Wissen im radikal-konstruktivistischen Denken

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Schriftlicher Prüfungsteil zur Fachprüfung bei A.Univ.-Prof. Dr. Theo Hug
Wissen im radikal-konstruktivistischen Denken
nach Ernst von Glasersfeld
Mit der folgenden Arbeit soll der radikal-konstruktivistische Wissensbegriff
grundlegend erklärt sowie durch die Verweise auf seine Bezugsquellen
präzisiert und somit von den vielen trivialen Verwendungsweisen unterscheidbar gemacht werden, die mit der weiten Verbreitung konstruktivistischen Gedankenguts in etlichen, auch nicht wissenschaftlichen Zusammenhängen einhergegangen sind.
„Einfach ausgedrückt“, erklärt Ernst von Glasersfeld (1996, S. 22),
„handelt
es
sich
da
[beim
Radikalen
Konstruktivismus]
um
eine
unkonventionelle Weise die Probleme des Wissens und Erkennens zu
betrachten“. Doch um diese einfache Betrachtungsweise des Wissens
verstehen zu können, muss zuerst geklärt werden, wie denn die
konventionelle Art und Weise aussieht, mit den Problemen des Wissens
umzugehen. Diese Frage ist nicht leicht und vor allem nicht eindeutig zu
beantworten, weder im Bereich unserer alltagsnahen Vorstellung von
Wissen noch im Bereich der Wissenschaften1. Dennoch soll anhand einiger
ausgewählter Beispiele der Versuch unternommen werden, ein grobes Bild
des Wissensbegriffs in unserer westlichen Mediengesellschaft sowie des
traditionellen Wissensbegriffs in immer noch vielen Sparten der unterschiedlichsten Wissenschaften zu skizzieren.
Anhaltspunkte für einen alltagsnahen Wissensbegriff
Im alltäglichen Gebrauch sind wir mittlerweile dazu übergegangen, Wissen
als eine Ware anzusehen, die getauscht und gehandelt werden kann.
1
Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Wissensformen unserer westlichen Medienkultur bietet das
Buch „Instantwissen, Bricolage, Tacit Knowledge...“ (Hug & Perger 2003).
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1
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Diese durch die Kommerzialisierung etlicher Wissensformen erwirkte
Ansicht schränkt unseren Geltungsbereich für das, was wir Wissen
nennen, weitestgehend auf digitalisierbares und profitables Wissen ein.
Kurz umschrieben könnte man sagen, dass nur noch das als Wissen gilt,
was sich verkaufen oder zumindest indirekt in Profit umwandeln lässt.
Belege dafür finden wir in den zahlreichen Medien-Angeboten, wo sich
gerade im Fernsehen die Inhalte immer mehr nach den Einschaltquoten
richten. Doch auch im universitären Bereich wird die Kluft zwischen
wirtschaftlich
verwertbarem
(in
den
meisten
Fällen
naturwissen-
schaftlichem) und unrentablem „philosophischen“ Wissen, gerade was die
Finanzierbarkeit der Forschung und Lehre anbelangt, immer größer.
Dieser erste Anhaltspunkt für unsere alltägliche Vorstellung von Wissen
verweist darauf, dass Wissen ähnlich wie andere Waren als ein Gut
angesehen wird, welches außerhalb von uns mit relativer Stabilität
existiert und getauscht werden kann.
Ein zweiter Anhaltspunkt für den alltagsnahen Wissensbegriff sind die
Erfahrungen, die wir im Laufe unserer Sozialisation, vor allem während
unserer schulischen Ausbildung, mit Wissen gemacht haben. Das Bild,
welches uns in den allermeisten Fällen von Institutionen der Aus- und
Weiterbildung (auch noch in vielen universitären Bereichen) vermittelt
wird, zielt im großen und ganzen auf die Reproduzierbarkeit von Wissen
ab. Die Beurteilung derart reproduzierten Fakten-Wissens findet dann
häufig nach dem Schema „richtig/falsch“ statt und lässt kaum Platz für
Alternativen, eine Hinterfragung und Reflexion oder den Versuch einer
persönlichen Bewertung und Einordnung der derart erlernten Fakten.
