oder „Instrumente“ können unterschiedliche Formen annehmen, je
nach Ursprung der Initiative, dem
betreffenden Thema und den Zielsetzungen und Kompetenzen der
Unterzeichnenden. Sie können grob
in die folgenden Kategorien unterteilt werden:
• Vereinbarungen;
• „verfahrensorientierte“ Entwürfe;
• gemeinsame
Stellungnahmen
und Werkzeuge;
• prozessbezogene Entwürfe.
Vereinbarungen
EU‑weite Vereinbarungen legen
Mindeststandards fest, die innerhalb der gesamten EU anzuwenden
sind, und erteilen bestimmte Auflagen, die innerhalb einer gewissen
Frist erfüllt sein müssen. Wie bereits
auf S. 45 erläutert, können diese aus
formellen Anhörungen der Sozialpartner gemäß Artikel 154 AEUV
oder Verhandlungen auf Initiative
der Sozialpartner resultieren. Vereinbarungen können auf eine der
beiden in Artikel 155 dargelegten
Arten umgesetzt werden:
• durch eine von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Richtlinie des Rates auf
gemeinsamen Antrag der Unterzeichnerparteien, wodurch die
Vereinbarung EU‑weit rechtsgültig wird; oder
• nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der
Sozialpartner in den Mitgliedstaaten – d. h. durch die nationalen Mitgliedsverbände der
Unterzeichnerparteien.
Die Verantwortung für die Gewährleistung der Einführung von durch
eine Richtlinie umgesetzten Vereinbarungen liegt bei den Mitgliedstaaten, und die Verantwortung für
die Überwachung der Umsetzung
liegt in erster Linie bei der Kommission. Im Gegensatz dazu liegt die
Verantwortung für die Umsetzung
„eigenständiger“ Vereinbarungen
und die Überwachung dieser
Umsetzung bei den Sozialpartnern.
Die Unterzeichner sind jedoch
insbesondere dann, wenn solche
Vereinbarungen im Anschluss an
Anhörungen gemäß Artikel 154
ausgehandelt wurden, dazu verpflichtet, diese umzusetzen und ihre
Mitgliedsverbände dahin gehend zu
beeinflussen.
Verfahrensorientierte
Entwürfe
Einige von den Sozialpartnern
unterzeichnete gemeinsame Entwürfe müssen wie Vereinbarungen
umgesetzt werden, werden tatsächlich jedoch in mehreren Stufen und
auf eine stärker prozessorientierte
Weise umgesetzt. Diese Entwürfe
enthalten Empfehlungen der Partner auf EU‑Ebene an ihre Mitglieder
im Hinblick auf Folgemaßnahmen
53
und legen eine regelmäßige Bewertung der Fortschritte bei der
Erreichung der Zielsetzung fest. Verfahrensorientierte Entwürfe werden
in folgende Kategorien unterteilt:
• Aktionsrahmen legen politische
Prioritäten fest, und die nationalen Mitgliedsverbände der Unterzeichner verpflichten sich, auf die
Verwirklichung dieser Prioritäten
hinzuarbeiten. Diese Prioritäten
fungieren als Benchmarks, und die
Sozialpartner erstatten regelmäßig Bericht über die diesbezüglich
ergriffenen Folgemaßnahmen.
• Leitlinien und Verhaltenskodizes
enthalten Empfehlungen und/
oder Vorgaben der Unterzeichner
für die nationalen Mitgliedsverbände bezüglich der Schaffung
von Standards oder Grundsätzen.
• Politische Leitlinien sind Entwürfe,
in denen die Unterzeichner aktiv
für bestimmte Politiken bei ihren
Mitgliedern werben, erklären,
wie diese zu verwirklichen sind
(z. B. durch die Sammlung und
den Austausch bewährter Verfahren oder Sensibilisierungsmaßnahmen), und festlegen, wie die
Sozialpartner die Folgemaßnahmen und deren Auswirkungen
bewerten.
Gemeinsame
Stellungnahmen und
Werkzeuge
Einige gemeinsame Entwürfe tragen im Wesentlichen zur Bereitstellung oder zum Austausch von
Informationen bei, entweder aufwärts von den Sozialpartnern hin
zu den EU‑Institutionen und/oder
nationalen Behörden oder abwärts,
54
indem den nationalen Mitgliedern
der Sozialpartner die Auswirkungen
von EU‑Politiken erläutert werden.
Mit diesen Instrumenten sind keine
Umsetzungs-, Überwachungs- oder
Folgemaßnahmen verbunden. Es
gibt drei verschiedene Arten:
• Gemeinsame Stellungnahmen (und
Erläuterungen) sollen im Allgemeinen den EU‑Institutionen und/
oder nationalen Behörden Informationen liefern. Diese Entwürfe
können Reaktionen auf EU‑Anhörungen sein (wie etwa Grün- oder
Weißbücher und Diskussionspapiere), eine gemeinsame Haltung
gegenüber einer spezifischen
EU‑Politik ausdrücken oder die
Kommission dazu aufrufen, eine
bestimmte Haltung einzunehmen
oder Maßnahmen zu ergreifen.
• Erklärungen sind üblicherweise
an die Sozialpartner selbst
gerichtet und beinhalten deren
geplante künftige Tätigkeiten und
Maßnahmen.
• Instrumente, die von den Sozialpartnern häufig mithilfe von
EU‑Zuschüssen entwickelt werden, umfassen Leitfäden und
Handbücher, die Beschäftigten
und Unternehmen praktische
Ratschläge erteilen, beispielsweise durch Erklären der Auswirkungen der EU‑Gesetzgebung zu
bestimmten Themen oder die Förderung des Austauschs bewährter
Verfahren.
Prozessbezogene
Entwürfe
Die Sozialpartner haben ferner
mehrere gemeinsame Entwürfe
unterzeichnet, die zwar keinen
wesentlichen Inhalt haben, jedoch
die Regeln für ihren zweigliedrigen
Dialog festlegen. Bei den meisten
Entwürfen dieser Art handelt es sich
um die Verfahrensordnung, auf die
sich die Partner für die Ausschüsse
für sektoralen sozialen Dialog geeinigt haben.
55
Stimme aus dem Europäischen Parlament
Thomas Mann
Mitglied des Europäischen Parlaments (EVP)
Was sind Ihre Ansichten als Parlamentsmitglied zum
europäischen sozialen Dialog als zweigliedrigem
eigenständigem Prozess?
Ich bin ein starker Befürworter des sozialen Dialogs! Diese regelmäßigen
Zusammenkünfte der Vertreter der europäischen Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände haben eine lange und beeindruckende Tradition.
Diese Partner vertreten derzeit 145 Millionen Arbeitnehmer innerhalb der
Europäischen Union. Meiner Meinung nach ist eine kooperative und konsensuelle Beziehung zwischen den Sozialpartnern ein Grundpfeiler des
EU‑Sozialmodells.
Wenn wir nun die dreigliedrige Dimension
betrachten, welchen Beitrag können die europäischen
Sozialpartner Ihrer Meinung nach zur Umsetzung der
Strategie Europa 2020 leisten?
Die europäischen Sozialpartner sind von entscheidender Bedeutung für den
Erfolg der Strategie Europa 2020. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Sie
verfolgen das tägliche Leben der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sozusagen
hautnah. Die Strategie Europa 2020 kann also mit größerem Erfolg umgesetzt werden, wenn die Sozialpartner ihre Ziele und Maßnahmen unterstützen. Die Kommunikation ist ein wichtiges Instrument, das sie beisteuern
können. Europa 2020 ist ein komplexes Projekt, das erklärt werden muss;
andernfalls laufen wir Gefahr, dass es nicht verstanden wird. Das ist die tägliche Arbeit der Parlamentsmitglieder!
Artikel 154-155 AEUV sehen die Regelung durch
die Sozialpartner für die Sozialpartner vor.
Glauben Sie, dass die Sozialpartner von ihren
Kompetenzen umfassend Gebrauch machen sollten,
um Vereinbarungen zur besseren Regelung der
Beschäftigungs- und Sozialpolitik auszuhandeln?
Ich bin überzeugt davon, dass die Sozialpartner ihre Möglichkeiten vollständig ausschöpfen sollten. Ein Blick auf die Geschichte der EU zeigt, dass die
56
Vereinbarungen der Sozialpartner noch nie negative Auswirkungen hatten –
eine Erfolgsgeschichte! Beide Seiten profitieren von einer Win‑Win‑Situation.
Die hohe und steigende Zahl der Ausschüsse für den sozialen Dialog ist ein
klarer Indikator für die Attraktivität und die Vorteile der damit verbundenen
politischen Instrumente.
Glauben Sie, dass der europäische soziale Dialog in der
aktuellen Krise eine Funktion übernehmen kann? Wie
könnte diese aussehen?
Der Dialog zwischen Unternehmen, Arbeitnehmern und der Europäischen
Union half und hilft in der aktuellen Krise bei der Verwirklichung von Entscheidungen. Die Sozialpartner in den Mitgliedstaaten haben Verhandlungen aufgenommen, um die Auswirkungen der Krise zu mindern. Zahlreiche
Vereinbarungen wurden auf nationaler Ebene unterzeichnet, insbesondere im Bereich Arbeitszeit, um einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit
vorzubeugen.
Derzeit finden die Länder mit den stärksten Sozialpartnerschaften die besseren Lösungen zur Bewältigung der Krise.
Wie beurteilen Sie die Rolle und die zentralen
Herausforderungen für den sozialen Dialog in
den Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der
Wirtschaftskrise und von Europa 2020?
Die Krise spielt eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche und soziale
Geschichte Europas. Sie hat massiven Druck auf den Antagonismus ausgeübt. Der soziale Dialog während der Krise hat das Vertrauen zwischen den
Arbeitgebern und Gewerkschaften verstärkt, da Massenentlassungen in
vielen Mitgliedstaaten vermieden werden konnten. Die Sozialpartner sollten nun diesen Weg der engen Zusammenarbeit weitergehen. Es müssen
weitere Fortschritte verzeichnet werden, insbesondere im Hinblick auf die
Schaffung von Wohlstand und die Verringerung der Ungleichheiten.
57
58
© ImageGlobe
Kapitel 4
Was wurde beim sozialen Dialog
auf EU‑Ebene erreicht?
Überblick über unterzeich‑
nete gemeinsame Entwürfe
des sozialen Dialogs
Ein Teil des Werts des sozialen Dialogs
auf EU‑Ebene kommt vom Vorgang
selbst sowie den Kontakten, dem
Aufbau von Vertrauen, Austausch von
Ansichten und Informationen und der
gemeinsamen Arbeit, die damit einhergehen. Solche Errungenschaften
lassen sich aufgrund ihrer Natur nur
schwer quantifizieren und auswerten.
Zum Dialog zählen auch Maßnahmen
wie gemeinsame Studien, Konferenzen und Seminare sowie Initiativen
zum Kapazitätenausbau in den neuen
Mitgliedstaaten. Die sichtbarsten und
bekanntesten Ergebnisse des Dialogs
sind die zahlreichen gemeinsamen
Entwürfe der Sozialpartner. Durch
diese können die Errungenschaften des Dialogs am besten bewertet
werden.
Die Europäische Kommission führt
eine Datenbank aus gemeinsamen
Entwürfen, die von den Sozialpartnern auf branchenübergreifender
und sektoraler Ebene vereinbart wurden. Mit Stand vom Oktober 2011
(alle hier verwendeten Zahlen beziehen sich auf den Inhalt der Datenbank zu diesem Zeitpunkt) wurden
650 Entwürfe im Rahmen des sozialen
Dialogs auf EU‑Ebene verfasst. Diese
gehen zurück bis in das Jahr 1978,
die große Mehrheit wurde jedoch seit
der zweiten Hälfte der 1980er Jahre
vereinbart, als der zweigliedrige Dialog branchenübergreifend ernsthaft
aufgenommen und in zahlreichen
Sektoren eingeführt wurde.
Die gesamten gemeinsamen Entwürfe (siehe Abbildung 1) setzen sich
zu drei Vierteln aus gemeinsamen
Stellungnahmen und Werkzeugen
zusammen, während jeder zehnte
ein verfahrensorientierter Entwurf
ist. Bei den restlichen Entwürfen
handelt es sich um prozessbezogene
Entwürfe, Berichte über Folgemaßnahmen (die sich mit der Umsetzung
vorangegangener gemeinsamer Entwürfe befassen) und Vereinbarungen
(die lediglich 3 % der Gesamtzahl
ausmachen).
Abbildung 1. Entwürfe des sozialen
Dialogs auf EU-Ebene, nach Typ
6%
3% 3%
10 %
77 %
Gemeinsame Stellungnahmen und Werkzeuge
Verfahrensorientierte Entwürfe
Prozessbezogene Entwürfe
Vereinbarungen
Berichte über Folgemaßnahmen
59
Die Themen der vereinbarten
gemeinsamen Entwürfe verweisen
deutlich auf die Tagesordnungsthemen des sozialen Dialogs auf
EU‑Ebene (siehe Abbildung 2). Die elf
am häufigsten behandelten Themen
(jedes einzelne macht mindestens
3 % aller gemeinsamen Entwürfe
aus) sind in Abbildung 2 angegeben.
Abbildung 2. Entwürfe des
sozialen Dialogs auf EU-Ebene,
nach Thema
11 %
21 %
3%
3%
3%
4%
12 %
7%
7%
8%
11 %
10 %
Wirtschaftliche und/oder sektorale Themen
Sozialer Dialog (z. B. Verfahren,
Verpflichtung zur Dialogführung)
Weiterbildung und lebenslanges Lernen
Gesundheit und Sicherheit
Förderung der Beschäftigung
Arbeitsbedingungen
Soziale Aspekte der EU-Politiken
Soziale Verantwortung der Unternehmen
Arbeitszeit
Gleichstellung der Geschlechter
Nachhaltige Entwicklung
Sonstige Themen
Weitere Themen, die weniger häufig
Gegenstand von gemeinsamen Entwürfen sind:
60
• die EU‑Erweiterung, üblicherweise vor dem Hintergrund der
Erweiterungen
2004 und 2007,
mit Schwerpunkt auf Themen
wie Integration von Partnern aus
den neuen Mitgliedstaaten in den
sozialen Dialog;
• Mobilität, insbesondere im Hinblick auf soziale Sicherheit oder
Qualifikationen im Zusammenhang mit der Mobilität innerhalb
der EU;
• öffentliches Beschaffungswesen,
häu­
fig Förderung sozial ver­
ant­
wortlicher Beschaffungsme­tho­den
bzw. Beschaffungsmetho­den mit
dem besten Preis‑Leistungs‑Verhältnis;
• Umstrukturierung, insbesondere
die sozial verantwortliche Handhabung von Veränderungen auf Sektor- oder Betriebsebene;
• Telearbeit, mit Themen wie Behandlung der betroffenen Mitarbeiter
und praktische Vorkehrungen;
• die alternde Erwerbsbevölkrung,
mit Themen wie Altersstruktur
und demografische Her­ausfor­de­
rungen;
• Belästigung, einschließlich Ge­walt
am Arbeitsplatz;
• junge Menschen, mit Themen
wie deren Beschäftigungssituation oder Beiträgen zur EU‑Politik;
• Rassismus, mit dem Ziel der Vor­
beugung solcher Verhaltens­wei­
sen, einschließlich Fremden­feind­
lichkeit;
• Schwarzarbeit, im Allgemeinen
mit dem Ziel ihrer Bekämpfung in
bestimmten Sektoren;
• Behinderung, z. B. Förderung der
Beschäftigung und Integration von
Menschen mit Behinderungen.
