Magazin - Suhrkamp

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Suhrkamp Theater
Magazin 2015
INHALT
Editorial / Rückblick /Ausblick
3
Thomas Brasch
6
Heiko Buhr
8
Tankred Dorst
10
Werner Fritsch
12
Nikolaus Günter
14
Noah Haidle
16
Peter Handke
18
Martin Heckmanns
22
Wolfram Höll
26
Henrik Ibsen
30
Jörn Klare
32
Thomas Köck
34
Konstantin Küspert
36
Christoph Nußbaumeder
38
Georg Ringsgwandl
42
Gesine Schmidt
44
Akin E. Şipal
46
Rafael Spregelburd
50
Junges Programm:
Jagoda Marinić
52
Judith und Werner Fritsch
56
Schwerpunkt: Transit Europa
58
Schwerpunkt: Beziehungsweisen
60
Schwerpunkt: Komödien
62
Starke Prosa für die Bühne
64
Jahrestage68
suhrkamp spectaculum
Impressum
70
2
EDITORIAL
Während sich neue Werke szenischer Literatur mehr und mehr auch auf
mittleren und größeren Bühnen durchsetzen, läuft eine Debatte über den Stellenwert
neuer Dramatik, in der die Wirksamkeit von Fördermechanismen vehement befragt
wird. Aus der Überzeugung heraus, dass zeitgemäßes Theater starke, sprachlich konzentrierte Stücke als produktiven Widerpart unbedingt benötigt, setzen wir weiterhin
auf eine behutsame Erweiterung unseres Programms um außergewöhnliche literarische
Theaterschreibweisen.
Im vorliegenden »Magazin 2015« verschaffen wir Ihnen eine Übersicht über neue Werke
unseres Programms. Wir begrüßen Thomas Köck sehr herzlich als neuen Verlagsautor.
In unseren Schwerpunktbeiträgen »Beziehungsweisen« und »Transit Europa« stellen wir
Ihnen eine Auswahl von Stücken vor, in denen große gesellschaftliche Themen verhandelt werden: die Veränderungen traditioneller Formen des Zusammenlebens und die
Migrationsbewegungen unserer Zeit.
Um der allseits wahrgenommenen Schnelllebigkeit des Theatergeschehens entgegenzuwirken, beginnen wir unsere Vorschau in diesem Jahr mit einem Rückblick auf die Spielzeit 2013/2014, in der sich nicht nur für unsere Autorinnen und Autoren der jüngeren
Generation viel Erfreuliches getan hat.
Viel Vergnügen beim Lesen und Entdecken!
Im Juni 2014 wurde Wolfram Höll mit seinem Stück
Und dann beim Mülheimer Stücke-Festival zum
»Dramatiker des Jahres« gewählt. Bemerkenswert ist
in diesem Zusammenhang auch, dass bereits wenige
Tage nach der Uraufführungsinszenierung des Schauspiel Leipzig in der Regie von Claudia Bauer eine
ganz anders geartete, kraftvolle Neuinszenierung des
Stückes in Weimar erfolgte (Regie: Nina Mattenklotz).
Wolfram Höll schreibt gerade an einem Stück für das
Theater Basel.
Auch mensch maschine, das im Magazin 2013 vorgestellte Debütstück von Konstantin Küspert, erlebte
in der vergangenen Spielzeit seine Uraufführung
(Theater Regensburg, Regie: Sahar Amini). Der Uraufführung werden Neuinszenierungen in Dresden und
Lüneburg folgen. Küsperts neues Stück pest stellen
wir in diesem Magazin vor (s. Seite 37).
Georg Ringsgwandls sehr komische zeitkritische
Stubenoper Der verreckte Hof wird nach Inszenierungen in Telfs und Eggenfelden in der Spielzeit 2014/15
am Landestheater Linz produziert und am Zürcher
Theater Winkelwiese seine Schweizer Erstaufführung
erleben (Regie: Stephan Roppel). Auch hier zeigt sich,
dass ein starkes Stück verschiedenste Regiezugriffe
»aushält«.
Die psychologisch abgründigen und poetischen Stücke
des jungen US-amerikanischen Autors Noah Haidle
erleben eine immer stärkere deutschsprachige Rezeption. Aktuelle Inszenierungen u.a. in Essen, Nürnberg,
Kassel und Hannover machen nachdrücklich auf
diesen Ausnahmeautor aufmerksam. Übersetzungen
seiner neuesten Stücke sind beauftragt, zwei davon
stellen wir in diesem Magazin vor. (s. Seite 16/17).
Mit mehr als 20 Premieren zählt Ingrid Lausund zu
den meistgespielten Autorinnen der letzten Spielzeit.
Darunter Benefiz – Jeder rettet einen Afrikaner, u.a.
aufgeführt am Städtischen Theater Chemnitz (Regie:
Kathrin Brune), am Theater Lüneburg (Regie: Andreas Mach) sowie am Landestheater Tübingen (Regie:
4
Ralf Siebelt). Viel gespielt werden weiterhin auch
Hysterikon z.B. am Kleinen Theater Landshut (Regie:
Konstantin Moreth) und am Theaterhaus Jena (Regie:
Maria Ursprung) sowie Tür auf, Tür zu am Landestheater Tübingen (Regie: Marion Schneider-Bast).
Auch die Stücke von Martin Heckmanns waren in
der Spielzeit 2013/14 an zahlreichen Häusern zu
sehen, darunter die Uraufführung von Es wird einmal
am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Anselm
Weber. Weiterhin: Einer und Eine am Theater Augsburg (Regie: Thomas Hill), Wir sind viele und reiten
ohne Pferd an der Schaubühne in Graz (Regie: Christian M. Müller) und am Stadttheater Gießen (Regie:
Andrea Thiesen) sowie Vater Mutter Geisterbahn mit
einer Schweizer Erstaufführung am Kellertheater
Winterthur (Regie: Udo van Ooyen).
Vielfach gespielt werden die Stücke von Christoph
Nußbaumeder, allen voran Eisenstein, das mit
seiner mittlerweile achten Inszenierung erfolgreich
an der Württembergischen Landesbühne Esslingen
(Regie: Manuel Soubeyrand) aufgeführt wurde. Die
Konzertdirektion Landgraf gastiert derzeit deutschlandweit mit einer Tourneeproduktion dieses Stückes.
Christoph Nußbaumeder hat für das Schauspielhaus
Bochum ein Stück mit dem Titel Das Fleischwerk
geschrieben, das wir auf den Seiten 38 ff. vorstellen.
Gesine Schmidt lieferte mit ihrem Dokumentarstück
Bier, Blut und Bundesbrüder die Vorlage für eine
spektakuläre Inszenierung von Volker Lösch am
Schauspiel Bonn (Premiere: 9. Mai 2014). Das Stück
verdichtet Recherchen in der hermetischen Welt der
schlagenden Studentenverbindungen und historische
Dokumente zu einer brisanten Szenenfolge. Gesine Schmidts neues Stück Pfirsichblütenglück, das
deutsch-chinesische Liebesbeziehungen verhandelt,
wird seine Uraufführung am Theater Heidelberg erleben (s. Seite 44 ff.).
Nicht unerwähnt bleiben soll die breite und vielfältige Bühnenrezeption der Werke unserer »modernen
RÜCKBLICK /AUSBLICK
Klassiker« Bertolt Brecht, Thomas Bernhard und
Max Frisch. Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise
Fleißer war in der aufsehenerregenden Inszenierung der Münchner Kammerspiele (Regie: Susanne
Kennedy) im Mai 2014 zum Berliner Theatertreffen
eingeladen.
Last but not least: Peter Handke hat mit dem International Ibsen Award den wichtigsten Theaterpreis
erhalten. Die Verleihung fand im September 2014
in Olso statt, eine ausführliche Auseinandersetzung
damit finden Sie auch auf www.suhrkamp.de unter
»Peter Handke und der Internationale Ibsen Preis —
Stellungsnahmen«. Handkes Stücke erleben derzeit
wieder eine verstärkte Rezeption auf deutschsprachigen Bühnen. Besonders hervorzuheben sind die
zahlreichen Inszenierungen von Immer noch Sturm,
zuletzt in Graz (Regie: Michael Simon), Lübeck
(Regie: Andreas Nathusius) und Osnabrück (Regie:
Alexander Charim), sowie seines Sommerdialoges
Die schönen Tage von Aranjuez, der nach Wien,
Berlin und München in dieser Spielzeit auch in Bonn
(Regie: Christoph Pfeiffer), Darmstadt (Regie: Martin
Ratzinger) und Salzburg (Regie: Michael Bleiziffer)
zu sehen war.
Ur- und Erstaufführungen der Spielzeit 2014/15 (Auswahl)
Noah Haidle
Willkommen zu Hause
Originaltitel: Smokefall
Deutsch von Brigitte Landes /
Nina Peters
DSE: 3. Oktober 2014
Staatstheater Kassel
Regie: Thomas Bockelmann
Georg Ringsgwandl
Der verreckte Hof
SEA: 4. Oktober 2014
Theater an der Winkelwiese
Zürich
Regie: Stephan Roppel
Peter Turrini
Aus Liebe
DEA: 25. Oktober 2014
Staatstheater Nürnberg
Regie: Markus Heinzelmann
Friederike Mayröcker
Lesch Schmidt
Requiem für Ernst Jandl
UA: 19. Dezember 2014
Burgtheater Wien
Regie: Hermann Beil
Heiko Buhr
Minettis Blut
UA: 30. Dezember 2014
Eduard-von-Winterstein-Theater
Annaberg-Buchholz
Regie: Dietrich Kunze
Lily Brett
Chuzpe
Bühnenfassung: Dieter Berner
DEA: 25. Januar 2015
Hamburger Kammerspiele
Regie: Henning Bock
Jörn Klare
Du sollst den Wald nicht vor
dem Hasen loben
UA: 28. Januar 2015
Staatstheater Karlsruhe
Regie: Katrin Plötner
Akin E. Şipal
Santa Monica
UA: 1. März 2015
Nationaltheater Mannheim
Regie: Tarik Goetzke
Jörn Klare
Der frühe Hase fängt die Axt
UA: 10. April 2015
Staatstheater Nürnberg
Regie: N.N.
Rafael Spregelburd
Luzid
Originaltitel: Lúcido
Deutsch von Sonja und
Patrick Wengenroth
DEA: Geplant für 2014/15
Schaubühne am Lehniner
Platz, Berlin
Regie: Marius von Mayenburg
Noah Haidle
The Homemaker
Deutsch von Brigitte Landes
UA: 16. Mai 2015
Niedersächsisches Staatstheater Hannover
Regie: Anna Bergmann
Christoph Nußbaumeder
Von Affen und Engeln
UA: Mai 2015
Ruhrfestspiele Recklinghausen
in Koproduktion mit den
Sophiensaelen Berlin
Regie: Bernarda Horres
Wolfram Höll
Ein neues Stück
UA: Mai 2015
Theater Basel
Regie: N.N.
Martin Heckmanns
Die Bergwanderung
oder Sexualität heute
UA: Juni 2015
Staatsschauspiel Dresden
Regie: N.N.
Ruth Johanna Benrath
Klassenkämpfe
UA: 12. Juni 2015
Landestheater Coburg
Regie: Judith Kunert
Gerlind Reinshagen
Die Frau und die Stadt
UA: 16. Juni 2015
bbt bewegtbildtheater trier
Grand Théâtre Luxembourg/
Stadttheater Fürth
Regie: Johannes Conen
Jagoda Marinić
Mehrsprachig (AT)
UA: 4. Juli 2015
Nationaltheater Mannheim
Schnawwl
Regie: Marcelo Días
Christoph Nußbaumeder
Margarete Maultasch
UA: Juli 2015
Tiroler Volksschauspiele Telfs
Regie: N.N.
5
Thomas Brasch
70. Geburtstag am 19. Februar 2015
Das Übersetzen von Theaterstücken bedeutet immer
auch, Stücke neu zu schreiben, zumal wenn sie von
Autoren übersetzt werden. Das war das Credo von Thomas Brasch und das ist sicher auch der Grund, warum
seine Tschechow- (über 150 Inszenierungen) und seine Shakespeare-Übersetzungen (weit über 200 Inszenierungen) derart bestimmend im deutschsprachigen
Theater sind.
Hier sollen einige seiner wichtigsten Theaterstücke ins
Zentrum des Interesses gestellt werden, die bis heute
jeweils mehr als 100-mal inszeniert wurden.
Rotter
Der Rotter ist immer interpretiert worden als so ein Mitläufer … er hat auch Angst vor einem Leben allein in dieser Kleinstadt und vor seiner Einsamkeit. Er ist auch ein
verhinderter Homosexueller. Alles ist verhindert bei ihm.
Dann schließt er sich so an und geht mit. Eine Figur, der
ich viel Sympathie entgegenbringe. Und Sympathie heißt
natürlich auch Mitleid. – Kein Stück über Geschichte,
aber eins über meinen Blick auf Geschichte. (8 D, 24 H)
Lovely Rita
Da tritt ein Publikum auf und wünscht sich eine Frau
zur Heldin, dann tritt die Heldin auf und wünscht sich
eine Biografie, und das Theater stellt sie ihr zur Verfügung. Sie will homosexuell und heterosexuell sein, sie
möchte mit Frauen schlafen und mit einem Mann. Sie
möchte subversiv und erfolgreich sein, und das Publikum führt sie gegen sich selbst. (7 D, 7 H)
Mercedes
Brasch versucht eine Dramaturgie, die sich aus dem
Prozess ableitet, eine Dramaturgie des Versuchs. Sakko, der Arbeitslose, und Oi, die Gelegenheitsnutte, sind
in diesem Stück ebenso Versuchspersonen wie der Typ
im Mercedes, der Unternehmer. Alle zappeln auf ihre
Rotter beginnt zu gehen. Kommt. Wir fangen neu an. Da.
Er beginnt zu laufen. Los. Wir fangen neu an.
Reißt alles ein. Es muß ein Anfang her. Schreit. Von Vorn.
6
Weise im Netz gesellschaftlicher Zwänge. Aber eigentlich ist das Stück eine Romeo und Julia-Geschichte oder
hat etwas mit Leonce und Lena zu tun. (1 D, 2 H)
chen nach unterschiedlichen Möglichkeiten, die Wahrheit herauszufinden. »Was Du da erzählst, ist aus den
Tagebüchern unserer Großmutter.« (2 D, 7 H)
Frauen. Krieg. Lustspiel
»Drama als lyrischer Monolog, Zeitkritik als episches
Theater, die Geschichte eines Lebens als Nachdenken
über die Möglichkeiten des Theaterspiels? Thomas Brasch
wagt den Schritt in noch kaum erkundetes Gelände.«
Rosa und Klara, beide hatten ein Verhältnis zu Johannes, der 1916 vor Verdun gefallen war, vorher aber
Rosa geheiratet hatte. Beide melden sich als Krankenschwestern an die Front, gehen verschiedene Wege, su-
Rolf Michaelis, Die Zeit
»Mein Beruf ist, Dinge zu beschreiben,
nicht Dinge zu wünschen, nicht Dinge zu verfluchen,
nicht Dinge zu beweisen, nicht Dinge zu verdammen.«
Thomas Brasch
Thomas Brasch, Lyriker, Dramatiker, Drehbuchautor, Regisseur und Übersetzer, eine der
markantesten Figuren der deutschen Literatur,
wurde 1945 in Westow/Yorkshire (England) als
Sohn jüdischer Emigranten geboren. Bis 1976,
als er die DDR verließ, lebte er in Ostberlin;
er ist am 3. November 2001 in Berlin gestorben.
7
Foto: Isolde Ohlbaum
8
Foto: Martina Dahm
INGRID L AUSUND
Heiko Buhr
Die Schattenlosen
Ein älteres Paar wartet in einem Auffanglager an der Küste auf die Ankunft der
Kinder und Enkelkinder. Seit Wochen ist kein Flüchtlingsschiff aus dem Norden
mehr angekommen. Sie hatten sich aufteilen müssen, nun wächst mit jedem
Tag die Sorge, einander für immer verloren zu haben. Die Vorwürfe werden
härter, die Verzweiflung wächst.
Auf der anderen Seite des Meeres hält sich die junge Familie versteckt und
wartet auf einen geeigneten Moment zur Überfahrt. Sie haben Demütigungen
erlitten und Massaker erlebt. Wie sollen die Eltern den Kindern erklären, dass
sie ihre Heimat für immer verlassen? Wie lassen sich ohne Aussicht auf eine
glücklichere Zukunft die Strapazen der Flucht rechtfertigen? Hätten sie als verfolgte Minderheit in ihrer Heimat noch eine Chance gehabt? Dann: der plötzliche Entschluss, die Flucht doch nicht zu wagen und zurückzukehren.
Eine junge Widerständlerin hat ihren Peiniger, dem sie jahrelang ausgeliefert
war, in ihre Gewalt gebracht und droht, ihn umzubringen. Er, ein hohes Tier des
Systems, liegt nun gefesselt zu ihren Füßen und unternimmt letzte, fruchtlose
Selbstrettungsversuche.
Zwei Brüder, Söhne eines Fischers, der als Schleuser verhaftet wurde, warten
auf eine Familie, die sie an die südliche Küste bringen sollen. Vom Lohn für die
Fluchthilfe soll ihr Vater freigekauft werden. Jede Sekunde könnten sie von Soldaten aufgegriffen werden. Lohnt der Einsatz angesichts der allgegenwärtigen
Gefahr, entdeckt zu werden?
Die letzte Szene des Stückes zeigt zwei Wachmatrosen auf einem Schiff, das
gerade ein Flüchtlingsboot aufgebracht hat. Schüsse fallen ...
Heiko Buhr, 1964 in Neumünster geboren. Nach der Lehre zum
Bankkaufmann Studium der Germanistik und Philosophie in Kiel mit
Abschluss Promotion. 1999 erhält
Heiko Buhr für sein Werk Ausstand.
Ein Schaustück den Heinz-DürrDramatikerpreis. Heiko Buhr lebt
als freier Schriftsteller und
Publizist in Kiel.
Stücke – eine Auswahl
Ausstand
2 D, 8 H, Nebenrollen
UA: 10.12.2000
Deutsches Theater Berlin
Regie: Bruno Klimek
Abfall
2H
UA: 3.3.2012
Kellertheater Winterthur
Regie: Doris Strütt
Lebemänner
8 D, 7 H
Frei zur Uraufführung
Minettis Blut
2D
UA: 30.12.2014
Eduard-von-Winterstein-Theater
Annaberg-Buchholz
Regie: Dietrich Kunze
Heiko Buhrs Stück liest sich als aktueller dramatischer Reflex auf welthistorische Konflikte, bei denen Menschen in die Flucht und in extreme Entscheidungssituationen getrieben werden. Indem der Autor die Himmelsrichtungen
um 180 Grad dreht, gelingt ihm das verstörende Kunststück, uns zu Betroffenen
zu machen. Das Stück schafft exemplarische Situationen und verschränkt geschickt verschiedene Zeitebenen, bis sich ein Mosaik der Geschehnisse zusammensetzt. (Besetzung variabel)
9
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Foto: Isolde Ohlbaum
Tankred Dorst
90. Geburtstag am 19. Dezember 2015
Das dramatische Werk im Suhrkamp Verlag
Eiszeit (Uraufführung 1973)
Die Schattenlinie (1995)
Auf dem Chimborazo (1975)
Die Geschichte der Pfeile (1996)
Die Villa (1980)
Die Legende vom armen Heinrich (1997)
Merlin oder Das wüste Land (1981)
Harrys Kopf (1997)
Heinrich oder Die Schmerzen der Phantasie (1985)
Was sollen wir tun (1997)
Ich, Feuerbach (1986)
Wegen Reichtum geschlossen (1998)
Der verbotene Garten (1987)
Große Szene am Fluß (1999)
Grindkopf (1988)
Kupsch (2001)
Korbes (1988)
Die Freude am Leben (2002)
Karlos (1990)
Othoon (2002)
Parzival (1990)
Purcells Traum von König Artus (2004)
Fernando Krapp hat mir diesen Brief
Die Wüste (2005)
geschrieben (1992)
Künstler (2008)
Herr Paul (1994)
Ich soll den eingebildet Kranken spielen (2009)
Nach Jerusalem (1994)
Prosperos Insel (Frei zur Uraufführung)
»Über das Portal meines Theaters würde
ich schreiben: Wir sind nicht die Ärzte,
wir sind der Schmerz.« Tankred Dorst
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Foto: Uta Ackermann
Werner Fritsch
Nofretete
Mehr als drei Jahrtausende greift Werner Fritsch in seinem neuen Stück zurück und gibt der legendären ägyptischen Königin klangvolle Stimme und
tragische Gestalt. In der Grabkammer ihres jüngst verstorbenen Königsgemahls Echnaton erinnert sie ein bewegtes, gefährdetes Leben im Bannkreis
der Macht. Echnaton, ein Dichterfürst und Religionsgründer, hatte mit Gewalt
den Monotheismus in Ägypten eingeführt. Nun, nach seinem Tode, drohen die
Verhältnisse zu kippen und die alte, mafiöse Priesterkaste wieder Oberhand zu
gewinnen. Die Pest wütet im Land. Nofretetes Lebensbilanz könnte bitter sein.
Sie hat den Tod ihrer Töchter erleben müssen, ihre Zurücksetzung, nachdem
Echnaton sich eine andere Frau gesucht hatte, die ihm den ersehnten Sohn
gebar. Und doch hat sie die Zuversicht nie verloren, dass der Kampf für Gerechtigkeit und gegen Habgier sinnvoll war. Und so besingt sie die Sonne und
kehrt zu uralten Ritualen zurück. Durch einen letzten Liebesakt will sie ihren
Gemahl wiedererwecken.
Im Bildhauer Thutmosis, der Nofretete in der Grabkammer aufsucht, um ein
idealisiertes Bildnis von ihr zu schaffen, findet sie einen pragmatischen Widerpart, der sie aus ihrer Isolation und von ihren Illusionen befreien will, um sie
für sich und für ein Leben jenseits der Macht zu gewinnen.
Werner Fritsch wurde 1960 in
Waldsassen/Oberpfalz geboren
und lebt in Hendelmühle und Berlin.