Doch selbstverständlich findet man auch im Alltag, gerade in den als
postmodern bezeichneten westlichen Kulturen, Ansätze dafür, diesen
traditionellen Wissensbegriff zu hinterfragen und zu bezweifeln. Die
Pluralität unterschiedlichster Lebensformen und die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen unterwerfen die alten Wissensbestände immer
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mehr einem Wandel, der auch im alltäglichen Leben bemerkbar wird und
der eine berechtigte Skepsis am herkömmlichen Wissensbegriff hervorruft.
Gegen beide Ansichten, sowohl gegen diejenige, Wissen sei eine Ware, die
ohne weiteres tauschbar ist, als auch gegen die Ansicht, Wissen sei
hartes, objektives Faktenwissen, erhebt der Radikale Konstruktivismus,
wie später gezeigt werden wird, ernst zu nehmende Einwände.
Der traditionelle Wissensbegriff in der Philosophie
Im Bereich der Wissenschaften beschäftigte sich vor allem die Philosophie
mit der Frage nach dem Wissen, und viele der heute immer noch
gebräuchlichen Ansichten über wissenschaftlich gesichertes Wissen gehen
auf die antiken griechischen Philosophen zurück. Ernst von Glasersfeld
gibt in seinem Buch „Wege des Wissens“ (1997, S. 198) eine Übersicht
über die vier bei den Griechen gebräuchlichen Wissensbegriffe:
„doxa
Meinung oder Erfahrungswissen
episteme
rationales Verstehen
gnosis
wahres Wissen, wie es von Metaphysikern
beansprucht wird
sophia
Weisheit.“
Wie Parmenides (~540 bis 480/460 v.Chr.), der in einem Lehrgedicht die
Göttin Dike zu einem Jüngling über den Unterschied zwischen wahrem
Wissen (er nennt es episteme) und bloßer Meinung (doxa) sprechen lässt,
versuchten die meisten der griechischen Philosophen anhand solcher
Begriffsunterscheidungen
ein
Bild
des
Wissens
zu
entwerfen,
das
Subjektivität weitestgehend ausschloss. Auch wenn später an die Stelle
der griechischen Götter der christliche Gott als Offenbarungsquelle und
Rechtfertigung für das wahre Wissen trat, so blieb das Ansinnen dennoch
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meistens
das
gleiche,
nämlich
der
Versuch
einer
objektiven
Widerspiegelung der wahren Welt.
Doch bereits in der Zeit der Anfänge der Philosophie gab es jene Denker,
die an der Möglichkeit einer solchen Abbildung der Welt durch unser
Wissen zweifelten.
Seit dem Beginn der abendländischen Philosophie beherrscht nämlich ein
grundlegendes Problem den Bereich der Erkenntnistheorie und damit auch
die Frage nach dem Wissen, insbesondere dem wissenschaftlichen Wissen.
Erkenntnis wird üblicherweise als Repräsentation, d.h. als Widerspiegelung
einer vom erkennenden Subjekt unabhängigen Welt aufgefasst. Am
deutlichsten kommt diese Vorstellung wohl in den ersten Theorien der
Wahrnehmung der griechischen Philosophen Empedokles (~483 bis 424
v.Chr.) und Demokrit (~470 bis 371 v.Chr.) zum Vorschein, die davon
ausgehen, dass die Dinge, welche wir wahrnehmen, Strahlen oder auch
kleine
Bildchen
aussenden,
welche
von
unseren
Sinnesorganen
aufgenommen werden und uns so ein Abbild der Welt liefern. Zwar wurde
die Theorie der Wahrnehmung im Laufe der Geschichte stets verändert
und heute kann man wohl davon ausgehen, dass diese Ansicht einer 1:1Abbildung der Außenwelt durch unsere Sinnesorgane in den allermeisten
Bereichen der Wissenschaft nicht mehr vorherrscht, aber dennoch konnte
bislang
keine
zufriedenstellende
Erklärung
für
den
Prozess
der
Wahrnehmung gefunden werden. Doch bereits im antiken Griechenland
wie auch durch die gesamte Geschichte hindurch machten einige
Philosophen, die der Tradition der Skeptiker zugeschrieben werden, auf
ein unlösbares Problem im Bereich der Wahrnehmung und der Erkenntnis
aufmerksam.