Wesentliche Erfolge: durch
Richtlinien umgesetzte
Vereinbarungen
Die sichtbarsten Ergebnisse des
sozialen Dialogs auf EU‑Ebene sind
im Hinblick auf den Arbeitsalltag
der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
die Vereinbarungen, die mithilfe
von Richtlinien des Rates innerhalb
der EU Rechtskraft erlangt haben. Es
gibt vier solcher branchenübergreifenden Vereinbarungen, zwei davon
befassen sich mit Elternurlaub und
jeweils eine mit Teilzeitarbeit und
befristeten Arbeitsverträgen (siehe
Kasten 11). Diese Vereinbarungen
haben Änderungen an der Gesetzgebung zahlreicher Mitgliedstaaten
bewirkt (wenngleich die nationalen
Bestimmungen in manchen Fällen
die von der Vereinbarung festgelegten Voraussetzungen bereits
übertroffen hatten) und Millionen
von Arbeitnehmern neue Rechte
verliehen, was zu verbesserten
Beschäftigungsbedingungen
für
Arbeitnehmer in Teilzeit und mit
befristeten Arbeitsverträgen sowie
für berufstätige Eltern geführt hat.
Kasten 11. Die vier branchenübergreifenden
durch Richtlinien umgesetzten Vereinbarungen
• Durch die Rahmenvereinbarung vom Dezember 1995 über Elternurlaub erhalten alle Beschäftigten das individuelle und nicht übertragbare Recht auf mindestens drei Monate Elternurlaub, bis ihr Kind
ein bestimmtes Alter (das auf nationaler Ebene festgelegt werden
muss) von bis zu acht Jahren erreicht hat. Die Vereinbarung ermöglicht den Beschäftigten ebenfalls das Fernbleiben vom Arbeitsplatz
aus dringenden familiären Gründen. Die Vereinbarung wurde durch
die Richtlinie 96/34/EG umgesetzt, welche die Mitgliedstaaten bis
Juni 1998 in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen hatten
(bzw. zum Beitrittszeitpunkt bei Mitgliedstaaten, die der EU erst im
Anschluss daran beigetreten sind).
• Die Rahmenvereinbarung vom Juni 1997 über Teilzeitarbeit legt den
Grundsatz fest, dass Teilzeitkräfte in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber
vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt
werden dürfen. Sie wurde durch die Richtlinie 97/81/EG umgesetzt,
welche die Mitgliedstaaten bis Januar 2000 in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen hatten (bzw. zum Beitrittszeitpunkt bei Mitgliedstaaten, die der EU erst im Anschluss daran beigetreten sind).
• Die Rahmenvereinbarung vom März 1999 über befristete Arbeitsverträge legte den Grundsatz fest, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil für sie
ein befristeter Arbeitsvertrag oder ein befristetes Arbeitsverhältnis
61
gilt, gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten nicht schlechter
behandelt werden dürfen. Das Abkommen wurde durch die Richt­
linie 1999/70/EG umgesetzt, welche die Mitgliedstaaten bis Juli 2001
in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen hatten (bzw. zum
Beitrittszeitpunkt bei Mitgliedstaaten, die der EU erst im Anschluss
daran beigetreten sind).
• Im Juni 2009 unterzeichneten die Sozialpartner eine überarbeitete
Version ihrer Vereinbarung von 1995 über Elternurlaub. Die Änderungen umfassten unter anderem eine Erhöhung des Mindestanspruchs auf Elternurlaub von drei auf vier Monate je Mitarbeiter,
wobei mindestens ein Monat nicht von einem Elternteil auf den
anderen übertragen werden kann. Die Vereinbarung wurde durch
die Richtlinie 2010/18/EU umgesetzt, welche die Richtlinie von 1996
aufhebt und ersetzt und die von den Mitgliedstaaten bis März 2012
in die nationale Gesetzgebung übernommen werden muss.
Fünf
sektorale Vereinbarungen
wurden wie folgt durch Richtlinien
umgesetzt:
• Eine Vereinbarung zur Arbeitszeit
von Seeleuten wurde von den sektoralen Sozialpartnern (ECSA und
ETF) im September 1998 unterzeichnet und regelt Aspekte wie
Arbeits- und Ruhezeiten für diese
Arbeitnehmergruppe, die nicht
vollständig durch die EU‑Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) abgedeckt ist. Die Vereinbarung wurde
umgesetzt durch die Richtlinie
1999/63/EG, die von den Mitgliedstaaten bis Juni 2002 in die nationale Gesetzgebung übernommen
werden musste.
• Ferner wurde eine Vereinbarung
zur Arbeitszeit des fliegenden Personals der Zivilluftfahrt, einer weiteren Gruppe, die nicht vollständig
durch die Arbeitszeitrichtlinie
abgedeckt ist, von den sektoralen
Partnern (AEA, ETF, ECA, ERA und
IACA) im März 2000 unterzeichnet
62
und durch die Richtlinie 2000/79/
EG umgesetzt, mit Umsetzung in
den Mitgliedstaaten bis Dezember
2003.
• Im Januar 2004 unterzeichneten
die Partner im Eisenbahnsektor
(CER und ETF) eine Vereinbarung
über die Einsatzbedingungen
des fahrenden Personals im inter­
operablen grenzüberschreitenden
Eisenbahnverkehr. Die Vereinbarung befasst sich hauptsächlich mit
den Ruhezeiten/Pausen und den
Fahrzeiten und legt spezifischere
Bedingungen fest als die Arbeitszeitrichtlinie. Sie wurde umgesetzt
durch die Richtlinie 2005/47/EG,
die von den Mitgliedstaaten bis
Juli 2008 in die nationale Gesetzgebung übernommen werden
musste.
• Eine im Mai 2008 durch die Sozialpartner im Seeverkehr unterzeichnete Vereinbarung befasste
sich mit der Übernahme des
2006 von der IAO vereinbarten
S e e­a r b e i t s ü b e r e i n k o m m e n s
in die EU‑Gesetzgebung. Das
Übereinkommen legt Mindestanforderungen an die Beschäftigungsbedingungen von Seeleuten
fest, und die Vereinbarung der Sozialpartner führt die Änderungen
an der EU‑Gesetzgebung auf, die
zur Einhaltung des Übereinkommens erforderlich sind. Die Vereinbarung wurde durch die Richtlinie
2009/13/EG umgesetzt, welche die
Mitgliedstaaten innerhalb eines
Jahres nach Inkrafttreten des Übereinkommens in die nationale Gesetzgebung übernehmen mussten.
• Im Juli 2009 trafen die Sozialpartner (HOSPEEM und EPSU) eine
Vereinbarung über die Vermeidung von Verletzungen durch
scharfe/spitze Gegenstände (z. B.
Nadeln oder Skalpelle) im Krankenhaus- und Gesundheitssektor.
Das Abkommen bezieht sich auf
Bereiche wie Prävention, Schutz,
Risikobewertung, Schulung und
Information. Es wurde umgesetzt
durch die Richtlinie 2010/32/EU
und muss bis Mai 2013 in die nationale Gesetzgebung übernommen
werden.
Da die branchenübergreifenden
Vereinbarungen durch Richtlinien
umgesetzt wurden, haben diese sektoralen Vereinbarungen praktische
und rechtsverbindliche Verbesserungen der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer in
der gesamten EU bewirkt bzw. werden diese bewirken, insbesondere
für Seeleute, fliegendes Personal der
Zivilluftfahrt, Eisenbahnpersonal im
grenzüberschreitenden Verkehr und
Krankenhauspersonal.
Wesentliche Erfolge:
von den Sozialpartnern
umgesetzte
Vereinbarungen
Vier branchenübergreifende Vereinbarungen wurden oder werden durch
die nationalen Mitgliedsverbände der
Unterzeichner „nach den jeweiligen
Verfahren und Gepflogenheiten der
Sozialpartner in den Mitgliedstaaten“
wie folgt umgesetzt:
• Die Rahmenvereinbarung vom
Juli 2002 über Telearbeit legt fest,
dass Telearbeiter als Beschäftigte
die gleichen Rechte wie andere
Mitarbeiter erhalten, und etabliert
Garantien in Bereichen wie Zugang,
Kosten, Gesundheit und Sicherheit,
Arbeitszeit und kollektive Rechte.
Die Mitglieder der branchenübergreifenden Sozialpartner mussten die Vereinbarung bis Juli 2005
umsetzen.
• Im Oktober 2004 unterzeichneten
die Partner eine Rahmenvereinbarung über arbeitsbedingten
Stress, durch die das Bewusstsein
und das Verständnis verbessert
werden sollen und Arbeitgebern
und Arbeitnehmern ein „maßnahmenorientierter Rahmen“ zur
Erkennung, Vorbeugung bzw.
Bewältigung von Problemen
bereitgestellt werden soll. Die nationalen Mitgliedsverbände mussten die Vereinbarung bis Oktober
2007 umsetzen.
• Eine Rahmenvereinbarung über
Belästigung und Gewalt am
Arbeitsplatz wurde im April 2007
unterzeichnet. Sie wirbt für Sensibilisierung und Schulung, verpflichtet Unternehmen zu klaren
Aussagen und Verfahren und
63
fordert die Ergreifung angemessener Maßnahmen gegen Täter und
Hilfe für die Opfer. Die Frist für die
Umsetzung durch die nationalen
Mitglieder endete im April 2010.
• Im März 2010 unterzeichneten die
Sozialpartner eine Rahmenvereinbarung über integrative Arbeitsmärkte, die der Unterstützung
von Menschen diente, die Probleme beim Zugang zum oder der
Integration in den Arbeitsmarkt
haben oder deren Arbeitsplatz
bedroht ist. Die Vereinbarung
skizziert Maßnahmen in Bereichen wie Aus- und Weiterbildung,
Personaleinstellung und Einarbeitung, individuelle Entwicklung
von Kompetenzen, geografische
und berufliche Mobilität, die Förderung der Vielfalt in der Arbeitnehmerschaft, Sensibilisierung,
Informationsverbreitung
und
Aktionspläne. Die Vereinbarung
muss bis März 2013 umgesetzt
werden.
Vier bemerkenswerte sektorale Vereinbarungen sehen ebenfalls eine
solche Umsetzung durch die Mitglieder der Unterzeichner vor – siehe
Kasten 12.
Kasten 12. Sektorale Vereinbarungen, die nach den
Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner
in den Mitgliedstaaten umgesetzt wurden
• Im Januar 2004 unterzeichneten die Sozialpartner des Eisenbahnsektors (CER und ETF) eine Vereinbarung über einen europäischen Führerschein für den interoperablen grenzüberschreitenden Verkehr.
Diese sieht einen auf Mindeststandards basierenden gemeinsamen
Führerschein für Fahrzeugführer im grenzüberschreitenden Schienenverkehr in anderen Ländern vor. Diese Vereinbarung sollte durch
Mitgliedsunternehmen des CER umgesetzt werden. Im Anschluss
an die Verabschiedung einer Richt­linie über die Zertifizierung von
Fahrzeugführern im Jahr 2007 (die zum Teil auf der vorangegangenen Vereinbarung basierte) veröffentlichten die Sozialpartner 2009
eine gemeinsame Erklärung zur Klarstellung der Anwendung ihrer
im Jahr 2004 getroffenen Vereinbarung.
• Die Sozialpartner in 14 Branchen, in denen kristalline Kieselsäure
(ein Gefahrstoff ) verwendet wird, trafen 2006 eine multisektorale
Vereinbarung über den Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer
durch angemessene Handhabung und Verwendung des Stoffes. Die Vereinbarung führt bewährte Verfahren auf, die Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter gemeinsam
auf Betriebsebene umsetzen werden. Die Umsetzung durch die
nationalen Mitglieder ist derzeit im Gange und wird durch einen
gemeinsamen Rat beaufsichtigt.
64
• Im Juni 2009 unterzeichneten die sektoralen Partner (Coiffure EU
und Uni Europa) eine Vereinbarung über die Einführung europä­
ischer Zertifikate für Friseure, die auf gemeinsamen Ausbildungsstandards basieren. Die Mitglieder der Unterzeichner mussten sie
auf nationaler Ebene bis Juni 2011 umsetzen.
• Die Rahmenvereinbarung vom April 2011 über Kompetenzprofile zwischen den Partnern der chemischen Industrie (ECEG und
EMCEF) legt EU‑weit geltende Mindestkernkompetenzen für Chemikanten und Industriemeister in diesem Sektor fest. Die Mitglieder der Unterzeichner werden die Vereinbarung in jedem Land
berücksichtigen, und ECEG und EMCEF werden die Bestimmungen der Vereinbarung durch ihre Mitglieder auf EU-, nationaler,
sektoraler, regionaler, lokaler und auf Betriebsebene unterstützen.
Wenn eine Vereinbarung auf
EU‑Ebene nach den „jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der
Sozialpartner“ in den einzelnen Ländern umgesetzt wird, dann bedeutet
der Umstand, dass die Verfahren und
Vorgehensweisen stark voneinander
abweichen, dass die Umsetzung
unterschiedliche Formen annimmt
und die Auswirkungen der Vereinbarung möglicherweise schwierig zu
beurteilen sind. Wie aus den Nachweisen zur Umsetzung der ersten
beiden
branchenübergreifenden
Vereinbarungen hervorgeht (siehe
Kasten 13), wurden diese mithilfe
einer breiten Palette von bindenden
und nichtbindenden Vereinbarungen, Empfehlungen, Erklärungen
sowie durch die Gesetzgebung
umgesetzt. In beiden Fällen wurden
damit im Allgemeinen der verbesserte Schutz der Arbeitnehmer und
Fortschritte in Richtung der EU‑weiten Zielsetzungen erreicht, dies
jedoch nur uneinheitlich, da die Vereinbarungen in manchen Mitgliedstaaten lückenhaft oder gar nicht
umgesetzt wurden. Einige Länder,
die der EU 2004 und 2007 beitraten,
stellte dieser Bereich vor gewisse
Probleme.
65
Kasten 13. Die Schwierigkeit der Umsetzung
eigenständiger Vereinbarungen
der Sozialpartner
Die beiden ersten branchenübergreifenden Vereinbarungen auf
EU‑Ebene, die gemäß den Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollten, waren
diejenigen über Telearbeit und arbeitsbedingten Stress. Sie sollten
durch die Mitgliedsverbände der Unterzeichner bis 2005 bzw. 2007
umgesetzt werden. Ihre Umsetzung wurde durch die Sozialpartner
und die Europäische Kommission bewertet; die Ergebnisse belegen
die Schwierigkeiten, die mit einer derartigen Umsetzung der Vereinbarungen verbunden sind.
Aufgrund der Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitsbeziehungen und Rechtssystemen und dem unterschiedlich hohen
Änderungsbedarf zur Einhaltung der Vereinbarungen hat die
Umsetzung in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Formen angenommen (in einigen Ländern sogar mehr als eine). Zur Umsetzung einer oder beider Vereinbarungen wurde auf Folgendes
zurückgegriffen:
• nationale branchenübergreifende Tarifverträge (z. B. in Belgien, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Luxemburg und
Rumänien);
• sektorale Tarifverträge (z. B. in Dänemark und den Niederlanden);
• Leitlinien oder Empfehlungen der branchenübergreifenden Partner an niedrigere Verhandlungsstufen und/oder einzelne Unternehmen und Arbeitnehmer (z. B. in Deutschland, Finnland, Irland,
Lettland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich,
Spanien, Schweden, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich);
• von den Sozialpartnern konzipierte Modellvereinbarungen oder
-instrumente (z. B. in Deutschland, Irland, Österreich und dem
Vereinigten Königreich);
• gemeinsame Erklärungen der nationalen Sozialpartner (z. B. in
Deutschland, Polen, Slowenien und Zypern);
• Gesetze (z. B. in Italien, Lettland, Polen, Portugal, der Slowakei,
Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn), die mit
unterschiedlich starker Beteiligung der Sozialpartner entworfen
wurden.
66
• Zum Zeitpunkt der Durchführung der Bewertungen durch die
Kommission (2008 für Telearbeit, 2011 für arbeitsbedingten Stress)
hatten Bulgarien, Estland, Litauen und Malta die Umsetzung der
beiden Vereinbarungen noch nicht bestätigt. In Bezug auf die Vereinbarung über Telearbeit war die Lage in Zypern und Rumänien
ähnlich.
Die Kommission zog im Hinblick auf die Vereinbarung über Telearbeit den Schluss, dass die zur Umsetzung gewählten Instrumente
und das Niveau des gewährten Schutzes und der angebotenen
Beratung in den meisten Ländern angemessen und die Ziele größtenteils erreicht worden waren. Sie stellte jedoch Probleme in zahlreichen Ländern fest, wie etwa die nicht erfolgte Umsetzung (bzw.
die nicht gemeinsam, sondern einseitig erfolgte Umsetzung) oder
lediglich zum Teil erfolgte Umsetzung, und stellte die Frage, ob die
Empfehlungen der nationalen Sozialpartner auf den niedrigeren
Verhandlungsstufen berücksichtigt wurden.
