Heinrich Grausgruber, Gestaltpädagogik im „Spiegel“ des Konstruktivismus Den Schülern, die wissen wollten, welche Art der Meditation er jeden Morgen im Garten praktizierte, sagte der Meister: "Wenn ich aufmerksam schaue, sehe ich den Rosenstrauch in voller Blüte." "Warum muss man aufmerksam schauen, um den Rosenstrauch zu sehen?" fragten sie. "Damit man wirklich den Rosenstrauch sieht", sagte der Meister, "und nicht die eigene Vorstellung davon."1 Die Grundfrage jeder Pädagogik lautet: Wie ist die seelisch-geistige Entfaltung des Menschen möglich, wie kommt er zu (mehr) Selbst- und Welt-Bewusstsein? Die Antworten auf diese Fragen werden in der jeweiligen Erkenntnistheorie einer pädagogischen Richtung sichtbar. Aus dieser Perspektive sind die folgenden Analysen entwickelt. Die Gestalttheorie hat sich am Beginn des 20. Jhdts. speziell mit dem Phänomen der Wahrnehmung und der entsprechenden Gestaltbildung im Bewusstsein befasst.2 Auf diesen Erkenntnissen aufbauend werden im methodischen Ansatz der Gestaltarbeit vorrangig die Sinne des Menschen angesprochen, um sich aus einer bewussten Wahrnehmung ein prägnantes geistiges Bild machen zu können. Der phänomenologische Ansatz3, also der „Glaube“ an eine unmittelbare Evidenz (Erkennbarkeit der Welt „so wie sie ist“) steht am Anfang dieser Theoriebildung. Mit zunehmender Differenzierung wird das Konzept der „selektiven Wahrnehmung“4, des „FigurGrund-Prinzips“5 entwickelt. Die Wahrnehmung wird von organismischen6 Bedürfnissen und Interessen „gesteuert“ bzw. abhängig. Wenn z. B. drei Personen in den Wald gehen, ein Pilzesucher, ein Förster, ein Kind, dann „entdeckt“ jeder etwas anderes. Menschen auf der Bewusstseinsstufe des „Naiven Realismus“7 glauben, dass die Welt genau so ist, wie sie diese erleben bzw. sehen. Ein Lehrer mit dieser Einstellung glaubt, dass die Schüler genau das verstehen, was er sagt oder vorzeigt. Dass dies nicht so einfach ist, zeigt ein einfaches Sprachbeispiel. Das Stichwort „Anhänger“ verknüpfen die Zuhörer mit ganz unterschiedlichen Interpretationen: Schmuck-Anhänger, Fußball-Anhänger, Lastwagen-Anhänger, religiöser Anhänger etc. Wir erkennen die subjektiv konstruierte Bedeutungsgebung zu diesem Begriff. Der Konstruktivismus8 versucht u.a. auf Basis neurobiologischer Erkenntnisse solche Probleme aufzuzeigen. Im obigen Beispiel verwendet der Lehrer den Begriff Anhänger. Die Schüler „RE-konstruieren“ für sich das, was als „Klang-Gestalt“ an ihr Ohr dringt. Dabei müssen sie die Schallwellen (das „Wort“ ist ja physikalisch betrachtet eine Abfolge von Schwingungen) über das Ohr und die Nervenstränge zum Gehirn leiten, wo vermutlich ein Vergleich von Strukturmustern erfolgt. Ist das ankommende Muster schon vorhanden, kann es identifiziert und damit erkannt und 1 De Mello A., Eine Minute Weisheit, 2005, 76 Vgl. die Forschungen von M. Wertheimer, W. Köhler, K. Koffka 3 F. Perls betont das Beachten des Offensichtlichen. Ders. In: Gestalt-Wachstum-Integration, 1992, 235 4 Perls F., Gestalt - Wachstum - Integration, 1992, 63; Ders., Gestalt-Wahrnehmung, 1981, 172f 5 Vgl. Perls F., et al., Gestalt-Therapie - Wiederbelebung des Selbst, 1979, 12; 39; 92; 6 Organismisch, d.h. nicht (nur) organisch, sondern den Menschen als Gesamt-System betreffend. 