Wenn wir nämlich das Bild, das wir uns beispielsweise mit Hilfe unserer
Sinnesorgane von der Welt (oder aber auch nur von einem Gegenstand)
gemacht haben, mit der Realität vergleichen wollen, d.h. wenn wir das
Bild mit dem „wirklichen Gegenstand“ auf seine Richtigkeit hin vergleichen
wollen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als uns erneut ein Bild der Welt
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(oder jenes Gegenstandes) zu machen. Und dieses erneute Bild kann
wiederum
nur
auf
der
Grundlage
unserer
spezifischen
Weise
der
Wahrnehmung und unserer Erfahrung erstellt werden. Ein Vergleich mit
der Realität ist somit vollkommen ausgeschlossen.
Ernst
von
Glasersfeld
erklärt
dieses
Problem,
indem
er
auf
den
griechischen Skeptiker Xenophanes verweist: „Selbst wenn es jemandem
gelänge [...] sich die Welt so vorzustellen, wie sie wirklich ist, so könnte
er doch nicht wissen, daß es ihm gelungen ist (vgl. Diels 1957;
Xenophanes
Fragment
34)“
(Glasersfeld
1998,
S.
504).
Diese
grundlegende Skepsis gegenüber der Erkenntnis gilt jedoch nicht bloß für
unsere
Wahrnehmung,
sondern
für
unser
alltägliches
Erleben
und
selbstverständlich auch für den Bereich der Wissenschaft. Der Erlebende,
sei er nun wissenschaftlich tätig oder nicht, kann niemals erkunden,
„inwieweit oder ob überhaupt das, was er erlebt, mit einer von ihm
unabhängigen
Welt
übereinstimmt.
Um
da
eine
Übereinstimmung
festzustellen oder zu prüfen, müßte das Erlebte ja mit der ‚Wirklichkeit’
verglichen werden – und dieser Vergleich ließe sich nur machen, wenn
man Erlebtes dem noch nicht Erlebten gegenüberstellen könnte. Der
einzige Zugang zu noch nicht Erlebtem aber führt eben durch das Erleben,
und darum läßt sich nie ermitteln, ob die Art und Weise des Erlebens das
von der Wirklichkeit ‚Gegebene’ vermindert oder verfälscht“ (Glasersfeld
2000, S. 10).
Doch trotz der Einwände der Skeptiker setzte sich ein Wissensbegriff
durch, der wohl am prominentesten in Platons „Theaitetos“ (1991, S. 151367) dargelegt wird und der auch heute noch große Geltung hat.
Platon lässt in diesem Dialog den weisen Sokrates mit dem jungen Mann
Theaitetos über Wissen sprechen. Dieser schlägt im Laufe des Dialogs
mehrere Definitionen für Wissen vor und erläutert diese anhand von
Beispielen, doch Sokrates widerlegt alle von ihnen. Und obwohl die Frage
nach dem Wissen von Sokrates im Endeffekt unbeantwortet bleibt, hat
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sich doch der traditionelle Wissensbegriff der Philosophie aus eben diesem
Werk Platons bis in unsere Zeit hinein gehalten.
Der traditionelle Wissensbegriff:
X weiß, dass p.
(1) Es ist wahr, dass p.
(2) X meint, dass p.
(3) X hat Gründe für die Annahme, dass p.
Dieser traditionelle Wissensbegriff verlangt also drei Voraussetzungen
dafür, dass man von „wahrem Wissen“ einer Person X über einen
Sachverhalt p (eine Proposition) sprechen kann.
Die erste Voraussetzung ist die Wahrheit des Sachverhalts. Bei der
Annahme „Ich weiß, dass der Mount Everest der höchste Berg der Welt
ist“ handelt es sich also nur dann um Wissen, wenn es auch wahr ist, dass
der Mount Everest der höchste Berg der Welt ist.
Die zweite Voraussetzung ist das Anerkennen eines Sachverhalts, d.h. nur
wenn ich auch wirklich davon überzeugt bin, dass der Mount Everest der
höchste Berg der Welt ist, kann man davon sprechen, dass ich es weiß.
Die dritte Voraussetzung der traditionellen Wissensdefinition ist, dass ich
Gründe für meine Meinung habe, die rechtfertigen, dass ich diese Meinung
vertrete.
Kurz zusammengefasst lässt sich also sagen: Wissen ist gerechtfertigte
oder begründete, wahre Meinung.