1987 erscheint sein vielbeachteter
Roman Cherubim. Zu seinen zahlreichen Stücken gehören Chroma,
Hydra Krieg, Bach und Wondreber
Totentanz oder auch die Monologe
Sense, Jenseits, Nico – Sphinx aus
Eis, Das Rad des Glücks oder Magma,
die auf der Bühne, für den Rundfunk
oder fürs Kino realisiert wurden.
Außerdem veröffentlichte er Prosa
wie zum Beispiel Steinbruch und
Stechapfel und drehte u.a. die Filme
Das sind die Gewitter in der Natur,
Ich wie ein Vogel, Faust Sonnengesang. Seine Arbeiten wurden u.a.
mit dem Robert-Walser-Preis, dem
Hörspielpreis der Kriegsblinden,
dem Else-Lasker-Schüler-Preis
ausgezeichnet. Für sein Hörspiel
Enigma Emmy Göring erhielt er die
Auszeichnungen Hörspiel des Jahres
2006 und den ARD-Hörspielpreis
2007. Für sein Hörgedicht FAUST
SONNENGESANG I erhielt er den
Grand Prix Marulic 2013.
Sein Nofretete-Stück, so Werner Fritsch, »soll zwischen den Zeiten pendeln,
aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, die immer mehr zur Metapher der Gegenwart wird«. Fritschs Nofretete ist eine große Schwärmerin und
Kämpferin, eine Lichtgestalt, deren Unbedingtheit bis in die Gegenwart strahlt.
(1 D, 1 H)
Frei zur Uraufführung
Werner Fritschs Filme Faust Sonnengesang und Das sind die Gewitter
in der Natur sind in der filmedition
suhrkamp erschienen.
fes 33. 64 Seiten. € 29,90
(978-3-518-13533-4)
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Foto: Susanne Schleyer
INGRID L AUSUND
Nikolaus Günter
Mauermörtelgesichter
Sie könnten ein Haus bauen, sich einrichten im Leben, einen anständigen Beruf finden im Vorort einer Stadt an der deutsch-deutschen Grenze, die geprägt
ist von der Präsenz der Bundeswehr, dem Stolz der Bürger auf die ordentlichen
Blumenrabatten und den Träumern und Flüchtlingen, die aus der Zone rübergekommen sind. Aber die Jugendlichen hadern mit dem Lebensplan, der ihnen
vorgegeben scheint. Jahre später sitzt Tommi vor einer Ruine, die ein Haus
hätte werden sollen, und versucht, sich die Geschichte und die Vergangenheit
seiner Freunde zu vergegenwärtigen:
Den Moment zu gehen haben sie irgendwann verpasst, nun suchen sie nach
Fluchträumen und Selbstbestimmung und definieren in mehr oder weniger
spektakulären Aktionen und Provokationen ihren Begriff von Freiheit: Das
Moonbeam, ein Club im Industriegebiet, wo sie den Drogendeal mit der Russengang vermasseln, ist legendär. Als sich die Wirklichkeit immer noch nicht
geschlagen geben will, wird ein »Bankraub« initiiert. Filmreif ist allein das
Scheitern, und einer wandert für alle in den Knast. (2 D, 3 H, 1 Chor)
Nikolaus Günter wurde 1976 in
Kassel geboren. 1992 Umsiedlung
mit seinen Eltern nach Pitschen/
Byczyna (Polen). 2001 tritt er der
Berliner Off-Theater-Gruppe Vereinstheater Deutschland als Fahrer,
Beleuchter und Bühnengestalter
bei. Enge Arbeitsbeziehung zum
Regisseur Jörg Reimer (u.a. am
Düsseldorfer Schauspielhaus).
Nach Günters Debüt Wild ist der
Wind oder Quadrophenia II (2012)
ist Mauermörtelgesichter das zweite
Bühnenstück des Dramatikers.
Frei zur Uraufführung
15
Noah Haidle
Willkommen zu Hause
Originaltitel: Smokefall I Deutsch von Brigitte Landes und Nina Peters
Nichtigkeit des Lebens. Samuel wird seinen Schluss daraus ziehen, Johnny den Vortritt lassen und sich an der
Nabelschnur erdrosseln.
Noah Haidle entwirft die Geschichte einer Familie über
drei Generationen, die von einer Figur mit Namen »Fußnote« vorangetrieben und kommentiert wird. Haidle
reist durch die Zeit, erzählt voller Humor ein berührendes Märchen von Liebe und ihren Grenzen und spielt
wieder einmal souverän mit den erzählerischen Mitteln
des Theaters. (2 D, 3 H)
Uraufführung: 5. April 2013, South Coast Repertory
Theatre, Kalifornien; 20. Oktober 2013, Goodman Theatre
Chicago, Regie: Anne Kauffman
Deutschsprachige Erstaufführung: 3. Oktober 2014
Staatstheater Kassel, Regie: Thomas Bockelmann
Foto: Susanne Schleyer
Die Zwillinge sind noch nicht geboren, da erklärt ihnen
Mutter Violet bereits die Welt: »Wisst ihr, was eine Familie ist? Bald wisst ihr es. Bald gehört ihr dazu.« Die
Familie, das sind: Vater Daniel, den Samuel und Johnny nie kennenlernen; am Morgen der Geburt wird er
ins Auto steigen, Tausende Kilometer Richtung Westen
fahren und nie wieder nach Hause zurückkehren. Die
Familie, das sind des Weiteren: Violets dementer Vater,
der sich immer wieder schmerzhaft daran erinnern
muss, dass Leonore, die Mutter seiner Tochter und die
Liebe seines Lebens, bereits seit Jahren tot ist. Schließlich Schwester Beauty, die angesichts der Streitigkeiten
ihrer Eltern einst beschloss zu schweigen und sich von
Wandfarbe, Rinde und Zeitung zu ernähren. Die Zwillinge sind ein Versehen und wissen das auch: eloquent,
philosophisch beschlagen und ziemlich frühreif, diskutieren sie im Mutterleib die Vor- und Nachteile und die
Noah Haidle, geboren 1978 in Michigan, ist
Dramatiker und Drehbuchautor und lebt in Detroit. Haidle studierte an der Princeton University
und der Juilliard School und lehrte in Princeton,
Uganda und Kenia. Zu seinen erfolgreichsten
Stücken zählt Mr. Marmalade, für das er in den
USA mehrfach ausgezeichnet wurde. Haidle
schrieb das Drehbuch zum Hollywood-Film Stand
Up Guys mit Christopher Walken, Al Pacino und
Alan Arkin (Regie: Fisher Stevens, USA 2013).
16
The Homemaker
Deutsch von Brigitte Landes
Es ist das Ende der Welt: Während vor dem Küchenfenster die Sintflut steigt, spielt das Wunschradio die
Hits von gestern, und Rebecca stöckelt auf High Heels
durch ihre Küche, um ein Dinner vorzubereiten, das für
eine ganze Familie reicht. Nur gibt es diese Familie, von
der Rebecca träumt, nicht mehr: Ihre Tochter Rachel ist
ein Teenager und wird bald ausziehen. Ein Jahr ist es
her, da hat Rebeccas Mann die Familie verlassen, um
das Glück zu suchen. Sohn Michael, ein junger Mann
mit Psychiatrieerfahrung, ist ihm gefolgt, um ihn nach
Hause zurückzubringen. Rebeccas ungebrochener Optimismus sagt ihr, dass beide zurückkehren werden. Sie
glaubt an das Versprechen ihres Mannes.
Zunächst kehren andere in Rebeccas gute Stube ein: die
befreundete Nachbarin, die im Gäste-WC Selbstmord
begehen wird; Gabriel, ein grimmiger Zeuge Jehovas,
oder Mr. Chalmers, der unbeliebte Lateinlehrer der Kinder, der auch schon Rebecca unterrichtete und der nun
die Frauen der Umgebung vergewaltigt. Rebeccas Welt
und ihre Vorstellung vom Guten und Schönen im Menschen erhalten hässliche Kratzer, doch stoisch und mit
Würde begegnet sie den Widrigkeiten und dem Ende
der Welt. Schließlich spült die Sintflut ihren Sohn ins
Wohnzimmer, im Bauch eines Wals ist er zurückgekehrt. Die schönste Überraschung steht noch aus.
Haidle, ein Meister der komischen Dialoge, hat ein umwerfendes Kammerspiel geschrieben, ein Traumspiel,
das die großen Fragen der Menschheit mit Leichtigkeit
stellt. (3 D, 3 H)
Uraufführung: 16. Mai 2015, Schauspiel Hannover
Regie: Anna Bergmann
Stücke – eine Auswahl
Mr. Marmalade
Deutsch von Brigitte Landes
2 D, 4 H
DSE: 4.4.2009, Badisches Staatstheater Karlsruhe
Regie: Thomas Krupa
Neuinszenierung: 12.9.2013, Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Regie: Isabel Osthues
Saturn kehrt zurück
Originaltitel: Saturn Returns
Deutsch von Brigitte Landes
1 D, 3 H
DSE: 19.10.2010, Staatstheater
Nürnberg
Regie: Jean-Claude Berutti
Neuinszenierung: 27.3.2015
Landestheater Schwaben
Regie: Peter Kesten
Skin Deep Song
Deutsch von Thomas Krupa
3 D, 2 H
UA: 1.2.2013, Schauspiel Essen
Regie: Thomas Krupa
Lucky Happiness Golden
Express
Deutsch von Brigitte Landes
3 D, 2 H
UA: 20.9.2013
Staatstheater Kassel
Regie: Thomas Bockelmann
Neuinszenierungen:
22.6.2014, Schauspiel Essen
Regie: Tom Gerber
29.1.2015, Theater Ingolstadt
Regie: Kathrin Mädler
Ada und ihre Töchter
Originaltitel: What is the Cause
of Thunder
Deutsch von Brigitte Landes
Frei zur DSE
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Foto: Donata Wenders
INGRID L AUSUND
International Ibsen Award 2014
an Peter Handke
»Wenn Ibsen der vielleicht mustergültige Dramatiker des bürgerlichen Zeitalters war, und dieses ist nicht vorbei, so ist Peter Handke auf den Bühnen gewiss ihr bedeutendster Epiker. Es gelingt ihm in all seinen Stücken, die Realität
des Theaters sichtbar zu machen, und zwar als eine Realität, die keine Illusion
erzeugen will, die also nicht die Welt nachbildet, sondern selber eine ist. Und
in ihr kann der Dramatiker Handke wie einst Nestroy oder Calderon eine ganz
eigene Mischung schaffen aus Zaubertheater und Thesenstück, Familiendrama
und Tragödie. Er hat in den fünfzig Jahren seines Schreibens die dramatische Literatur so oft, überraschend und radikal neu definiert wie kein anderer lebender
Dichter. Dabei ist sein Schreiben von einer offensichtlichen Kontinuität geprägt:
Die Selbstverständlichkeiten des Theatermilieus, aber auch unserer sprachlichen
Konventionen und Herrschaftsstrukturen, wurden ihm nie selbstverständlich,
sondern ein Gegenstand der Analyse.
So entstand die vielleicht wichtigste epische Literatur des Theaters nach Brecht:
Über seine Sprechstücke im Rhythmus des Beat führt sie zu neuen, parabelhaften Theaterformen wie Kaspar oder bewegten tableaux vivants wie Die Stunde da
wir nichts voneinander wußten, in dem Peter Handke Hunderte von Figuren auftreten lässt. Ein klassisch gut gebautes Stück über Kapitalisten von heute wie Die
Unvernünftigen sterben aus steht neben Spielarten eines modernen Welttheaters
wie Die Fahrt im Einbaum oder dem Spiel vom Fragen. Seit Jahrzehnten erforscht
Peter Handke eine slowenisch-kärntnerische und somit auch autobiografisch
grundierte Familienkonstellation, als könne es nur der Literatur gelingen, den Figuren jenen Frieden zurückzuerstatten, den ihnen die Geschichte raubte – davon
handeln die Stücke von Über die Dörfer über Zurüstungen für die Unsterblichkeit
bis hin zu einem Meisterwerk wie Immer noch Sturm.
Der Ibsen Award ehrt in diesem Jahr ein an formaler Schönheit und brillanter
Reflexion beispiellos reiches Bühnenwerk.«
(Aus der Jurybegründung)
»Peter Handke hat in den fünfzig Jahren seines
Schreibens die dramatische Literatur so oft,
überraschend und radikal neu definiert
wie kein anderer lebender Dichter.«
Uraufführungen der Theaterstücke
von Peter Handke:
Publikumsbeschimpfung (UA 1966)
Selbstbezichtigung (UA 1966)
Weissagung (UA 1966)
Hilferufe (UA 1967)
Kaspar (UA 1968)
Das Mündel will Vormund
sein (UA 1969)
Quodlibet (UA 1970)
Der Ritt über den Bodensee (UA 1971)
Die Unvernünftigen sterben aus
(UA 1974)
Über die Dörfer (UA 1982)
Das Spiel vom Fragen oder Die Reise
zum sonoren Land (UA 1990)
Die Stunde da wir nichts voneinander
wußten (UA 1992)
Zurüstungen für die Unsterblichkeit
(UA 1997)
Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück
zum Film vom Krieg (UA 1999)
La cuisine (UA 2001)
Untertagblues (UA 2004)
Spuren der Verirrten (UA 2007)
Jusqu'à ce que le jour vous sépare ou
Une question de lumière (UA 2008)
Bis daß der Tag euch scheidet oder
Eine Frage des Lichts (DEA 2009)
Immer noch Sturm (UA 2011)
Die schönen Tage von Aranjuez
(UA 2012)
Uraufführungen der von Peter
Handke übersetzten Theaterstücke:
Aischylos, Prometheus, gefesselt
(UA 1986)
William Shakespeare, Das Wintermärchen (UA 1990)
Jean Genet, Splendid's (UA 1994)
Sophokles, Ödipus in Kolonos
(UA 2003)
Euripides, Helena (UA 2010)
19
»Henrik Ibsen hat in seinen Dramen Gerichtstag gehalten
über sich selbst. Das trifft jetzt auch auf mich zu.«
Eine Dankesrede, gehalten am 22. September 2014 in Skien. Von Peter Handke
Vor bald einem halben Jahrhundert hat mich einmal eine Art
Gedicht angeflogen, und in dem Anflug eine Zeile: »Am Rand
der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.« Henrik Ibsen
hat schon nach einem Vierteljahrhundert des Schreibens und
Veröffentlichens so etwas wie ein Berufsjubiläum gefeiert.
Wieder fast ein Vierteljahrhundert später, 1902, zu seinem
siebzigsten Geburtstag, haben die Studenten von Kristiania,
Oslo, ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltet, und schon
lange vorher war Henrik Ibsen der Vertreter Norwegens bei
der Eröffnung des Suezkanals, wahrscheinlich wegen seines einen Akt lang in Ägypten spielenden episch-lyrischen
Schauspiels vom Peer Gynt.
Und ich, jetzt, 2014, bald zweiundsiebzig Jahre alt, hier in
Skien, Ibsens Geburts- und Kindheitsort, beschert vom norwegischen Staat, gegen den Willen nicht weniger seiner
Bürger, mit dem nach Henrik Ibsen benannten ungeheuren
Theaterpreis? Entsprechend ungeheuer wohl auch ich den
vielen hierzulande mit meiner Arbeit und, insbesondere,
deren Wortlaut, Rhythmus und vor allem Grundgefühl nicht
Vertrauten, und entsprechend nicht geheuer ich so außerdem
mir selber. Kein Fackelzug droht mir, weder in Kristiania —
was für ein schöner Hauptstadtname, mir ein Leben lang
nachklingend aus den ersten Sätzen des »Hunger« von Knut
Hamsun — noch gar im österreichischen Wien alias Vindobona oder in meinem nun schon langjährigen französischen
Wohnort Chaville, von mir insgeheim umgetauft in Schorbylia
alias Sevilla, den Geburtsort des arabischen Sufi-Dichterdenkers/Denkerdichters Ibn 'Arabî. Und der Staat Österreich hat
seinen Schriftsteller P. H. wohlweislich nicht zur Turnusrede
im Gesamteuropäischen Parlament werweißwo eingeladen.
Statt eines studentischen Fackelzugs ist mir im Sinn eher jener von mir vor vielen Jahren beschworene Glühwürmchenzug, das Dahinfliegen und -schwärmen, himmelauf, erd-ab, in
der tiefdunkeln Nacht der friulanischen Ebene von Norditalien, der Kindheits- und Jugendgegend Pier Paolo Pasolinis.
Schon lange habe ich diesen nächtlichen Flug, den lautlosen
der Glühwürmchen oder Leuchtkäfer, nicht mehr gesehen.
Höchstens hockt im Sommer da ein »luciole« mitternächtlich
im Gras, und dort, weit weg, ein zweiter, und in der nächsten Nacht wieder die zwei, unbeweglich, fast an denselben
Stellen. Können die Glühwürmer nicht mehr fliegen? Sind sie
am Aussterben? Oder sind die vereinzelten Bodenhocker eine
mutierte, eine andere Gattung?
»Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.«
Solch einige Hauptsätze, wie bisher weiter, hier bei Henrik
Ibsen in Skien nach den Fjorden, den Orten der meisten seiner
Dramen. Auch ich habe vor kurzem etwas wie ein Berufsjubiläum gefeiert. Nur habe ich gefeiert im stillen, für mich allein.
Und gefeiert, ohne besondere Feier, vielleicht mit dem Essen
eines Apfels oder dem einmal sorgsam Zuschnüren meiner
fünfundzwanzig Jahre mir treuen John-Lobb-Schuhe, hier!,
habe ich das halbe Jahrhundert seit jenem Tag im Juni 1963.
Da nämlich, mit der Niederschrift eines ersten Satzes, hatte
ich erstmals im Leben (fast) eine Gewißheit, die Gewißheit:
Ja, das Schreiben, Aufschreiben, Verknüpfen, Unverknüpftlassen, ist mein möglicher Beruf. Anders als bei Henrik
Ibsen ergriff ich den Beruf, ergriff mich der Beruf aber nicht
mit einem Dramen-Dialog-Satz, sondern mit dem Anfang,
dem, wieder schönes Wort, Anheben einer Erzählung, in der
ungenauen Erinnerung: »Am Boden eines ehemaligen Bunkers erblickte ein Junge, der dort seinen Ball suchte, einen
Mann …« Genaue Erinnerung dagegen: Als mir jener Satz zukam, war das der Sterbetag Johannes’ des Dreiundzwanzigsten, ein Halbsatz in der Geschichte: Im Radio »lag der Papst in
Rom im Sterben». Dreimal »im« …
Kein Vergleich mit meinem über fünfzigjährigen Tun und
Lassen bringt mir das Unternehmen Henrik Ibsen, das »Unternehmen Ibsen« näher, und andererseits sehe ich seltsamerweise auch keine wesentlichen Unterschiede, jedenfalls
nichts Grundsätzliches, oder wieder »im Grundgefühl« Entgegengesetztes, oder gar Trennendes. Schon mehr: Alles war für
Ibsen Thema, insbesondere das Menschliche, das dramatische Allzu-Menschliche, und ich meinerseits, schon seinerzeit
in meinen Anfängen nie ausdrücklich »unserseits« oder gar
INTERNATIONAL
20
PETER HANDKE
»eurerseits«, in der Erklärung »Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms« jemand ohne Thema, es sei denn, dem schreibend »Klarwerden über mich selber«, und solche entschiedene Themenlosigkeit ist auch bis zum heutigen Tage mein Fall
geblieben, oder der Fall bin weiterhin ich, freilich inzwischen
stärker geleitet eher von einem bestimmten Unklarwerden,
einem satz- und absatzweise gezielten Verunklaren, einem
Weit- und Weiterwerden, als einer anderen Klarheit, einer un-,
wenn nicht antidramatischen, einer epischen.
»Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.«
Ja, und wieder wahr: Henrik Ibsen hat in seinen Dramen, so
sein eigenes Wort, Gerichtstag gehalten über sich selbst. Und
das trifft jetzt auch auf mich zu. Denn das epische Sichweitermachen wird von Schreibtag zu Schreibtag immer wieder
notwendig dramatisch, und die Romankapitel, eher erzählerischen Läufe und Mäander springen dann um in Akte, ungezählte freilich, unzählbare, anders als die drei, vier, selten
fünf Akte der Ibsen-Stücke. Und Ibsens Gerichtstage über sich
selbst sind in der Regel Todesurteile, ob er den Fall des Baumeister Solneß verhandelt, oder den des gescheiterten Bankiers John Gabriel Borkman, oder den des Künstlers (vor allem
den) wie in seinem letzten Stück, »Wenn wir Toten erwachen«.
Und meine Gerichtstage über meine episch-dramatischen,
rhythmisch verunklarten anderen Ich oder freiphantasierten, erweiterten Fassungen: Bis jetzt noch jedesmal, zuletzt
im »Großen Fall« und dem »Versuch über den Pilznarren«, am
Ende der Geschichte ein Freisprechen. Gehören demnach Ausweiten, Freiphantasieren und Freisprechen notwendig, ja, notwendig, zusammen? Andererseits: Es ist noch nicht aller Freisprech- und Schreibtage Abend. Das letzte Epos steht noch, so
oder so, aufgeschrieben oder ungeschrieben, bevor. »Morgen
ist ein anderer Tag«: Kann das nicht auch eine Drohung sein?
»Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.«
Zuguterletzt zurück zum Hauptsatz-Dramatiker Henrik Ibsen,
zu ihm allein. Wer ist dabei der Erschöpfte? Nicht eher der
Leser, Hörer, Zuschauer? Aber auch der Schöpfer selber der
Sätze, deren Akteur, Aktivist? Seltsam wieder, oder auch
nicht: Die klassischen europäischen Tragödien, etwa die eines Pierre Corneille oder eines Jean Racine, brauchen jeweils
geschlagene fünf Akte bis zum Heldentod-Ende. Bei Henrik
Ibsen ist es, im großen ganzen, eher umgekehrt. Das Todesurteil über seine Helden wird in der Regel, in Ibsens Regel,
oft schon nach drei rasanten Akten, höchstens vieren, vollstreckt, und Vorhang. Einmal endet das Drama ausnahmswei-
se sozusagen gut, wie bei der »Frau vom Meer«. Und dafür,
und fast nur dafür, braucht der Dramatiker Ibsen, statt seiner
üblichen drei oder vier, ganze fünf Akte, einer langwieriger
als der andere, ein rechter Gegensatz zu seinen Vorfahren,
den klassischen Tragödiendichtern.