7 Vgl. Siebert H., Pädagogischer Konstruktivismus, 1999 (2005 ), 1 8 Vgl. E. v. Glasersfeld, H. v. Foerster u.a., in: Gumin H., Mohler A., Einführung in den Konstruktivismus 2 1 verstanden werden. Ergibt das Klangmuster keinen Sinn, so kann es im günstigen Fall zu einer „NEU-Konstruktion“ kommen, also zu einem anderen, neuen Verstehen. Oder es wird das bisherige Verständnis „DE-konstruiert“ zu Gunsten einer anderen Sichtweise.9 Sehr einleuchtend und überzeugend ist dieser Vorgang des De-Konstruierens in einer Erkenntnis von L. Tolstoj dargestellt: Wenn ein Anhänger einer archaischen Religion aufhört an seinen hölzernen Gott zu glauben, so heißt das nicht, dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass er nicht aus Holz ist. Die einleitende Geschichte vom Rosenstrauch versinnbildlicht die Problematik der Erkenntnis und die Notwendigkeit der Differenzierung bzw. der NEU-Konstruktion. J. Piaget10 hat diesen Lernprozess mit zwei treffenden Begriffen aus der Biologie verdeutlicht. „Assimilation“ bedeutet im ursprünglichen Sinn des Wortes, Eindrücke, Erfahrungen, Beobachtungen „ad – simile“ (zu etwas Ähnlichem) einzuordnen. Die Rose hat gleichsam eine „Schublade“ in unserem Bewusstsein und es besteht die Gefahr, dass wir sie wie vieles andere undifferenziert erfassen. Beispiel: alle Japaner sehen für uns ähnlich aus! Wenn wir aber kritischer (krínein griech. bedeutet Unterschiede erkennen) und genauer wahrnehmen, oder aber einen Sachverhalt gar nicht verstehen, sind wir herausgefordert, unser „Schubladensystem des Bewusstseins“ zu erweitern bzw. anzupassen. Diesen Vorgang nennt Piaget „Akkomodation“, in Analogie zum Auge, das sich verschiedenen Entfernungen und Helligkeitsgraden anpasst. Der Gestalt-Ansatz beschreibt Lern- und Erkenntniswege in einer elementaren Form: Neues wird auf Grund von persönlichen Interessen gesucht, oder durch Probleme (offene Gestalten) die gelöst werden müssen, erkannt und integriert. Wir lernen etwa eine Sprache, weil wir in ein fremdes Land reisen möchten. Dies ist ein Vorgang auf der Lern-/Ebene 1. Wenn nun Probleme beim Lernen der Sprache auftreten, so fragt der Gestalt-Berater/Lehrer zuerst nach dem „Wie?“ des Lernens und bringt damit den Lernenden in eine Beobachter-Position, in die Lern-/Ebene 2. Der Lernende schaut sich gleichsam selbst über die Schulter und kann erkennen, wie er erfolgreich lernt und wie Schwierigkeiten entstehen. Aus dieser Form der SelbstBeobachtung resultiert das Selbst-Bewusstsein, i. S. sich seiner selbst gewahr sein. Wenn nun die Art der (Selbst-)Beobachtung, also wie ich (mich) beobachte, zum Gegenstand der Betrachtung wird, dann bin ich auf Lern-/Ebene 3, einer Erkenntnisdimension die der Konstruktivismus „Beobachtung zweiter Ordnung“11 nennt. Diese ermöglicht eine „Meta-Kognition“, d.h. ein Wissen über die Art und Weise meines Wissenserwerbs und die Entwicklung von Alternativen. Die konstruktivistische Sichtweise eröffnet damit die Möglichkeit, dem Horizont des Bewusstseins eine weitere Dimension hinzu zu fügen. Dabei ist sich der Konstruktivismus im Klaren darüber, dass die „Welt an sich“ (vgl. I. Kant) nicht unmittelbar erkannt werden kann. Wir sind nach Ernst v. Glasersfeld wie ein blinder Wanderer, der einen Wald durchquert. Er wird brauchbare Wege finden (Prinzip der Viabilität), aber über den Wald kann er nichts Genaues sagen. Nur so viel lässt sich verallge9 Vgl. Reich K., Systemisch-konstruktivistische Pädagogik, Berlin 2005, 118-145 Vgl. die Rezeption von E. v. Glasersfeld, in: Siebert H., Über die Nutzlosigkeit von Belehrungen und Bekehrungen. Beiträge zu einer konstruktivistischen Pädagogik, 2000, 19 11 Baecker D., in: Foerster H.v., Wissen