Selbstverständlich gibt es auch in der modernen Philosophie Einwände, die
gegen
den
traditionellen
Wissensbegriff
vorgebracht
wurden,
am
prominentesten wohl durch den Philosophen Edmund L. Gettier, der in
einem Aufsatz mit der Frage, ob begründete, wahre Meinung Wissen ist
(Gettier 1963), die Probleme der traditionellen Wissensdefinition neu
aufwarf,
indem
er
Beispiele
für
Situationen
fand,
in
denen
die
Voraussetzungen des traditionellen Wissensbegriffs erfüllt sind, es jedoch
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dennoch keinen Sinn macht, von „wahrem Wissen“ zu sprechen. Eines
dieser später als Gettier-Probleme bekannt gewordenen Beispiele sei hier
sinngemäß widergegeben:
Zwei Personen, Smith und Jones, haben sich für eine Stelle
beworben. Smith wurde vom Personalchef der Firma mitgeteilt, dass
Jones den Job bekommen wird. Außerdem hat Smith gesehen, wie
Jones sich vor dem Betreten der Firma eine Münze (vielleicht seinen
Glücksbringer) in die Hosentasche gesteckt hat.
Nun folgert Smith: Derjenige, der die Stelle erhalten wird, hat eine
Münze in der Hosentasche.
Folgendes tritt aber ein: Smith bekommt die Stelle (der Personalchef
hatte die beiden verwechselt) und auch Smith hatte noch von
gestern Abend eine Münze in seiner Hosentasche (was er vergessen
hatte) (vgl. ebd., S. 122).
Dieser Fall erfüllt zwar die Voraussetzungen für den traditionellen
Wissensbegriff – nämlich (1) Es ist wahr, dass derjenige, der die Stelle
erhalten wird, eine Münze in der Hosentasche hat, (2) Smith meint, dass
derjenige, der die Stelle erhalten wird, eine Münze in der Hosentasche
hat, und (3) Smith hat Gründe (die Beobachtung mit dem Glücksbringer
und die Aussage des Personalchefs) für die Annahme, dass derjenige, der
die Stelle erhalten wird, eine Münze in der Hosentasche hat –, stellt aber
dennoch kein „wahres Wissen“ dar.
In den allermeisten Fällen wurde auf solche und ähnliche Kritikpunkte am
traditionellen Wissensbegriff dadurch reagiert, dass man versuchte die
dritte Bedingung (X hat Gründe für die Annahme, dass p.) soweit zu
verändern, dass sie dem Einwand stand halten konnte. Nach und nach
wurde versucht die Möglichkeit „falscher“ Annahmen und Begründungen
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innerhalb
der
Wissensdefinition
gering
zu
halten
und
somit
die
Subjektivität weitestgehend vom Wissensbegriff auszuschließen.
Der radikal-konstruktivistische Wissensbegriff
Der
Radikale
Konstruktivismus
hingegen
sieht
das
Problem
eines
derartigen Wissensbegriffs zum einen aufgrund seiner erkenntniskritischen
Einstellung in der ersten Bedingung der traditionellen Definition, zum
anderen aber gerade in der Vernachlässigung der Subjektivität. Da es
nämlich von der jeweiligen Person, d.h. von ihren kognitiven Strukturen,
die sie beispielsweise aus ihren bisherigen Erfahrungen gewonnen hat,
abhängt, was sie anhand welcher Gründe zu akzeptieren bereit ist, macht
es
wenig
Sinn,
die
Subjektivität
vom
Wissensbegriff
und
seinen
Bedingungen trennen zu wollen. Kritische Menschen sind vielleicht selbst
beim Vorliegen ausgezeichneter Gründe nicht bereit eine These zu
akzeptieren, andere wiederum glauben bereitwillig viele Dinge, selbst
solche, die für andere reichlich abstrus wirken.
Der erste Punkt verweist auf das bereits weiter oben angesprochene
Erkenntnis-Problem der Skeptiker, d.h. die Unmöglichkeit der wahrheitsgetreuen Abbildung einer objektiven Realität. Der Radikale Konstruktivismus anerkennt nun die Unlösbarkeit dieses Erkenntnisproblems und
zieht daraus die Folgerung, dass eine Wissenstheorie einerseits versuchen
muss möglichst ohne ontologische Voraussetzungen auszukommen und
andererseits die spezifische Art und Weise der Wahrnehmung, des
Erlebens, des Denkens und somit des gesamten menschlichen Wissens zur
Grundlage der Theorie zu machen.