Andere Frage: Sind die Stücke Henrik Ibsens Tragödien, im
klassischen oder in sonst einem Sinn? Keine Antwort, jedenfalls nicht von mir hier. Allein schon mein nach all dem
lebenslangen Lesen und In-Betracht-Nehmen (vordringlich
durch Lektüre) des lebenslang das Leben Dramatisierenden
— Reagieren in Hauptsätzen ist ein Hindernis, vielleicht auch
zum Glück. Wie auch immer: Andererseits sind die Dramen
Ibsens sicher nicht die Ahnherren der heutigen Fernsehspiele. (So habe ich einmal, in einer Zwischenzeit, gedacht-nicht
gedacht: »Henrik Ibsen, der Vater des Fernsehspiels.«) Dazu
sind seine Dialoge, vor allem die zwischen Mann und Frau,
viel zu wüst, auch geheimnisvoll, im befreienden Sinn unklar
und gerade so erweckend. Kein Fernsehspiel, in dem Frau
und Mann über ihr ertrunkenes Kind so reden könnten, dürften wie im »Lille Eyolf«, in den Sinn etwa: Wir zwei, wir Eltern,
haben also mit einem armen kleinen Fremdling gelebt.
»Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.«
Nein, diese Hauptsätze sind nicht die Hauptsätze eines heutigen Schreibens, als einer Art und Abart des Journalismus
und des Expertentums. (Zum Teufel mit den Experten — nicht
nur denen gegen den Balkan …) Als etwas Planbares, Machbares, nach Plan Herstellbares. Es gibt schon bei Henrik
Ibsen, geboren am 20. März 1828 in Skien, keinerlei nach Rezept (trotz Apothekerlehre) oder Schreibschule hergestellten
Sätze. Es sind vielmehr geatmete, geseufzte, gestöhnte, gestammelte, wirr-klare (frei nach Paul Valéry) Gliederungen,
ungeplante, eines Ausrufs, oder gar Aufschreis (oh, Edvard
Munch!), und so — »dichterische«. So, genau, mit diesem Wort,
grenzt sich Henrik Ibsen ja selber in einem Brief ab gegen die
täglichen Haupt- und Staatssätze. Da, ohne mich noch vergleichen oder gar von Henrik Ibsen unterscheiden zu wollen,
treffe ich mich endlich mit ihm, zumindest in der Einbildung.
(Ah, erstmals hier Haupt- und Nebensatz.) Und in einer anderen Einbildung war Henrik Ibsen seinerzeit mit mir im Internat, ein paar Klassen über mir; unsere Wäschenummer aber
ziemlich ähnlich, meine, wie schon vor dreiundvierzig Jahren
im »Kurzen Brief zum langen Abschied« erzählt, 248, ZweiVier-Acht, und die seine — ? An dieser Stelle: Schluß mit der
Einbildung; Tagtraum verflogen. Schön wortlos, wortlos frei.
IBSEN AWARD 2014
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Foto: Andrej Glusgold
INGRID L AUSUND
Martin Heckmanns
Die Bergwanderung
oder Sexualität heute
Drei Elternpaare treffen sich zu einem Problemgespräch. Ihre Kinder sind zum
zweiten Mal gemeinsam unterwegs auf einer Bergwanderung. Das ist nicht das
Problem. Aber der Gesamtschullehrer Michael Küster und seine Frau Hanne
haben auf dem Computer ihrer Tochter einen Film entdeckt, der die Jugendlichen am Ende der ersten Wanderung bei sexuellen Aktivitäten in der Berghütte zeigt. Im Gespräch der betroffenen Eltern soll nun eine gemeinsame Strategie entwickelt werden, wie die Kinder bei ihrer Rückkehr empfangen und über
Sexualität und Internet aufgeklärt werden können. Dabei zeigt sich vor allem,
wie die Beziehungsmodelle der Eltern alternieren und konkurrieren und wie
schnell das Unverständnis für abweichendes Verhalten in Verachtung und
Verbote umschlägt. Das Gastgeberehepaar ist in Therapie, die Sängerin und
der Musiktherapeut führen eine offene Beziehung und erzählen einander von
ihren Seitensprüngen, und der Unternehmensberater tauscht seine Partnerin
regelmäßig gegen eine jüngere aus. Als am Ende die Tochter des Hauses vom
Ausflug zurückkehrt, ist die Mutter betrunken, die Wohnung in Unordnung,
und der Unternehmensberater sucht seine Hose.
Die Bergwanderung ist eine Komödie über die Unordnung des Begehrens, konkurrierende Sexualmoral und die Schwierigkeit, die Freiheit auszuhalten.
(3 D, 3 H)
Uraufführung: Juni 2015, Staatsschauspiel Dresden
Regie: N.N.
Martin Heckmanns, 1971 in
Mönchengladbach geboren, Studium
der Komparatistik, Geschichte und
Philosophie, lebt als freier Autor in
Berlin.
Stücke – eine Auswahl
Schieß doch, Kaufhaus!
Frankfurter Fassung
5 Personen
UA: 9.5.2002, TiF/Staatsschauspiel
Dresden in Koproduktion mit
Theaterhaus Jena, Sophiensaele
Berlin und Thalia Theater Hamburg
Regie: Simone Blattner
Das wundervolle Zwischending
1 D, 2 H
UA: 10.2.2005, Niedersächsisches
Staatstheater Hannover
Regie: Charlotte Roos
Wörter und Körper
4 D, 7 H
UA: 10.2.2007
Staatstheater Stuttgart
Regie: Hasko Weber
Kommt ein Mann zur Welt
Mindestens 2 D, 3 H
UA: 24.3.2007
Düsseldorfer Schauspielhaus
Regie: Rafael Sanchez
Vater Mutter Geisterbahn
1 D, 2 H
UA: 6.5.2011
Staatsschauspiel Dresden
Regie: Christoph Frick
Einer und Eine
2 D, 2 H
UA: 15.11.2012
Nationaltheater Mannheim
Regie: Dominic Friedel
Neuinszenierung: 14.2.2014
Theater DER KELLER, Köln
Regie: Martin Schulze
151 Seiten. Broschur. € 14,–
(978-3-518-42379-0)
23
Die Bergwanderung
oder Sexualität heute
Michael Findest du das wirklich eine gute Idee?
Hanne Bitte, Michael, wir hatten uns entschieden.
Michael Du hattest entschieden.
Hanne Weil es unsere Pflicht ist.
Michael Müssen wir das denn gleich in der großen
Gruppe besprechen? Wir hätten doch
telefonieren können.
Hanne Ich finde, alle Eltern haben ein Recht darauf,
zeitgleich informiert zu werden. Und ich
würde gerne gemeinsam klären, wie wir
damit umgehen.
Michael Wir machen uns lächerlich. Wegen eines
3-Minuten-Films.
Hanne Diesen 3-Minuten-Film hat die Tochter der
Braumeisters ins Internet gestellt. Und da
frage ich mich, warum macht die so was.
Michael Ihre Gesichter kann man nicht erkennen.
Das ist doch die Hauptsache.
Hanne Es geht doch nicht nur um den Film.
Deine Tochter war Teil einer Orgie.
Michael Unter fünf Personen spricht man sicher nicht
von einer Orgie.
Hanne Da kennst du dich aus.
Michael Und so genau ist da doch überhaupt nicht zu
sehen, was passiert.
24
Hanne Ich sag mal: ausreichend. Absolut aus
reichend. Mir hat’s gereicht. Den Rest kann
ich mir denken.
Michael Das sind Kinder.
Hanne Das ist es ja.
Michael Die probieren sich aus.
Hanne Und wir sind die Erziehungsberechtigten.
Und wir sind nicht nur berechtigt, sondern
auch verpflichtet, die Grenzen dieses Auspro
bierens festzulegen. Da brauchen wir eine
einheitliche Linie. Wir schauen uns das ge
meinsam an und entscheiden dann, wie wei
ter vorzugehen ist.
Michael Bei dir klingt das, als würden wir eine Regie
rungserklärung vorbereiten.
Hanne Während es dich wie immer null interessiert,
was deine Tochter mitmachen muss.
Michael Im Film sieht es nicht aus, als wäre sie zur
Teilnahme gezwungen worden.
Hanne Das weißt du doch gar nicht. Das ist der
Gruppendruck. Den kann man nicht sehen.
Michael Das wird auf uns zurückfallen. Der Bote und
die Botschaft. Das wird immer ver, ver, ver ...
HanneVerwechselt?
Michael Verdreht. Die Bote und das Botschaft.
Das kennt man doch.
INTER
MARTIN HECKMANNS
Hanne Und deshalb sagen wir besser nichts? Sind
wir Memmen oder Menschen? Michael?
Mäuschen oder Mann? Feigling oder, ich sag
mal, du weißt, was ich meine.
Michael Bitte, Hanne, ich will gemeinsam mit den
Braumeisters keinen Sexfilm sehen. Mit un
seren Kindern in den Hauptrollen. Ich will
überhaupt keine Sexfilme mit denen sehen.
Gar keine Filme will ich mit denen sehen.
Hanne Denkst du, mir macht das Freude?
Michael Den Wolfgang hab ich seit Jahren nicht mehr
gesprochen. Und jetzt lad ich ihn ein zum
Pornogucken.
Hanne Das tut mir sehr leid für dein Verhältnis zum
Wolfgang. Du hättest ihn gerne früher einmal
zu uns einladen können. Ich mag den Wolfgang.
Michael Das ist neu.
Hanne Ich kenn ihn kaum.
Michael Wahrscheinlich magst du ihn deshalb. Der
Wolfgang kann ziemlich ausfallend werden.
Früher hat der sogar unsere Lehrer angepö
belt. Ich sehe schwarz, wenn der auf die
Susanne trifft. Das kenn ich noch von früher.
Da haben die sich auch schon ständig gefetzt.
Hanne
Michael
Hanne
Michael
Hast du nicht gesagt, dass die mal ein Paar
waren in eurer Jugend.
So was kann ganz schnell ausarten. Da sind
Emotionen im Spiel.
Ja. Wenn es um Sex geht, sind Emotionen im
Spiel. Das lässt sich wahrscheinlich nur
schwer verhindern. Und jetzt zieh dir bitte ein
frisches Hemd an. Wir bekommen Gäste.
Wir können immer noch sagen, wir machen
uns einfach nur einen schönen Abend.
Die Urszene ...
... hat Sigmund Freud die Konstellation genannt, in der
ein Kind seine Eltern beim Geschlechtsverkehr beobachtet. Freud vermutet, dass diese Szene als Fantasie oder erlebte Begebenheit in der Analyse bei allen Menschenkindern aufzufinden und von pathogener Wirkung sei. Das
Kind wohne nachträglich dem reinszenierten Akt seiner
Entstehung bei. Der eigene Ursprung werde dem Kind unheimlich. Martin Heckmanns’ neues Stück beschreibt die
umgekehrte Perspektive.
Die Urszene ...
VIEW
... hat Sigmund Freud die Konstellation genannt, in der ein Kind seine Eltern beim Geschlechtsverkehr beobachtet.
Freud vermutet, dass diese Szene als Fantasie oder erlebte Begebenheit in der Analyse bei allen Menschenkindern
aufzufinden und von pathogener Wirkung sei. Das Kind wohne nachträglich dem reinszenierten Akt seiner Entstehung bei. Der eigene Ursprung werde dem Kind unheimlich. Martin Heckmanns’ neues Stück beschreibt die umgekehrte Perspektive.
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Foto: Affolter/Savolainen
INGRID L AUSUND
Wolfram Höll
Und dann
Laudatio von Wolfram Lotz anlässlich der
Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises 2014
an Wolfram Höll
»Das Glück, das ich empfand, als ich im Sommer 2012 zum ersten Mal Wolfram
Hölls Stück Und dann las, ja, das Glück, das ich schon beim Lesen der ersten
Seite empfand, hatte auch viel damit zu tun, eben eine solche Sprache dort
vorzufinden.
Die Sprache in Und dann meint sich auch immer selbst, das macht sie so literarisch, sie entsteht auch und besonders aus sich heraus, aus ihrer Materialität,
aus ihren Wiederholungen, aus ihrem Rhythmus und ihrem Klang.
Die Sprache von Und dann kann durch kein Sprechen ganz naturalisiert werden.
Sie bleibt immer auch vor dem Körper des Schauspielers, sie bleibt künstlich
und für sich greifbar, als wäre sie eine Maske. Aber ganz so, wie die Maske eine
komplexe und enge Beziehung zum Körper unterhält, so meint auch Wolfram
Hölls Sprache in diesem Stück ganz besonders den Körper der Darstellenden,
und zwar aufgrund der ihr eigenen Musikalität.
Von der Kritik wurde des Öfteren darauf hingewiesen, dass Und dann sehr viel
von einem großen Gedicht habe, also sehr lyrisch sei. Das ist vor allem insofern
richtig, als dass die Sprache sehr nahe am Gesang zu sein scheint, eine Eigenschaft, die von Claudia Bauer in ihrer Inszenierung ja sehr genau begriffen
wurde, denn dort schlingert jegliches Äußern von Sprache immer durch das
Grenzgebiet von Sprechen und Singen.
Das Verhältnis von Sprache und Körper in Und dann kann, denke ich, also am
besten über das Singen erklärt werden:
Das Singen ist einerseits künstlicher als das Sprechen, es kann schlechter naturalisiert und also nicht gänzlich einverleibt werden, und zugleich meint es den
Körper aber auf eine vollständigere Weise, ja, der Gesang meint den Körper der
singenden Person stärker und tiefer, als das Sprechen den Körper der sprechenden Person meint.
Deshalb ist die Sprache Wolfram Hölls so theatral, sie bleibt vor den Körpern,
aber sie meint die Körper so sehr in ihrer Anwesenheit, und also ganz besonders das Theater.
In der Kritik wurde über die letzten zwei Jahre hinweg immer wieder angezweifelt, ob Und dann wirklich ein Theaterstück sei, ob es überhaupt auf eine Bühne
gehöre, oder nicht eher ins Radio oder in einen Gedichtband.
Wolfram Höll, 1986 in Leipzig
geboren, ist Autor, Theater- und
Hörspielregisseur und lebt in Biel.
Nach dem Bachelor in Literarischem
Schreiben am Schweizerischen
Literaturinstitut Biel schloss er einen
Master in Theater an der Hochschule
der Künste Bern ab. Und dann war
2012 eingeladen zum Heidelberger
Stückemarkt sowie zum Berliner
Stückemarkt. Höll erhielt für das
Stück zahlreiche Preise, u.a. den
Literaturpreis des Kantons Bern
2013 sowie den Mülheimer Dramatikerpreis 2014. Im Januar 2015 wird
ihm der Lessing-Förderpreis des
Freistaates Sachsen verliehen.
Und dann
Uraufführung: 4. Oktober 2013
Schauspiel Leipzig
Regie: Claudia Bauer
Neuinszenierung: 24. Oktober 2013
Deutsches Nationaltheater Weimar
Regie: Nina Mattenklotz
27
Mich hat das immer irgendwie wütend gemacht, solche
Aussagen zu lesen,
1. weil ich grundsätzlich etwas cholerisch veranlagt bin
und
2. weil ich schon im ersten Moment des Lesens von Und
dann das Gefühl hatte, dass dieser Text für die Bühne
bestimmt ist, ganz unbedingt und viel mehr als die allermeisten anderen gegenwärtigen Theatertexte.
Die Bühnentauglichkeit von Und dann wurde von der
Kritik auch dadurch angezweifelt, dass gesagt wurde,
dass das Stück keine konventionelle dramatische Erzählung mehr biete bzw. nur noch Spuren, Fragmente
davon. Ja, es wurde gesagt, dass der Text deshalb nicht
dramatisch sei.
Aber dieser Schluss ist ganz falsch. Zwar ist in Wolfram
Hölls Und dann die dramatische Struktur kaum noch
auf der Handlungsebene vorzufinden – der Trick ist allerdings, dass Wolfram Höll die dramatischen Strukturen auf eine andere Ebene verschiebt, und zwar auf die
ja, ist der Text in jedem Augenblick viel mehr mit dramatischer Energie geladen, als es eine ausgebreitete
dramatische Handlung leisten könnte. Wolfram Hölls
Sprachdramatik ist präsentisch gemeint, ist im Augenblick und vor Ort, und also ganz besonders auf einer
Theaterbühne.
Und bei allen Unterschieden: In der Verlagerung der
Dramatik von der Handlungs- auf die Sprachebene ist
Und dann den sprach-vor-sich-hinspielenden Texten Elfriede Jelineks nicht unähnlich.
Wo aber Jelineks Textflächen in ihrem Sprachwirbel
kleinste Referenzteilchen herumsausen lassen, schafft
Wolfram Höll dennoch eine Form von Erzählung.
Denn das sprechende Kind in Und dann setzt noch immer Ereignisse hintereinander, oder sagen wir besser:
Bilder von Ereignissen.
Aber nicht diese hintereinandergesetzten Ereignisse ergeben die Erzählung. Die eigentliche Handlung ist das
Hintereinandersetzen selbst, denn ja, die eigentliche
»Das Erzählen in Wolfram Hölls Text ist, im Gegensatz zum Erzählen
in konventionelleren dramatischen Texten, kein Umherwandern mehr
in einer intakten Wirklichkeit, sondern es ist das Herstellen von Orientierung
und Ordnung in einer im Text spürbar zerbrochenen Wirklichkeit.«
Sprachebene. Die Sprache baut ununterbrochen über
ihre Bewegungen, ihre Wiederholungen winzige Spannungsladungen auf. Dieses Aufbauen, dieses Halten
und das Lösen in der Sprache ist die eigentliche dramatische Struktur. Mit diesem großartigen Trick muss
Wolfram Höll keine große geschlossene dramatische
Struktur mehr gewährleisten, ohne aber zugleich auf
das Dramatische verzichten zu müssen. Ja, Und dann
ist dadurch ein deutlich dramatischerer Text als die
konventionelleren Theatertexte heutzutage. Denn über
seine Mikrostrukturen ist die Dramatik immer ganz
augenblicklich gemeint, ist immer das, was gerade da
ist – die Sprache in ihrer Beschaffenheit –, dramatisch,
Handlung des Stücks ist das Erinnern – das Erinnern
als Erschaffen einer Geschichte.
Alles, was in dem Stück vorkommt, ist nicht einfach so
da, sondern es wird durch das Erinnern des Kindes erst
hergestellt. Alles kann erscheinen, und es erscheint
auch, aber es bleibt zugleich immer auch fraglich.
Besonders das immer wiederkehrende, titelgebende
»Und dann« weist auf diesen Prozess der Herstellung
hin: Es verknüpft die Dinge, aber es ist spürbar, dass
diese Verknüpfungen nicht einfach vorhanden sind,
sondern durch die Sprache, die ja das Erinnern ist, immer gerade hergestellt werden.
Das Erzählen in Wolfram Hölls Text ist also, im Gegen-
LAUDATIO MÜLHEIMER
28
WOLFRAM HÖLL
satz zum Erzählen in konventionelleren dramatischen
Texten, kein Umherwandern mehr in einer intakten
Wirklichkeit, sondern es ist das Herstellen von Orientierung und Ordnung in einer im Text spürbar zerbrochenen Wirklichkeit.
Sprechend, im Text und auf der Bühne, sucht das Kind
Zeugen für das Erinnerte, den Leser und Zuschauer.
Die Welt, die in diesem Stück spürbar wird, durch die
das stetige »Und dann« seinen Pfad tritt, ist weit und
zerfallen, sie ist nicht mehr kausal-linear, sondern zirkulierend und verstrickt. Das Wiederkehren der Sprachmuster, der einzelnen Motive auf eine manchmal fast
refrainartige Weise, manchmal nur als flirrende klangliche Assoziation – dieses Wiederkehren schafft einen
Text, in dem das Erzählte nicht einfach kausal aus dem
bereits Erzählten hervorgeht, sondern in dem die Dinge
einerseits vereinzelt stehen und doch miteinander vernetzt sind auf vielfältigste Weise.
Es kann in so einer Rede nicht gelingen, Wolfram Hölls
großartigem Stück insgesamt gerecht zu werden. Es
müsste noch einiges gesagt werden, ja, es müsste noch
etwas gesagt werden
• zu dem fast schon magischen Gebrauch mancher
Wörter,
• zur Schreibmaschine als Schreibinstrument und dem
damit verbundenen Wunsch, jedes Wort und jeden
Buchstaben unbedingt so zu meinen im Augenblick des
Schreibens selbst,
• und dazu, wie die Form dieses Textes vom Theater die
Auseinandersetzung verlangt, und die Auseinandersetzung ist doch für das Theater so elementar,
• und zur Sehnsucht, von der dieses Stück erfüllt ist
und was sie für unsere Gegenwart bedeutet.
Und diese Dinge sind hier nun wenigstens erwähnt,
aber sie sollen auch ein Hinweis sein auf all das, was
hier nicht vorkommen konnte.
Denn es ging mir hier vor allem darum, deutlich zu machen, warum Wolfram Hölls Text aus einer allgemeineren Perspektive so besonders, ja, so wichtig ist:
Und dann ist tatsächlich ein Drama nach dem Drama.
Ein Text, dessen Motivwelt eine ganz vergangene ist,
der aber mehr als fast alle anderen heutigen Theatertexte einen Zugriff auf unsere Gegenwart erhält.
Denn es sind nicht die Motive, nicht die Themen, und
schon gar nicht die Aussagen – nein, es ist die gesamte
Verfasstheit eines Textes, die den Bezug zu unserer Gegenwart bildet.
Der gesamte Entwurf von Wolfram Hölls Und dann reagiert radikal auf die Anforderungen einer veränderten Wirklichkeit. Der Text zieht sich darin aber nicht
zurück und verkleinert sich in seinen dramatischen
Möglichkeiten, sondern er nimmt sich dieser unglaublich schwierigen Aufgabe an, er leistet ein dramatisches
Erzählen, aber eines, das sich von den Erzählungen der
konventionellen Dramatik strukturell unterscheidet:
ein Erzählen, das es für mein Empfinden schafft, unserer Gegenwart gerecht zu werden. Und das ist für mich
mehr als ein kleines Wunder!