Was die Vereinbarung über arbeitsbedingten Stress angeht, so
stellte die Kommission fest, dass diese zur Sensibilisierung, der
Förderung einer Reihe von Grundsätzen und Bestimmungen und
der Konsensfindung innerhalb der EU beigetragen hatte. Sie konstatierte jedoch auch zahlreiche Mängel im Hinblick auf die Reichweite und Auswirkungen der Maßnahmen. Einige Länder hatten
die Vereinbarung nicht umgesetzt, während sich die Sozialpartner
in anderen Ländern für nichtbindende Instrumente oder einseitige
Maßnahmen entschieden hatten, die nicht alle Arbeitnehmer mit
einbezogen hatten bzw. nicht vollständig eingehalten worden
waren. Die Kommission gab an, dass es anhaltende Diskrepanzen
im Hinblick auf das Maß an Schutzvorkehrungen gegen Stress in
den einzelnen Mitgliedstaaten gebe und somit nicht festgestellt
werden könne, ob ein Mindestmaß an Schutz in der gesamten EU
erreicht worden sei.
Spezifische Probleme bei der Umsetzung ergeben sich in einigen der
neuen Mitgliedstaaten, wo die Sozialpartner noch recht unerfahren
in Sachen eigenständige Verhandlungen sind und die Struktur des
sozialen Dialogs unterentwickelt und dessen Reichweite gering ist.
Letzteres gilt auch für einige andere Mitgliedstaaten, ebenso wie
das Problem, dass nicht alle nationalen Mitgliedsverbände der Sozialpartner auf EU‑Ebene direkt an den Tarifverhandlungen ihrer Partner beteiligt bzw. diesbezüglich weisungsbefugt sind.
67
Wesentliche Erfolge:
verfahrensorientierte
Entwürfe
Aktionsrahmen
Die branchenübergreifenden Sozialpartner haben zwei Aktionsrahmen
unterzeichnet:
• einen Aktionsrahmen zur lebenslangen Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen, der
im Februar 2002 unterzeichnet
wurde und vier Aktionsschwerpunkte festlegte: Identifizierung
und Antizipierung des Bedarfs an
Kompetenzen und Qualifikationen;
Anerkennung und Bewertung von
Kompetenzen und Qualifikationen; Informationen, Unterstützung
und Anleitung; Mobilisierung von
Ressourcen. Diese Schwerpunkte
mussten innerhalb eines Zeitrahmens von vier Jahren auf nationaler
Ebene mithilfe des Dialogs und der
Partnerschaft umgesetzt werden;
• einen im März 2005 vereinbarten
Aktionsrahmen zur Gleichstellung der
Geschlechter, der die Herausforderungen in diesem Bereich identifizierte
und vier Schwerpunkte für die Maßnahmen der nationalen Sozialpartner
festlegte: Auseinandersetzung mit
den Geschlechterrollen; verstärkte
Einbindung von Frauen in Entscheidungsprozesse; bessere Vereinbarkeit
von Berufs- und Privatleben; Bekämpfung des geschlechterspezifischen
Lohngefälles. Die Umsetzung sollte
über einen Zeitraum von fünf Jahren
erfolgen.
Die branchenübergreifenden Partner bewerteten die Umsetzung
der beiden Aktionsrahmen auf
68
Jahresbasis und dann am Ende ihrer
Zeitrahmen, jeweils 2006 und 2009.
In beiden Fällen gelangten sie zu
dem Schluss, dass die Aktionsrahmen den nationalen Sozialpartnern
in den meisten Ländern eine „eindeutige Botschaft“ und einen „Sinn
für das Wesentliche“ vermitteln. Sie
hatten den Anstoß gegeben bzw. als
Instrument in Bezug auf den Wandel fungiert, unterstützten bereits
bestehende Maßnahmen der Sozialpartner und halfen bei der Ausarbeitung neuer konkreter Maßnahmen.
Die Aktionsrahmen brachten eine
Reihe von Entwicklungen auf europäischer, nationaler, sektoraler und
Unternehmensebene hervor. Die
Bewertungen zeigen, dass die Auswirkungen der Aktionsrahmen auf
Sektor- und Länderebene etwas
uneinheitlich ausfielen (insbesondere traten Schwierigkeiten in Bezug
auf die Beurteilung der Folgemaßnahmen in einigen neuen Mitgliedstaaten auf ).
Der Ansatz des „Aktionsrahmens“
wurde auf Sektorebene noch nicht
im erforderlichen Umfang aufgegriffen. Seltene Beispiele sind: ein
Rahmen für Personaleinstellung und
-bindung, der im Dezember 2010
von den Sozialpartnern in Krankenhäusern und im Gesundheitswesen
(EPSU und HOSPEEM) angenommen wurde, damit die aktuellen und
künftigen Personalengpässe und
Kompetenzanforderungen bewältigt werden können, und ein Aktionsrahmen über Gleichstellung der
Geschlechter, der im Oktober 2011
von den Sozialpartnern des audiovisuellen Sektors angenommen
wurde.
Leitfäden und
Verhaltenskodizes
und Bekämpfung von Gewalt und
Belästigung.
Die Vereinbarung über Leitfäden
und Verhaltenskodizes ist auf die
sektoralen Sozialpartner beschränkt,
es liegen zurzeit keine branchenübergreifenden Beispiele vor.
Die Verfahren für die Einführung und
Nachbereitung von Leitfäden weichen in ihrem jeweiligen Umfang
erheblich voneinander ab und reichen von der bloßen Aufforderung
an die Mitglieder zur Einhaltung der
Leitlinien bis zur Aufstellung eines
spezifischen abgestuften Umsetzungs- und Bewertungsverfahrens.
In 16 Sektoren wurden Leitfäden
vereinbart, wobei sich Landwirtschaft, Strombranche, Telekommunikation und Handel besonders produktiv bei der Ausarbeitung dieser Entwürfe zeigten. Ein
Beispiel dafür ist die gemeinsame
Erklärung, die die Partner im Telekommunikationssektor (ETNO und
UNI Europa) im Februar 2011 unterzeichneten, mit der eine Reihe
von Leitfäden für bewährte Methoden unter dem Titel „Gute Arbeit –
gute Gesundheit: Verbesserung des
psy­chischen Wohlbefindens der Arbeitnehmer im Telekommunikationssektor“ ge­fördert wurde.
Eine der bemerkenswertesten Initiativen für den branchenübergreifenden sozialen Dialog liegt
in Form von Leitfäden vor. Im Juli
2010 vereinbarten Partner in fünf
Sektoren auf EU‑Ebene 
– kommunale/regionale Behörden, Gesundheitswesen, Handel, private Sicherheitsdienste und Bildung 
– Leitfäden über die Bekämpfung der Gewalt und Belästigung durch Dritte am Arbeitsplatz. Die Leitlinien fordern die
Einführung einer „ergebnisorientierten Politik“ für dieses Problem an allen Arbeitsplätzen und
beschreiben praktische Schritte
zur Verringerung, Vorbeugung
Verhaltenskodizes sind ferner als
ausschließlich sektorales Instrument anzusehen und weniger als
allgemeingültige Leitfäden. Sie
wurden für Krankenhäuser, private
Sicherheitsdienste, die Zuckerindustrie, die Holzverarbeitung, das
Friseurgewerbe, die Schuhindustrie
(zwei Beispiele), die Lederwaren-/
Gerbereiindustrie, den Handel und
die Textil-/Bekleidungsbranche un­
terzeichnet. Die meisten Kodizes
sind weitreichend und befassen
sich mit verschiedenen Aspekten
von Beschäftigungsstandards oder
dem Bereich „Corporate Social
Responsibility“ (z. B. ein Verhaltens- und Ethikkodex für private Sicherheitsdienste, unterzeichnet im
Juli 2003). Einige Kodizes beschäftigen sich mit besonderen Fragen,
darunter
grenzüberschreitende
Personaleinstellung und -bindung
in Krankenhäusern unter ethischen
Gesichtspunkten (2008).
Typischerweise verpflichten Verhaltenskodizes ihre Unterzeichner zur
Umsetzung über ihre nationalen
Mitgliedsverbände und sehen die
Ergebnisberichte und -bewertung
(im Allgemeinen jährlich) vor.
69
Politische Leitlinien
Die branchenübergreifenden Sozialpartner haben zwei gemeinsamen Entwürfen zugestimmt, die als
politische Leitlinien gelten:
• Im Oktober 2003 beschlossen
die Partner die „Referenzleitlinien
für die Bewältigung des Wandels
und seiner sozialen Folgen“ auf
der Grundlage der Erfahrungen
aus einer Reihe von Fallstudien.
Dieses Dokument definiert Faktoren, die dazu dienen können,
negative Auswirkungen auf die
Beschäftigung und das soziale
Umfeld zu vermeiden oder zu
lindern.
• Im April 2005 einigten sich die
Partner auf einen Entwurf mit
dem Titel „Erfahrungen der
Europäischen Betriebsräte“, in
dem Faktoren, die die effiziente
Funktionsweise der EBR unterstützen, sowie etwaige Probleme
beschrieben werden.
Keiner der beiden Entwürfe machte
eindeutige Aussagen zum genauen
Status und zu den erwarteten Auswirkungen oder enthielt konkrete
Vorgaben zu Umsetzung oder
Folgemaßnahmen.
Auf Sektorebene wurden EU‑weite
politische Leitlinien vereinbart,
und zwar für die Sektoren Versicherungswesen, Strom (zwei Fälle),
Telekommunikation,
Eisenbahn
(zwei Beispiele), Catering, Bauwesen, Postdienste, Gaststättengewerbe, Reinigung, Handel und
Zuckerindustrie. Einige enthalten
umfangreiche Leitlinien zur Unternehmensführung und Corporate
70
Social Responsibility (CSR), darunter Entwürfe zur CSR für Handel
(2003), Gaststättengewerbe (2004),
Postdienste (2005), Catering (2007),
Telekommunikation (2007) und den
Stromsektor (2007). Andere sehen
Leitlinien zu spezifischen Themen
vor, darunter eine gemeinsame
Empfehlung vom Januar 2006 über
das Vorbeugen von berufsbedingtem Stress im Bausektor. Die sektorbezogenen politischen Leitlinien
enthalten im Allgemeinen Anweisungen zur Umsetzung, Überwachung und zu Folgemaßnahmen,
die unterschiedlich detailliert ausgeprägt sind.
Abbildung 3.
Verfahrensorientierte Entwürfe,
die auf sektoraler Ebene
vereinbart wurden, nach Typ
2%
17 %
22 %
Leitfäden
Politische Leitlinien
Verhaltenskodizes
Aktionsrahmen
59 %
Wesentliche Erfolge:
gemeinsame Stellung‑
nahmen/Erklärungen und
Instrumente
Gemeinsame
Stellungnahmen
Gemeinsame Stellungnahmen, die
im Allgemeinen für die EU‑Institutionen und/oder nationale Behörden
bestimmt sind, sind der bei Weitem
größte Beitrag des sozialen Dialogs
auf EU‑Ebene (siehe Abbildung 4).
Die 30 gemeinsamen Stellungnahmen, die branchenübergreifend er­
zielt wurden, stellen die Beiträge
der Sozialpartner zu verschiedenen
EU‑Debatten und Politiken dar, die
auf Betreiben der EU‑Institutionen
oder auf eigene Initiative verfasst
wurden. Etwa ein Drittel davon bildet den Beitrag der Sozialpartner
zur gesamten Beschäftigungs- und/
oder Wirtschaftsstrategie der EU.
Rund ein Fünftel bezieht sich auf
Vereinbarungen des EU‑weiten sozialen Dialogs, die Rolle der Sozialpartner oder institutionelle Fragen (wie
Vertragsänderungen). Die übrigen
Stellungnahmen befassen sich mit
spezifischen Politiken oder Initiativen 
– darunter EU‑Programme für
berufliche Weiterbildung – oder spezifischen Themen, wie die Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund
der Rasse oder die Weiterbildung.
Auf Sektorebene sind gemeinsame
Stellungnahmen die bevorzugten
Beiträge des sozialen Dialogs. Sie
wurden für alle Sektoren mit einem
ASSD vereinbart, ausgenommen eine
kleine Anzahl derjenigen mit erst
seit Kurzem bestehenden Dialogen.
Besonders zahlreich sind sie in den
Bereichen Seefischerei, Telekommunikation, Eisenbahnen, Zivilluftfahrt,
Landwirtschaft und Straßenverkehr.
Sektorale gemeinsame Stellungnahmen beschäftigen sich in der
Mehrheit mit wirtschaftlichen und/
oder sektoralen Fragen oder sozialen
Aspekten der jeweiligen EU‑Politik.
Abgesehen von diesen Themen
betreffen die behandelten Themen
zumeist die Bereiche Beschäftigung,
Arbeitsbedingungen,
Gesundheit
und Sicherheit, Weiterbildung, nachhaltige Entwicklung und Sozialdialog.
Naturgemäß erfordern die gemeinsamen Stellungnahmen keine ge­
sonderten Umsetzungs- und Folge­
maßnahmen, da sie hauptsächlich
dazu dienen, Ansichten darzustellen
und Beiträge zu liefern. Ihre Auswirkungen sind nicht quantifizierbar, da
ihr Einfluss auf die jeweils relevante
EU- oder nationale Politik nicht ohne
weiteres gemessen werden kann.
Abbildung 4. Gemeinsame
Stellungnahmen als Teil gemein‑
samer Entwürfe auf EU‑Ebene
Alle gemeinsamen Entwürfe
Branchenübergreifende
gemeinsame Entwürfe
54 %
44 %
Sektorale gemeinsame Entwürfe
0
10
20
30
40
55 %
50
60
71
Erklärungen
Werkzeuge
Erklärungen
beschreiben
im
Wesentlichen, was die Unterzeichner in einem bestimmten Bereich
zu tun gedenken. Die branchenübergreifenden Partner haben zehn
derartige Entwürfe vereinbart. Sie
umfassen die Arbeitsprogramme
der Partner selbst, ihren Beitrag
zum Europäischen Rat von 2001 in
Laeken (wo sie ihre Pläne für einen
eigenständigeren Dialog vorstellten – siehe S. 39) und mehrere Erklärungen, wie Partner bei spezifischen
EU‑Initiativen oder Politikbereichen
mitwirken sollen, darunter das
Europäische Jahr der Menschen mit
Behinderungen, die Europäische
Beschäftigungsstrategie und die
Förderung des sozialen Dialogs in
Bewerberländern. Alle Anzeichen
deuten darauf hin, dass die branchenübergreifenden Sozialpartner
im Großen und Ganzen den Erklärungen entsprechend Maßnahmen
ergriffen haben.
Die Entwicklung von Werkzeugen zur praktischen Anleitung
und Beratung erfolgt im Wesentlichen in den Sektoren, und es
liegen nur zwei branchenübergreifende Beispiele vor. Es handelt
sich um eine Beispielsammlung
aus dem Jahr 1999 für bewährte
Methoden die Beschäftigung von
Menschen mit Behinderungen
betreffend und eine Sammlung
aus dem Jahr 2000 über Initiativen
von Sozialpartnern in Bezug auf
EU‑Beschäftigungsleitlinien.
In der großen Mehrheit der Sektoren
mit sozialem Dialog wurden Erklärungen unterzeichnet. Die Sektoren
Chemie, Handel, Strom, Reinigung
und Telekommunikation scheinen
diese Art von Texten zu bevorzugen.
Die gängigsten Bereiche für Maßnahmen der Sozialpartner sind Weiterbildung/lebenslanges
Lernen,
Gesundheit und Sicherheit sowie
der soziale Dialog. Im Dezember
2009 gaben die Sozialpartner der
Zeitarbeitsbranche (Eurociett und
UNI Europa) eine Erklärung über
gemeinsame Maßnahmen mit dem
Ziel heraus, die Kompetenzen der
Zeitarbeiter zu verbessern.