Mit Ernst von Glasersfeld kann man die radikal-konstruktivistische
Auffassung von Wissen folgendermaßen zusammenfassen:
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„Der Radikale Konstruktivismus beruht auf der Annahme, daß alles
Wissen, wie immer man es auch definieren mag, nur in den Köpfen
von Menschen existiert und daß das denkende Subjekt sein Wissen
nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann“
(Glasersfeld 1996, S. 22). Wissen wird also „nicht als Widerspiegelung oder ’Repräsentation’ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet [...],
sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines
aktiven, denkenden Subjekts“ (Glasersfeld 1998, S. 503). Somit
stellt Wissen im Radikalen Konstruktivismus „[...] kein Bild oder
keine Repräsentation der Realität [dar], es ist vielmehr eine
Landkarte dessen, was die Realität uns zu tun erlaubt. Es ist das
Repertoire an Begriffen, begrifflichen Beziehungen und Handlungen
oder Operationen, die sich in der Verfolgung unserer Ziele als viabel
[d.h. brauchbar] erwiesen haben. Daher betrachte ich Wissen als
instrumental, und die Ziele, für die es als Instrument dient, liegen
auf zwei Ebenen, auf einer biologischen und auf einer begrifflichen“
(Glasersfeld 1997, S. 202).
Nimmt man also den Einwand der Skeptiker gegenüber jedweder Form der
Erkenntnis ernst – und bislang wurde noch keine Lösung für das von ihnen
aufgeworfene Erkenntnisproblem gefunden – so bietet der radikal-konstruktivistische Wissensbegriff eine sinnvolle Alternative zur traditionellen
Wissensdefinition, da er auf die Koppelung von Wissen und Wahrheit
verzichtet. Zudem anerkennt er die ebenfalls bereits von den Skeptikern
aufgezeigte, unhintergehbare Subjektgebundenheit allen Wissens und
macht diese zur Grundlage für einen Wissensbegriff, dessen Brauchbarkeit
sich bereits in so unterschiedlichen Wissenschaften wie der Pädagogik, der
Neurophysiologie, den Management- oder den Medienwissenschaften
gezeigt hat.
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Die Quellen des radikal-konstruktivistischen Wissensbegriffs
Selbstverständlich ist diese Auffassung von Wissen auch in der Geschichte
der Wissenschaften nicht vollkommen neu, und so gibt es neben den
Skeptikern eine ganze Reihe von Autoren, auf die sich Ernst von
Glasersfeld in seiner Theorie explizit beruft – und gewiss auch eine ganze
Reihe von Autoren, die er nicht berücksichtigt hat (vgl. z.B. Glasersfeld
1996, S. 56-97). Um die Herkunft eines solchen Wissensbegriffs besser
nachvollziehbar zu machen und um ihn besser von anderen Positionen
unterscheidbar zu machen, sollen hier einige der wichtigsten Quellen
exemplarisch
genannt
sein,
die
für
die
Entwicklung
der
radikal-
konstruktivistischen Wissenstheorie von Bedeutung sind. Die im Laufe der
Quellensammlung zitierten Stellen gehen zudem noch einmal auf wichtige,
grundlegende Gesichtspunkte des radikal-konstruktivistischen Wissensbegriffs ein.
Auf die Skeptiker und im besonderen auf Xenophanes wurde ja bereits
verwiesen, weshalb die skeptische Position hier noch einmal zusammengefasst in einem Zitat widergegeben werden soll:
„Schon unter den Vorsokratikern“, so schreibt Glasersfeld, „waren
einige, die ganz klar sahen, daß es eine derartige absolute Gültigkeit
oder ‚Wahrheit’ des menschlichen Wissens nicht geben kann, denn,
um sie nachzuweisen, müßte man in der Lage sein, dieses Wissen
mit der Realität zu vergleichen. Da wir unsere Vorstellungen jedoch
stets nur mit Vorstellungen vergleichen können, gibt es für uns
keine Möglichkeit herauszufinden, ob unsere Vorstellungen ‚Dinge’
repräsentieren, die in einer realen Welt ‚existieren’, geschweige
denn, ob sie diese ‚wahrheitsgetreu’ wiedergeben. Die Skeptiker
haben diese logisch unanfechtbare Einsicht im Laufe von zwei
Jahrtausenden untermauert und verfeinert“ (Glasersfeld 1997, S.
47-48).
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Neben den Verwiesen auf die im 3. Jahrhundert n. Chr. in Byzanz
entwickelte, sogenannte „negative Theologie“ (vgl. Glasersfeld 1996, S.