Und es macht mir eine so große Hoffnung – für das
Theater, für die literarische Sprache im Theater, auf die
nicht verzichtet werden kann, und für eine neue Dramatik!
Und ich möchte Dir hier, lieber Wolfram, natürlich auch
zu diesem Dramatikerpreis gratulieren, aber vor allem
möchte ich Dir zu diesem wunderbaren Stück gratulieren, für das Du diesen Preis völlig zu Recht erhältst!«
Mülheim, den 22. Juni 2014
Wolfram Lotz, 1981 in Hamburg geboren, ist Lyriker, Dramatiker,
Erzähler und Hörspielautor. Seine Theaterstücke werden vom
S. Fischer Verlag vertreten.
DRAMATIKERPREIS 2014
29
Henrik Ibsen
John Gabriel Borkman
Neu übersetzt von Angelika Gundlach
Ibsens Stück über einen ehemals erfolgreichen Bankier,
der hohe Beträge verspekuliert hat und der sich nach
seiner Verurteilung wegen Betrugs in eine häusliche
Isolation zurückzieht, wirkt nicht erst seit der jüngsten
Bankenkrise aktuell und brisant. Das 1897 in Finnland
uraufgeführte Stück über bittere Kassenstürze, kaltes
Kalkulieren und die Einsamkeit der Macht erlebt auf
deutschsprachigen Bühnen seit Jahren eine breite Rezeption – sei es in drastischer Aneignung (wie z.B.
unlängst bei Vegard Vinge), sei es in psychologisch genauer Auffaltung der Motivationen. Angelika Gundlach
setzt mit ihrer zeitgemäßen Neuübersetzung dieses modernen Klassikers ihre Beschäftigung mit dem großen
norwegischen Dramatiker fort. (5 D, 3 H)
Aktuelle Ibsen-Inszenierungen in den Übersetzungen von Angelika Gundlach: u.a. am
Wiener Burgtheater, am Bayerischen Staatsschauspiel in München, am Münchner Volkstheater, am Düsseldorfer Schauspielhaus,
am Schauspiel Leipzig, am Schlosstheater in
Moers, am Theater St. Gallen ...
30
Ella Rentheim tritt vor die Bank: Siehst du ihn dir
nicht an, Gunhild?
Frau Borkman abwehrend: Nein, nein, nein. Senkt die
Stimme. Er war ein Bergmannssohn –
der Herr Bankdirektor. Konnte den fri
schen Luftzug nicht vertragen.
Ella Rentheim Eher hat ihn wohl die Kälte getötet.
Frau Borkman schüttelt den Kopf: Die Kälte, sagst du?
Die Kälte – die hatte ihn schon lange
getötet.
Ella Rentheim nickt ihr zu: Und uns beide zu Schatten
gemacht.
Frau Borkman Da hast du Recht.
Ella Rentheim mit einem schmerzlichen Lächeln:
Ein Toter und zwei Schatten – das ist ein Werk der Kälte.
Frau Borkman Ja, der Kälte des Herzens. – Dann
können wir beide uns wohl die Hand
reichen, Ella.
Ella Rentheim Ich denke, jetzt können wir es.
Ibsens Stücke bei Suhrkamp
in den vielgespielten Übersetzungen
von Angelika Gundlach
Baumeister Solneß
Byggemester Solness
Die Wildente
Vildanden
Nora – ein Puppenheim
Et dukkehjem
Ein Volksfeind
En Folkefiende
Gespenster
Gengangere
Hedda Gabler
Hedda Gabler
Peer Gynt
Peer Gynt
John Gabriel Borkman
John Gabriel Borkman
»Angelika Gundlach bleibt beim Reim und findet einen Rhythmus, der dreieinhalb Stunden
lang trägt und nicht langweilig wird. Ihre Umgangssprachlichkeit wirkt
gegenwartsbezogen, ohne plump und anbiedernd zu klingen. (…) Gundlachs Deutsch
ist direkt, aber wo sie vulgäre Worte wählt, sind diese auch an ihrem Platz.«
Wiebke Hüster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Peer Gynt im Düsseldorfer Schauspielhaus 2013
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Foto: Joachim Zimmermann
INGRID L AUSUND
Jörn Klare
Der frühe Hase
fängt die Axt
Der erwachsene Sohn hatte sich schon eine Weile nicht mehr zu Hause blicken
lassen, und nun ist die Mutter gestorben. Vater und Sohn haben die Trauerfeier
überstanden, jetzt sind sie allein. Zwei ungleiche Männer und scheinbar typische Vertreter ihrer Generation. Der Vater, Jahrgang 1939, dessen politisch linkes Sendungs- und Selbstbewusstsein in den Theorien von Weber und Adorno
verankert ist und der als Kapitalismuskritiker Karriere gemacht hat. Der Sohn,
ein Kind der späten 1970er, der gegen den Willen des Vaters BWL studierte
und dessen Lebensplan gerade ins Wanken gerät. Ihren Konflikten sind die beiden der Ehefrau und Mutter zuliebe jahrzehntelang ausgewichen, nun müssen
sie sich einer längst überfälligen Auseinandersetzung stellen. Vater und Sohn
ringen um das beträchtliche Erbe der Verstorbenen, den »richtigen« Lebensweg, vor allem aber um Anerkennung und Nähe. Ihr Kampf wird immer stärker
von einer neuen, wahrlich existentiellen Herausforderung bestimmt: Der Vater
hat eine Demenz, die selbst die letzten Gewissheiten zerstört, damit aber auch
Raum für eine andere Art der Begegnung schafft. (2 H)
Jörn Klare, geboren 1965, schreibt
Features und Reportagen (u.a. für
den Deutschlandfunk und Die Zeit)
und erhielt zahlreiche Preise und
Auszeichnungen. Der Dokumentarfilm Was bin ich wert? (Regie: Peter
Scharf) zu seinem viel diskutierten,
gleichnamigen Sachbuch Als meine
Mutter ihre Küche nicht mehr fand.
Vom Wert des Lebens mit Demenz
(Suhrkamp, 2011) kam im Herbst
2014 in die Kinos.
Aus der Auseinandersetzung mit
dem Thema Demenz folgten zwei
Theaterstücke: Du sollst den Wald
nicht vor dem Hasen loben, das
Porträt einer Mutter-Tochter-Beziehung sowie Der frühe Hase fängt
die Axt.
Du sollst den Wald nicht vor
dem Hasen loben
UA: 28.1. 2015
Badisches Staatstheater Karlsruhe
Regie: Katrin Plötner
Uraufführung: 10. April 2015, Staatstheater Nürnberg, Regie: N.N.
Vater Kannst du deiner Mutter sagen, dass ich Hunger habe.
Ein Brot mit Käse …
Sohn Mama ist tot.
Vater Ja. Sag es ihr trotzdem. Ein Brot mit Käse. Ein Käsebrot.
(aus: Der frühe Hase fängt die Axt)
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INGRID L AUSUND
Thomas Köck
jenseits von
fukuyama
Thomas Köck, geboren 1986 in
Steyr (Oberösterreich). Sozialisiert
durch Musik, studierte er zunächst
in Wien und Berlin Philosophie und
Literaturwissenschaft, seit 2012
Studium des Szenischen Schreibens
an der Universität der Künste in
Berlin mit Aufenthalt am Deutschen
Literaturinstitut Leipzig. Mit jenseits
von fukuyama gewann Köck den
Osnabrücker Dramatikerpreis.
Für Isabelle Huppert (geopfert wird
immer) erhielt Köck den »ElseLasker-Schüler-Stückepreis 2014«,
das Stück wird am Pfalztheater
Kaiserslautern uraufgeführt.
Im Institut für Glücks- und Zukunftsforschung ist das Team um Dr. Phekta vermeintlich auf der Suche nach dem Sinn menschlicher Existenz. In Wirklichkeit wird hier die Summe der Gewohnheiten, Onlineprofile etc. der Menschen
gesammelt, gespeichert, analysiert, organisiert und an Entscheidungsträger
weiterverkauft. Ziel ist die reibungslose Kontrolle der Gesellschaft. Natürlich
dürfen die Daten nicht in die Öffentlichkeit gelangen – wo sie selbstverständlich landen. Während im »Draußen« der »Chor der enttäuschten Erwartungen«
schon den Widerstand probt und gegen die Ausmessungen und Auswertungen
seiner Biografien protestiert, tobt zwischen den Mitarbeitern des Instituts ein
tödlicher Konkurrenzkampf.
Schlagfertig, die Absurditäten der Jetztzeit konsequent weiterdenkend, sprachlich verspielt und ungemein komisch, fragt Thomas Köck in seinem SuhrkampDebüt nach den Utopien, die das Leben nach dem »Ende der Geschichte« noch
für uns bereit hält. (3 D, 2 H)
Paradies Fluten (AT)
Libretto
UA: 11.9.2015, Theater Osnabrück
Choreografie: Mauro de Candia
Uraufführung: 17. Mai 2014, Theater Osnabrück, Regie: Gustav Rueb
»Köck zeigt nicht das Ende der Geschichte, wie es Fukuyama vorschwebte,
sondern den Anfang vom Ende der Welt, wie wir sie kennen. Sein Stück ist eine
gelungene Satire auf eine kriselnde Gesellschaft, auf Fortschrittsversessenheit
und Arbeitswahn, auf fehlende Generationengerechtigkeit und die Realitätsferne
der Universität.« Tobias Becker, Theater heute
Fr. Dr. Phekta Dieser Raum ist einzigartig in seiner Art. Es ist der deutsche
Durchschnittsraum. Berechnet aus hochsensiblen Daten in jahrelanger Kleinstarbeit. Kafka, Sarrazin, Schirrmacher, Marx, Harry Potter und Schiller. Das ist
die groteske Weltanschauung des Schnitts. Was ist denn daran jetzt privat? Hochsensible Daten?! Frei zugängliche Verhaltensmuster, die man nur auswerten
muss. Dieser Raum ist eigentlich ein einziger ideologischer Alptraum, aber! es
ist der durchschnittliche ideologische Alptraum. Das ist das Zimmer der stimmenstärksten Wählerschicht. Es ist das Zimmer, in dem diese Nation zu sich kommt.
(aus: jenseits von fukuyama)
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Foto: Susanne Schleyer
INGRID L AUSUND
Konstantin Küspert
pest
»Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?«, fragt Georg Büchner in Dantons Tod. pest folgt derselben zerstörerischen Kraft und den Spuren
ihrer Verwüstung. Der Text führt uns in zwei Paralleluniversen, die jeweils
mit der gleichen Ausgangssituation beginnen: Auf einem Fußballfeld in einer
deutschen Stadt drillt ein Vater seinen Sohn zu Höchstleistungen. Der Junge, Georgios, soll Fußballer werden, nicht Naturwissenschaftler, wie das der
Sohn gerne möchte. Das Stück erkundet das Prinzip paralleler Welten, das
die Hauptfigur Georgios, inzwischen erwachsen und alkoholabhängig, so skizziert: »jede einzelne entscheidung schafft ein neues universum im schaumbad
der multiversen. alles, was theoretisch passieren kann, passiert, irgendwo.« So
schlägt Georgios in der einen Welt zunächst eine Karriere als Fußballer ein, in
der anderen die eines Naturwissenschaftlers. Die Scheidewege führen keineswegs zu besseren Welten, sondern allenfalls zu anderen Zerstörungsverläufen,
in eine Welt eines globalen Krieges und in eine Welt einer nuklearen Katastrophe. Ein Text wie ein Stress-Test für die Restmoral in unseren Köpfen und
Körpern.
(Besetzung variabel)
Frei zur Uraufführung
Konstantin Küspert, Autor und
Dramaturg, wurde 1982 in Regensburg geboren. Seit dem Studium
der Germanistik, Philosophie,
Politikwissenschaft und Theaterwissenschaft in Regensburg und Wien
Theaterprojekte mit Claudia Bosse
und Produktionen u.a. am Germanistentheater an der Uni Regensburg,
am Staatstheater Karlsruhe und am
HAU Berlin. Küspert studierte an
der Berliner Universität der Künste
Szenisches Schreiben.
mensch maschine
UA: 22.9.2013, Theater Regensburg
Regie: Sahar Amini
Neuinszenierungen:
5.12.2014, theater junge generation
Dresden
Regie: Roscha A. Saidow
6.2.2015, Theater Lüneburg
Regie: Martin Pfaff
»Was sich nun entspinnt, ist ein handfester Bewusstseins-Krimi mit feiner
philosophischer Unterfütterung. Küspert erzählt sein – im wahrsten Sinne
des Wortes – Gedankenexperiment
mit Tempo, direkter Prosa und großer
Lockerheit.«
(Christian Rakow, nachtkritik, über
mensch maschine)
»wie ein schaumbad ist die gesamtheit der schöpfung. mit universen wie blasen,
die entstehen, sich ausdehnen und wieder zerplatzen. jedes universum ein klein
bisschen anders, keine zwei identisch. jede möglichkeit existiert. also schafft jede
entscheidung neue welten. jede geworfene münze spaltet ein universum ab, nämlich das, in dem die münze anders landet. und das, in dem die münze auf die
kante fällt. und das, in dem die münze in der luft hängen bleibt. und das, in dem
der münzwurf einen atomkrieg auslöst.«
(aus: pest)
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Christoph Nußbaumeder
Das Fleischwerk
sich auf schicksalhafte Weise. Eines Nachts fährt Rabanta eine junge Frau auf der Landstraße an und nimmt sie
zu sich nach Hause. Susanna ist Andreis Frau.
Das Fleischwerk ist ein düsteres, sprachlich dichtes Theaterstück über die zynischen Mechanismen und Hierarchien eines Schlachtbetriebes, in dem der Wert von
Menschen- und Tierleben nach ökonomischen Gesichtspunkten bemessen wird. Eine moderne Tragödie, die unterschiedliche Erzählstränge und Zeitebenen raffiniert
miteinander verwebt und doch diese eine Geschichte
erzählt: die der Lohnsklaverei im 21. Jahrhundert.
Uraufführung: 12. September 2015, Schauspielhaus
Bochum, Regie: Robert Schuster
Auftragswerk für das Schauspielhaus Bochum
Foto: Susanne Schleyer
Sie kommen in Arbeitskolonnen aus Rumänien oder
Bulgarien, schlachten Schweine, zerteilen die Tierkörper oder säubern die Räume, in denen das Vieh vor der
Schlachtung betäubt wird. Für diese Knochenarbeit
werden die »Wanderarbeiter« schlecht bezahlt, die Unterkünfte sind dürftig. So wird Fleisch zu Billigpreisen
produziert. Andrei ist in diesem deutschen Schlachtbetrieb ein »Störfaktor«, der Anhänger für den Kampf
um bessere Arbeitsbedingungen mobilisiert. »Bist du
Fleischzerleger oder Erbsenzähler?«, provoziert ihn sein
Vorgesetzter Akif, als Andrei ihm seine nichtvergüteten
Überstunden vorrechnet. Akif hat auch Daniel Rabanta einen Job besorgt: Der ehemalige Fernfahrer arbeitet
heute als Viehfahrer, nachdem er ein paar Jahre für eine
Tat einsaß, deren Details erst nach und nach zutage treten. Die Lebenswege von Andrei und Rabanta kreuzen
Christoph Nußbaumeder wurde 1978 im
niederbayerischen Eggenfelden geboren und
lebt in Berlin. Studium der Rechtswissenschaft,
Germanistik und Geschichte in Berlin.
Nußbaumeders Stücke wurden u.a. an der Berliner Schaubühne, am Nationaltheater Mannheim
und am Schauspiel Köln uraufgeführt. Vielfach
neu inszeniert wurde Eisenstein, das 2010 am
Schauspielhaus Bochum uraufgeführt wurde.
Im Mai 2013 folgte die Uraufführung von Mutter
Kramers Fahrt zur Gnade als Koproduktion mit
dem Schauspielhaus Bochum bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen.
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»Das überzüchtete Mastschwein und der
ausgezehrte Werkarbeiter stehen sich gegenüber
und glotzen sich unverwandt an.«
Christoph Nußbaumeder im Gespräch
Nina Peters: Zur Vorbereitung auf den Schreibprozess von
›Das Fleischwerk‹ hast du recherchiert, wie bist du vorgegangen?
Christoph Nußbaumeder: In Ostwestfalen habe ich mir
eine Großschlachterei angeschaut, wobei ich Schlachthöfe ja seit klein auf kenne. Man sieht da erst einmal
nur Vorgänge, die sich in den letzten 25 Jahren kaum
geändert haben, die meisten Arbeitsschritte, wie Ausweiden oder Zerlegen, sind zwar Fließbandarbeit, aber
sie muss manuell gemacht werden, das kann keine Maschine übernehmen. Das leisten größtenteils Männer
und Frauen aus Osteuropa, weil die wesentlich günstiger und umgänglicher sind, sie klagen einfach nicht
so viel über die Arbeitsverhältnisse wie einheimische
Beschäftigte. Ich hab mich dann noch im Bochumer
Rotlichtviertel rumgetrieben, weil die ganze Wanderarbeiterstreuung diesen Arbeitsmarkt schließlich nicht
auslässt ...
Gab es eindrückliche Begegnungen?
Da gab’s jetzt keine Überraschungsreflexe, das sind
manchmal nur Blicke oder Wortfetzen, sinnliche Eindrücke. Einmal war ich in einem Wettbüro, bei dem
Anbieter, der mit dem Spruch »Ihre Wette in sicheren
Händen« wirbt ... Das ist schon eine ziemlich traurige
Veranstaltung, da sitzen viele von den Schlachthofarbeitern in einem trostlosen Raum, stieren auf Monitore
und versuchen halt, ihr schmales Gehalt aufzubessern,
was natürlich meistens nach hinten losgeht. Aber Feldforschung ist das eine, sie ist eine Art Absicherung gegen die reine Spekulation, auch ein Realitätsabgleich zu
dem, was man an Berichten in Zeitungen oder im Netz
findet. Gleichzeitig war ich auf der Suche nach ökonomischen Zusammenhängen, die an der Fleischindustrie
angekoppelt sind: Welche Industrien sind eingebunden,
wer profitiert davon, welche politischen Interessen stecken dahinter? Dann kann man das ganze Thema natürlich auch kulturhistorisch betrachten: In welcher
Gesellschaft leben wir eigentlich, in der die Erzeugung
und Herstellung von Lebensmitteln derart aus dem Alltag verbannt ist wie in unserer? Warum gleicht der Herstellungsort oft einem Hochsicherheitstrakt, weshalb
findet das alles im Verborgenen statt? Aus ökologischer
Sicht ist der Billigfleischkonsum sowieso katastrophal.
Jedenfalls stehen sich am Ende der Verteilungskette das
überzüchtete Mastschwein und der ausgezehrte Werkarbeiter gegenüber und glotzen sich unverwandt an.
Dein Stück erzählt, wie bereits ›Eisenstein‹, ebenfalls ein
Auftrag für das Schauspielhaus Bochum, auch von strukturellen Veränderungen einer ländlich-agrarischen Gesellschaft.
Weitere Uraufführungen in 2014/15:
Von Affen und Engeln
UA: Mai 2015, Ruhrfestspiele
Recklinghausen in Koproduktion
mit den Sophiensaelen Berlin
Regie: Bernarda Horres
Cold Heart
Libretto nach dem Märchen »Das
kalte Herz« von Wilhelm Hauff
UA: November 2015
Regie: Donald Berkenhoff
Musik: The Tiger Lillies
Margarete Maultasch
UA: Juli 2015, Tiroler Volksschauspiele Telfs, Regie: N.N.
253 Seiten. Broschur. € 20,–
(978-3-518-42378-3)
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In erster Linie ging es mir jeweils um die Darstellung
einer Umbruchzeit. Das Neue kündigt sich an, ist in
seiner ersten Gestalt auch schon da, und das Alte ist
noch nicht vorüber. Darüber gibt es ein Bewusstsein,
die Zeiten werden wie tektonische Platten gegeneinandergeschoben, es knirscht. Und da das Neue auch
das Unbekannte ist, beunruhigt es; es ängstigt, selbst
wenn das Alte selbstverständlich nicht immer gut war.
Und Beunruhigung kennt jeder. Ich glaube, Theater ist
auch dazu da, Angst gemeinsam zu meistern, nachdem man sich ihr ausgesetzt hat. Im Fleischwerk sagt
Weidenfeller einmal: »Noch nicht so lange her, und die
Felder waren kleiner und die Schweine weit weniger,
und es hat gereicht für sechs Leute am Tisch. Heute
produzier ich das Sechsfache, unterm Strich bleibt mir
aber nicht mehr. Man hängt da drin, für mich gibts
kein Zurück.« Die technologischen Machbarkeiten und
das Preistreiben am Markt überfordern ihn, er zweifelt
an der Sinnhaftigkeit seines Tuns. Weidenfeller ist Teil
des Systems, er will eigentlich aussteigen, weiß aber
nicht, wie er das bewerkstelligen soll, ohne arbeitslos zu werden. Meiner Erfahrung nach geht es vielen
Menschen so wie ihm.
Wie oft in deinen Stücken spielt der Verlust eine Rolle.
Berührt dich dieses Thema?
Ja, mich interessieren Menschen, die aus Verlust Energie ziehen, vielleicht auch Glück.
Das Stück endet mit der Härte einer antiken Tragödie.
Susanna zerstückelt Akifs Leiche und wirft sie den Hunden zum Fraß vor. Stand dieses drastische Ende zu Beginn für dich fest?
Nein. Dramaturgisch stand von vornherein gar nichts
bis wenig fest, ich wusste nur, dass sich rüdester Realismus und literarisch hochgestelltes Pathos auf einer
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rein sprachlichen Ebene kreuzen sollten. Aber wahrscheinlich war aufgrund dessen die Drastik des Schlusses schon vorgepflastert, ohne dass ich es wusste.
Die Antike spielt als Referenz in der Figurenrede, aber
auch in Prosatexten, die das Stück rhythmisieren, eine
Rolle, in der Erzählung ›Der Spartakuskrieg‹ etwa. Warum?
Zunächst mal wollte ich damit die Perspektive weiten
und die Geschichte der organisierten Ausbeutung,
die auch Teil der europäischen Kulturgeschichte ist,
in einen größeren Kontext setzen. Mir ist schon klar,
dass man Sklaverei im Römischen Reich nicht mit
Lohndumping im 21. Jahrhundert gleichsetzen kann.