72
Auf Sektorebene sind Werkzeuge
in einer etwas geringeren Anzahl
von Sektoren anzutreffen, als dies
bei gemeinsamen Stellungnahmen
und Erklärungen der Fall ist, sie wurden aber in mehr als der Hälfte der
Sektoren mit sozialem Dialog entwickelt, wobei sie oft die Form von
Werkzeugarsenalen, Leitfäden und
Sammlungen bewährter Methoden
annehmen, die auf EU‑finanzierten
Projekten beruhen. Die Sektoren,
die mit diesem Ansatz am weitesten
vorangekommen sind, sind Postdienste, private Sicherheitsdienste
und
Telekommunikation.
Die
Kernthemen sind Gesundheit und
Sicherheit sowie Weiterbildung/
lebenslanges Lernen. Ein Beispiel
dafür ist ein Werkzeugarsenal zur
Bekämpfung von Gewalt vonseiten Dritter im Handelssektor, das
von den sektoralen Sozialpartnern
(EuroCommerce und UNI Europa)
in Oktober 2009 erstellt wurde und
Unternehmen, Mitarbeitern und
nationalen Sozialpartnern praktische Anleitung bietet.
Abbildung 5. Gemeinsame
Stellungnahmen/Erklärungen
und Werkzeuge, die auf sektoraler
Ebene vereinbart wurden,
nach Typ
14 %
17 %
69 %
Gemeinsame Stellungnahmen
Erklärungen
Werkzeuge
Fehlschläge, Probleme und
Spannungen
Wenngleich der soziale Dialog auf
EU‑Ebene sowohl branchenübergreifend als auch sektorspezifisch
zahlreiche Vereinbarungen, Leitfäden und sonstige Ergebnisse hervorgebracht und auf europäischer
wie auf nationaler Ebene einiges
bewegt hat, verlief dieser Prozess in
keiner Weise reibungslos, einheitlich oder konfliktfrei. Die Beteiligten
hatten oftmals äußerst unterschiedliche Ziele und Erwartungen, was
zu Unstimmigkeiten und Stillstand
führte, während andererseits verschiedene Dialogstrukturen versagten und im Laufe der Jahre
verworfen wurden. So hat zum Beispiel der dreigliedrige Ständige Ausschuss für Beschäftigungsfragen die
meisten seiner ursprünglichen Ziele
nicht erreichen können und galt
immer mehr als größtenteils unsinniges Forum für die rituelle Zurschaustellung von Positionen, bevor
er schließlich abgeschafft wurde
(siehe Kasten 4).
Der zweigliedrige branchenübergreifende Dialog verlief mit wechselndem Erfolg. Der eigenständige
Teil des Dialogs verzeichnete Zeiten
verminderter Aktivität mit relativ
wenig Tagesordnungspunkten und
wenig Output an gemeinsamen
Stellungnahmen. Die Sozialpartner strukturierten ihren Dialog von
2003 bis 2010 durch drei Arbeitsprogramme, doch verloren diese
mit der Zeit wohl an Relevanz. Seit
dem Ende des dritten Programms
klafft eine Lücke, obzwar im ersten
Quartal 2012 die Vereinbarung eines
Programms für 2012-2014 erwartet wird. Zwar wurden die meisten
Maßnahmen der Programme durchgeführt, doch gelang dies nicht bei
allen, darunter eine gemeinsame
Stellungnahme über Schwarzarbeit
im Programm für 2003-2005. Einige
Verhandlungen scheiterten, wie z. B.
2009 in Bezug auf die gemeinsame
Erklärung über Maßnahmen zur
Bewältigung der Wirtschaftskrise
(siehe S. 83).
Im Hinblick auf den branchenübergreifenden sozialen Dialog, der
auf Anhörungen der Kommission
zurückgeht, übertreffen die Fragen, die die Sozialpartner nicht verhandeln wollen oder können, bei
weitem die Erfolge, die sich in Vereinbarungen niederschlagen. Beispielsweise führten die Sozialpartner
73
keine Verhandlungen im Anschluss
an Anhörungen zu Fragen wie
sexuelle Belästigung (1996-1997),
Unterrichtung und Anhörung der
Arbeitnehmer auf nationaler Ebene
(1997) (obwohl in diesem Fall die
Partner zumindest die Gespräche
analysierten), Zahlungsunfähigkeit
des Arbeitgebers (2000) oder Übertragbarkeit der betrieblichen Altersversorgung (2002-2003). 2000-2001
wurden zwar Verhandlungen über
die Zeitarbeit aufgenommen, diese
scheiterten jedoch.
74
Bei verschiedenen Themen unternahm die Kommission über einen
längeren Zeitraum hinweg wiederholte Anläufe, die Sozialpartner zu
Verhandlungen zu bewegen, dies
führte jedoch nicht zu einer Vereinbarung oder wesentlichen gemeinsamen Entwürfen. Dies war der Fall
bei den EBR, der Unternehmensrestrukturierung und der möglichen
Änderung der Arbeitszeitrichtlinie
(2003/88/EG). Die Sozialpartner
stimmten jedoch 2008 schließlich
einem „gemeinsamen Gutachten“
über Änderungen der Betriebsratsrichtlinie zu (siehe S. 40), und im
Dezember 2011 nahmen sie Verhandlungen über die Arbeitszeit
auf. Es ist eine neue Anhörung über
die Restrukturierung vorgesehen.
die Arbeitgeberverbände, insbesondere BusinessEurope, neuen
EU‑Vorschriften für Arbeitnehmerrechte grundsätzlich ablehnend
gegenüber stehen und die Meinung
vertreten, dass dies auf nationaler
Ebene zu regeln sei, falls derartige
Angelegenheiten überhaupt einer
gesetzlichen Regelung bedürften.
Wenn die Kommission Anhörungen über etwaige Maßnahmen
durchführt und Gesetzesvorlagen bevorzustehen scheinen, sind
Arbeitgeber eher bereit, mit dem
EGB über das betreffende Thema
zu verhandeln, da ihnen diese
Option größeren Einfluss auf den
Ausgang verschafft – die Verhandlungen über eine Vereinbarung
werden also als das „kleinere Übel“
angesehen. Dagegen zeigt der EGB,
obwohl bestrebt, direkten Einfluss
auszuüben und die Tarifautonomie der Sozialpartner zu wahren,
wenig Neigung, eine Vereinbarung
zu unterzeichnen, die ihren Mitgliedern erheblich weniger Vorteile
bringt als eine EU‑weit geltende
Gesetzgebung. Diese Spannungen
bedeuten, dass echte Verhandlungen und Vereinbarungen nur relativ
selten zustande kommen, und das
auch nur, wenn alle erforderlichen
Voraussetzungen ordnungsgemäß
erfüllt sind.
Die Antworten der branchenübergreifenden Partner auf die Anhörungen laut Artikel 154 gestalteten sich
je nach Ansicht und Beweggrund
verschieden. Allgemein formuliert, tritt der EGB für die Schaffung
rechtsverbindlicher neuer EU‑weiter
Rechte und Schutzmechanismen
für die Arbeitnehmer ein, während
Der sektorale soziale Dialog hat auch
mit Schwierigkeiten zu kämpfen.
Wie die SCE (Europäische Genossenschaft) tendierten die frühen
sektoralen Dialogstrukturen dazu,
überinstitutionalisiert und ineffektiv zu werden; sie wurden daher
1998 durch die harmonisierten
ASSD ersetzt. Aus dem Gesamtbild
der sektoralen Strukturen in den
letzten 50 Jahren ergibt sich, dass
ihre Aktivitäten dazu neigen, im
Laufe der Zeit erheblich zu schwanken, mit Zeiten der Ruhe und des
Wiederauflebens. Sie folgen dabei
allgemein der Entwicklung der
jeweiligen EU‑Politik, die für ihren
Industriezweig maßgeblich ist, sind
aber auch Reaktion auf Differenzen
zwischen den Sozialpartnern.
Die ASSD können Schwierigkeiten
mit ihrem Vertretungsanspruch
haben, die auf die wechselnde
Zusammensetzung ihrer Sektoren zurückzuführen sind. Den Mitgliedsverbänden der Sozialpartner
in einigen Ländern kann es an der
Fähigkeit mangeln, vollständig am
Dialog teilzunehmen oder die vereinbarten Ziele zu erreichen. Da die
meisten sektoralen Organisationen
der Sozialpartner auf EU‑Ebene
nur über begrenzte Fähigkeiten
verfügen, Einfluss auf ihre nationalen Mitglieder zu nehmen, können
Folgemaßnahmen und Umsetzung
in Bezug auf die Ergebnisse ein
Problem darstellen. In einigen Sektoren, wo große multinationale
Unternehmen bestimmend sind
(z. B. Stahl, Telekommunikation,
Chemie und Zivilluftfahrt), kann es
sich als schwierig erweisen, Vereinbarungen auf EU‑Sektorebene auszuhandeln, weil Arbeitgeber- und
Arbeitnehmervertretungen eher auf
Unternehmensebene verhandeln
wollen, so wie im Rahmen der EBR.
75
© ILO PHOTO
IAO‑Meldung
Juan Somavia
Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO)
Ausschnitte aus der Ansprache vor dem Europäischen Parlament, Straßburg,
14. September 2011
Nach jahrzehntelangen sozialen Kämpfen am Ende des 19. und zu Beginn
des 20. Jahrhunderts schufen [die Gründer der Internationalen Arbeitsorganisation] eine dreigliedrige Institution zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit,
damit durch internationale Arbeitsmarktstandards der Friede gesichert werden könne.
Man war überzeugt, dass die Arbeitskraft keine Ware ist, dass Armut immer
eine Gefahr für den Wohlstand im Allgemeinen darstellt, egal wo sie herrscht.
Unsere Gründer waren durchaus praktisch veranlagt. Sie begriffen, dass die
gleichberechtigte Zusammenarbeit von Regierungen, Arbeitnehmer- und
Arbeitgebervertretern der Schlüssel zur Erreichung fairer Ergebnisse für alle
war.
Sie erfanden den internationalen sozialen Dialog und boten große Unterstützung und Handlungsspielraum für Arbeitnehmerorganisationen und
Tarifverhandlungen.
Die EU und die IAO sind sich darin einig, dass dauerhafter Friede nur durch
regionale und internationale Zusammenarbeit für soziale Gerechtigkeit gesichert werden kann, wobei die Politik auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sein muss. …
Der soziale Dialog [bringt] Regierungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer
zusammen, um im Wege des Konsens Politiken zu konzipieren, die seriös,
effektiv und gerecht sind. … In der Europäischen Union bestehen große
beschäftigungs- und sozialpolitische Herausforderungen in Bezug auf
Erwerbsarmut, prekäre Arbeitsbedingungen, Niedriglöhne, soziale Ausgrenzung, Langzeitarbeitslosigkeit. … Der soziale Dialog [ist] ein Katalysator für eine gut funktionierende Realwirtschaft. Der echte Dialog mit
anerkannten Sozialpartnern ist von grundlegender Bedeutung für die
Auslotung realwirtschaftlicher Optionen in Unternehmen, die Förderung
menschenwürdiger Arbeitsbedingungen und das Respektieren der Tarif­
autonomie. …
76
Die Neuausrichtung der Weltwirtschaft … erfordert mehr Hinwendung zu
Beschäftigung, Sozialschutz und zum sozialen Dialog. … Das Gewicht der
Europäischen Union macht sie zu einem Schlüsselfaktor bei der Bewältigung
der Globalisierung. Die EU muss ihre Fähigkeit zur Verteidigung, Erhaltung
und Weiterentwicklung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells
vollständig einsetzen, um die Globalisierung fairer zu gestalten.
http://www.ilo.org/global/about‑the‑ilo/press‑and‑media‑centre/
statements‑and‑speeches/WCMS_162828/lang–en/index.htm
77
78
© iStock
Kapitel 5
Der soziale Dialog und die Krise
Der soziale Dialog existiert nicht im
luftleeren Raum. Er wird durch sein
institutionelles, politisches, wirtschaftliches und soziales Umfeld
geformt. Es versteht sich von selbst,
dass seit 2008 das Umfeld wesentlich durch die Finanz-, Wirtschaftsund Schuldenkrise beherrscht wird,
die Europa plagt. Die Bewältigung
der Krise steht in vielen Mitgliedstaaten im Mittelpunkt des sozialen
Dialogs, und der Prozess hat die verschiedenen Formen und Fähigkeiten der nationalen Dialogsysteme
deutlich gemacht. Auf EU‑Ebene
war die Reaktion des sozialen Dialogs auf die Krise jedoch wohl weniger klar ausgeprägt.
Die Reaktion
des sozialen Dialogs
auf nationaler Ebene
In den Mitgliedstaaten haben die
Sozialpartner ihre Ansichten zur Krise gegenüber ihrer Regierung zum
Ausdruck gebracht und ihre Gegenmaßnahmen über verschiedene nationale Beratungs- und Abstimmungsverfahren koordiniert
(siehe S. 51). Genauer gesagt, wurden in den kritischsten Momenten
der Krise zwischen 2008 und 2010
in mindestens 16 Mitgliedstaaten
Anstrengungen unternommen, um
zwei- oder dreigliedrige nationale
branchenübergreifende Vereinbarungen über ein Maßnahmenpaket
zu erzielen, das auf verschiede­ne
Aspekte der Wirtschaftskrise ab­
zielte.
In elf Ländern wurde eine gewisse
Form von Vereinbarung erzielt – in
Belgien, Bulgarien, Estland, Frankreich, Lettland, Litauen, den Niederlanden, Polen, der Slowakei, Spanien
und der Tschechischen Republik (im
Falle einer zweigliedrigen Vereinbarung) (siehe Beispiele in Kasten 14).
In den baltischen Staaten, der Tschechischen Republik und Polen stellen
diese Vereinbarungen ein Novum
im nationalen sozialen Dialog dar.
Gegenstand der Vereinbarungen
waren Themenbereiche wie Kurzarbeit, Lohnzurückhaltung, Maßnahmen die Lohnnebenkosten betreffend,
Beschäftigungsprogramme
und Unterstützung von Arbeitslosen, Flexibilität am Arbeitsplatz
sowie Weiterbildung/lebenslanges
Lernen.
In Ländern wie Dänemark, Deutschland, Österreich und Slowenien, wo
keine Vereinbarungen zur Krisenbewältigung erzielt wurden, waren die
Sozialpartner dennoch maßgeblich
insbesondere an der Verbesserung
bestehender Kurzarbeiterregelun­
gen (wobei Arbeitnehmer ihre
Arbeitszeit vorübergehend vermindern und einen Ausgleich für die
Lohneinbuße erhalten, statt arbeitslos zu werden) oder der Einführung
neuer Regelungen beteiligt.
79
Trotzdem konnten auch bestehende
branchenübergreifende Vereinbarungen des sozialen Dialogs nicht
immer zur Bewältigung der Krise
beitragen. Gespräche über Vereinbarungen zur Krisenbewältigung
endeten in Finnland, Irland, Luxemburg, Slowenien, Spanien und
Ungarn (im Falle einer dreigliedrigen
Vereinbarung) ergebnislos. In Irland,
Slowenien und Spanien führten die
krisenbedingten Spannungen und
die
Meinungsverschiedenheiten
über geeignete Maßnahmen zur
Krisenbewältigung (zumindest zeitweise) zum Kollaps langjähriger
branchenübergreifender zwei- bzw.
dreigliedriger Vereinbarungen. Dreigliedrige Vereinbarungen gerieten
ebenfalls in Ländern wie Bulgarien
unter Druck.
In Ländern wie Griechenland, Malta,
Portugal, Rumänien, Schweden, dem
Vereinigten Königreich und Zypern
gab es nur wenige oder gar keine
gemeinsamen branchenübergreifenden Maßnahmen zur Krisenbewältigung seitens der Sozialpartner.