61-62) und selbstverständlich der Bezugnahme auf Descartes (vgl. ebd.,
S. 65-67), erwähnt Glasersfeld insbesondere die drei britischen Empiristen
John Locke, George Berkeley und David Hume als wichtige „Vordenker“
für den Radikalen Konstruktivismus. Anhand ihrer Ausführungen und
Überlegungen grenzt Glasersfeld seine Wissenstheorie noch einmal scharf
von zwei Bereichen ab, einerseits nämlich von jedweder Form eines
naiven Realismus, andererseits von der Metaphysik:
„Empiristen stimmen darin überein, daß Wissen aus der Erfahrung
hervorgeht und daß es im Bereich der menschlichen Erfahrung
geprüft wird. Wie jedoch diese Erfahrung mit einer realen Welt
verknüpft werden soll, die ihr zugrunde liegt, darüber sind die
Meinungen sehr unterschiedlich. Heute begegnet man oft dem
Ausdruck ‚hartgesottener Empirist’ in dem Sinne, daß experimentelle
Ergebnisse Daten liefern, die die kennzeichnenden Merkmale oder
den Zustand einer vom Beobachter unabhängigen realen Welt
widerspiegeln. Keiner der drei großen britischen Empiristen war ein
derartig naiver Realist“ (ebd., S. 67). Vielmehr beschäftigten sich
„Locke und Hume [...] mit menschlichem Verstehen [...] und
Berkeley mit menschlichem Wissen. Alle drei konzentrieren sich
primär darauf, wie der rationale Verstand Wissen erwirbt und wie
Wissen konstituiert wird“ (ebd., S. 72-73). Und Glasersfeld kommt
zu dem Schluss, dass gemäß den Ausführungen Humes der „[...]
Glaube, daß menschliches Wissen eine absolute Realität abbilden
sollte, [...] nicht länger auf redliche Weise durch Nachdenken über
die menschliche Erfahrung gerechtfertigt werden [konnte], er mußte
seine Begründung im Bereich der Metaphysik finden“ (ebd., S. 73).
Mehr als nur ein „Vordenker“ der radikal-konstruktivistischen Idee war ein
wenig später dann der Neapolitaner Philosoph Giambattista Vico.
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Er „[...] war der erste“, wie Glasersfeld sagt, „der bewußt eine
konstruktivistische Wissenstheorie entwarf. Der Mensch, sagte er,
könne nur wissen, was er selber aufbaut [...]“ (Glasersfeld 1997, S.
49). „Der menschliche Verstand“, führt Glasersfeld die Gedanken
Vicos weiter aus, „kann daher nur die Dinge erkennen, die aus
Material gemacht sind, das ihm zugänglich ist – und das ist das
Material der Erfahrung –, und eben durch sein Machen entsteht sein
Wissen davon“ (Glasersfeld 1996, S. 76).
Neben Kant, von dem Ernst von Glasersfeld die Unterscheidung zwischen
Wirklichkeit und Realität sowie grundlegende Aspekte der Intersubjektivität herleitet, legte Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie einen
ebenso markanten Grundstein für die Weiterentwicklung des Wissensbegriffs. Anhand des Darwinschen Ansatzes bringt Glasersfeld die Begriffe
der Evolution und der Anpassung mit dem des Wissens in Verbindung:
„Erst mit dem Erscheinen der Darwinschen Evolutionstheorie wurde
ein Begriff zugänglich“, schreibt Glasersfeld, „der es ermöglichte,
dem Wissen eine andere Rolle zuzuschreiben. Es war der Begriff der
‚Anpassung’, und kurz vor der Jahrhundertwende führten William
James, Georg Simmel, Ernst Mach, Alexander Bogdanov, Hans
Vaihinger und andere ihn in den Bereich der Kognition ein“
(Glasersfeld 1998, S. 505). Welche andere Rolle des Wissens dies
ist, erklärt Glasersfeld, indem er das Beispiel wissenschaftlicher
Fortschritts anführt: „Nach der gängigen Lehrmeinung wurden
Hypothesen
zu
Theorien
und
sodann
durch
immer
weitere
Bestätigung zu Tatsachenbeschreibungen oder Gesetzen, die eine
objektive Realität abbildeten. Nun aber ließ sich der Fortschritt der
Wissenschaft und des menschlichen Wissens im allgemeinen als
ständige Evolution auffassen, die mit der biologischen Theorie
Darwins vollkommen übereinstimmte“ (Glasersfeld 1996, S. 85).