Man darf aber auch nicht außer Acht lassen, dass in
den meisten Fällen die Sklaverei im klassischen Sinne nur abgeschafft wurde, weil Billiglohnarbeit letztlich profitabler für das Unternehmen war. Der Sklavenhalter hat sich einfach die Kosten für Unterkunft
und Verpflegung gespart. Die ehemaligen Sklaven,
die jetzt zwar frei, aber nach wie vor bitterarm waren,
waren nun auf sich alleine gestellt, sie mussten sich
selbständig irgendwelche Hilfsarbeiten suchen. So
bekam beispielsweise die Verslumung in den Großstädten einen enormen Schub. Auf der anderen Seite
ist die Spartakusgeschichte auch eine Geschichte der
Auflehnung. Spartakus hat es gewagt, sich gegen das
römische Imperium zu stellen, er hat dafür mit seinem
Leben bezahlt. Deshalb galt er auch als Galionsfigur
der proletarischen Revolution, und nicht von ungefähr haben Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ihre
Vereinigung »Spartakusbund« genannt, die aus einer
oppositionellen Gruppe der SPD hervorging. Der historische Spartakus gehörte dem Stamm der Thraker an,
die damals weitgehend auf dem Gebiet des heutigen
Bulgarien lebten. Und da Andrei, der den Aufstand der
Schlachthofarbeiter organisiert, Bulgare ist, gibt es da-
INTER
CHRISTOPH NUSSBAUMEDER
hingehend eine Art Entsprechung in der heutigen Zeit.
Er hat den Mut aufzubegehren, und auch er kommt
deshalb ums Leben.
Welche Figur stand zuerst?
Ganz am Anfang stand der Viehfahrer Rabanta, als
einsamer Kerl, der schon einen Großteil seines Lebens
gelebt hat und jetzt versucht, seinen Job so anständig wie möglich zu machen. Er will sich einrichten,
doch das Leben lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Erst
kriegt er die Krebsdiagnose, kurz darauf läuft ihm diese bulgarische Frau vors Auto. Und auf einmal wird
sein Leben neu verhandelt, er muss sich verhalten,
weil er mit Dingen konfrontiert wird, die ihn unausweichlich treffen.
Du knüpfst mit diesem Stück an ›Mit dem Gurkenflieger in die Südsee‹ an. Bereits 2005 hattest du Menschen
als Arbeitsmigranten aus Osteuropa porträtiert. Hast du
reflektiert, wie sich eine Geschichte der »Sklaven des
21. Jahrhunderts« noch einmal erzählen lässt?
Beim Fleischwerk ist der Fokus größer gezogen. Es
geht natürlich um Arbeit und Ausbeutung, aber auch
um das Produkt. Wofür werden hier Menschen aus
Tausenden von Kilometern Entfernung angeworben,
was helfen die eigentlich herzustellen? Es ist billiges
Discounterfleisch, das sich die Industrieländer in die
Pfanne hauen. Ich bin selbst kein Vegetarier, aber ich
finde es pervers, wenn das Kilo Grillkotelett im Werksverkauf bei Tönnies für 3,49 Euro angeboten wird.
Wenn im Konsumverhalten in absehbarer Zeit kein
Umdenken stattfindet, hat das üble ökologische Konsequenzen zur Folge, die man natürlich jetzt schon
spürt. Die Masttiere brauchen Trinkwasser und Kraftfutter, das hauptsächlich aus brasilianischem Soja besteht, wofür dort der Regenwald abgeholzt wird. Die
Güllemassen verunreinigen das Grundwasser, und der
Antibiotikaeinsatz bei Intensivtierhaltungen ist enorm
... Man weiß das alles, aber den Konsumenten interessiert das flächendeckend nicht die Bohne. Aber vielleicht kann ein fiktionaler Stoff ein klein wenig mehr
Problembewusstsein schaffen, als reine Faktenanhäufung es vermag.
›Mit dem Gurkenflieger in die Südsee‹ war Martin Sperr
gewidmet. Wenige Monate vor dessen Tod im April 2002
hast du einen berührenden Film über Sperr realisiert,
»Nach der Jagd. Szenen«. Was hast du ihm zu verdanken?
Zunächst mal war Martin für mich wichtig, weil er mir
gezeigt hat, dass Schrift möglich ist. Als ich als Jugendlicher seine Jagdszenen aus Niederbayern gelesen
habe, kamen darin Orte vor, die in unserer unmittelbaren Umgebung lagen. Mir war nicht bewusst, dass
die eigene Provinz literarisierbar ist beziehungsweise
Gegenstand von Literatur sein kann. Ich dachte bis dahin immer, man müsse von der weiten Welt berichten,
man müsse eine Sprache der Metropole bedienen, um
Gehör zu finden. Ich dachte, alles was in meiner Umgebung passiert, interessiert kein Schwein, weil es viel
zu irrelevant ist. Heute weiß ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Man kann nur über das schreiben,
was man kennt. Als ich Martin dann später persönlich
begegnete, fand ich ihn ziemlich lässig, vor allem, wie
er auf Konventionen pfiff. Ich hab ihn ja zwei Jahre vor
seinem Tod kennengelernt, und sein Leben war, von
außen betrachtet, eine ziemliche Achterbahnfahrt. Er
kam mir aber nie frustriert oder gar verbittert vor. Ich
glaube, der hatte eine tiefe Einsicht: Man ist ins Leben geworfen, und es gibt keine alternative Geschichte
dazu. Alles Hadern wäre sinnlos. Je älter ich werde,
umso mehr begreife und schätze ich seine feine, lebenszugewandte Art.
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Foto: Kerstin Groh
INGRID L AUSUND
Georg Ringsgwandl
Die Donauprinzessin
Georg Ringsgwandl arbeitete bis zu
seinem 44. Lebensjahr als Arzt und
steht seit über dreißig Jahren auf
der Bühne. Er veröffentlichte zehn
Studioalben, schreibt Musiktheaterstücke, Bücher und Beiträge für
Magazine und Zeitungen.
Ein Abend für eine Schauspielerin und zwei, drei Musiker
Stücke bei Suhrkamp
Eigentlich wollte sie nie auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten. Sie war eine Nachwuchshoffnung an einem großen deutschen Stadttheater, trat bei Avantgardefestivals auf, sie kennt die Off-Szene, hatte Rollen bei Film und Fernsehen. Doch
der Beruf hat seine Durchhänger, Strom, Gas und Miete und Essen wollen bezahlt werden, und so landet sie auf einem Donaudampfer. Die Musiker an ihrer
Seite sind Jazzprofis, auch sie haben mit den Besten zusammengearbeitet, nun
covern sie bekannte Songs. Die Tage auf dem Schiff verlaufen nach einem bestimmten Rhythmus. Bei schlechtem Wetter gibt sie morgens eine Lesung im
Salon, bei Sonne erklärt sie auf dem Oberdeck die Geschichte vorbeiziehender
Klöster und Burgen. Nachmittags spielt sie mit der Band zum Tee, abends zum
Dinner, anschließend auch zum Tanz. Sie begegnet Menschen mit ungewöhnlichen Schicksalen und Geschichten. Eines Nachts setzt sich ein Amerikaner
zu ihr und den Musikern, der meint, diese anregende Situation, wie er sie, mit
Musik und Gesprächen, gerade an dieser Bar erlebt hat, gehöre eigentlich auf
die Bühne. Als richtiges Theaterstück.
Georg Ringsgwandls komischer, lebenskluger Monolog ist die bittersüße Lebensbilanz einer »verkannten« Schauspielerin: Während sie im Abgleich mit
den Geschichten der »Reichen, Schönen und Erfolgreichen« ihr Lebenswerk bemisst, lässt sie tief in die sozialen und seelischen Abgründe einer Künstlerbiografie blicken. (1 D, 2 oder 3 Musiker)
Der varreckte Hof
(Bayerische Fassung)
Stubenoper. Gesänge in einer
sterbenden Sprache
3 D, 2 H
UA: 4.8.2012, Tiroler Volksschauspiele Telfs
Regie: Susn Weber
DEA: 4.10.2013, Theater an
der Rott, Eggenfelden
Regie: Susn Weber
Der verreckte Hof
(Hochdeutsche Fassung)
SEA: 4.10.2014, Theater an der
Winkelwiese, Zürich
Regie: Stephan Roppel
Neuinszenierung: 30.1.2015
Landestheater Linz
Regie: Ingo Putz
Frei zur Uraufführung
»Es gab Zeiten, da saß ich daheim am Küchentisch und schrieb die beziehungsmäßigen Grundkonstellationen auf einen Zeitungsrand, um mir darüber klar
zu werden, was am Schlimmsten ist:
1) Viel Geld, aber kein Typ
2) Kein Geld und kein Typ
2a) Wenig Geld und ein windiger Typ
3) Kein Geld, aber ein netter Typ
3a) Bisschen Geld und ein passabler Typ
4) Mehrere Typen, aber immer noch kein Geld.«
(aus: Die Donauprinzessin)
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Foto: Susanne Schleyer
INGRID L AUSUND
Gesine Schmidt
Pfirsichblütenglück
Gesine Schmidt montiert in ihrem neuen dokumentarischen Stück widersprüchliche Erfahrungsmomente ungleicher deutsch-chinesischer Paare in China. Es geht um die grenzüberschreitende Kraft der Liebe, genauso aber um die
ganz materiellen Konflikte, die durch die kulturellen Unterschiede der Akteure
eine dramatische Verschärfung erfahren.
Der 87-jährige Xu, der einmal der Deutsch-Dolmetscher von Mao Tse-Tung war,
hat mehr als zwanzig Jahre seines Lebens in chinesischen Gefängnissen verbracht. Eine Frau zu finden ist unter diesen Voraussetzungen in China unmöglich. Eine Gastprofessur in Deutschland führt zu einer Begegnung mit der um
etliche Jahre jüngeren Gerda. Und das ist der Beginn einer langjährigen, in
jeder Hinsicht außergewöhnlichen Beziehung.
Brit, 40, ficht als deutsche Mutter in Shanghai Erziehungskämpfe um ihren
Sohn mit ihrer Verwandtschaft aus. Und ihre Beziehung zu ihrem chinesischen
Mann ist auch nicht mehr das, was sie mal war, damals in New York, als die
beiden sich ineinander verliebten – auf neutralem Boden.
Holger, 51, hatte nach einem unbefriedigenden deutschen Berufseinstieg für
sich die Entscheidung getroffen, als Arzt in die weite Welt zu ziehen. Nach unzähligen Auslandseinsätzen weltweit trifft er auf die 13 Jahre jüngere Ling,
verliebt sich und heiratet sie, obwohl die Verständigung mit ihr in mehrfacher
Hinsicht eingeschränkt ist. Zuallererst soll der Weltenbummler ausgerechnet
eine Immobilie beschaffen.
Jan und Huang haben sich an der Berliner Uni kennen und lieben gelernt. Der
nicht besonders fleißige Jan bemüht sich erfolgreich um ein China-Stipendium,
um seiner Liebe in ihre Heimat zu folgen. Dort schlägt der »unrealistische Träumer«, als der er sich selbst bezeichnet, hart auf. Es kommt zu Konflikten mit
der zielstrebigen Huang und ihrer Familie. Erst die Schwangerschaft Huangs
und der Tod von Jans Mutter führen zu einer überraschenden Wende. (3 D, 3 H)
Gesine Schmidt, 1966 in Köln geboren, arbeitete nach dem Studium
der Komparatistik, Neugermanistik und Theaterwissenschaft als
Dramaturgin an verschiedenen
Theatern, u.a. am Berliner Ensemble,
am Maxim Gorki Theater und am
Deutschen Theater Berlin.
Seit 2009 arbeitet sie als freie Autorin in Berlin.
Weitere Stücke bei Suhrkamp
— eine Auswahl
liebesrap
1 D, 1 H
Frei zur Uraufführung
Expats
Besetzung variabel
UA: 16.3.2013, Theater Basel
Regie: Antje Schupp
Die Russen kommen
Besetzung variabel
UA: 24.10.2010, Staatstheater
Nürnberg
Regie: Patrick Schimanski
Oops, wrong planet!
2 D, 3 H
UA: 15.4.2011, Theater Basel
Regie: Christian Zehnder
Bier, Blut und Bundesbrüder
Besetzung variabel
(Grundlage der Inszenierung von
Volker Lösch am Schauspiel Bonn
Premiere: 9.5.2014)
Frei zur Uraufführung
Gesine
Schmidt
liebesrap / Oops, wrong planet! /
Expats / Bier, Blut und Bundesbrüder
suhrkamp spectaculum
Uraufführung: Theater Heidelberg, Herbst 2015
240 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42462-9)
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INGRID L AUSUND
Akin E. Şipal
Santa Monica
Akin E. Şipal, 1991 in Essen
geboren, aufgewachsen in Gelsenkirchen und Istanbul, studiert Film
an der Hochschule für bildende
Künste Hamburg. Für sein erstes
Theaterstück Vor Wien gewann er
den bundesweit ausgeschriebenen
Wettbewerb »In Zukunft«, für
Santa Monica erhielt er den Förderpreis Literatur der Kulturbehörde
Hamburg.
In Santa Monica begleiten wir eine Familie geographisch von Essen über die
Türkei und Brasilien nach Santa Monica, Kalifornien. Vater, Mutter, junger
Bruder, älterer Bruder, ihre Geschichte, die erzählt wird, ist eine tragische Geschichte und auch die Geschichte eines Glücksfalls.
Es dauert eine Weile, bis die Ärzte herausfinden, was es mit den roten Punkten, die den ganzen Körper des jungen Bruders bedecken, auf sich hat; er hat
Leukämie, Blutkrebs. Was nun folgt, ist der Verlauf einer tödlichen Krankheit
begleitet von Ängsten, Schmerzen und Hoffnungen, der Verzweiflung und den
unterschiedlichen Formen, wie die einzelnen Familienmitglieder mit diesem
Schicksal umgehen. Das wird im Stück bei aller Tragik, nicht zuletzt durch
eine poetische Sprachstruktur, immer wieder auch durch humorvolle Momente
durchbrochen. (2 D, 2 H)
Vor Wien
2D, 3 H
Frei zur Uraufführung
Uraufführung: März 2015, Nationaltheater Mannheim
Regie: Tarik Goetzke
Mutter
Die Ärzte sagen Ihr Sohn ist auf der Warteliste / ganz oben Ihr Sohn hat Priorität / Niemand mit Priorität ist auf einer Warteliste / Auf der Warteliste stehen nur Leute / die nicht genug Kleingeld haben /
sich in das Präsens einzukaufen / Ich rauche auf und stürme das Chefarztbüro / Ich habe drei Fragen sage ich / Erstens / Warum dauert
das so lange einen Spender zu finden? / Zweitens / Warum steht mein
Sohn auf einer Warteliste? / Drittens / Wie viel muss ich zahlen dass er/
auf den ersten Platz der Warteliste rutscht?
(aus: Santa Monica)
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»Hauptsache kein Mitleid«
Akin E. Şipal im Gespräch
Manfred Ortmann: Zusammengefasst kann man sagen, ein Stück über eine Familie und ein Stück über eine
Krankheit; ich wüsste gerne von Ihnen, ob mit dieser medizinisch definierten »Krankheit« vielleicht doch noch
mehr, anderes gemeint sein kann?
Akin E. Şipal: In Santa Monica geht es mehr um die
Kommunikation am Abgrund als um die Krankheit
selbst. Bei der Diagnose Blutkrebs tut sich natürlich
ein großer Abgrund auf, so groß, dass die Familie
auf einmal viel mehr kommunizieren muss, weil sie
bemerkt, dass es wichtig ist, sich in einer »höheren
Frequenz« zur Gemeinschaft »Familie« zu bekennen.
Die Situation ist viel zu belastend, als dass eine Person allein die Verantwortung tragen könnte. Das Stück
ist eine Art emotionaler Staffellauf, jeder trägt mal
die Verantwortung, die Bürde, den anderen Mut zu
machen, Hoffnung auszustrahlen, um sie dann aber
rechtzeitig weiterzugeben, bevor sie oder er einen
Zusammenbruch erleidet. Es ist also ein Stück über
innerfamiliäres Katastrophenmanagement, die Kommunikation bekommt auf Basis der Krankheit eine
existenzielle Dimension, und alle Figuren sind schneller an ihren Grenzen, und vielleicht dringt man so auch
schneller zu ihrem Kern vor. Wie gehen Menschen
damit um, dass sie sich auf einmal im unliebsamen
Club der Kranken wiederfinden und die Mitgliedschaft
im Club der Gesunden bis auf weiteres aufgekündigt
ist? Es geht natürlich auch um Krankheit, aber eben
unter dem Aspekt, dass krank zu sein bedeutet, nicht
mehr gesund zu sein. Wer gehört dazu, wer nicht. Das
interessiert mich. Und die Unterscheidung zwischen
gesund und krank ist eben die existenziellste, die ge-
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troffen werden kann. Außerdem bedeutet Krankheit direkte Nachbarschaft zum Tod, und bei Krankheit öffnet
sich auch der ganze Kosmos an interessanten Bildern:
Amputationen, Transplantationen, da wird gesägt, geschnitten, genäht usw. Das ist dankbar. Ein Freiraum
also; Krankheiten haben schönes buntes Gefieder, das
sich vielfältig beschreiben lässt. Klingt morbid, aber
eben darum ging es mir auch. Es wird nach meinem
Geschmack zu häufig der Betroffenheitsaspekt an
Krebs bedient, vor allem in Filmen, die in den letzten
Jahren gemacht wurden. Es ist schade, wenn Krankheit
als bloßer Anlass genommen wird, Mitleid zu generieren, ich schätze, das will eigentlich niemand. Das wird
den Menschen nicht gerecht, die sich mit Krankheit
auseinandersetzen, und den Krankheiten auch nicht,
die ja Teil unserer Welt sind.
Es geht mir auch um den transzendentalen Aspekt an
Krankheit, die Suche nach einem Sinn, die Frage nach
höheren Mächten, die sich sofort stellt, wenn sich eine
Situation derart der Kontrolle entzieht.
Bei der Familie handelt es sich um Deutsche mit türkischen Wurzeln, das Stück spielt auf mehreren Kontinenten, Sie haben einmal auf den Aspekt der »Interkontinentalität« hingewiesen, was haben Sie damit gemeint?
Ich würde nicht sagen: Löst alle Grenzen auf, alles obsolet, alle Menschen sind gleich usw. Das glaube ich
nicht. Unterscheiden und Benennen, das ist unser
Ding, Menschen unterscheiden sich, und wenn das
nicht der Fall wäre, wäre es schade um die Diversität.
Es gibt aber bestimmte Umstände, die es einfach erfordern, dass man Grenzen überschreitet oder auflöst. Die
INTER
AKIN E. ŞIPAL
Familie findet keine Lösung für das Problem Blutkrebs
und holt sich eben Hilfe, wo es nur geht, von anderen
Kontinenten, aber auch vertikal, also Spiritualität, Natur usw. Das finde ich interessant, diese Öffnung in
alle Richtungen, diese Neugier, die es vorher vielleicht
nicht gegeben hat, und es ist ja wirklich eine Gier nach
Neuem, weil es um Leben und Tod geht. Es gibt eine
Dringlichkeit, sich zu öffnen. Also wenn man der Familie ein Raumschiff zur Verfügung stellen würde, dann
würde eben das Attribut »intergalaktisch« hinzukommen, einer würde reingesetzt werden, und alle würden
hoffen, dass die Marsmission den erhofften Knochenmarkspender ermittelt. So ist gegenwärtig die internationale Knochenmarkspenderkartei, die ja nur so gut
funktioniert, weil da alle Daten eingespeist werden,
aus allen Ländern ein schönes Beispiel für den Begriff
der Interkontinentalität.
Es gibt einen Realismus, Ort und Handlung, in Ihrer
Geschichte; aber die »Sprache« hat dagegen eine »Autonomie«, die jeweils, was passiert, erzählt und sich dann
wieder davon befreit, eine zusätzliche Ebene behauptet,
vielleicht die des Kommentars?
deren Blick. Der Kommentar, wenn es denn einer ist,
ist eher amoralisch, denn er will ja etwas sehen, er
ist an Bildern interessiert, nicht an einem schnellen
Frieden oder einer Lösung des Problems. In meinen
Augen sucht die Sprache die Situationen, die interessant sind, die Tiefe versprechen. Die Sprache funktioniert vielleicht wie ein Treibstoff und Taktgeber, sie
beschleunigt oder entschleunigt, intensiviert alles,
sie funktioniert aber auch wie ein Spotlight, das dahin scheint, wo es interessant werden könnte. Wobei
die Sprache ja auch die Kommunikation zwischen den
Familienmitgliedern abbildet, also gleichzeitig die Lösung für das Problem Blutkrebs birgt, da die Sprache
im Stück auch den Zusammenhalt schafft, den die Familie braucht, um die Katastrophe zu überstehen. Das
soll ja auch keine Anleitung sein, wie verhalte ich mich
im Falle einer Krebserkrankung. In meinem Stück gibt
es immer diese Brechungen zwischen Realismus und,
sagen wir, ästhetisierendem Raum. Natürlich soll am
Ende etwas hängen bleiben, was auch immer, Hauptsache kein Mitleid.
In gewisser Weise ja. Die Sprache ist ja die Form der
Beobachtung, die ich gewählt habe, um die Geschichte zu erzählen. Realität ist natürlich zu undramatisch
bzw. unästhetisch. Das bedarf erst einmal einer Aufbereitung, daher – ein Kommentar, ja. Mir ist aber wichtig, dass die Ebene des Kommentars nicht der Moral
verpflichtet ist, sondern der Sprache an sich, den Bildern, die entstehen, und damit auch der Geschichte.