Der nationale soziale Dialog auf
Sektor‑Ebene (sofern er existiert –
siehe S. 10) spielte bei der Krisenbewältigung ebenfalls eine wichtige
Rolle. Zwischen 2008 und 2010 gab
es Beispiele für besondere sektorale Vereinbarungen über Themen
wie Kurzarbeit oder die Einbeziehung von Krisenbewältigungsmaßnahmen in reguläre Tarifverträge,
darunter Unterstützung von Arbeitslosen oder die Schaffung größerer
80
Flexibilität und/oder die Dezentralisierung der Lohnfestsetzung. Diese
sektoralen
Abhilfemaßnahmen
waren sowohl auf nationaler als
auch auf Sektor‑Ebene nur Flickwerk. Die Vereinbarungen waren
größtenteils auf Belgien, Dänemark,
Deutschland, Finnland, Frankreich,
Italien, die Niederlande und Schweden beschränkt und fehlten insbesondere in vielen Mitgliedstaaten,
die 2004 und 2007 der EU beitraten.
Die Vereinbarungen waren ferner
im verarbeitenden Gewerbe – und
vor allem in der Metallverarbeitung – weitaus verbreiteter als im
Dienstleistungssektor.
Ein Beispiel für eine sektorale Gegenmaßnahme war eine Vereinbarung
im März 2009, die das gesamte verarbeitende Gewerbe Schwedens einbezog. Diese Vereinbarung erlaubte
zeitweilig die Einführung der Kurzarbeit, die in Schweden normalerweise
unzulässig ist, um Arbeitslosigkeit
während des Konjunkturabschwungs
zu vermeiden. Der Einsatz der Kurzarbeit erforderte eine lokale Vereinbarung. Die betroffenen Arbeitnehmer
erhielten mindestens 80 % des normalen Verdienstes, und während der
nicht geleisteten Arbeitszeit sahen
die lokalen Vereinbarungen gegebenenfalls Weiterbildungsmaßnahmen
vor.
Allgemein wurde bei Tarifverträgen
und im sozialen Dialog auf allen
Ebenen und europaweit mit großflächiger Mäßigung bei Lohn- und
Gehaltsrunden auf die Krise reagiert.
Kasten 14. Beispiele für branchenübergreifende
Vereinbarungen, 2008-2010
• Die belgischen Sozialpartner reagierten mit ihrem branchenübergreifenden Tarifvertrag für 2009-2010 (diese Vereinbarungen
werden normalerweise alle zwei Jahre geschlossen) auf die Krise,
der darauf abzielte, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, Kaufkraft der Arbeitnehmer
und dem Beschäftigungsniveau herzustellen. Er sah moderate
Steigerungen der Kaufkraft, Steuersenkungen bei Nachtarbeit
und Überstunden, die Erhöhung der Kurzarbeitervergütung und
Steuersenkungen vor, um Arbeitgeber zur Einstellung von Langzeitarbeitslosen zu bewegen.
• Die bulgarische Regierung und die Sozialpartner erzielten im März
2010 eine dreigliedrige Vereinbarung über ein weitreichendes
Paket von Krisenbewältigungsmaßnahmen. Die beschäftigungsbezogenen Maßnahmen umfassten: einen Mechanismus zur
Anhebung des Mindestlohns, Erhöhung des Arbeitslosengeldes,
Programme zur Förderung von Beschäftigung in Unternehmen
in schwieriger Lage, Beschäftigungszuschüsse und Stärkung der
Arbeitskräftemobilität.
• Zwischen Februar und April 2010 vereinbarten die tschechischen Sozialpartner und die Regierung eine Reihe von kurzfristigen Krisenbewältigungsmaßnahmen. Diese umfassten
Weiterbildungsprogramme, eine mögliche größere Steuerharmonisierung zwischen Arbeitnehmern und Freiberuflern,
Maßnahmen zur Bekämpfung des unrechtmäßigen Bezugs von
Arbeitslosengeld und die Möglichkeit der Einführung neuer
Kurzarbeiterregelungen.
• In Estland wurde im März 2009 ein dreigliedriges Abkommen
getroffen, das die Grundlagen für die Aufrechterhaltung des
Beschäftigungsniveaus enthielt, darunter Lebenslanges Lernen
und flexible Beschäftigungsverhältnisse sowie die effektivere
Unterstützung von Arbeitslosen.
• Im Juli 2009 konnten sich die Sozialpartner in Frankreich auf eine
Vereinbarung auf nationaler Ebene einigen, die sich mit den krisenbedingten Folgen für die Beschäftigungssituation befasst.
Dies umfasste: die Erweiterung der gesetzlichen Kurzarbeiterregelung auf weitere Arbeitnehmergruppen, eine Verlängerung der
Anspruchsdauer auf Kurzarbeitergeld, ein Rahmen für „Mitarbeiter‑Leasing“ unter Unternehmen, die Förderung der geografischen
und Beschäftigungsmobilität der Arbeitnehmer, verbesserte Maßnahmen als Hilfe zur Wiedereinstellung von Arbeitslosen und
81
Unterstützung für spezielle Zielgruppen wie Langzeitarbeitslose.
• Im Juni 2009 wurde in Lettland ein dreigliedriges Abkommen zur
Verminderung des Haushaltsdefizits geschlossen, das sowohl die
Erhöhung der Staatseinnahmen als auch die Kürzung der Staatsausgaben vorsah, darunter Kürzungen bei Löhnen und Gehältern
sowie Renten und Leistungen im Staatssektor.
• Eine dreigliedrige Vereinbarung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik auf nationaler Ebene im Falle eines Konjunktureinbruchs, die
im Oktober in Litauen unterzeichnet wurde, befasste sich mit
Bereichen wie Steuern, öffentliche Ausgaben, das Lohngefüge im
öffentlichen Dienst, die Kürzung von Sozialleistungen, die Reform
des öffentlichen Dienstes, wirtschaftliche Anreize, Bildung und
Weiterbildung sowie die Bekämpfung der Schattenwirtschaft.
• Im Oktober 2008 erzielten die niederländische Regierung und
die Sozialpartner eine weitreichende Vereinbarung zu Themen
wie Zurückhaltung bei Lohnforderungen, Senkung der Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung, Reform des Kündigungsschutzes,
Unterstützung von Geringverdienern und benachteiligten Gruppen, Schaffung von Arbeitsplätzen und Weiterbildung. Im März
2009 schloss die aus zwei Partnern bestehende Stiftung der Arbeit
eine Vereinbarung zur Bewältigung der Krise, die den Zeitraum
von 2009 bis 2010 betraf und Fragen der Beschäftigung, Lohnzurückhaltung, Weiterbildung, Unterstützung Arbeitsloser und der
flexiblen Beschäftigung behandelte.
• Im März 2009 trafen die polnischen Sozialpartner eine zweigliedrige Vereinbarung über ein Paket von Krisenbewältigungsmaßnahmen, darunter größere Arbeitszeitflexibilität, die Einführung
einer Kurzarbeiterregelung und Beschränkungen für befristete
Arbeitsverhältnisse sowie Mindestlohn, soziale Sicherheit und
steuerliche Maßnahmen.
82
Die Reaktion des sozialen
Dialogs auf EU‑Ebene
Während die Sozialpartner ihren
Beitrag zur EU‑Debatte über die
Bewältigung der Krise leisteten, insbesondere durch den Dreigliedrigen
Sozialgipfel (siehe Kasten 10), fiel ihre
gemeinsame Reaktion auf branchenübergreifender Ebene bescheiden
aus. 2009 führten die Sozialpartner
eine Diskussion in Bezug auf eine
gemeinsame Erklärung über Maßnahmen zur Krisenbewältigung, die
jedoch an den verschiedenen Auffassungen über die Ursachen der
Krise und die geeigneten Gegenmaßnahmen scheiterte. Es gelang
ihnen allerdings, einen gewissen
Konsens über einige Aspekte der
Krisenbewältigung zu erzielen, der
seinen Ausdruck in einem gemeinsamen Statement über die neue Strategie Europa 2020 der EU fand (siehe
S. 87). Beispielsweise:
• wurde darin hervorgehoben, dass
uns die Krise vor Augen geführt
hat, das es höchste Zeit ist, die
langfristigen Herausforderungen
der EU – darunter die Globalisierung, eine alternde Bevölkerung
und der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft – durch
eine kohärente und zielorientierte
politische Agenda anzugehen;
• wurde nach einer Strategie verlangt, die Europa auf einen nachhaltigen Wachstumskurs bringt
und eine rasche Rückkehr zu mehr
und besseren Arbeitsplätzen
sichert, wobei gleichzeitig haushaltspolitische
Nachhaltigkeit
gewährleistet wird;
• wurde die Bedeutung hervorgehoben, die richtigen Schlüsse
aus der Krise zu ziehen und so
zu gewährleisten, dass die Fehler der Vergangenheit sich nicht
wiederholen – das heißt konkret,
die Reformierung des globalen
Finanzsystems, die Bewältigung
der Jobkrise und die Wiederherstellung und Verbesserung des
dynamischen Wachstums;
• wurde vorgebracht, dass Europa
2020 ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Maßnahmen zur
Bewältigung der krisenbedingten Arbeitslosigkeit und den
Reformen im Hinblick auf die
mittel- und langfristigen Herausforderungen des Arbeitsmarktes
herstellen solle, insbesondere
durch Modernisierungs- und
Flexicurity‑Maßnahmen;
• wurde festgestellt, dass die Lohnpolitik, für die ausschließlich die
Sozialpartner zuständig sind,
gewährleisten soll, dass Reallohnzuwächse an die Produktivitätsentwicklung gekoppelt werden,
während Lohnnebenkosten nach
Möglichkeit gesenkt werden
sollen, um die Nachfrage nach
Arbeitskräften zu stärken.
Des Weiteren enthält die branchenübergreifende
Vereinbarung
der Sozialpartner über integrative
Arbeitsmärkte vom März 2010 (siehe
S. 64), obwohl nicht als Krisenabhilfe
gedacht, Bestimmungen in Bezug auf
die Bewältigung der krisenbedingten
Beschäftigungsprobleme, darunter
Maßnahmen zur Unterstützung von
Jugendlichen bei der Arbeitsplatzsuche. Im Wortlaut: „Das schwierige
wirtschaftliche und soziale Klima,
in dem diese Rahmenvereinbarung
2008-2009 ausgehandelt wurde,
83
stärkt den Willen der Sozialpartner
zur Zusammenarbeit, um integrative Arbeitsmärkte zu fördern, das
gesamte Arbeitskräftepotenzial Europas voll auszuschöpfen, die Beschäftigungsquote zu erhöhen und die
Arbeitsplatzqualität zu verbessern,
einschließlich Weiterbildung und
Entwicklung von Kompetenzen.“
Auf Sektorebene haben sich verschiedene Ausschüsse auf gemeinsame
Entwürfe geeinigt und dabei die
Auswirkungen auf ihre Branche hervorgehoben, wobei sie die EU- und
nationalen Behörden zu Maßnahmen
zur Abmilderung aufforderten (siehe
Beispiele in Kasten 15). Substanziellere Reaktionen blieben zumeist aus –
eine seltene Ausnahme bildet eine
gemeinsame Erklärung vom März
2009 vonseiten der Sozialpartner des
Chemiesektors (ECEG und EMCEF)
über (zeitlich befristete) Entlassungen
oder Kurzarbeit und ähnliche Maßnahmen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Neben der Forderung an die
EU- und nationalen Behörden nach
finanzieller und sonstiger Unterstützung für Unternehmen und Arbeitnehmer enthielt die Erklärung einige
Grundzüge für nachrangige Sozialpartner und die Empfehlung, dass:
• Entlassungen oder Kurzarbeit nur
nach Beratung mit den Arbeitnehmern und deren Vertretern erfolgen sollen;
84
• wo Entlassungen oder Kurzarbeit auftreten, jede Anstrengung
unternommen werden soll, um
die frei gewordene Zeit für die
Verbesserung der Kompetenzen
der Arbeitnehmer durch Weiterbildung und Bildung zu nutzen;
• Weiterbildung, die während Zeiten der Entlassung oder Kurzarbeit erfolgt, bescheinigt werden
sollte, um sicherzustellen, dass
erworbene Kompetenzen nicht
verloren gehen, so dass der Sektor
in Zukunft über wertvolle Humanressourcen verfügt, wenn sich die
wirtschaftliche Lage gebessert
hat.
Die Fähigkeit des sozialen Dialogs
auf EU‑Ebene, Möglichkeiten zur
Bewältigung gewisser Aspekte der
Krise zu finden, ist bis zu einem
gewissen Grad unbekannt, wobei
das Potenzial allerdings noch nicht
völlig ausgeschöpft zu sein scheint.
Möglicherweise neigen Gewerkschaften und Arbeitgeber in Zeiten
wirtschaftlicher Schwierigkeiten da­­
zu, ihre Anstrengungen auf die nationale und Unternehmensebene zu
konzentrieren, wo der Kampf um
Arbeitsplätze und das wirtschaftliche Überleben am härtesten und
unmittelbar spürbar ist und häufig
vor dem Hintergrund des Drucks auf
Vereinbarungen des nationalen Dialogs stattfindet.
Kasten 15. Gemeinsame Statements auf der Ebene
des EU‑weiten sektoralen sozialen Dialogs zur
Krisensituation
• In einer „gemeinsamen Antwort“ vom Dezember 2008 auf die Wirtschaftskrise forderten die Partner im Handelssektor (EuroCommerce
und UNI Europa) Maßnahmen in Bezug auf die Stützung der Kaufkraft
der Verbraucher, den Zugang zu bezahlbaren Krediten, die Erhaltung
der Arbeitsplätze und Förderung der Weiterbildung.
• Die lokalen und regionalen Sozialpartner auf staatlicher Ebene (CEMR
und EPSU) ließen den Teilnehmern am Treffen des Europäischen Rates
vom März 2009 eine gemeinsame Mitteilung zukommen, in der sie
geeignete finanzielle Mittel forderten, um den gestiegenen Bedarf zu
decken, und die Bedeutung der Erhaltung der Arbeitsplätze im Sektor
betonten. Sie einigten sich auf ein weiteres gemeinsames Statement,
in der sie ihre Positionen zur Wirtschaftskrise anlässlich des Treffens des
Europäischen Rates vom Februar 2010 erneut bekräftigten.
• Im Mai 2009 erarbeiteten die Sozialpartner des Sektors Straßenverkehr
(ETF und IRU) ein gemeinsames Statement über die Auswirkungen
der Krise auf ihren Sektor. Sie legten ein sechs Punkte umfassendes
Konjunkturprogramm vor, das unter anderem den Zugang zu Kreditmitteln, Investitionen und den EU‑weiten Einsatz von Kurzarbeiterregelungen vorsah.
• Die Sozialpartner der darstellenden Künste (EAEA und Pearle) verfassten im Mai 2009 ein gemeinsames Statement, in der Maßnahmen zur
Wiederherstellung des Verbrauchervertrauens, verbesserter Zugang
zu Finanzierungsmöglichkeiten und Krediten für KMU, die Unterstützung staatlicher Finanzierung und die Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität verlangt wurden.
• Die Sozialpartner des Bausektors (EFBH und FIEC) verfassten im Juni
2009 eine gemeinsame Erklärung zur Weltwirtschaftskrise und ihren
Folgen für den Sektor. Darin wurde von den Behörden auf EU- und nationaler Ebene verlangt, eine Reihe von Maßnahmen zur Unterstützung
der Industrie zu treffen, darunter verstärkte öffentliche Investitionen.
Die Partner verfassten im Januar 2010 einen weiteren gemeinsamen
Aufruf, in dem sie die EU und die Mitgliedstaaten aufforderten, die Maßnahmen zur Schaffung einer nachhaltigen Bauindustrie zu verstärken.
• Zu den weiteren sektoralen Ausschüssen, die gemeinsame Entwürfe
zur Krise angenommen hatten, zählen diejenigen in der Holzverarbeitung, Möbelindustrie, Binnenschifffahrt und Chemiebranche, während
es ebenfalls in Industriezweigen wie Bekleidung und Textil, Gerbereiund Lederwarenindustrie sowie Schuhindustrie zu entsprechenden
Diskussionen kam.
