Eine ganz besondere Vertrautheit mit Bach

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Schweizer Musikzeitung
Nr. 3 / März 2011
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Eine ganz besondere Vertrautheit mit Bach
Einst wollte der Leiter des Bach Ensembles
Luzern alle geistlichen Kantaten aufführen,
heute interessiert Franz Schaffner die Musik
des K
­ omponisten im Umfeld ihrer Zeit. Ein
­unerschöpfliches Konzept.
David Koch
Der Blick ins Archiv ist beeindruckend: 140 Kantaten des barocken Meisters haben Chor und
Orchester des Bach Ensembles Luzern bisher
aufgeführt; Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen
(BWV 12), eine Kantate aus Johann Sebastian
Bachs Weimarer Zeit, wird im Konzert Ende März
die nächste sein. Dazu reihen sich 34 Messen,
Oratorien und Motetten, 50 Instrumentalstücke
und über 100 Werke anderer Komponisten, vornehmlich von den Bach-Söhnen und von Zeitgenossen, von Georg Friedrich Händel, Antonio
Vivaldi oder Marc-Antoine Charpentier, auch
wenig Gehörtes. Auffallend gestaltet sich zudem
die Gattungsbreite des Repertoires: Ursprünglich
wurde das Ensemble vor dreissig Jahren mit der
Idee gegründet, Bachs geistliche Musik und insbesondere seine rund 200 erhaltenen Kantaten
vollständig wiederzugeben. