Konstruktivismus Noch 1995 konstatierte Arnold: Der neueren Systemtheorie wird in der Erwachsenenpädagogik keine große Aufmerksamkeit zuteil. Insbesondere der von Luhmann proklamierte zweite Paradigmenwechsel in der Systemtheorie ‚durch den Übergang zur Theorie autopoietischer Systeme’ (...) wird in der Erwachsenenpädagogik – von ganz wenigen Ausnahmen (...) abgesehen – noch überhaupt nicht erreicht.“ (63, S. 31) Diese Situation trifft heute sicher nicht mehr zu. Der Konstruktivismus wird heute in zahlreichen Publikationen ausführlich behandelt und bildet so die aktuelle Metatheorie zu pädagogischen Fragestellungen. Der Konstruktivismus kann als eine übergeordnete Erkenntnistheorie bezeichnet werden, die Teilaspekte aus folgenden Wissenschaftsdisziplinen und –strömungen integriert: Neurobiologie / Hirnforschung1, Kognitionswissenschaft, Psychologie, Kybernetik, Kommunikationstheorie, Systemtheorie und der Chaostheorie.2 Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen Reize wahrnehmen und kognitiv verarbeiten, um daraus Verhalten zu generieren. In einer Weiterführung und Verabsolutierung der Sichtweise des symbolischen Interaktionismus wird der Mensch als ein autopoietisches, selbstreferentielles und operational geschlossenes „System“ betrachtet. Die äußere Realität wird als vom Individuum kognitiv und sensorisch unzugänglich betrachtet. Sie kann deshalb nicht abgebildet und widergespiegelt werden, sondern wird im Prozess des Handelns individuell konstruiert (siehe hierzu und im Folgenden 63; 120; 17/2; 151; 255; 176/7). 1 Besonders die Neurobiologie mit der Betrachtung der Funktionen des Gehirns und des Nervensystems besitzt grundlegenden Einfluss auf das Konzept der Wirklichkeitskonstruktion des Konstruktivismus. 2 Nach 17/2 ist das Neue an dem radikalen Konstruktivismus die Radikalisierung des erkenntnistheoretischen Skeptizismus, die radikale Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis und die naturwissenschaftliche Grundlegung sozialwissenschaftlicher Theorien. Augrund dieser Erkenntnis wird der Wirklichkeitsbegriff aufgegeben. Anstelle dessen tritt der Begriff der „Viabilität“ als Ausdruck für Funktionalität und epistemologische Stimmigkeit. Das Individuum nimmt also Reize aus der Umgebung wahr und ordnet sie in Konstrukte ein, die es dann unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob sie für das Leben brauchbar sind und welche Bedeutung sie für eine erfolgreiche Handlung besitzen. Es wird so die Erkenntnis der Bedeutsamkeit einer Entwicklung des Individuums aufgrund gesellschaftlich bedingter Umweltreize und damit der Bezug zur Außenwelt beibehalten, aber der Allgemeingültigkeitsanspruch von Wirklichkeit aufgegeben. Diese wird von jedem einzelnen Menschen individuell konstruiert, ist also selbstreferentiell. Lernen kann in diesem Zusammenhang „als Differenzierung und Erweiterung von Unterscheidungen und Beobachtungen, generell von Möglichkeiten definiert werden“ (120, S. 13). Auf den Aspekt der Aneignung geht Schäffter in seiner Definition ein: „Lernen ist kognitiv strukturierende Aneignung von neuartigen Ereignissen in der systemischen Umwelt“ (Schäffter zit. in 255, S. 37). Am Lernen sind unterschiedliche individuelle Prozesse des lernenden Subjekts als selbsttätiger Akteur beteiligt: - Sinnliche Wahrnehmung, - kognitives Erkennen, - Emotion, - Erinnerung, - Handlung und - Beobachtung zweiter Ordnung (255, S. 36). Im Bezug auf die Konsequenz dieser Betrachtungen für die Lehre findet mit dieser Definition ein Wechsel von der Vermittlungsperspektive, oder auch Herstellungsperspektive hin zur Aneignungsperspektive und von einer stofforientierten Lehre zu einer Gestaltung von Lernsituationen statt. (Be)lehrende Bildungsarbeit wird somit in Frage gestellt, im Sinne der Betrachtung des Menschen als ein lernfähiges, aber unbelehrbares Subjekt. Lehre kann im konstruktivistischen Sinn nur als eine „fördernde Intervention in Aneignungsprozesse“ (83/2, S. 260) aufgefasst werden. Dieser Perspektivenwechsel von der Instruktion zur Aneignung muss sich nach Faulstich auch in einem wissenschaftstheoretischen Paradigmenwechsel „von einem Bedingtheitsdiskurs, der mit Kausalitäten argumentiert, welche Lernverhalten verursachen, hin zu einem Begründungsdiskurs, der individuelle Bedeutungshaftigkeit von Lernhandeln unterstellt“ (83/2, S. 261) niederschlagen. Aus der Darstellung zeigt sich, dass – eine konstruktivistische Sichtweise zu Grunde legend – die Bildung und im Besonderen die Erwachsenenbildung ihr eigenes Selbstverständnis in zentralen Punkten verändern muss. Dies betrifft unter anderem: - das Selbstverständnis des Lehrpersonals, - die didaktische Gestaltung von Lehr/Lernprozessen, - die Auswahl der Lerninhalte, - die Steuerungsstrukturen von Bildung (wer steuert wann was), - die Integration der Lernenden in organisationale Planungsprozesse, - die Unterstützung und Erweiterung von Kompetenzen, - die Kooperationen zwischen Institutionen aus den unterschiedlichen Bereichen menschlichen Agierens3 (z.B. Sportclubs, Kulturinstitutionen, Videotheken, Bildungsanbieter, Unternehmen...) 3 Erpenbeck / Weinberg bezeichnen dies als „Lernen im Lebensvollzug“. Durch dieses erfahrungsorientierte Lernen „entstehen günstigenfalls durch Verunsicherung hindurch neue Möglichkeiten des Selbstverständnisses und der Lebensgestaltung“ (176/7, S. 148).