85
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© 123RF
Kapitel 6 
Künftige Entwicklungen und Herausforderungen
Die Sozialpartner und Europa 2020
Grundlegend für den EU‑Ansatz zur
Überwindung der Krise ist die Strategie Europa 2020 für mehr Wachstum,
die 2010 beschlossen wurde. Ziel ist
es, eine intelligente, nachhaltige und
integrative Volkswirtschaft in Europa
aufzubauen, die sich durch eine hohe
Beschäftigungsquote, hohe Produktivität und starken sozialen Zusammenhalt auszeichnet. Die Strategie
umfasst Ziele im Bereich Beschäftigung (Erreichung einer EU‑weiten
Beschäftigungsquote von 75 % bis
2020), Forschung und Entwicklung,
Treibhausgasemissionen und Energie, Bildung und Armutsbekämpfung. Die Mitgliedstaaten haben sich
in Anlehnung an die EU‑Vorgaben
eigene nationale Ziele gesetzt und
nationale Reformprogramme zur
Umsetzung der Strategie eingeleitet. Die Umsetzung von Europa
2020 wird außerdem durch sieben
EU‑Leit­initiativen gestützt, darunter
die „Agenda für neue Kompetenzen
und neue Beschäftigungsmöglichkeiten“ und die Initiative „Jugend in
Bewegung“, durch die die Bildung
und die Beschäftigungslage Jugendlicher verbessert werden sollen.
Die Mitwirkung der Sozialpartner
wird von der Europäischen Kommission als Schlüsselelement zur Umsetzung von Europa 2020 angesehen.
Dies kommt am deutlichsten in der
Agenda für neue Kompetenzen und
neue Beschäftigungsmöglichkeiten
zum Ausdruck.
Die Agenda für neue Kompetenzen
und neue Beschäftigungsmöglichkeiten ist ein Maßnahmenpaket,
das sich mit der Modernisierung
der Arbeitsmärkte befasst und darauf abzielt, die Beschäftigungsquoten zu erhöhen und Menschen
beim Erwerb neuer Kompetenzen
zu unterstützen. Dadurch sollen
einerseits die Arbeitnehmer in die
Lage versetzt werden, sich auf neue
Bedingungen und einen eventuellen Berufswechsel vorzubereiten,
und andererseits Arbeitslosigkeit
vermindert und Arbeitsproduktivität erhöht werden. Um die Agenda
durchsetzen zu können, ist die Kommission bestrebt, die Leistungsfähigkeit der Sozialpartner zu steigern
und das Problemlösungspotenzial
des sozialen Dialogs auf allen Ebenen voll auszuschöpfen (auch auf
EU‑Ebene). Die Kommission hat die
Sozialpartner auf EU‑Ebene in vielen Bereichen einbezogen, darunter
bei der Festlegung und Umsetzung
weiterer
Flexicurity‑Maßnahmen
und bei der Umsetzung der Grundzüge des Lebenslangen Lernens
(u. a. Anhörung der Partner zur Entwicklung einer eigenen Initiative
in diesem Bereich). Es wurde ferner
stets die Rolle der Sozialpartner
bei der Umsetzung der Initiative
„Chancen für junge Menschen“ vom
Dezember 2011 betont, z. B. durch
die Erstellung von Programmen für
Weiterbildung am Arbeitsplatz. Die
Kommission hat ein „dreigliedriges
87
Sozialforum“ eingerichtet, insbesondere um zu gewährleisten, dass die
Sozialpartner auf EU‑Ebene an der
Umsetzung der Agenda für neue
Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten und im weiteren Sinne an der Strategie Europa
2020 mitwirken können.
Die branchenübergreifenden Sozialpartner verfassten im Juni 2010
ein gemeinsames Statement zur
Strategie Europa 2020. In diesem
Statement wurden Empfehlungen
zu politischen Prioritäten der EU und
der Mitgliedstaaten in Bereichen wie
Beschäftigung, Wirtschaftspolitik,
öffentliche Finanzen, Investitionen,
Besteuerung, öffentlicher Dienst,
soziale Sicherheit, Bildung, Weiterbildung und Forschung formuliert.
Es wurde eine stärkere Beteiligung
der Sozialpartner auf allen Ebenen
angemahnt, und zwar bei Entwurf
und Überwachung EU‑weiter und
nationaler Reformstrategien. Ferner
wurde im Bedarfsfall Unterstützung
bei der Entwicklung der Fähigkeiten
der Sozialpartner gefordert. Insbesondere sollen die Sozialpartner
aktiv an der Konzeption und der
Umsetzung von Flexicurity‑Politiken
mitarbeiten.
Flexicurity ist ein Ansatz für Beschäftigungspolitik, der Flexibilität an
den Arbeitsmärkten, Arbeitsorganisation und Beschäftigungsbeziehungen mit Beschäftigung und
sozialer Sicherheit kombiniert. Die
branchenübergreifenden
Sozialpartner haben einen großen Beitrag
(eine gemeinsame Analyse der Herausforderungen des europäischen
Arbeitsmarktes) zu den EU‑weiten
88
Grundsätzen der Flexicurity geleistet, die 2007 vom Rat angenommen
wurden und für die EU‑Beschäftigungspolitik maßgebend sind. Im
Rahmen ihres Arbeitsprogramms
für 2009-2010 erstellten die branchenübergreifenden Partner eine
gemeinsame Studie über die Rolle
der Sozialpartner bei der Umsetzung dieser Grundsätze. Im November 2011 zogen Kommission und
Sozialpartner auf einer Stakeholder‑Konferenz Bilanz in Bezug auf
die Umsetzung der Flexicurity‑Maßnahmen. Hierbei sind insbesondere
der Beitrag der Sozialpartner und die
Unterstützung für künftige Maßnahmen in diesem Bereich im Rahmen
von Europa 2020 und des Beschäftigungspakets, das 2012 von der Kommission vorgestellt werden soll, von
vorrangiger Bedeutung.
Hinsichtlich des umweltbezogenen
Teils von Europa 2020 haben die
branchenübergreifenden Sozialpartner bereits eine erste gemeinsame
Studie über die Auswirkungen des
Klimawandels auf die Beschäftigung
durchgeführt. Die Arbeit zu diesem
Thema ist wohl noch nicht abgeschlossen und wird durch die Schaffung eines Anhörungsmechanismus
zum Klimawandel, an dem verschiedene Dienststellen der Kommission
mitwirken werden, vorangebracht.
Ein robuster Dialog,
der trotz Rückschlägen
fortbesteht
Seit seinem Beginn vor 50 Jahren
hat der soziale Dialog auf EU‑Ebene
bei der politischen Entscheidungsfindung und Gestaltung enorm an
Umfang und Bedeutung gewonnen.
Er ist nun in den Vertragswerken und
institutionellen Vereinbarungen der
EU tief verankert. Er bewirkte neun
Richtlinien und ähnlich viele Vereinbarungen, die von den Sozialpartnern selbst umgesetzt wurden und
Millionen Arbeitnehmern in ganz
Europa spürbare Vorteile brachten.
Er hat außerdem zahlreiche weitere
Instrumente hervorgebracht, die
bei der europaweiten Verbreitung
bewährter Methoden und hoher
Standards sehr hilfreich waren. Der
Dialog hat den europäischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine
Stimme verliehen, die bei wichtigen
Debatten über die Entwicklung und
Zukunft der EU Gehör findet. Der sektorbezogene Dialog hat in Branchen
Eingang gefunden, die drei Viertel
der Arbeitnehmer der EU beschäftigen, und leistete einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung vieler
sektorspezifischer EU‑Politiken.
Das Wachstum und die Weiterentwicklung des sozialen Dialogs verliefen jedoch nicht als reibungsloser
oder geradliniger Prozess. Im Laufe
der Jahre gab es Erfolge, Fortschritte
und Zeiten intensiver gemeinsamer
Arbeit, aber auch mangelnde Aktivität, Fehlschläge, Stillstand und
Krisen. Dieser uneinheitliche Verlauf ergab sich aus einem Komplex
von Faktoren, die stetigem Wandel
unterworfen sind, darunter das politische und wirtschaftliche Umfeld,
die unterschiedlichen Prioritäten
und Ziele von Arbeitgeber- und
Arbeitnehmervertretern sowie die
Agenden und Ansätze der EU‑Institutionen. Ein weiterer Schlüsselfaktor ist der Umstand, dass nationale
Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen im Laufe der Zeit
nicht immer in gleichem Umfang
auf EU‑Ebene „investiert“ haben und
es auch Zeiten gab, in denen der
Schwerpunkt auf nationaler Ebene
lag.
Zum Zeitpunkt der Berichterstellung
befindet sich der branchenübergreifende soziale Dialog auf EU‑Ebene
in der Übergangsphase. Hinsichtlich
des eigenständigen Dialogs war das
Arbeitsprogramm 2009-2010 wohl
etwas weniger ehrgeizig als seine
Vorgänger, obwohl es zu Initiativen
führte wie der Rahmenvereinbarung über integrative Arbeitsmärkte
(siehe S. 64), gemeinsame Studien
über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Beschäftigung
und über die Rolle der Sozialpartner bei der Umsetzung der Flexicurity‑Grundsätze der EU, einem
gemeinsamen Bericht über den
sozialen Dialog der vergangenen 20
Jahre sowie einem gemeinsamen
Bericht zur Umsetzung der Vereinbarung über Belästigung und Gewalt
am Arbeitsplatz von 2007. Vor dem
Hintergrund, dass der EGB zu dieser Zeit interne Veränderungen
durchlief, sollten diese gemeinsam
erreichten Ergebnisse nicht unterbewertet werden. Nachdem die
Serie der Arbeitsprogramme 2011
unterbrochen wurde, soll voraussichtlich im ersten Quartal 2012 ein
Programm für den Zeitraum 20122014 beschlossen werden.
Im Hinblick auf die branchenübergreifenden Verhandlungen als Reaktion auf die Anhörungen gemäß
Artikel 154 gab es 2011 Anzeichen
89
für eine neu einsetzende Aktivität, nachdem seit 2009 sozusagen
Ruhe geherrscht hatte. Nachdem
es dem Rat und dem Europäischen
Parlament nicht gelungen war, eine
Änderung der Arbeitszeitrichtlinie
zu erreichen, beschloss die Kommission eine Anhörung der Sozialpartner, um in Erfahrung zu bringen, ob
sie Verhandlungen aufzunehmen
wünschten. Die Partner erklärten,
dass sie im Dezember 2011 Verhandlungen aufnehmen würden.
Die Erfahrung zeigt, dass der soziale Dialog stabil genug ist, um
Perioden relativer Untätigkeit oder
Rückschläge zu verkraften. Wo der
Dialog an einem spezifischen Punkt
scheitert, geht der Prozess dennoch
weiter. Themen können sogar nach
einem Scheitern des Dialogs wieder
auf die Tagesordnung gesetzt werden, und die Sozialpartner können,
dann unter günstigeren Umständen,
beim zweiten oder sogar dritten
Anlauf einen wichtigen Beitrag leisten (Beispiele dafür sind der EBR und
vielleicht die Arbeitszeitregelung).
Der Einfluss, den der Dialog den Sozialpartnern auf EU‑Ebene verschafft,
ist zu wichtig, als dass sie allzu lange
auf ihn verzichten könnten.
Wesentliche
Herausforderungen
Zu den künftigen Herausforderungen zählen:
• Die Verbindung zwischen dem sozialen Dialog auf EU- und nationaler Ebene muss gestärkt werden.
Erkenntnisse legen nahe, dass ein
enger Zusammenhang hinsichtlich der Effektivität des Dialogs
90
•
•
•
•
auf beiden Ebenen besteht und
dass beide sich gegenseitig be­
einflussen.
Die Leitungsfähigkeit der Sozialpartner und die soziale Dialogstruktur sind und bleiben in
einigen Ländern schwach ausgebildet, insbesondere in Mittelund Osteuropa, wodurch sich die
Umsetzung autonomer Vereinbarungen und verfahrensorientierter Entwürfe EU‑weit uneinheitlich
gestaltet und in manchen Mitgliedstaaten zu unbefriedigenden
Ergebnissen führt. Die Umsetzung
solcher Instrumente kann ferner
in hohem Maße davon abhängen,
ob sie zu den Agenden der nationalen Regierungen passen.
Die Verbindung zwischen den
branchenübergreifenden
und
den sektoralen Dialogen ist relativ schwach ausgeprägt, und die
Verbindungen zwischen Dialogen
in den verschiedenen Sektoren, so
sie bestehen, sind unterentwickelt.
Die Stärkung dieser Verbindungen könnte den Dialog kohärenter
machen und seine Wirkungsmöglichkeiten verbessern.
Die Ergebnisse des sozialen Dialogs auf EU‑Ebene sind nicht
immer allgemein bekannt bzw.
werden auf nationaler und Unternehmensebene nicht umfassend
verstanden.
Einige Sozialpartner befürchten,
dass die jüngsten Entwicklungen
die Rolle des sozialen Dialogs für
die politische Gestaltung und Entscheidungsfindung schwächen
könnten (laut den Ergebnissen
der Untersuchung der Standpunkte der Sozialpartner zum
sozialen Dialog auf nationaler
Ebene, die von den brachenübergreifenden Partnern auf EU‑Ebene
2011 in Auftrag gegeben wurde).
Ihrer Auffassung nach sollten die
branchenübergreifenden Partner
nicht nur zu Themen wie Arbeitslosigkeit und sozialen Anliegen
gehört werden, sondern auch zur
größer werdenden Bandbreite
politischer Vorschläge der EU mit
potenziellen Auswirkungen auf
die Beschäftigung, während die
Kommission in steigendem Maße
weitreichende Anhörungen aller
Interessengruppen organisiert.
• Die Sozialpartner müssen eventuell nach Wegen suchen, in Zukunft
mehr konfliktträchtige Themen
anzugehen, wenn der Dialog weiterhin seinen Einfluss behalten
soll. In diesem Zusammenhang
könnten die Organisationen auf
europäischer Ebene gezwungen
sein, eine aktivere Rolle bei der
Beteiligung ihrer jeweiligen Mitglieder zu spielen.
91
Interview mit der Ratspräsidentschaft
Jolanta Fedak
Polnische Ministerin für Arbeits- und Sozialpolitik (2007-2011)
Wie sehen Sie aus Ihrer Perspektive als Ratspräsidentin
und polnische Ministerin den europäischen sozialen
Dialog?
Polen hat in diesen schwierigen Krisenzeiten, die insbesondere negative
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben, den Ratsvorsitz inne. Natürlich
ist es in Zeiten der Krise weitaus schwieriger, Vertrauen zu gewinnen und
zu einer Verständigung zu gelangen. Das heißt jedoch nicht, dass der soziale Dialog für die Lösung der krisenbedingten Probleme nutzlos ist. Um
die neuen Herausforderungen bewältigen zu können, sollten wir alle Formen und Plattformen des Dialogs nutzen. Auf europäischer Ebene betrifft
dies sowohl den zweigliedrigen Dialog der europäischen Sozialpartner auf
der Grundlage der Artikel 154 und 155 AEUV als auch den dreigliedrigen
Dialog.
Beispielhaft für Letzteren ist der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und
Beschäftigung, der als Forum für den Meinungsaustausch zwischen den europäischen Sozialpartnern und den Institutionen der Europäischen Union
fungiert. Während der polnischen Präsidentschaft wurde am 17. Oktober in
Brüssel eine Herbsttagung des Gipfels abgehalten. Das Leitthema der Konferenz lautete: „Stärkung des Vertrauens und des sozialen Dialogs zur Unterstützung der (wirtschaftlichen) Erholung und des Strukturwandels“.
Polen erkennt die Rolle und die Notwendigkeit zur Verbesserung und Förderung des europäischen sozialen Dialogs als eines der Werkzeuge zur Krisenbewältigung an. Der Grund hierfür liegt in unseren eigenen Erfahrungen
mit den Krisenbewältigungsmaßnahmen, die die Sozialpartner beim Dreiparteien‑Ausschuss für soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten ausgehandelt haben, der auf der Grundlage des sogenannten Antikrisengesetzes
in Kraft trat. Daher sollten wir Initiativen unterstützen – sowohl auf nationaler als auch auf EU‑Ebene –, die darauf abzielen, einen effektiven sozialen
Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern sowie Unternehmen mit supranationaler Struktur zu etablieren, wie etwa die Einrichtung von Europäischen Betriebsräten. Deshalb müssen wir, vom polnischen
Standpunkt aus betrachtet, die Notwendigkeit hervorheben, geeignete
Bedingungen und vor allem eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens zu
schaffen, um für alle Parteien des Dialogs die richtige Form des Dialogs zu
finden und den Themenbereich für die Diskussionen zu umreißen.