und Gewissen, 2001, 18f mit Bezug zu Maturana H., Varela F. 10 2 meinernd erkennen: an den Hindernissen, den „Gegen-ständen“, also an dem, was unserer linearen Absicht entgegensteht, lernen wir, dass wir andere Lösungen (er-) finden müssen. Die Gestalt vertraut noch sehr auf die unmittelbare Einsicht und Erfahrung der Welt. Der Konstruktivismus stellt genau das in Frage und verweist damit radikal auf den Menschen als Erfinder seiner „Welt“ und seines Weges, den er damit eigenverantwortlich und in (relativer) Freiheit geht. P. Watzlawick12 hat die Konsequenz dieser Einsicht in drei zentralen Dimensionen ausgefaltet: Wenn Menschen ... zu der Einsicht kommen, dass sie die Architekten ihrer eigenen Wirklichkeit sind, würden sie sich durch drei besondere Eigenschaften auszeichnen: Sie wären erstens frei, denn wer weiß, dass er sich seine eigene Wirklichkeit schafft, kann sie jederzeit auch anders gestalten. Zweitens wäre dieser Mensch im tiefsten ethischen Sinn verantwortlich, denn wer tatsächlich begriffen hat, dass er der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, dem steht das bequeme Ausweichen in Sachzwänge (das Sosein der Umstände) und in die Schuldzuschreibung an andere nicht mehr offen. Und drittens wäre ein solcher Mensch im tiefsten Sinne konziliant, denn wer weiß, dass er seine eigene Wirklichkeit konstruiert, würde dasselbe Recht auch anderen geben. Diese Gedanken zeigen den hohen ethischen Anspruch dieses Konzepts, dem aus Unkenntnis manchmal Beliebigkeit unterstellt wird. Eine entscheidende Frage für gläubige Menschen ist die „Kompatibilität“ mit theologischen Interpretationen der „Wirklichkeit“. Der Gestaltbegründer F. Perls sah Gott als „prima causa“, als grundlegende Bedingung für alle weiteren Entfaltungen des Lebens13. Daraus resultiert ebenfalls die Freiheit und Verantwortung des Menschen für seinen Umgang mit den von Gott geschenkten Möglichkeiten. Gestalt und Glaubensdimension sind so gesehen durchaus vereinbar, wie die Konzepte von A. Höfer zeigen. Die Sichtweise des Konstruktivismus verweist hier auf ein Problem: Wenn es keine direkte Erkenntnis meines Umfeldes gibt, dann kann ich auch transzendente Wirklichkeiten nicht erkennen. Wie soll da eine Gotteserfahrung möglich sein? Im Bild des Wanderers durch den Wald kann höchstens von einer „negativen Theologie“ die Rede sein. Wo ein Hindernis ist, geht der Weg nicht weiter – wo ich Gott nicht „begreife“, z.B. im Leid, da habe ich eine unzureichende Vorstellung von Gott. Eine zweite Antwort liegt in der Selbstbegrenzung des Konstruktivismus. Er versteht sich als Erkenntnistheorie und ist selbst ein Konstrukt. Ob es andere Wege der Erkenntnis geben kann – z.B. den Weg der Mystik, der Offenbarung durch „unmittelbare Evidenz“, darüber kann keine konstruktivistische Aussage gemacht werden, das bleibt offen.14 Im folgenden Schaubild werden drei erkenntnistheoretische Dimensionen dargestellt: Naiver (Abbild-)Realismus, gestalttheoretische Sichtweisen (Kritischer Realismus)15 und das Konstruktivistische Modell der Orientierung in der „Welt“. 12 Vgl. Watzlawick P., Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns 2005, 80 Perls G., Gestalt, Wachstum, Integration, 1992, 174 14 Das ist vergleichbar mit einem Thermometer, das offenkundig nichts über die Luftfeuchtigkeit aussagen kann. 15 Vgl. Guss K., Gestalttheorie und Fachdidaktik, 1977, 11. Mehrgardt M., Erkenntnistheoretische Grundlegung der Gestalttherapie 1994, 206-290 13 3