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Doch die Ideen Darwins beeinflussten nicht erst den Radikalen Konstruktivismus und dessen Wissensbegriff, sondern sie spielten bereits für Jean
Piaget eine enorm wichtige Rolle, wie Glasersfeld selbst betont:
„Die
[…]
Anpassung
bildet
auch
die
Grundlage
von
Piagets
‘Genetischer Epistemologie’. In dieser Kognitionstheorie hat Wissen
nicht den herkömmlichen Zweck, eine vom Wissenden unabhängige
Welt zu repräsentieren, sondern dient dem Organismus dazu, so zu
Handeln und zu denken, daß er mit der Lebenswelt nicht in Konflikt
kommt“ (Glasersfeld 1998, S. 505). Wie komplex, aber auch wie
ungeheuer wichtig Piagets Arbeiten für Ernst von Glasersfeld sind,
betont er, wenn er sagt: „Piaget ist nicht leicht zu lesen. [...] Sein
unermüdliches
Bestreben,
seine
Gedanken
in
größtmöglicher
Differenziertheit auszudrücken, trägt natürlich nicht immer zum
Verständnis des Lesers bei. Und dennoch habe ich nie daran
gezweifelt, daß es der Mühe wert war, diese Schwierigkeiten zu
überwinden; diese Mühe hat mich zu einer Ansicht menschlichen
Wissens geführt, die keine andere Quelle hätte liefern können“
(Glasersfeld 1996, S. 99). Und an anderer Stelle schreibt Glasersfeld
dann: „Piaget war fraglos der Pionier der konstruktivistisch ausgerichteten Kognitionsforschung in diesem Jahrhundert. Sein Ansatz
war [...] unbequem, denn er verlangt drastische Veränderungen
gewisser Grundbegriffe, die seit Tausenden von Jahren als selbstverständlich gelten. Zu diesen Grundbegriffen gehören ‚Realität’,
‚Wahrheit’ und der Begriff dessen, was ‚Wissen’ ist und wie wir zu
ihm gelangen“ (ebd., S. 100).
Glasersfeld erklärt nämlich, „[...] daß Wissen nach seiner [gemeint
ist Piagets] Auffassung aus der physischen oder mentalen Aktivität
eines Individuums entsteht und daß es zielgerichtete Aktivität ist,
die dem Wissen seine besondere Organisation verleiht: ‚Alles Wissen
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ist an Handeln gebunden, und das Erkennen eines Objekts oder
eines Ereignisses besteht in seiner Assimilation an ein Handlungsschema [...]’ (Piaget 1967 a, S. 14 f.)” (Piaget 1967, zitiert in
Glasersfeld 1996, S. 103). Und weiters verdeutlicht er: „Die
Beziehung des Wissens zur realen Welt ist in Piagets Modell daher
eine reziproke, denn jede begriffliche Struktur wird voraussichtlich
modifiziert,
wenn
sie
mit
einem
Umwelthindernis
kollidiert
(Glasersfeld 1996, S. 129). Damit ist in aller Kürze erklärt, was
Piaget mit Anpassung im Bereich des Wissens meint, nämlich die
Veränderung von begrifflichen Strukturen. Und daraus folgert
Glasersfeld schließlich: „Kurzum, die Wissenstheorie, die mit Piagets
Arbeit am besten vereinbar ist, ist eine instrumentalistische, in der
Wissen
nicht
unabhängigen
das
Welt
Erkennen
bedeutet.
einer
vom
Aus
dieser
erfahrenden
Subjekt
Perspektive
werden
kognitive Strukturen, Handlungsschemas, Begriffe, Regeln, Theorien
und Gesetze primär nach dem Kriterium des Erfolgs bewertet, und
Erfolg kann sich dabei nur auf die Bemühungen der Organismen
beziehen, angesichts von Perturbationen inneres Gleichgewicht zu
erreichen, zu erhalten und auszuweiten“ (ebd., S. 130).
Die letzte, aber gleichzeitig wohl auch die aktuellste Quelle radikalkonstruktivistischen Denkens liegt in der Kybernetik begründet.