92
Die Prioritäten der polnischen Präsidentschaft im Bereich Beschäftigung
und Soziales mit der Bezeichnung „Solidarität zwischen den Generationen –
auf dem Weg zur demografischen Zukunft Europas“ konzentrieren sich
auf das Thema „Die Rolle des sozialen Dialogs bei der Suche nach Lösungen für die demografischen Herausforderungen“. Ein weiterer Bereich der
Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und anderen Interessenvertretern
umfasst die Umsetzung der Strategie Europa 2020 mithilfe sogenannter Leit­
initiativen und nationaler Reformprogramme – angesichts der Förderung
der Einführung eines neuen Elements der wirtschaftlichen Koordinierung,
des sogenannten „Europäischen Semesters“.
Sind Sie der Meinung, dass die Sozialpartner in Europa
bei der Umsetzung der Strategie Europa 2020 eine
Funktion haben? In welcher Hinsicht?
Die Strategie Europa 2020, eine kohärente Plattform für Maßnahmen im
Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, verlangt – abgesehen von der
neuen wirtschaftlichen Herangehensweise durch das sogenannte Europä­
ische Semester – einen intensiven und konstruktiven sozialen Dialog sowohl
auf nationaler Ebene als auch EU‑weit.
Dies betrifft hauptsächlich den prioritären Bereich der Strategie, in dem
die Humanressourcen die wichtigste Rolle spielen, d. h. der Aufbau einer
wissensbasierten Wirtschaft, die auf einer hohen Beschäftigungsquote mit
hoher Produktivität beruht und die sozioökonomische Kohäsion fördert.
Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise mit wachsender Arbeitslosigkeit
und Armut, die dramatischen sozialen Unruhen den Boden bereitet, wird
dieser Dialog besonders dringend erwartet und gebraucht.
Als Werkzeug für die Entwicklung und Einführung von Lösungen für den
Arbeitsmarkt mittels Rahmenvereinbarungen stellt der europäische soziale
Dialog eine wesentliche Stütze bei der Planung, Umsetzung, Überwachung
und Bewertung des Vorhabens auf EU‑Ebene und folglich auch auf nationaler Ebene dar, einschließlich der Gesetzgebung, damit die Initiative der
Strategie Europa 2020 in den arbeitsmarktrelevanten Themenbereichen
umgesetzt werden kann. Dazu zählen z. B.: Arbeitsrecht, Sozialgesetzgebung, Bildung und Berufsausbildung (lebenslanges Lernen), Vermittlungsprogramme, Beobachtung des Angebots an und der Nachfrage nach
Kompetenzen am Arbeitsmarkt, Mobilität am Arbeitsmarkt, Gesundheit
und Sicherheit am Arbeitsplatz, Corporate Social Responsibility, Altersmanagement. In diesen Bereichen gibt es immer noch Hürden für das
Beschäftigungswachstum und das Funktionieren der EU‑Arbeitsmärkte. Sie
können und müssen beseitigt werden, indem z. B. Lösungen im Bereich der
93
Rahmenvereinbarungen genutzt werden, die das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den europäischen Sozialpartnern sind.
Folglich können diese Vorschläge, die von den Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen in den einzelnen EU‑Staaten gefördert und in nationales Recht umgesetzt werden, durch nationale Reformprogramme, die
jährlich gemäß den Leitlinien der Europäischen Kommission aktualisiert
werden, in der Praxis eingeführt werden.
Es wird daran erinnert, dass die Mehrheit der genannten Bereiche, die
innerhalb des Wirkungskreises des Europäischen sozialen Dialogs angesiedelt sind, für die Umsetzung der effizientesten EU‑Arbeitsmarktmodelle
der Vergangenheit von großer Bedeutung sind und soziale Sicherheit mit
Beschäftigungsflexibilität kombinieren, d. h. die sogenannte Flexicurity.
Da das Konzept der Flexicurity weiterhin im Mittelpunkt der Europäischen
Beschäftigungsstrategie steht – die in Zeiten einer älter werdenden Arbeitnehmerschaft ein entscheidendes Element für die Erreichung der Ziele der
Strategie darstellt –, kann die Bedeutung der europäischen Sozialpartner für
die Umsetzung der Strategie Europa 2020 nicht hoch genug eingeschätzt
werden.
Als Ministerin für Arbeits- und Sozialpolitik muss ich darauf hinweisen, dass
es für die EU‑Institutionen und Regierungen der Mitgliedstaaten unerlässlich
ist, politisch zielgerichtet mit den europäischen Sozialpartnern zusammenzuarbeiten, damit sie in der Lage sind, ihr Potenzial bei der Durchführung
der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung der Europäischen Union
effizient einzusetzen. Aufgrund seines repräsentativen sozialen Charakters
sollte der europäische soziale Dialog sowohl von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als auch von den Regierungen der Mitgliedstaaten als glaubwürdige und realitätsbezogene Quelle für Wissen und Initiativen im Bereich des
Arbeitsmarktes akzeptiert und als ein Element zur Gewährleistung einer
EU‑weiten sozioökonomischen Politik gesehen werden, die für eine nachhaltige Entwicklung wegweisend ist.
Vertreten Sie die Auffassung, dass die Sozialpartner
ihr Verhandlungsgeschick bestmöglich nutzen sollten,
um Vereinbarungen zu erzielen, die per Richtlinie
im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik
umgesetzt werden können, und zwar gemäß Verfahren
nach Artikel 154 und 155 AEUV?
Bei der Beantwortung der Frage könnte man zunächst darauf hinweisen,
dass sich dieses Jahr die Unterzeichnung der Vereinbarung durch die europäischen Sozialpartner zum 20. Mal jährt und dass diese auf der Grundlage
94
des Sozialprotokolls zum Maastricht‑Vertrag zum Fundament für Verhandlungen zum Abschluss von europäischen Vereinbarungen wurde.
Die Vereinbarung von 1991 bildet das beste Beispiel für einen effizienten
europäischen Dialog. Als Ergebnis der aktiven Haltung der europäischen
Sozialpartner rückte der von ihnen geführte Dialog in den Mittelpunkt
des Entscheidungsfindungsprozesses im Bereich der Beschäftigungs- und
Sozialpolitik, ja, er erhielt sogar fast gesetzgeberische Befugnisse.
Die Europäische Kommission sah sich gezwungen, die europäischen
Sozialpartner in Bezug auf Initiativen im Bereich der Beschäftigung und
Soziales anzuhören, außerdem erwarben diese das Recht, eigenständig
Verhandlungen über allgemeingültige europäische Vereinbarungen zu
führen. Diese Vereinbarungen können anschließend in die Gesetzgebung
der einzelnen Mitgliedstaaten übernommen werden, entsprechend den
Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten, oder, bei Themenbereichen gemäß Artikel 153, auf gemeinsamen
Antrag der Unterzeichnerparteien, durch eine Entscheidung des Rates auf
Vorschlag der Kommission. Im AEUV ist die Rechtsgrundlage für diesen
Dialog in Artikel 154 und 155 niedergelegt.
Dieser Dialog führt – im übersektoralen Bereich – zu drei Vereinbarungen,
die in Richtlinien umgesetzt wurden, d. h. die Richtlinie über Elternurlaub
von 1995, über Teilzeitbeschäftigung von 1997, über befristete Arbeitsverhältnisse von 1999 sowie vier Vereinbarungen, die durch Maßnahmen der
Sozialpartner in den Mitgliedstaaten umgesetzt wurden, d. h. die Vereinbarung über Telearbeit von 2002, die Vereinbarung über arbeitsbedingten Stress von 2004, die Vereinbarung über Belästigung und Gewalt am
Arbeitsplatz von 2007 sowie die Vereinbarung zu integrativen Arbeitsmärkten 2010.
Die Leistungen des europäischen sozialen Dialogs in den einzelnen Sektoren sind ebenfalls von Bedeutung. Aufgrund des Fördersystems der Kommission wurden bereits 40 sektorale Ausschüsse für den sozialen Dialog
eingerichtet (gemäß Beschluss der Kommission 98/500/EG).
Die immer komplizierter werdenden wirtschaftlichen und sozialen Prozesse auf Makro- und Mikroebene, z. B. im Bereich der Arbeitsmarktpolitik,
stellen eine ernste Herausforderung für die Sozialpartner dar. Sie sollten
für die Bereiche, für die sie mitverantwortlich sind, ihre herausragende
Rolle im Entscheidungsfindungsprozess der EU bestätigen.
In Krisenzeiten ist es viel schwieriger, eine Vereinbarung zwischen Dialogparteien zu erzielen, deren Interessenlage naturgemäß unterschiedlich ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass bei Einzelthemen zwischen
den Sozialpartnern keine Zusammenarbeit stattfindet. Die Beispiele von
95
Aktionsplänen, die von den europäischen Sozialpartnern mehrere Jahre
in Folge oder in festgelegten Bereichen von gemeinsamem Interesse
ausgearbeitet wurden, belegen die Kompetenz, sich auf die Aspekte zu
konzentrieren, die beide Parteien zusammenbringen. Daher sind nicht nur
die sogenannten konfliktträchtigen Aktionen des europäischen sozialen
Dialogs von Bedeutung, sondern ebenfalls die unauffälligen Maßnahmen, wie Erklärungen, Stellungnahmen, Standpunkte, Empfehlungen und
gemeinsame Maßnahmen. Sie tragen zur Herstellung eines gegenseitigen
Vertrauensverhältnisses und zur gemeinsamen Suche nach Kompromisslösungen bei und gewährleisten so eine stabile wirtschaftliche Entwicklung, ein sicheres Umfeld und eine hohe Beschäftigungsquote.
Glauben Sie, dass der europäische soziale Dialog als
Modell dienen und eine Motivation für den sozialen
Dialog in allen Mitgliedstaaten sein kann, auch in
Staaten, wo er vielleicht weniger verbreitet ist?
Die Erfahrung in Polen mit der Einführung des sozialen Dialogs zeigt deutlich, wie wichtig bewährte Methoden und Modelle für die Entwicklung des
Dialogs auf nationaler Ebene sind.
Obwohl Polen bereits 1919 zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation gehörte, hatte unser Land aufgrund
der nachfolgenden geschichtlichen Ereignisse nicht die Möglichkeit,
freie sozioökonomische Beziehungen nach internationalen Standards
aufzubauen.
Wie auch andere Länder der Region begann Polen nach 1989 den Rückstand aufzuholen, und die Bemühungen um die Mitgliedschaft in der
Gemeinschaft führten zu verstärktem Interesse am europäischen sozialen
Dialog. Zunächst wurde die Gesetzgebung der Gemeinschaft umgesetzt,
z. B. in Bezug auf Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern; ferner
wurden die Strukturen des Dialogs entwickelt.
Ein weiterer Anreiz betraf die Beteiligung von Vertretern der nationalen
Organisationen der Sozialpartner an der Arbeit der dreigliedrigen Strukturen der EU (Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss oder Agenturen und Ausschüsse, z. B. die Europäische Stiftung zur Verbesserung der
Lebens- und Arbeitsbedingungen, Ausschuss über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer) oder der Ausschuss für den sozialen Dialog.
Die bereits gewonnene Erfahrung wird zurzeit durch Schulungen der Sozialpartner vertieft, die im Rahmen von Programmen umgesetzt werden, die
aus dem Europäischen Sozialfonds kofinanziert werden.
96
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft des
europäischen sozialen Dialogs aus?
Zum jetzigen Zeitpunkt ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. Wie
die Geschichte der Entwicklung des europäischen sozialen Dialogs bereits
gezeigt hat, geht die Entwicklung entgegen den allgemeinen Erwartungen häufig in eine andere Richtung, z. B. die Entwicklung des Dialogs zwischen den Sektoren in den 1990er Jahren. Andererseits kann seit kurzem
die größte Aktivität im europäischen sozialen Dialog auf Sektorebene verzeichnet werden.
Es scheint daher angebracht, die Initiativen zu unterstützen, die auf die Steigerung der aktuellen Anzahl sektoraler Ausschüsse abzielen, die mit ihren
Aktivitäten fast 145 Millionen Arbeitnehmer repräsentieren. Dies kann an
den jüngsten Maßnahmen verdeutlicht werden, die die Einrichtung von
drei neuen Ausschüssen bezwecken (Papier-, Metall- und Bildungssektor),
oder durch laufende Verhandlungen (in den Bereichen Gesundheit und
Sicherheit am Arbeitsplatz im Friseurgewerbe, Umsetzung der IAO‑Konvention im Fischereisektor und die vertraglichen Mindestanforderungen
für Fußballspieler) sowie die Ausarbeitung neuer Kriterien für den repräsentativen Charakter der Organisationen der Sozialpartner.
Man darf jedoch nicht vergessen, dass mit der Entwicklung des Dialogs auf
europäischer Ebene einhergeht, dass mindestens die folgenden Themen
einbezogen werden müssen:
• die Rolle des Rates im Prozess der Verabschiedung von Richtlinien über
Vereinbarungen der Sozialpartner;
• etwaige Zusagen vonseiten der Mitgliedstaaten in Bezug auf Gesetzes­
änderungen zur Umsetzung solcher Vereinbarungen der Sozialpartner;
• Transparenz der Vereinbarungen der Sozialpartner;
• keine Verpflichtung zur Erstellung und Beifügung dieser Vereinbarungen
zum Dokument im Hinblick auf die Auswirkung der Regelung.
Vor dem Hintergrund der Krise und des erwarteten Restrukturierungsprozesses sind erhebliche Aktivitäten der Europäischen Betriebsräte und weiterer
Unterrichtungs- und Anhörungsinstrumente der Arbeitnehmer auf überregionaler Ebene festzustellen.
Der Arbeitsplan der Europäischen Kommission für 2011 enthält Angaben
zum Beginn der Verhandlungen mit den europäischen Sozialpartnern im
Hinblick auf eine Überprüfung der Bestimmungen der Richtlinie 2001/86/
EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der
Beteiligung der Arbeitnehmer. Die Kommission weist darauf hin, dass mit
allen Gesetzesänderungen in Bezug auf die Richtlinie die etwaige Änderung
von Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 einhergeht.
97
Wir sollten ebenfalls die Initiative der Europäischen Kommission in Bezug auf
die Einrichtung von Expertengruppen zur Analyse der Bestimmungen der
Richtlinien 98/59/EG (Massenentlassungen), 2001/23/EG (Übergang) und
2002/14/EG (Unterrichtung und Anhörung) über das Recht auf Unterrichtung und Anhörung berücksichtigen.