Die Sprache bricht die Realität und gewährt einen an-
VIEW
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50
Foto: Marcos López FIBA_FAV
INGRID L AUSUND
Rafael Spregelburd
Spam
Eine Sprechoper I Monolog für einen Schauspieler mit Musik
Deutsch von Klaus Laabs
Spams sind die klanglosen Echos der Konsumkultur, eine absurde Mutation
menschlicher Kommunikation im World Wide Web. Für Mario Monti, der eines
Tages ohne Erinnerung auf Malta erwacht, ist das Netz eine der ersten Quellen auf der Suche nach seiner Identität. Er ist nicht der gleichnamige italienische Politiker, der im World Wide Web einen enormen virtuellen Fußabdruck
hinterlassen hat, sondern Professor für ausgestorbene Sprachen, der einst die
Abschlussarbeit einer attraktiven Studentin plagiiert hat. Seitdem Monti auf
eine Spam-Mail reagiert hat, mit der ein Mädchen aus Malaysia in kryptischem
Google-Übersetzungsdeutsch fast fünf Millionen Dollar verschenkte, liegt dieses Geld auf Montis PayPal-Konto. Allerdings will eine malaiische Mafia sich
genau dieses Geld wieder holen.
Stück für Stück, Szene für Szene, deren Reihenfolge per Losverfahren bestimmt
werden kann, entwirft Rafael Spregelburd eine Welt des Zerfalls. Die Wirklichkeit, gesehen aus der Perspektive des irrfahrenden Linguistik-Professors, zeigt
sich in den Schlaglichtern von Google-Übersetzungsprogrammen, in SpamMails, Botschaften per Skype oder Fernsehdokumentationen über degenerierte
Puppen aus China. Spregelburd packt seine düstere Zeitdiagnose in einen fulminanten Monolog für einen Schauspieler. (1 H)
Uraufführung: 10. Oktober 2013, FIBA Festival Internacional de Teatro de Buenos
Aires, CETC Centro Experimental del Teatro Colón, INT Instituto Nacional del Teatro,
Teatro El Extranjero, eine Koproduktion von Spregelburd/Zypce
Regie: Rafael Spregelburd
Rafael Spregelburd gastiert mit seiner Produktion beim FIND Festival der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin im April 2015
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
»Spregelburd zeigt, dass die Zeit nicht linear ist. Er fordert die Kausalität
immer wieder heraus, weil die Realität weder logisch noch erklärbar ist,
aber trotz allem bestehen die Vernunft und die Zufallsdaten, die als wahr
verstanden werden können, fort.«
Rafael Spregelburd, geboren 1970
in Buenos Aires, ist Dramatiker,
Regisseur, Übersetzer und einer der
wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen argentinischen Theaters.
1994 gründete Spregelburd seine
eigene Theaterkompanie »El Patrón
Vázquez«, mit der er vorwiegend
eigene Stücke inszeniert und diese
international zeigt. Er erhielt über
40 argentinische und internationale
Preise, zuletzt 2011 den Argentinischen Nationalpreis für sein Stück
La terquedad (Die Sturheit).
Spregelburds Stücke wurden im
deutschsprachigen Raum u.a. am
Deutschen Schauspielhaus Hamburg, an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, an den Münchner
Kammerspielen, am Theater Basel,
am Staatstheater Stuttgart sowie am
Badischen Staatstheater Karlsruhe
deutschsprachig aufgeführt. Call me
God, eine Gemeinschaftsarbeit mit
Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier und Gian Maria Cervo, wurde
im Herbst 2012 am Residenztheater
in München uraufgeführt. Luzid, das
in Argentinien, Frankreich, Peru,
Spanien und Italien erfolgreich inszeniert wurde, wird 2015 als deutsche
Erstaufführung an der Schaubühne
Berlin produziert werden (Regie:
Marius von Mayenburg).
Luzid
Originaltitel: Lucidó
2 D, 2 H
Deutsch von Sonja und Patrick
Wengenroth
ÖEA: 17.1.2014, Kosmos Theater
Regie: Esther Muschol
DEA: Geplant für 2014/15, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin
Regie: Marius von Mayenburg
»Komik und Tragik halten sich bis
zum überraschenden Ende die
Waage, man erfährt von angeblichen
Traumata, Organtransplantationen,
unbeantworteten Briefen und Geldforderungen.« Die starken Schauspieler
machten »aus einer anspruchsvollen,
nicht ganz unkomplizierten Geschichte einen sehr unterhaltsamen Abend.«
(Andrea Heinz in Der Standard
anlässlich der österreichischen
Erstaufführung von Luzid)
Pressestimme zur Uraufführung von Spam in Buenos Aires
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JUNGES
Jagoda Marinić
»Sprache als Pass zu einer anderen Welt«
Jagoda Marinić im Gespräch über Mehrsprachigkeit, den alltäglichen Rassismus in Deutschland
und wilde Träume als Vorbereitung zu ihrem ersten Kindertheaterstück
Nina Peters: »Mehrsprache« heißt der Projekttitel eines
Stückauftrages, den Sie vom Schnawwl in Mannheim erhalten haben. Sie schreiben gerade daran, wie gehen Sie
dabei vor?
Jagoda Marinić: Ich träume wild. Ich versuche mir
ein Rauschen vorzustellen, eine Stadt vor mir zu sehen, an die ich ein Ohr legen, und plötzlich in all die
Häuser und Zimmer hören kann. Ich frage mich, wie es
wäre, nachts auf einem Hochhaus zu sitzen und hören
zu können, wie viele Sprachen jetzt gerade, in dieser
Nacht, gesprochen werden, in wie vielen Sprachen ein
Kind gute Nacht gesagt bekommt, bevor das Licht ausgeht. Bisher schwebe ich also über dieser Stadt und belausche sie. Dabei hab ich mehr Fragen als Antworten,
aber das ist ein Zustand, den ich mag.
In Mannheimer Familien werden mehr als 100 Sprachen
gesprochen. Geht es im Stück auch darum, die Besonderheiten einer Kindheit in Mannheim aufzuspüren?
Nein, das wollen wir nicht. Wir wollen eine Stadt schaffen, die für alle Städte stehen könnte. Die Tatsache, dass
in Deutschland und weltweit das Rauschen der Städte
mehrsprachig ist, steht im Mittelpunkt. Aber natürlich
sitze ich im Kopf oft auf einem Mannheimer Hochhaus,
gleich um die Ecke vom Schnawwl.
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Das Schnawwl hat als Teil der Recherche zu dem Projekt
theaterpädagogisch begleitete Workshops mit Kindern
veranstaltet. Welche Erkenntnis zogen Sie daraus?
Dass Kinder Rätsel sind, in allen Sprachen, man könnte auch sagen: Wunder. Wie eigen sie dreinblicken und
agieren und dann gleichzeitig so formbar sind. Das
macht gerade den Umgang mit Sprache so wichtig.
Die Workshops waren sehr unterschiedlich bisher, alle
reich an Impulsen. Man merkt, dass auch diese Kinder
die Sprachen in sich von der Welt draußen trennen,
wie ich damals: Der öffentliche Raum gehört dem Deutschen. In den Workshops spielt auf einmal die Sprache der Eltern eine große Rolle. Das verunsichert sie
fast. Bis sie spüren, dass sie einen Platz hat. Gewollt
ist. Das Deutsche wird von den Kindern gesprochen,
aber zu wenig mit dem Herzen gefühlt. Schon früh hören sie, ihr Erfolg sei ans Deutsche geknüpft, und so
wird das Deutsche eine Leistungssprache, fast eine Bewährungssprache. Was weiß denn ein Kind überhaupt,
was Erfolg ist, es weiß vielleicht noch nicht einmal, was
überübermorgen ist. Es spürt nur Druck. Wir müssen
an die Herzen ran, wir dürfen das Deutsche nicht abverlangen, sondern schenken.
PROGRAMM
Welchen Reiz hat das Schreiben für Kinder?
Sie sind ein Rätsel für mich. Und irgendwo muss es so
ein Rätsel auch noch in mir geben. Das Stück ist eine
Chance, nochmal zurück in eine ganz andere, abgelegte
Sprache, Gefühls- und Bildwelt zu finden. Ich träume
auch von einem Stück, in dem die Mannheimer Kinder
denken: Meine Welt ist stark. Ich gehöre dazu. Helden
des Alltags eben … Denn das sind diese Kinder.
auf Deutsch gepocht, statt auch auf andere Sprachen.
Selbst bei Englisch rümpfen viele noch die Nase und
behaupten, es sei elitär! In Deutschland herrscht der
Gedanke »Deutschland spricht deutsch«, was ja nicht
stimmt, Deutschland spricht viele Sprachen, die Amtssprache ist Deutsch. Mehrsprache wird dann gleich
wieder ein Kulturkampf, zeugt von der Angst des eigenen Verschwindens. Wenn die Idee der Mehrsprachigkeit aller herrschen würde, wären eben auch mehr
Deutsche noch fließend in so manch anderen Sprachen
– auch in Istrien kann man das sehen, da spricht fast
jeder Eisverkäufer drei Sprachen spielend.
Auf der Nürnberger Integrationskonferenz 2013 hielten Sie
den Hauptvortrag mit dem Titel »Was ist deutsch in Deutschland? Von Weltbürgern, Gästen und Nachbarn« und attestierten den Deutschen eine gewisse Furcht vor »Mehrsprachigkeit«. War das die Erfahrung, die Sie in Ihrer Kindheit
und Jugend in der schwäbischen Provinz gemacht haben?
Wie sind Sie mit dem Deutschen und Kroatischen aufgewachsen? Haben diese Sprachen unterschiedliche Funktionen?
Im Gegenteil, es waren eher die Erfahrungen, die ich
in meinem Erwachsenenleben in Berlin gemacht habe.
Zumindest hab ich sie da erst bewusst wahrgenommen,
als der indische Autor Altaf Tyrewala, der ein Stipendium in Berlin hatte, mich darauf aufmerksam machte. Er
fragte ziemlich irritiert: Viele in Indien wechseln fünf
Mal täglich die Sprache - was ist da bei euch los? Warum spricht hier nicht jeder fünf europäische Sprachen,
genug Minderheiten gibt es ja? In Deutschland wird nur
Zunächst einmal waren sie Grenzen. Die Sprache war
der Pass, der einem Zutritt zu einer anderen Welt verschaffte. Ich könnte die Stadtkarte meines Geburtsortes
und meiner Kindheit mit zwei Farben ausmalen: Institutionen, öffentliche Räume waren deutsch. Das Private
war kroatisch. Ich glaube, dass eine derartige Aufteilung in Deutschland üblich ist und merkwürdige Folgen
hat. Vor allem glaube ich, dass wir uns da auch einiges
verschenken.
»Kinder sind ein Rätsel für mich. Und irgendwo muss es so ein Rätsel
auch noch in mir geben. Das Stück ist eine Chance, nochmal zurück in eine ganz
andere, abgelegte Sprache, Gefühls- und Bildwelt zu finden. Ich träume
auch von einem Stück, in dem die Mannheimer Kinder denken: Meine Welt ist stark.
Ich gehöre dazu.« Jagoda Marinić
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Sie wehren sich in Ihren Texten und Auftritten vor allem
dagegen, von Deutschen ohne Migrationserfahrung beschrieben, benannt, kategorisiert, mit Maßstäben belegt
zu werden. »Ich bin die deutsche Autorin oder Journalistin mit Migrationserfahrung. Dabei bin ich nie migriert.«
Dennoch haben Sie Migrationserfahrungen gemacht.
Migrationserfahrung, Migrationsgeschichte, Migrationshinter- und -vordergrund … Das ist alles ziemlich
knöchern … Ich misstraue Begriffen, die sich aus dem
Amtsdeutsch in den Alltag schleichen. Warum gerade
bei diesem Thema, das so mitten in der Gesellschaft
sitzt, diese trockenen, bezuglosen Bezeichnungen? Hier
haben wir uns beschreiben lassen, als gäbe es keine gelebte Sprache, aus der das wächst. Auf einer anderen
Ebene stören mich diese Begriffe, weil sie benutzt werden, um die Erfahrung meiner Elterngeneration in diesem Land zu verwässern, etwas anderes an diese Stelle
der deutschen Geschichte zu setzen, ohne je nach der
eigenen Einwanderung gefragt zu haben. Gleichzeitig
dividiert dieser Vorgang uns Hiergeborene heraus. Da
ist diese Spannung in meiner Generation, weil wir einerseits einen Anspruch auf Normalität erheben und
uns dennoch der Vereinheitlichung verweigern müssen,
wenn wir auch nur irgendeinen Bezug zu unserer Lebensgeschichte erhalten wollen. Diese Spannung gibt
dieser Begriff nicht her. Und macht es gleichzeitig möglich, mit den integrierten Nachfahren nett über Dinge zu
reden, die sie nie am eigenen Leib erlebt haben.
Welche Erfahrungen haben dazu geführt, dass Sie sich als
Publizistin und Rednerin in eine öffentliche Debatte um
Integration eingemischt haben?
Das Politische war immer da. Mein erster Artikel war
politisch, mein Studium war es. Doch es gab einen klar
auszumachenden Moment, in dem ich mir das Politische auch als Schriftstellerin zur Aufgabe gemacht
habe. Die Entdeckung des Nationalsozialistischen Un-
54
tergrunds. Ich habe an der Uni unterrichtet, kam aus
meinem Kurs und musste mir, schon ein paar Wochen
nach der Aufdeckung der Terrorserie, wieder anhören,
wie alle selbstsicher sagten, Ausländer hätten es in
Deutschland so gut wie in kaum einem anderen Land
der Welt; es gäbe hier kaum Diskriminierung etc. Das
Selbstbild der eigenen Toleranz ist wirklich werbetauglich unerschütterlich, schließlich steht ja jeden Tag
irgendwas über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Zeitung. Die kritische Betrachtung der Gegenwart hinkt dem aber hinterher. Ganz einfach also:
Der Tag, an dem der NSU sich in die Luft gesprengt
hat. Die Berichte über die Tochter des ermordeten Enver Şimşek, die nach den Erkenntnissen in die Türkei
auswandert. Ein Klartext-Buschkowsky, der noch während der Trauerfeier, während die Familien in der Kirche sitzen, davon doziert, wie es um Berlin-Neukölln
steht und warum Ausländer sich integrieren müssen.
Ich habe mich gefragt, weshalb nur solche »Vollpfosten« wie er zu diesen Themen öffentlich reden. Und
wollte auch einer sein. Zumindest bin ich das jetzt natürlich für jene, die andere Ansichten vertreten, dieser
ganze Bereich ist extrem polarisiert. Es ist natürlich
ein Kampf um Grundwerte.
Als wir uns das erste Mal trafen, unterstrichen Sie, wie
wichtig es für Sie sei, Ihrem literarischen Schreiben eine
theoretische Grundlage zu geben. Warum?
Sie werden das bei den meisten Autoren bemerken, die
in Gesellschaften publizieren, die ihre Lebenswirklichkeit und damit die in ihrem Schreiben repräsentierte
Welt für marginal halten. Naja, man könnte auch einfach »die Teil einer Minderheit sind« sagen. Ich kann
diese Haltung gegenüber »meiner Welt« akzeptieren
oder gegen diese Dominanz und Wertung anarbeiten.
Für Letzteres muss ich es wagen, mich ins Gespräch zu
begeben, am gesellschaftlichen Bewusstsein zu nagen,
in der Hoffnung, etwas ins Rollen zu bringen.
INTER
Gibt es einen deutschsprachigen literaturtheoretischen
Kontext, in den Sie sich einordnen, oder ist der vielmehr
international?
Definitiv eher international. Das ist ja das Dilemma:
Die deutsche Literatur(geschichte) behauptet ja die gesellschaftlichen Themen, die mir wichtig sind, nicht
als zentral. Das Private, in das alle nach dem Krieg
geflohen waren, ja. Ich würde sagen, ich trage Ingeborg Bachmanns »Die Wahrheit ist dem Menschen
zumutbar« unbeirrt mit mir herum. Mehr noch Junot
Diaz, einer meiner Lieblingsautoren, der sagte, und
das als Träger des Pulitzer-Preises: Früher wäre ein
Buch mit meinem Personal sofort im Mülleimer des
Lektors gelandet. Das Leben der Menschen aus der
Dominikanischen Republik interessierte nicht. Wenn
wir davon ausgehen, dass die USA Deutschland in solchen Dingen zwanzig Jahre voraus sind, können Sie
sich ausrechnen, wo wir derzeit stehen. Ohne Toni
Morrison hätten so viele US-Amerikaner nie damit angefangen, die Welt mit ihren eigenen Augen zu sehen
statt mit der Perspektive jener, deren Anerkennung
sie suchten. Wie im politischen Diskurs hat die deutsche Öffentlichkeit auch im literarischen dahingehend
zu wenig zu bieten.
Das ausführliche Interview finden Sie auf:
www.suhrkamptheater.de
Jagoda Marinić
Mehrsprache (Projekttitel)
Uraufführung: 4. Juli 2015
Nationaltheater Mannheim, Schnawwl
Regie: Marcelo Diaz
Foto: Cristina Beltrán
JAGODA MARINIĆ
Jagoda Marinić wurde als Tochter kroatischer Einwanderer im
schwäbischen Waiblingen geboren. Sie ist deutsche Autorin,
Kolumnistin, mischt sich als Publizistin und Rednerin auch politisch ein, u.a. erschien 2012 im Auftrag von Pro Asyl die Publikation Rassismus sichtbar machen. Als Schriftstellerin landete
sie, 23-jährig, mit ihrem Erstling Eigentlich ein Heiratsantrag
(Suhrkamp, 2001) einen literarischen Erfolg. Für den Erzählungsband Russische Bücher (Suhrkamp, 2005) erhielt sie den
Grimmelshausen-Förderpreis. Ihr erster Roman Die Namenlosen
war für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert und wurde vom
Spiegel zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 2007
gezählt.
Nach Aufenthalten in Zagreb, Split, New York und Berlin lebt
und arbeitet Marinić in Heidelberg, wo sie seit 2012 Leiterin
des »Interkulturellen Zentrums in Gründung« ist. 2013 erschien
ihr Roman Restaurant Dalmatien, in dem sie über Identität
schreibt, über die eigenen Wurzeln. Marinić schrieb einige
Theaterstücke; Therapie. Ein Spiel (Suhrkamp Verlag) war 2005
eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt. Nun hat auch das
Kindertheater die Ausnahmeschriftstellerin entdeckt: Für das
Schnawwl Mannheim schreibt Marinić derzeit ein Kinderstück
zum Thema Mehrsprachigkeit.
VIEW
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Judith und Werner Fritsch
Der singende Draht
Im Elfenreich gehen die Vorräte an »Stille« zur Neige,
der Radiosender hat nahezu keine Reserven dieses
kostbaren Sendegutes mehr. Verantwortlich dafür ist
der Oberon Oberton, »Elfen-König und zugleich der
größte Komponist und Beherrscher aller Stile der Stille«, der das Elfenreich nach einem Streit mit seiner
Gattin Titania Harmonia im Zorn verlassen hat. Und so
machen sich seine drei Töchter Seraphina, Libelljana
und Sabiene auf die Suche nach der Stille und nach ihrem Vater. Zwar hat die Mutter ihnen verboten, das Elfenreich zu verlassen, die Elfen halten sich allerdings
an das elfte Gebot: »Tu, was dir gefällt, aber laß dich
nicht erwischen von der Welt.«
Damit beginnt ein vergnügliches, turbulentes Abenteuer, ein musikalisches Traumspiel, das sich zwischen Feen-, Menschen- und Tierwelt bewegt, ein
Sommernachtstraum, den Judith und Werner Fritsch
sprachlich verspielt und mitreißend erzählen, in dem
Adam und Eva, der Wind und die Stille ebenso eine
Rolle spielen wie drei Menschenkinder: die Geigerin
Maya, die Dichterin Johanna und die Sängerin Julia.
(Besetzung variabel)
Ein Theaterstück für Kinder ab 6 Jahren
Frei zur Uraufführung
»Tu, was dir gefällt, aber laß dich
nicht erwischen von der Welt.«
Mit Der singende Draht legen
Judith Fritsch (Jg. 2001) und ihr Vater
Werner Fritsch (siehe auch S. 12) ihr
gemeinsam verfasstes Verlagsdebüt vor.
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JUNGES PROGRAMM
Stücke für ein junges Publikum – eine Auswahl
Etel Adnan
Wessen Ehre?
Originaltitel: Crime of Honor
Deutsch von Brigitte Landes
3 D, 1 H, Besetzung variabel
ab 12 Jahren
Frei zur deutschsprachigen
Erstaufführung
François Bégaudeau
Die Klasse
Originaltitel: Entre les murs
Deutsch von Katja Buchholz
und Brigitte Große
Besetzung variabel
UA: 20.12.2013, Junges Theater
Basel in Koproduktion mit dem
Schauspielhaus Basel
Regie: Sebastian Nübling
Ruth Johanna Benrath
Klassenkämpfe
2 D, 3 H
Preis des Coburger Forums für
Junge Autoren
UA: 12.6.2015, Landestheater Coburg
Regie: Judith Kunerth
Edward Bond
Der Balanceakt
Originaltitel: The Balancing Act
Deutsch von Brigitte Landes
4 D, 3 H, Besetzung variabel
ab 14 Jahren
Frei zur deutschsprachigen
Erstaufführung
Dietmar Dath
Die Abschaffung der Arten
Anna Maria Jokl
Die Perlmutterfarbe
Zahlreiche Inszenierungen der
Bühnenfassung (Deutsches Theater
Berlin, Staatstheater Mainz
Schauspiel Leipzig, Theater an der
Parkaue, Berlin)
Ein Kinderroman für fast alle Leute
Für die Bühne bearbeitet von
Christoph Nußbaumeder
UA: 7.11.2013, Junges Schauspielhaus
Düsseldorf, Regie: Annette Kuß
Dirk Dobbrow
Bomber
Konstantin Küspert
mensch maschine
1 H, ab 16 Jahren
UA: 2.12.2005, Landesbühnen
Sachsen, Radebeul
Regie: Daniela Deinhammer
Per Olov Enquist
In der Stunde des Luchses
Originaltitel: I Lodjurets Timma
Deutsch von Angelika Gundlach
2 D, 2 H, ab 16 Jahren
DSE: 9.5.1992, Stadttheater Ingolstadt
Regie: Werner Schnitzer
Zahlreiche Neuinszenierungen
Martin Heckmanns
Konstantin im Wörterwald
Frei zur Bühnenbearbeitung
Hermann Hesse
Demian
Die Geschichte von Emil
Sinclairs Jugend
Bühnenfassung von Daniela Löffner
2 D, 4 H, ab 14 Jahren
UA: 6.5.2010
Junges Schauspielhaus Düsseldorf
Regie: Daniela Löffner
Zahlreiche Neuinszenierungen
3 H, 2 D, Besetzung variabel
UA: 22.9.2013, Theater Regensburg
Regie: Sahar Amini
Neuinszenierung (u.a.): 5.12.2014
theater junge generation, Dresden
Regie: Roscha A. Saidow
Raymond Queneau
Zazie in der Metro
Originaltitel: Zazie dans le Métro
Deutsch von Eugen Helmlé
Besetzung variabel, ab 8 Jahren
UA: 23.9.2010, Dschungel Wien
Regie und Bühnenfassung: Corinne
Eckenstein
Dianne Warren
Im Zeichen der Schlange
Originaltitel: Serpant in the Night Sky
Deutsch von Heide Liebmann
3 D, 3 H, ab 14 Jahren
Frei zur deutschsprachigen
Erstaufführung
Weitere Titel finden Sie unter www.suhrkamptheater.de
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»Transit Europa« - Stücke für eine
Täglich berichten die Randspalten der Zeitungen von hunderten von Flüchtlingen, die
ihr Leben riskieren, um Europa zu erreichen.