„Mitte der Sechzigerjahre, zwanzig Jahre nachdem Norbert Wiener
sein erstes Buch über Kybernetik (1965) veröffentlicht hatte,
bemerkte Piaget, daß es zwischen dieser neuen Disziplin und seinen
eigenen Ideen Parallelen gab. Das grundlegende konstruktivistische
Prinzip, daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert,
indem er sich selbst organisiert (Piaget, 1937, p.311), verkörpert
zweifellos die kybernetische Idee der Selbstorganisation“ (Piaget
1937, zitiert in Glasersfeld 1998, S. 507). „Daß dieses Prinzip die
Konstruktion
menschlichen
Wissens
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steuert
und
daher
aller
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Erkenntnistheorie zugrunde liegt, wurde das erste Mal am Beginn
des 18. Jahrhunderts von Vico betont und hernach überzeugend von
Kant nachgewiesen [...]“ (Glasersfeld 1996, S. 238). Heute bilden
Begriffe wie Selbstregelung, Autonomie, Rückkopplung, Selbstreferenz, Steuerung oder Zirkularität die wesentlichen Elemente der
Theorien jener Kybernetiker, die sich mit der allgemeinen Frage
nach dem menschlichen Wissen beschäftigen. „Ihre Formulierung im
Rahmen der Theorie der Selbstorganisation“, legt Glasersfeld dar,
„hat zum einen eine umfassende Biologie der Kognition für lebende
Organismen ergeben (Maturana/Varela 1980), zum anderen eine
Theorie der Wissenskonstruktion, die sowohl den Absurditäten des
Solipsismus als auch den fatalen Widersprüchen des Realismus mit
Erfolg entgeht (von Foerster 1973; McCulloch 1970; Glasersfeld
1976b). Jeder Versuch zu erkennen, wie wir erkennen, ist ganz
augenscheinlich selbstreferentiell“ (ebd., S. 241).
Von der Kybernetik übernimmt der Radikale Konstruktivismus also den
Aspekt der Selbstreferentialität und legt diesen Begriff, der in der
Geschichte der Philosophie gewiss ebenso verpönt war wie der der
Subjektivität, seiner Theorie, d.h. dem Versuch Wissen über unser Wissen
zu erlangen bzw. Erkenntnis über unsere Erkenntnis zu gewinnen, zu
Grunde.
Anhand der Umschreibungen Ernst von Glasersfelds am Beginn dieses
Textes sowie anhand der Vielzahl an Quellen und Verweisen auf andere
Gebiete sollte sich nun ein Wissensbegriff herauskristallisiert haben, der
sich deutlich von unseren alltäglichen Auffassungen sowie von der
traditionellen philosophischen Wissensdefinition unterscheidet, bei dem
jedoch auch ersichtlich wird, dass es eine ganze Reihe von Denkern gab
und gibt, die in ihren Überlegungen auf ähnliche Ergebnisse gekommen
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sind
und
die
somit
eine
bedeutende
Rolle
für
den
Radikalen
Konstruktivismus einnehmen.
Literatur:
Gettier, Edmund L. (1963) Is Justified True Belief Knowledge?, In:
Analysis. 23, S. 121-123.
Platon (1991) Theaitetos. In: Sämtliche Werke VI. Griechisch und
Deutsch. Frankfurt/M., Insel-Verlag, S. 151-367.
Glasersfeld, Ernst von (1996) Radikaler Konstruktivismus. Ideen,
Ergebnisse, Probleme. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Glasersfeld, Ernst von (1997) Wege des Wissens. Konstruktivistische
Erkundungen durch unser Denken. Heidelberg, Carl Auer Systeme.
Glasersfeld, Ernst von (1998) Die radikal konstruktivistische
Wissenstheorie. In: Frank Benseler et al., Hrsg. Ethik und
Sozialwissenschaften. Vol. 9, S. 503-596.
Glasersfeld, Ernst von (2000) Konstruktion der Wirklichkeit und des
Begriffs der Objektivität. In: H. Gumin & H. Meier, Hrsg. Einführung in den
Konstruktivismus. 5. Auflage. München/Zürich, Piper Verlag GmbH, S. 939.
Hug, Theo & Perger, Josef, Hrsg. (2003) Instantwissen, Bricolage, Tacit
Knowledge ... Ein Studienbuch über Wissensformen in der westlichen
Medienkultur. Innsbruck, Studia-Verlag.
eingereicht von: Philipp Schumacher im SS 04
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