98
Anhänge
Anhang 1: Liste von Ausschüssen für den sektoralen sozialen Dialog
Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog (ASSD)
Europäische Sozialpartner
Arbeitnehmer
Arbeitgeber
Sektor
Branchenübergreifend
EGB
BusinessEurope, UEAPME, CEEP
Audiovisueller Sektor
Banken
Bauindustrie
Bergbau
Bildung
Binnenschifffahrt
Chemische Industrie
Darstellende Kunst
Eisenbahnverkehr
Elektrizitätswirtschaft
Gas
Gemeinschaftsverpflegung
Gerberei und Leder
Handel
Holzindustrie
Hotel- und Gastgewerbe
Industrielle Reinigung
Kommunal- und Regionalbehörden
Krankenhaus- und Gesundheitssektor
Landwirtschaft
Metallindustrie
Möbelindustrie
Papierindustrie
Personengebundene
Dienstleistungen/Friseurhandwerk
Postdienstleistungen
Private Sicherheitsdienste
Profifußball
Schiffbau
Schuhindustrie
Seefischerei
Seeschifffahrt
Stahl
Straßenverkehr
Telekommunikation
Textil und Bekleidung
Versicherungen
Zeitarbeitsvermittlung
Zentralbehörden
EUROMEI, EFJ, FIA, IFM
UNI Europa
EFBWW
EMCEF
ETUCE
ETF
EMCEF
EAEA
ETF
EGÖD, EMCEF
EMCEF, EPSU
EFFAT, EGÖD
ETUF:TCL
UNI Europa
UNI Europa
EMCEF, EPSU
EGÖD
EPSU, UNI Europa
EPSU, EGÖD
EFFAT, EGÖD
EMF
EFBWW
EMCEF
EBU, ACT, AER, CEPI, FIAPF
EBF-BCESA, ESBG,EACB
FIEC
APEP, EURACOAL, UEPG, IMA, Euromines
EFEE
EBU, ESO/OEB
ECEG
Pearle
CER, EIM
Eurelectric
EUROGAS
FERCO
COTANCE
EuroCommerce
CEI-Bois
EUROGAS
EFCI
CEMR
HOSPEEM
GEOPA/COPA
CEEMET
UEA, EFIC
CEPI
UNI Europa
Coiffure EU
UNI Europa
UNI Europa
EPFL, ECA
EMF
ETUF:TCL
ETF
ETF
EMF
ETF
UNI Europa
ETUF:TCL
UNI Europa
UNI Europa
TUNED (EGÖD+CESI)
Zivilluftfahrt
ECA, ETF
Zuckerindustrie
EFFAT
PostEurop
CoESS
FIFPro
CESA
CEC
Europêche, COGECA
ECSA
Eurofer
IRU
ETNO
Euratex
ACME, BIPAR, CEA
Eurociett
EUPAN
ACI-Europe, AEA, ASA, CANSO, ERA,
IACA
CEFS
Diese Liste gibt den aktuellen Stand wieder – sie wird auf der Website der Kommission http://ec.europa.eu/social/
main.jsp?catId=522&langId=de regelmäßig aktualisiert.
99
Anhang 2: Liste von Organisationen der europäischen
Sozialpartner, die gemäß Artikel 154 EG‑Vertrag angehört
werden
1. Allgemeine branchenübergreifende Organisationen
• BusinessEurope
• Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP)
• Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB)
2. Branchenübergreifende Organisationen, die bestimmte
Kategorien von Arbeitnehmern oder Unternehmen
vertreten
• Eurocadres
• Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME)
• Rat der europäischen Fach- und Führungskräfte (CEC)
3. Spezifische Organisationen
• Eurochambres
4. Branchenbezogene Arbeitgeberorganisationen
• Vereinigung kommerzieller Fernsehsender in Europa (ACT)
• Airports Council International – Europe (ACI-Europe) (Internationaler
Flughafenrat)
• Verband Europäischer Fluggesellschaften (AEA)
• Airport Services Association (ASA) (Internationale Vereinigung der
Flugabfertiger)
• Verband europäischer professioneller Fußballligen (EPFL)
• Verband der öffentlichen Postbetreiber in Europa/Organisation der europäischen Postverwaltungen und Postunternehmen (PostEurop)
• Vereinigung europäischer Rundfunksender (AER)
• Europäische Vereinigung der gegenseitigen und genossenschaftlichen Versicherer (AMICE)
• Vereinigung der nationalen Verbände von Fischereiunternehmen in der Europäischen Union (EUROPECHE)
• Banking Committee for European Social Affairs (EBF-BCESA) (Bankenausschuss
für europäische soziale Angelegenheiten)
• Civil Air Navigation Services Association (CANSO) (Verband von Flug­
sicherungsanbietern)
• Coiffure EU
• Ausschuss der berufsständischen landwirtschaftlichen Organisationen der
Europäischen Union (COPA)
• Gemeinschaft der europäischen Bahnen und Infrastrukturgesellschaften (CER)
• Gemeinschaft der europäischen Werftvereinigungen (CESA)
• Confederation of European Paper Industries (CEPI) (Verband der Europäischen
Papierindustrie)
• Europäischer Verband der Gerbervereinigungen (COTANCE)
• Council of European Employers of the Metal, Engineering and Technology‑Based
100
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
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•
•
•
•
•
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•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Industries (CEEMET) (Rat der Europäischen Arbeitgeber der Metallindustrie, des
Maschinenbaus und der technologiegestützten Branchen)
Rat der Gemeinden und Regionen Europas (CCRE)
Arbeitgebergruppe der landwirtschaftlichen Berufsverbände der Europäischen
Union (GEOPA)
Euracoal
Euromines
Europäischer Gesteinsverband (UEPG)
Europäische Organisation für Textil und Bekleidung (EURATEX)
Europäische Vereinigung der Genossenschaftsbanken (EACB)
Vereinigung der europäischen Kaliproduzenten (APEP)
Europäische Binnenschifffahrtsunion (EBU)
Europäische Rundfunk‑Union (EBU)
European Chemical Employers Group (ECEG) (Europäische Gruppe der Arbeitgeber in der chemischen Industrie)
European Club Association (ECA) (Vereinigung der Europäischen Fußballvereine)
Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA)
Europäischer Verband der Zuckerindustrie (CEFS)
Zusammenschluss der Schuhverbände in Europa (CEC)
European Confederation of Iron and Steel Industries (Eurofer) (Wirtschaftsverband der europäischen Eisen- und Stahlindustrie)
European Confederation of Private Employment Agencies (Eurociett) (Europä­
ischer Dachverband der Zeitarbeitsfirmen)
Europäischer Holzindustrieverband (CEIBois)
Verband der europäischen Bauwirtschaft (FIEC)
Europäische Koordination unabhängiger Produzenten (CEPI)
Europäischer Dachverband der Reinigungsbranche (EFCI)
Fédération européenne de la restauration collective concédée (FERCO) (Europäischer Dachverband der nationalen Arbeitgeberverbände der Ge­mein­
schaftsverpflegung)
European Federation of Education Employers (EFEE)
European Federation of National Insurance Associations (CEA) (Europäischer
Versicherungsverband)
Europäische Vereinigung der Sicherheitsdienste (CoESS)
Verband der Europäischen Möbelindustrie (UEA)
European Furniture Industries’ Confederation (EFIC) (Europäischer Verband der
Möbelindustrie)
Europäische Arbeitgebervereinigung für Kliniken und Gesundheitswesen
(HOSPEEM)
Europäische Vereinigung für industrielle Mineralien (IMA)
European Public Administrations Employers (EUPAE) (Vereinigung öffentlicher
Arbeitgeber in Europa)
European Rail Infrastructure Managers (EIM) (Europäische Vereinigung der
Schieneninfrastrukturbetreiber)
European Regions Airline Association (ERA) (Dachverband der europäischen
Regionalfluggesellschaften)
Europäische Sparkassenvereinigung (GECE)
Europäische Schifferorganisation (ESO)
Europäischer Verband der Telekommunikationsbetreiber (ETNO)
101
• European Union of the Natural Gas Industry (EUROGAS) (Europäische Vereinigung
der Erdgaswirtschaft)
• Allgemeiner Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften der Europä­
ischen Union (COGECA)
• Hotels, Restaurants und Cafés in Europa (HOTREC)
• International Air Carrier Association (IACA) (Internationaler Verband der
Fluggesellschaften)
• Internationaler Verband der Filmproduzenten (FIAPF)
• Internationaler Verband der Versicherungsvermittler (BIPAR)
• Internationale Straßenverkehrsunion (IRU)
• Europäische Liga der Arbeitgeberverbände der darstellenden Kunst (PEARLE)
• Einzel-, Groß- und Außenhandel in Europa (EuroCommerce)
• Europäische Vereinigung der Elektrizitätswirtschaft (EURELECTRIC)
5. B
ranchenbezogene europäische
Gewerkschaftsorganisationen
• Europäische Allianz für Kunst und Unterhaltung EAEA)
• Europäische Union der Unabhängigen Gewerkschaften (CESI)
• European Cockpit Association (ECA) (Europäischer Dachverband der Piloten­
verbände)
• Europäische Föderation der Bau- und Holzarbeiter (EFBH)
• Europäischer Journalistenverband (EFJ)
• Europäischer Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EGÖD)
• Europäische Föderation der Gewerkschaften des Lebens-, Genussmittel-, Landwirtschafts- und Tourismussektors und verwandter Branchen (EFFAT)
• Europäischer Metallarbeiterbund (EMB)
• Europäische Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften
(EMCEF)
• Europäischer Gewerkschaftsausschuss für Bildung und Wissenschaft (ETUCE)
• Europäischer Gewerkschaftsverband: Textil, Bekleidung, Leder (EGV:TBL)
• Europäische Transportarbeiter‑Föderation (ETF)
• Internationaler Schauspielerverband (FIA)
• Internationaler Musikerverband (IFM)
• International Federation of Professional Footballers’ Associations – Division
Europe (FIFPro) (Internationale Spielergewerkschaft – Abteilung Europa)
• Union Network International – Europa (UNI Europa)
• Union Network International – Media and Entertainment International – Europe
(EUROMEI) (Medien und Unterhaltung International – Technische Berufe im
Unterhaltungssektor)
102
Weitere Informationen
• Entwicklungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales in Europa
(2011), Europäische Kommission
http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=89&newsId=1137&
furtherNews=yes
• Arbeitsbeziehungen in Europa (2010), Europäische Kommission
http://ec.europa.eu/social/keyDocuments.jsp?type=0&policyArea=0&
subCategory=0&country=0&year=0&advSearchKey=IRIE&mode=advan
ced Submit&langId=en
• Restrukturierung – Website der Europäischen Kommission
http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=782&langId=de
• Sozialer Dialog – Website der Europäischen Kommission
http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=329&langId=de
• Sozialer Dialog – Website der Internationalen Arbeitsorganisation
http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/decent-work-agenda/socialdialogue/lang–en/index.htm
• Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission zu Arbeitsweise und
Potenzial der Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog in Europa
(2010)
http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=5591&langId=de
Erscheinende Leitfäden
• Alt werden und Altersversorgung (Juni 2012)
• Arbeitsrecht und Arbeitsbedingungen (Dezember 2012)
• Sozialwirtschaft (Juni 2013)
• ESF und andere Finanzierungsinstrumente (Dezember 2013)
• Soziale Integration (Juni 2014)
103
Glossar
Dreigliedrig
Eine Form des sozialen Dialogs mit Beteiligung der Sozialpartner und der
Behörden (z. B. eine Regierung oder EU‑Institutionen).
Europäische Betriebsräte (EBR)
Plattformen für den EU‑weiten sozialen Dialog innerhalb multinationaler
Großunternehmen. Die EBR bringen üblicherweise zentral organisierte Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter aus Ländern zusammen, in denen die
Unternehmen tätig sind. Sie ermöglichen die Unterrichtung und Anhörung
von Arbeitnehmern zu transnationalen Themen. Manchmal schaffen sie einen Rahmen für Verhandlungen.
Flexicurity
Hauptansatz zum Arbeitsmarkt der Europäischen Union, der auf einen Ausgleich zwischen der Notwendigkeit der Arbeitsmarktflexibilität und der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Sicherheit der Arbeitnehmer abzielt. Die
Hauptkomponenten umfassen flexible, jedoch zuverlässige vertraglich festgelegte Vereinbarungen, umfassende Strategien für lebenslanges Lernen,
effiziente Arbeitsmarktpolitik und moderne soziale Sicherungssysteme, die
angemessene Einkommenssicherung bieten, Beschäftigung fördern und die
Arbeitsmarktmobilität erleichtern.
Folgenabschätzung
Ein Prozess, mit dessen Hilfe die Europäische Kommission (unter Nutzung
ihrer eigenen Erkenntnisse und der Beiträge von Interessengruppen) die potenziellen wirtschaftlichen, sozialen und Umweltfolgen neuer zur Debatte
stehender politischer Initiativen abschätzt und die Vor- und Nachteile möglicher politischer Optionen abwägt.
Gemeinschaftlicher Besitzstand
Die Gesamtheit des EU‑Rechts; er umfasst alle für die Mitgliedstaaten verbindlichen Rechtsakte sowie die Entscheidungen des Gerichtshofs der
Europäischen Union.
Programm des Binnenmarktes (1985-1992)
Auf der Grundlage des Weißbuchs der Kommission über die Vollendung des
Binnenmarktes (Juni 1985) wurde das Programm des Binnenmarktes mit dem
Ziel eingeleitet, nichttarifliche Schranken zu beseitigen, darunter nationale
Reglementierungen von Produkten und Dienstleistungen, Personen- und
104
Warenkontrollen an den Grenzübergängen oder Unterschiede bei indirekten
Steuern. Das Konzept des Binnenmarktes und eine Frist für seine Vollendung
(31. Dezember 1992) wurden in der Einheitlichen Europäischen Akte von
1986 niedergelegt, die außerdem einen Beschlussfassungsmechanismus
vorsah, bei dem bei den meisten den Binnenmarkt betreffenden Themen Beschlüsse nicht mehr einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit gefasst
werden sollten.
Sozialer Dialog
Interaktionen (darunter Verhandlungen, Anhörungen oder einfacher Informationsaustausch) zwischen oder innerhalb von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen (Sozialpartner) und Behörden (auf EU-, nationaler
oder sonstiger Ebene). Der Begriff „Sozialer Dialog“ wird bisweilen in weiterem Sinne gebraucht, um ebenfalls den Dialog zwischen den Sozialpartnern
am jeweiligen Arbeitsplatz einzubeziehen.
Sozialer Dialog auf EU‑Ebene
Eine Reihe von Verfahren und Vorkehrungen, wobei Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf EU‑Ebene Gespräche und Verhandlungen
führen, anderweitig zusammenarbeiten und gemeinsam an der politischen
Entscheidungsfindung der EU beteiligt sind. Der soziale Dialog auf EU‑Ebene
kann zwei- oder dreigliedrig sein und auf branchenübergreifender oder Sektorebene erfolgen.
Sozialpartner
Organisationen, die die Arbeitgeber oder Arbeitnehmer vertreten, insbesondere die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften.
Tarifverhandlungen
Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler, sektoraler, Unternehmens- oder sonstiger Ebene, die Lohn- und Gehaltsfragen und sonstige Arbeitsbedingungen betreffen. Sie führen zu Tarifverträgen, die in einem
Land, einer Region, einem Sektor oder Unternehmen Allgemeingültigkeit
erlangen können.
Zweigliedrig
Eine Form des sozialen Dialogs ausschließlich mit Beteiligung von Organisationen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer (die Sozialpartner) vertreten.
105
Europäische Kommission
Leitfaden Soziales Europa – Teil 2: Sozialer Dialog
Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union
2012 – 105 S. – 14,8 x 21 cm
ISBN 978-92-79-21308-3
ISSN 1977-236X
doi:10.2767/44738
Der Leitfaden Soziales Europa ist eine halbjährlich erscheinende
Veröffentlichung, deren Ziel es ist, einem interessierten, jedoch nicht
notwendigerweise spezialisierten Publikum einen Überblick über verschiedene Bereiche der EU-Politik auf dem Gebiet Beschäftigung, Soziales und Integration zu verschaffen. Er befasst sich mit den Kernfragen
und Herausforderungen, erläutert politische Maßnahmen und Instrumente auf EU-Ebene und gibt Beispiele für bewährte Verfahren von
EU-Mitgliedstaaten. Darüber hinaus stellt er Ansichten der Ratspräsidentschaft und des Europäischen Parlaments zu diesem Thema vor.
Der zweite Teil in dieser Reihe beschreibt die Geschichte, Arbeitsweise
und Errungenschaften des sozialen Dialogs auf EU-Ebene. Verhandlungen, Anhörungen und Informationsaustausch unter Arbeitgeberund Arbeitnehmerorganisationen (die Sozialpartner) und Behörden
sind ein wesentliches Element des europäischen Sozialmodells und
spielen eine entscheidende Rolle bei der Festlegung und Umsetzung
der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik der EU sowie der
jeweiligen sektoralen Politik. In Teil 2 wird ferner untersucht, wie sich
der soziale Dialog in den einzelnen Mitgliedstaaten als Reaktion auf die
Wirtschaftskrise entwickelt hat.
Der Leitfaden ist in deutscher, englischer und französischer Sprache
erhältlich.
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(http://publications.europa.eu/eu_bookshop/index_de.htm).
ISSN 1977-236X
KE-BC-11-002-DE-C
Leitfaden Soziales Europa
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