Tausende kommen dabei jedes Jahr zu Tode.
Die Überlebenden werden notdürftig versorgt,
erkennungsdienstlich behandelt, in bürokratische Abläufe gezwungen und müssen ohne
konkrete Lebensperspektive um ihren weiteren
Aufenthalt bangen.
Freizügigkeit gilt als universelles Menschenrecht. Weltweit befinden sich laut UNO-Angaben derzeit mehr als 51 Millionen Menschen
auf der Flucht. Europa betreibt »Migrationsmanagement« mittels einer Agentur (»Frontex«),
die den militärischen Schutz der Außengrenzen koordiniert. Die populistischen Parteien in
Europa propagieren derweil Abschottung und
erreichen damit immer breitere Gesellschaftsschichten.
Europa ist in Bewegung. Längst leben in den
reichen mitteleuropäischen Ländern Millionen
Menschen aus allen Weltregionen und sorgen
u.a. dafür, dass demographische Probleme ausgeglichen werden und ganze Wirtschaftsbereiche weiter funktionieren. Und eine europäische
Kultur, die nie homogen und starr gewesen ist,
entwickelt sich weiter und wird belebt.
Die folgende Auswahl von Stücken zeigt, dass
die vielfältigen individuellen und gesellschaftlichen Konflikte, die mit der Veränderung
Europas einhergehen, längst auch zum Thema
dramatischer Auseinandersetzungen geworden
sind.
Juri Andruchowytsch
Orpheus illegal
»Vor unseren Augen vollzieht sich eine neue Teilung der
Welt, und das Traurige ist – dies geschieht mitten in Europa«, klagt der ukrainische Dichter Stanislaw Perfetzki,
selbst ernannter »Orpheus unserer Tage« und folkloristischer Aktionskünstler. Aus Protest gegen den geplanten
Bau eines »Cordon sanitaire«, der die EU vor Illegalen
schützen und sein Land zum Türhüter machen soll, setzt
er vom Lemberger Schlossberg zum Sprung in den Westen an, bereit zum Attentat gegen den obersten Brüsseler
Zaunbeauftragen. Perfetzkis Vorhaben entwickelt sich zu
einer irrwitzigen Odyssee durch den Hades der westlichen
Zivilisation. (5 D, 8 H)
Uraufführung: 16. September 2005, Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie: Anna Badora
Heiko Buhr
Die Schattenlosen
Eine Mutter Und weil wir anders sind als sie. Unsere Häu
ser sind nicht eingerichtet wie die ihren, un
sere Gräber sehen anders aus und wir essen
nicht, was sie essen. Wir glauben anders, wir
denken anders, wir leben anders, wir fühlen
anders. Und am Ende, am Ende sterben wir
auch anders. Und das verzeihen sie uns nicht.
Frei zur Uraufführung. Ausführliche Informationen zum
Stück siehe Seite 8
Ingrid Lausund
Badezimmer
»Dream of Africa« heißt die Badekugel, die sich eine Frau
in Erwartung einiger entspannter Minuten in die Badewanne ihres frisch renovierten Badezimmers wirft. Doch
dann kippt die Situation unvermittelt und eine Gruppe
Afrikaner steht im Raum. Der Rückzugsversuch der Frau
hinters Schaumgebirge wird zum Auslöser eines sehr re-
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SCHWERPUNKT
Gesellschaft im Wandel
alen Alptraums: Plötzlich findet sie sich im offenen Meer
wieder, wo sie zu ertrinken droht. Sie sucht ihren Bruder,
der gerade noch mit ihr auf dem Flüchtlingsboot war ...
(1 D)
Lausunds Stück aus dem Monologzyklus Zuhause wird
vielfach inszeniert – auch in Kombination mit anderen Monologen der Autorin.
Christoph Nußbaumeder
Mit dem Gurkenflieger in die Südsee
Ein Theaterstück über Menschen aus osteuropäischen
Ländern, die im »goldenen Westen« zu Billigstlöhnen arbeiten. Da ist Minka mit ihrem taubstummen Sohn, die
sich nach Feierabend verkauft und ganz heimlich eine gemeinsame Zukunft mit dem Vorarbeiter Grosch plant; da
ist die junge Marlies, die von den Männern begehrt und
mißbraucht wird; da ist Herod, der unsterblich in Minka
verliebt ist und selbst vor einem Mord nicht zurückscheut;
da sind die jungen Polen Minik und Alex mit ihren Träumen von der eigenen Selbständigkeit. Und da sind auf der
anderen Seite der Fabrikant, sein Assistent, Polizisten, Beamte, denen daran gelegen ist, schnell und billig Geschäfte
zu machen. (4 D, 9 H)
Uraufführung: 3. Juni 2005, Landestheater Linz/Ruhrfestspiele Recklinghausen, Regie: Bernarda Horres
Georg Ringsgwandl
Der verreckte Hof
Mutter Weichsenrieder wird wunderlich, oder vielleicht
tut sie nur so. Aber eine Pflegerin muss her, denn ihre
überforderten Kinder können die Alte nicht betreuen. So
kommt Swetlana aus Moldawien auf den Hof, der schon
seit Jahren stetig verfällt. Georg Ringsgwandls »Stubenoper« spielt auf einem Bauernhof und verhandelt die große
Welt.
Uraufführung: 4. August 2012, Tiroler Volksschauspiele
Telfs, Regie: Susn Weber; weitere Inszenierungen in
Eggenfelden und Zürich
Gesine Schmidt
Die Russen kommen!
Vor langer Zeit zogen sie in das »gelobte Land« nach Osten, später kamen sie zurück in das alte »Paradies« des
Westens. Wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe war
ihr Schicksal seit Jahrhunderten immer abhängig von
dem außenpolitischen Verhältnis zwischen Deutschland
und Russland. Sie haben unter den Folgen von Krieg, Vertreibung und Diktatur besonders leiden müssen und sind
ein Teil unserer Geschichte. Russlanddeutsche leben bis
heute in einer Situation von doppelter Fremdheit.
(Besetzung variabel)
»So stimmig in seiner Live-Wirkung, wie das kein Film und
kein noch so langer Vortrag schaffen könnte.«
Die Deutsche Bühne
Uraufführung: 24.10.2010, Staatstheater Nürnberg,
Regie: Patrick Schimanski
Lukas B. Suter
Tanz auf dem Vulkan
Der erfolgreiche jüdische Rechtanwalt Timon Silberband
ist im Zürich der 30er Jahre eine schillernde Figur. Während in ganz Europa Krisenherde entstehen, trifft sich
regelmäßig eine schillernde, bunte Gesellschaft im Hause
Silberbands und dessen kapriziöser Gattin und versucht
die drohende Katastrophe mit Amüsement zu verdrängen.
Als Silberband denunziert wird, er ist in illegale Waffengeschäfte verwickelt, bricht eine scheinbar heile Welt
zusammen. Plötzlich sind Antisemitismus und politische
Neutralität ein Thema, das diese Züricher Gesellschaft bis
dahin erfolgreich ausgeblendet hatte. Timon Silberband
wird der Prozess gemacht. - Ein »Casablanca an der Limmat«. (2 D, 9 H)
Uraufführung: 27. September 1997, Schauspielhaus
Zürich, Regie: Jasmina Hoch
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STÜCKE
Beziehungsweisen
Es gibt die unterschiedlichsten Beziehungen.
— Beziehungen zu Familienangehörigen, zu
Freunden und Bekannten. Es gibt solche, die
eher durch gegenseitige Ablehnung statt von
Sympathie geprägt sind. Vor allem denken wir
aber an Paarbeziehungen, an Liebesziehungen,
romantisch oder sogar leidenschaftlich …
Die Art und Weise, wie Beziehungen gelebt,
erlebt und reflektiert werden, unterliegt – wie so
vieles – gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Gerade die Wahrnehmung von Liebesbeziehungen und das Erleben von Familienstrukturen
haben in der letzten Zeit einen starken Wandel
erfahren. Bei der Wahl des Partners stehen wir
heute einer schier grenzenlos scheinenden Fülle
von Möglichkeiten gegenüber. Emotion und Intimität sollen die Grundlage unserer Beziehungen
sein, bei Problemen wird nach Konsens zwischen
den Partnern gesucht. Doch wird inzwischen die
statistische Dauer von Liebesbeziehungen immer
kürzer: Während in unseren Köpfen noch der
Traum von der einen großen Liebe fürs Leben
herumgeistert, leben wir in einer Gesellschaft
von Lebensabschnittsgefährten, Singles und
Patchworkfamilien. – Die ausgewählten Stücke
auf dieser Doppelseite spüren unterschiedlichen
Beziehungsformen und -motiven nach, machen
deren Wandel erfahrbar und zeigen in Leidenschaft oder Ablehnung verbundene Liebespaare
und Familien. Eben: Beziehungsweisen.
Benedict Andrews
Jeder Atemzug
Originaltitel: Every Breath I Deutsch von Maja Zade
Ein Spiel um Liebe, Sex und Sehnsüchte. Und um
Geschlechterrollen. – Der junge Security-Mitarbeiter
Chris wird zum schillernden Mittelpunkt einer Familie und zum Objekt der Begierde sämtlicher Familienmitglieder. Alle nutzen sie seine Anwesenheit und
60
verwickeln ihn mehr und mehr in ihre persönlichsten
Ansprüche. Chris lässt sich bereitwillig darauf ein, bis ein
Unglück passiert und der bewaffnete Schutzengel unerwartete Seiten zeigt. (2 D, 3 H)
Uraufführung: 28.3.2012, Belvoir Street Theatre, Sydney
Regie: Benedict Andrews
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
François Bégaudeau
Das Problem
Originaltitel: Le Problème
Deutsch von Nathalie Mälzer-Semlinger
Eine auseinanderbrechende Familie und ihre unterschiedlichen Erwartungen und Lebensentwürfe. – »Ich gehe
dorthin, wo ich begehrt werde«, schreibt Annie ihrem
langjährigen Ehepartner Alban und verlässt ihn und ihre
Familie. Hiermit konfrontiert, treffen die Familienmitglieder schließlich zusammen. Sie sprechen über ihre Ängste
und Träume und ob sich diese mit der Familie oder dem
Partner noch vereinbaren lassen. Und über allem schwebt
die Frage: Gehen? Oder doch lieber bleiben? (2 D, 2 H)
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Marguerite Duras
Agatha
Originaltitel: Agatha I Deutsch von Simon Werle
Über die Wiederherstellung von Fremdheit nach fast grenzenloser Vertrautheit. – Eine junge Frau und ein junger
Mann treffen sich in einer Villa am Meer. Sie stehen sich
gegenüber. Sie schweigen. Sie schauen sich nicht an. Sie
ist gekommen, um sich für immer von ihm zu verabschieden. Ihre Beziehung ist eine Vergangenheit, eine Erinnerung, vielleicht ein Traum. Hier am Meer haben sie einst
die unbeschwerten Ferien ihrer Kindheit verbracht. Der
Mann ist ihr Bruder und er ist ihr Geliebter. Der Dialog der
beiden ist vom Willen geprägt, sich von der »schrecklichen
Kraft« dieser Liebe zu lösen und gleichzeitig etwas von ihr
zu bewahren. Ein Schmerz. Und eine Hoffnung. (1 D, 1 H)
Uraufführung: 22.4.1982, Montpellier
SCHWERPUNKT
Véronique Olmi
Der Riß
Originaltitel: Point à la ligne
Deutsch von Katharina von Bismarck und Rudolf Rach
Die Beziehung der Eltern als unheilvoller Schatten auf ihren Kindern. – Erbarmungslos scheinen sich das Leiden
und die emotionale Kälte in der Beziehung ihrer Eltern in
Lilis Leben fortzusetzen. Die Beziehung zu ihrer erwachsenen Tochter Cécile ist schon vor Jahren zerbrochen. Und
auch ihre Enkelin Zoé scheint sich zurückzuziehen. Nun
will sich auch noch Marco aus ihrem Leben schleichen,
nachdem sie eine Nacht lang miteinander gestritten haben: Lili sind zufällig Marcos Aufzeichnungen seiner erotischen Fantasien beim Anblick einer jungen Frau in die
Hände gefallen. Was sie in Wahrheit aber wirklich verletzt,
ist Marcos Randnotiz »Wenn ich doch wenigstens verliebt
wäre«. (3 D, 1 H)
Frei zur deutschen Erstaufführung
Albert Ostermaier
Heartcore Theater
Momentaufnahmen der Unwägbarkeiten der Liebe. –
Bei diesem Spiel gibt es keinen Sieger, keinen Verlierer.
Und dennoch lassen sie sich erneut darauf ein. Sie, das
sind ER und SIE. Das, was SIE und IHN antreibt, ist der
allgegenwärtige Beat des Herzens. Die Zeit, in der sich
ihre Geschichte abspielt, ist jene Unendlichkeit zwischen
Blick und Blick, die Minuten der letzten Zigarette und
die Ewigkeit eines Sonnenaufgangs. Gleich, ob Blicke
gewechselt oder Botschaften über Handy und Internet
verschickt werden. Basierend auf seinem gleichnamigen
Gedichtband, entwickelt Albert Ostermaier hier leidenschaftliche Beziehungsstücke »en miniature«. (1 D, 1 H)
Uraufführung: 11.1.2000, Bayerisches Staatsschauspiel,
Regie: Christoph Biermeier
Wolfgang Palka
Love is real
Das Erforschen sexueller Grenzen und die Macht der
Sehnsucht. – Das Spiel heißt Vergewaltigung. Erlaubt ist,
was den Partner demütigt, verletzt oder erniedrigt. Tagsüber gehen Kora und Benedikt einer geregelten Tätigkeit
nach. In nächtlichen Exzessen begeben sie sich in die Abgründe ihrer sexuellen Phantasien in der Hoffnung, ihre
Beziehung zu retten. Benedikt weiß, was sein »Opfer« will:
Sie liebt ihn. Sie braucht ihn. Sie will ihm gehören. Was
Kora aber nicht weiß, ist, dass Benedikt seit gut einem Jahr
Thekla begehrt, die sich ihm aber entgegen ihrer eigentlichen Sehnsüchte verweigert … Zu sehen sind in Palkas
fesselndem Spiel Figuren, die unfähig sind, sich zu lieben,
und die die Sehnsucht nach Liebe dennoch nicht aufgeben
können. (2 D, 1 H)
Frei zur Uraufführung
Manuel Puig
Der Kuß der Spinnenfrau
Originaltitel: El beso de la mujer araña
Deutsch von Anneliese Botond
Über die Ideale von Männlichkeit und den Wunsch nach
Weiblichkeit. – Zwei Häftlinge in einer Zelle in einem südamerikanischen Gefängnis: Molina, der als Frau akzeptiert werden möchte, und Valentin, der politische Aktivist.
Die Tage sind lang, und Molina beginnt zu erzählen. Zunächst spinnt er Filmhandlungen weiter. Bald spricht er
aber auch von seinen Träumen und Sehnsüchten. Beide
Männer verfangen sich immer mehr in einem Netz von
Begehren, Fantasien und zunehmender gegenseitiger Abhängigkeit. Sie ahnen dabei nicht, dass ihre Beziehung
von der Gefängnisleitung auf unterschiedliche Weise beobachtet und ausgenutzt wird … (2 H)
Uraufführung: 1.5.1981, Teatro Mertin Madrid
Regie: Luis García Sánchez
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Komödien, neu entdeckt
Thomas Bernhard
Über allen Gipfeln ist Ruh
Jörg Graser
Jailhouse Blues
Der größte Verleger besucht seinen größten Autor Moritz
Meister, um dessen größten Roman, eine Tetralogie, abzuholen. Dabei wird die von allen Beteiligten behauptete
Größe als lächerlicher Schein entlarvt. (3 D, 4 H)
Uraufführung: 25. Juni 1982, Ludwigsburger Festspiele
Regie: Alfred Kirchner
Zwei Stunden vor der Hinrichtung. Der Pfarrer möchte
dem Todeskandidaten unbedingt noch eine Religion andienen, die Anwältin möchte ihm die Filmrechte abluchsen,
dem Gefängniswärter geht es darum, eine Henkersmahlzeit abzustauben. Eine grotesk-komische Komödie im Todestrakt eines texanischen Gefängnisses, tiefschwarzer
Humor. (3 D, 4 H)
Uraufführung: 24. April 2009, Staatstheater Wiesbaden
Regie: André Rößler
Hermann Broch
Aus der Luft gegriffen oder
Die Geschäfte des Baron Laborde
… führt in die Welt der Großfinanz, zu den Abenteurern,
Bankrotteuren und Hochstaplern. (2 D, 6 H)
Uraufführung: 6. Oktober 1981, Stadttheater Osnabrück
Regie: Peter Lüdi
Daniel Doppler
Die Wachtel
Eine deutsche Screwball-Comedy, bei der ein Schriftsteller
und ein Esskritiker schließlich auf der Strecke bleiben.
Uraufführung: 10. November 1985, Städtische Bühnen
Osnabrück. (4 D, 5 H)
Regie: Peter Ries
Tankred Dorst
Wegen Reichtum geschlossen
Eine metaphysische Komödie
Mitarbeit Ursula Ehler
Max und Rosa haben 11 Millionen im Lotto gewonnen. Mit
gewaltigem Furor geben sie das Geld aus. Her mit allem,
was sich kaufen lässt. Eine anarchische Komödie endet katastrophal, mit Gelächter. (6 D, 8 H)
Uraufführung: 14. März 1998, Bayerisches Staatsschauspiel, Residenztheater München
Regie: Alexander Lang
62
Jörg Graser
Te absolvo
»Ich poche nicht auf den grandiosen Liebhaber, aber eine
Tortur sollte es auch nicht sein«, beklagt sich Gisela, die
der Tristesse ihrer Ehe entrinnen wollte, nach ihren ersten
Erfahrungen als Belle de jour beim Betreiber des Freudenhauses. Der, ein ehemaliger Pfarrer, hat seine Tätigkeit als
Eheberater dazu benutzt, ein Hausfrauenbordell auf die
Beine zu stellen. Bald schon interessiert sich sein Vorgesetzter, der Monsignore, für das ungewöhnliche Geschäftsmodell. (2 D, 4 H)
Frei zur Uraufführung
Volker Heymann
Dinner for One – wie alles begann
Theaterstück mit und um den legendären Sketch. Zunächst geraten die Proben der Schauspieler, im Privatleben ein zänkisches Paar, zu einer Katastrophe, doch am
Ende raufen sich alle zusammen und bringen Dinner for
One über die Bühne; allerdings kann der Regisseur nicht
ganz verhindern, dass die beiden Neurotiker dabei sind
durchzudrehen. (1 D, 2 H)
Uraufführung: 8. November 2002, Schatzkistl – Das Musikkabarett im Mannheimer Hof
Regie: Volker Heymann
SCHWERPUNKT
Ronald Kosturi
Zwei grüne Paprika
Peter Turrini
Mein Nestroy
Der Mann jenseits der vierzig hat es nicht leicht. Die Haare
fallen langsam aus, die Muskeln verlieren an Spannkraft,
das Rauchen, das Trinken, das Lachen, das Fernsehen
muss man aufgeben, und viele Rollen muss man spielen,
den Liebhaber, den Beschützer, den Radikalen, vor allem
muss man sanft und einfühlsam sein, aber bitte niemals
eine Memme. Ronald Kosturi hat in einem grotesk-komischen Spiel den Mann für das Theater neu entdeckt.
(1 D, 1 H)
Uraufführung: 15. Oktober 2000, Schauspiel Köln
Regie: Uwe Hergenröder
Marie Weiler und Johann Nestroy, erfolgreiche Schauspieler und Stückeschreiber. Tagsüber proben sie, abends stehen sie gemeinsam auf der Bühne. Wie sieht eine Beziehung von zwei Theatermenschen aus, die von Hass und
Liebe geprägt war, unter den Bedingungen des gemeinsamen Arbeitens? Mit Witz und Tempo wird eine Komödie
erzählt, die klassischer nicht sein könnte. (4 D, 8 H)
Uraufführung: 14. September 2006, Theater in der
Josefstadt, Wien
Regie: Herbert Föttinger
Hans Meyer-Hörstgen
Der König von Wien
Nachdem sie zwei Jahre einen rein wissenschaftlichen
Briefverkehr gepflegt haben, kommt nun der zwanzig
Jahre ältere Sigmund Freud nach Zürich, um seinen begabtesten Schüler C.G. Jung zu besuchen. Diese berühmte Konstellation ist Ausgangspunkt für eine Komödie der
Eitelkeiten, in der, so scheint es, die Wahrheit sich daran
entscheidet, wer besser manipuliert. (2 D, 3 H)
Uraufführung: 29. Juni 1989, Zimmertheater Heidelberg
Regie: Ute Richter
Hans Meyer-Hörstgen
Kaiserwetter
Der Thronfolger Franz Ferdinand wurde soeben in Serbien
ermordet. Wilhelm, der Kaiser von Preußen, veranstaltet
eine Séance mit bedeutenden Gästen; die Geister sollen
politischen Rat geben. Er lässt den toten Franz Ferdinand
in Gestalt des Kammerdieners auftreten. Doch der hat seinen Text schlecht gelernt, er will Rache. An diesem Abend
fällt die Entscheidung, Deutschland zieht in den Ersten
Weltkrieg, und zwar mit einer ausgelassenen Polonaise.
Die Geburt des Krieges aus dem Geist der Komödie.
(1 D, 4 H)
Frei zur Uraufführung
Martin Walser
Das Sofa
Rudi, der Ingenieur, Carlchen, ein Architekt, Albert, ein
Kunsthistoriker, das schreit direkt nach einer GmbH: Renovieren, Restaurieren, Wiederaufbau, Abbruch. Nur Albert, gewissermaßen der Kopf des Unternehmens, verweigert sich, liegt auf dem Sofa, seit Jahren schon. Sein Motto:
»Der Mensch erträgt siebenmal so viel, wenn er liegt.« In
Martin Walsers Farce ist ein Sofa natürlich mehr als nur
ein Sofa. Es ist das Fundament für höchst phantastische
Ideen und Phantasiewelten. (5 D, 5 H)
Uraufführung: 16. April 1994, Staatstheater Braunschweig
Regie: Jörg Hube
Robert Wolf
Im Club der einsamen Herzen
Die Grundsituation ist einfach: Varianten von Beziehungen
zwischen zwei Männern und einer Frau werden durchgespielt. Die weitere Zuspitzung aber verläuft eigentümlich
und grotesk. Eine Frau um die 50 erlebt die letzte Nacht
vor ihrer Hinrichtung, eine staatlich verordnete Gnade, in
einem Club der einsamen Herzen. Ein Schauspieler und
ein Barkeeper bilden ihr letztes Geleit. (1 D, 2 H)
Uraufführung: 21. Februar 2001, forum stadtparktheater
Graz (Koproduktion mit Theater Phönix Linz)
Regie: Steffen Höld
63
Starke Prosa für die Bühne
Ausgewählte Romanvorlagen aus dem Suhrkamp-Programm und aktuelle Theatralisierungen
Isabel Allende
Das Geisterhaus
Originaltitel: La casa de los espíritus
Deutsch von Anneliese Botond
Ein fulminanter Roman, der zum Weltbesteller wurde:
die Geschichte der Familie Trueba – erzählt über drei
Generationen hinweg, untrennbar verbunden mit der
Geschichte Chiles. Mit diesem Roman begründet Isabel
Allende ihren Aufstieg zur Romanautorin von Weltrang.
In einer von Geistern bewohnten Welt voller Geheimnisse und dunkler Ahnungen lässt die Autorin Figuren
aus Fleisch und Blut auftreten, die von ihren Überzeugungen und Leidenschaften getrieben sind. Als es zu
radikalen Umbrüchen im Land kommt, stehen sich der
Familienpatriarch Esteban und seine geliebte Enkelin
Alba auf einmal als Feinde gegenüber. Doch letztlich
sind die familiären Bande stärker als die politischen
Verstrickungen, die sie trennen. – Ein faszinierendes
Meisterwerk, das auf einzigartige Weise spürbar macht,
wie pure Menschlichkeit alle gesellschaftlichen Schranken einreißen kann.
Premiere der Bühnenfassung von Antú Romero
Nunes und Florian Hirsch:
30. Januar 2014, Burgtheater Wien – Akademietheater,
Regie: Antú Romero Nunes
▯ Premiere der Bühnenfassung von Johanna Wehner
und Adrian Herrmann: 26. September 2014
Stadttheater Konstanz, Regie: Johanna Wehner
▯
Josef Bierbichler
Mittelreich
Im Ersten Weltkrieg zerschlägt eine feindliche Kugel zuerst den Stahlhelm und dann den Schädel des ältesten
Sohnes vom Seewirt. Also muss sein jüngerer Bruder
Pankraz das väterliche Erbe antreten. Der überlebt zwar
den zweiten großen Krieg, wäre aber trotzdem lieber
Künstler als Bauer und Gastwirt geworden. Da braucht
es schon einen Jahrhundertsturm, der droht, Haus und
Hof in den See zu blasen, damit aus Pankraz doch noch
ein brauchbarer Unternehmer und Familienvater wird.
Aber als der eigene Sohn ihn später anfleht, ihm die
Erziehung im katholischen Internat zu ersparen, versteht er ihn nicht. Zu sehr ist man in diesen Zeiten mit
anderem beschäftigt: das Vergangene vergangen sein
zu lassen und die Geschäftsbedingungen der neuen Gegenwart zu studieren.
Eine Seewirtschaft in Bayern, bizarre Gäste und eine
Familie über drei Generationen, heillos verstrickt ins
ungeliebte Erbe. Josef Bierbichler, der große Menschendarsteller des deutschen Theaters und Films, erzählt
hundert Jahre Deutschland. Ein Epos über Krieg und
Zerstörung, alte Macht und neuen Wohlstand, über die
vermeintlich fetten Jahre.
Premiere der Bühnenfassung geplant an den
Münchner Kammerspielen, Spielzeit 2015/16
Josef Bierbichler
MITTELREICH
Suhrkamp
64
883 S. Geb. € 10,–
(978-3-518-46385-7)
392 S. Broschur. € 9,99
(978-3-518-46408-3)
Lily Brett
Chuzpe
Christoph Hein
Frau Paula Trousseau
Originaltitel: You Gotta Have Balls
Deutsch von Melanie Walz
In der Bühnenfassung von Dieter Berner
Ruth führt ein wohlgeordnetes und vielleicht etwas zu
kontrolliertes Leben in New York. Sie kann nicht begreifen, dass ihr Vater Edek, vor wenigen Wochen erst von
Melbourne zu ihr nach New York gezogen, weit davon
entfernt ist, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen.
Und dass Lebensabend überhaupt der falsche Begriff ist
für den munteren 87-Jährigen, der sich erst in Ruths
Büro nützlich zu machen versucht und wenig später ein
Verhältnis beginnt mit der – viel zu jungen, wie Ruth
findet – Polin Zofia (69). Und damit nicht genug: Zusammen mit Zofia will Edek zum Entsetzen seiner Tochter
ein »Klopse-Restaurant« eröffnen.
Chuzpe ist Lily Bretts sprühender Roman über Väter
und Töchter, polnische Küche und New Yorker Neurosen; eine Geschichte ernster Irrungen und komischer
Wirrungen, erzählt mit genau der Mischung aus Witz,
Wärme und Verstand, die Lily Bretts Stimme so unverwechselbar macht.
Gegen den Willen ihrer Eltern und ihres Verlobten fährt
die 19-jährige Paula zur Aufnahmeprüfung der Kunsthochschule nach Berlin. Sie wird Malerin, um den Preis
der Verhärtung gegen alle und alles. Sämtliche Beziehungen zu Männern scheitern, die zu Frauen gehören
zu den beständigeren, vertreiben jedoch nicht die dominierenden Grautöne aus ihren Bildern. Woher kommt
diese Gleichgültigkeit gegenüber den anderen und am
Ende gegen sich selbst? Wie werden wir, was wir sind?
Christoph Hein erzählt von einer Frau, die in ihrem Leben das Abenteuer der Selbstbehauptung eingeht: »Die
Geschichte einer gelungenen Emanzipation … Ein reiches Buch. Das schönste, das Christoph Hein bislang
geschrieben hat.« Frankfurter Rundschau
Premiere der Bühnenfassung von Enrico Stolzenburg
und Beate Seidel: 28. März 2015, Deutsches Nationaltheater Weimar, Regie: Enrico Stolzenburg
Inszenierungen
▯ 22. November 2012, Theater in der Josefstadt, Wien
Regie: Dieter Berner
▯ 25. Januar 2015, Hamburger Kammerspiele
Regie: Henning Bock
Lily Brett
Chuzpe
Suhrkamp
Roman
334 S. Broschur. € 9,99
(978-3-518-45922-5)
Suhrkamp
Christoph Hein
Frau Paula
Trousseau Roman
536 S. Broschur. € 12,–
(978-3-518-46004-7)
65
Uwe Johnson
Ingrid Babendererde – Reifeprüfung 1953
Stanislaw Lem
Der futurologische Kongreß –
Aus Ijon Tichys Erinnerungen
Eine Reifeprüfung besonderer Art haben die beiden
Hauptprotagonisten in Uwe Johnsons erstem Roman,
der erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde, abzulegen: Klaus Niebuhr und Ingrid Babendererde müssen
sich nicht nur auf die schulische Reifeprüfung vorbereiten, sondern sich auch zu der Kampagne der staatlichen
Institutionen der DDR gegen die evangelische »Junge
Gemeinde« verhalten. Ingrid Babendererde soll auf einer Schulversammlung die Mitglieder der »Jungen Gemeinde« denunzieren. Sie nutzt ihre Rede jedoch dazu,
die »Junge Gemeinde« unter Hinweis auf die Verfassung
der DDR zu verteidigen und den Direktor der Schule
wegen seines Vorgehens zu kritisieren. Sie wird aus der
Schule ausgeschlossen. Daraufhin entschließt sich das
»Paar«, in den Westen zu gehen, in eine »Lebensweise«,
die sie »für die falsche erachten« …
Originaltitel: Kongres futurologiczny
Deutsch von Irmtraud Zimmermann-Göllheim
Eine Geschichte aus der Zukunft, die in der Gegenwart
spielen könnte. – Im 106-stöckigen Hilton der Hauptstadt Nounas des Staates Costricana ist Ijon Tichy Gast
beim Kongress der Futurologen. Thema: die wachsende
Überbevölkerung. Es kommt zu Aufständen. Polizei und
Militär reagieren mit Waffengewalt. Tichy und andere
Kongressteilnehmer fliehen in die Kanalisation. Nach
schweren Verletzungen in Kühlschlaf versetzt, erwacht
Tichy im Jahre 2039. Trotz weiter wachsender Bevölkerung herrschen nun Frieden, Glückseligkeit und allgemeiner Wohlstand. Tichy befindet sich im Zeitalter
der Psychemie, der Beeinflussung aller Sinneswahrnehmungen durch Psychopharmaka – die die ganze
menschliche Existenz durchdringen. Deren regelmäßige
Einnahme gehört zum neuen Alltag. Es gibt keine Wirklichkeit mehr, die nicht chemisch manipuliert wäre. Die
Einnahme eines Gegenmittels zeigt Tichy jedoch die
wahre Wirklichkeit. Schließlich findet er sich wieder in
der Kanalisation unter seinem Hotel. – 1970 geschrieben, zählt Stanislaw Lems Kurzroman zu seinen bekanntesten Büchern. Voll grotesker Ideen und absurder
Details erzählt er von der Illusion von Wirklichkeit.
Premiere der Bühnenfassung von Holger Teschke
20. September 2014, Volkstheater Rostock
Regie: Sewan Latchinian
Premiere der Bühnenfassung des Theater der
Jungen Welt Leipzig von Christian Georg Fuchs:
23. Oktober 2014, Theater der Jungen Welt Leipzig –
Moritzbastei, Regie: Christian Georg Fuchs
Seite 1
ISBN
ISBN 3-518-37034-0
3-518-37034-0
Stanislaw
´ Lem
Der futurologische
Kongreß
9 783518 370346
€ 6,50 [D]
66
264 S. Leinen. € 19,80
(978-3-518-03218-3)
st
144 S. Broschur. € 7,–
(978-3-518-37034-6)
Suhrkamp
14:45 Uhr
Stanislaw
´ Lem Der futurologische Kongreß
18.04.2006
Hier gibts was zu lesen, Leute; hier gibts was zu denken,
hier kann jeder Wesen, Dinge und Verhältnisse in so
unerhörtem und beziehungsreichem Sprachgewand
erleben, daß er den Eindruck hat, mitunter einer Ausbesserung der Weltgeschichte beizuwohnen oder sogar einer Neufassung dieser Welt.
Siegfried Lenz
534
37034st534_Lem_Kongr_CTP
STARKE PROSA FÜR DIE BÜHNE
Lutz Seiler
Kruso
Clemens J. Setz
Indigo
»Es geht um die Flucht auf eine Insel, es geht um eine
zärtliche, schwierige Freundschaft, es geht um einen
toten Fuchs, der spricht und Ratschläge erteilt, es geht
um die Literatur, um Robinson Crusoe, es geht um eine
sexuelle Initiation, es geht um die ganz und gar phantastische Szene der Saisonarbeiter, der Aussteiger und
der Ausgestoßenen auf der Insel Hiddensee im Sommer 1989, und es geht um die Geschichte Krusos, der
verspricht, jeden Schiffbrüchigen des Lebens in drei
Nächten zurückzuführen zu den Wurzeln der Freiheit,
kurz gesagt, worum es eigentlich geht, wäre noch herauszufinden.« Lutz Seiler
Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu
nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige
Kopfschmerzen. Der junge Mathematiklehrer Clemens
Setz unterrichtet an dieser Schule und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden Kinder in eigenartigen Maskierungen in einem Auto mit
unbekanntem Ziel davongefahren. Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch er kommt nicht weit; er
wird aus dem Schuldienst entlassen. Fünfzehn Jahre
später berichten die Zeitungen von einem aufsehenerregenden Strafprozess: Ein ehemaliger Mathematiklehrer wird vom Vorwurf freigesprochen, einen Tierquäler
brutal ermordet zu haben.
Frei zur Dramatisierung
Deutscher Buchpreis 2014
»Lutz Seilers erster Roman überzeugt durch seine vollkommen eigenständige poetische Sprache, seine sinnliche
Intensität und Welthaltigkeit.« Aus der Jury-Begründung zur
Das »radikale Gegenprogramm zur hübsch verkasteten
Literaturwerkstättenliteratur« Die Welt
Frei zur Dramatisierung
Verleihung des Deutschen Buchpreises an Lutz Seiler
Clemens J. Setz
Lutz
Seiler
INDIGO
roman
Roman
Suhrkamp
Suhrkamp
484 S. Gebunden. € 22,95
(978-3-518-42447-6)
475 S. Broschur. € 10,99
(978-3-518-46477-9)
67
2015
2016
90. Geburtstag
110. Geburtstag
24. Februar 1925
13. April 1906 – 22. Dezember 1989
70. Geburtstag
85. Geburtstag
19. Februar 1945 – 3. November 2001
9. Februar 1931 – 12. Februar 1989
90. Geburtstag
15. Todestag
19. Dezember 1925
19. Februar 1945 – 3. November 2001
65. Todestag
60. Todestag
26. Juli 1856 – 2. November 1950
10. Februar 1898 – 14. August 1956
Etel Adnan
Thomas Brasch
Tankred Dorst
Bernard Shaw
Samuel Beckett
Thomas Bernhard
Thomas Brasch
Bertolt Brecht
20. Todestag
Marguerite Duras
4. April 1914 – 3. März 1996
115. Geburtstag
Marieluise Fleißer
23. November 1901 – 2. Februar 1974
68
JAHRESTAGE
105. Geburtstag und 25. Todestag
160. Geburtstag
15. Mai 1911 – 4. April 1991
26. Juli 1856 – 2. November 1950
80. Todestag
100. Geburtstag
28. März 1868 – 18. Juni 1936
8. November 1916 – 10. Mai 1982
Max Frisch
Maxim Gorki
Bernard Shaw
Peter Weiss
110. Todestag
Henrik Ibsen
20. März 1828 – 23. Mai 1906
2017
10. Todestag
90. Geburtstag
Gerlind Reinshagen
Ulrich Plenzdorf
26. Oktober 1934– 9. August 2007
4. Mai 1926
90. Geburtstag
15. Todestag
Einar Schleef
Martin Walser
24. März 1927
17. Januar 1944 – 21. Juli 2001
400. Todestag
William Shakespeare
1564 – 1616
69
suhrkamp spectaculum
Bereits erschienen
Volker
Braun
Dmitri / Die Übergangsgesellschaft /
Nibelungen / Transit Europa /
Limes. Mark Aurel / Was wollt ihr denn
suhrkamp spectaculum
253 Seiten. Broschur. € 20,–
(978-3-518-42378-3)
303 Seiten. Broschur. € 24,(978-3-518-42438-4)
Noah
Haidle
Gesine
Schmidt
Mr. Marmalade /
Lucky Happiness Golden Express /
Ada und ihre Töchter
suhrkamp spectaculum
liebesrap / Oops, wrong planet! /
Expats / Bier, Blut und Bundesbrüder
suhrkamp spectaculum
205 Seiten. Broschur. € 18,–
(978-3-518-42412-4)
70
151 Seiten. Broschur. € 14,–
(978-3-518-42379-0)
217 Seiten. Broschur. € 18,–
(978-3-518-42413-1)
240 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42462-9)
Erscheint im Mai 2015
Peter Handke
Thomas Oberender
Nebeneingang oder Haupteingang?
Gespräche über 50 Jahre Schreiben
fürs Theater
suhrkamp spectaculum
Erscheint im Mai 2015
Stephan
Kaluza
Einar
Schleef
Atlantic Zero / 3D / Sand
suhrkamp spectaculum
Die Schauspieler / Mütter / Wezel /
Berlin – ein Meer des Friedens
suhrkamp spectaculum
199 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42437-7)
Etwa 200 Seiten. Broschur. Ca. € 18,(978-3-518-42484-1)
Etwa 180 Seiten. Broschur. Ca. € 18,(978-3-518-42463-6)
In vier Gesprächen zeichnen Peter
Handke und Thomas Oberender
Handkes imposante Werkgeschichte im Theater nach. Ein Dialog über
Handkes literarische Prägungen,
über Entwicklungen und Kontinuitäten dieses großen Epikers des
zeitgenössischen Theaters.
Es gibt Autoren, die mit ihren
Stücken Fragen stellen. Zu diesen
gehört Stephan Kaluza nicht. Seine
Stücke versuchen, Antworten zu
geben. In Atlantic Zero auf die
Frage, wie das Prinzip einer durch
und durch ökonomisierten Welt zu
durchbrechen ist. In dem Kammerspiel 3D ob man ein Schuldiggewordensein bis an sein Lebensende verdrängen kann. Und in Sand
wird die Antwort auf die Frage
gesucht, wie in einer zukünftigen
Gesellschaft Virtualität an die
Stelle wirklicher Gefühle tritt.
Einar Schleef war Autor, Maler,
Fotograf, Darsteller und Regisseur.
Am bekanntesten wurde er als
Regisseur – auch eigener Stücke
(darunter Mütter und Die Schauspieler). Diese Stücke haben ihre eigene
Wucht, ihren eigenen Witz. Sie
pochen auf Wiederentdeckung.
»Die besten Momente entstehen,
wenn die Rollen ›Frager‹ und ›Antworter‹ aufgehen in ein beiderseitiges
Suchen und Finden.
Nebeneingang oder Haupteingang?
dürfte ein ähnliches Standardwerk
der Handke-Forschung werden wie
Herbert Gampers Aber ich lebe nur
von den Zwischenräumen von 1987.
Unverzichtbar für nahezu jeden. Den
Experten, den gelegentlichen Theaterbesucher, da auch Grundsätzliches
verhandelt wird, und den Verwirrten,
der sich ein bisschen Orientierung
verschaffen möchte.« Lothar Struck,
Die Schauspieler formuliert eine
bissig witzige Entgegnung auf Gorkis Nachtasyl. Mütter verdichtet die
Neuübersetzung zweier antiker Stücke zu einer Kriegstragödie. Wezel
erteilt einer ungebärdigen Außenseiterfigur der deutschen Klassik
das Wort. Und lustvoll satirisch
antizipiert und überbietet Berlin –
ein Meer des Friedens (aus dem Jahr
1974) die deutsche Vereinigung mithilfe einer großen Flut, die sich
aus dem Fernseher einer Ostberliner Plattenbauwohnung ergießt.
Glanz & Elend Literatur und Zeitkritik
71
IMPRESSUM / KONTAKT
Impressum / Kontakt
Suhrkamp Verlag GmbH & Co. KG
Suhrkamp Theater & Medien
Pappelallee 78-79
10437 Berlin
E-Mail: [email protected]
(oder: [email protected])
Telefon: +49 (0)30 / 740 744 395
Telefax: +49 (0)30/740 744 399
www.suhrkamptheater.de
Leitung:
Frank Kroll (Lektorat, Theater, Film/TV)
Nicola Ahr / Nora Huberty (Assistenz)
Dramaturgie: Nina Peters (Lektorat Theater)
Manfred Ortmann (Lektorat Hörspiel, Theater)
Michael Sauter (Lektorat Theater, Musiktheater)
Lizenzen:
Britta Davis (professionelle Theater, internationale Lizenzen)
Alexandra Murphy (Amateure, Lesungen, TV-Ausschnitte, Vertonungen)
Textbuchbestellungen:über www.suhrkamptheater.de, www.theatertexte.de
oder [email protected]
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Dramaturgie
2. Oktober 2014
Jutta Schneider, Frankfurt a. M.
Redaktion: Redaktionsschluss: Gestaltung: © Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Alle Rechte vorbehalten. Änderungen vorbehalten.
Alle Angaben zu geplanten Uraufführungen ohne Gewähr.
Bildnachweis Umschlag: Uta Ackermann (Werner Fritsch), Affolter/Savolainen
(Wolfram Höll), Jerry Bauer (Marguerite Duras), Oliver Bokern (Ingrid Lausund),
Martina Dahm (Heiko Buhr), Andrej Glusgold (Martin Heckmanns), Kerstin Groh
(Georg Ringsgwandl), Martin Lengemann (Albert Ostermaier), Marcos López
FIBA_FAV (Rafael Spregelburd), Isolde Ohlbaum (Thomas Brasch, Tankred Dorst),
Susanne Schleyer (Nikolaus Günter, Noah Haidle, Konstantin Küspert, Christoph
Nußbaumeder, Gesine Schmidt), Bettina Strauss (Lily Brett), Donata Wenders
(Peter Handke), Joachim Zimmermann (Jörn Klare); weitere Nachweise über das
Bildarchiv des Suhrkamp Verlags.
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Thomas Brasch, Lily Brett, Heiko Buhr, Tankred Dorst
Marguerite Duras, Werner Fritsch, Nikolaus Günter, Noah Haidle
Peter Handke, Martin Heckmanns, Wolfram Höll, Jörn Klare, Thomas Köck
Konstantin Küspert, Ingrid Lausund, Jagoda Marinić
Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Georg Ringsgwandl
Gesine Schmidt Akin E.Şipal, Rafael Spregelburd
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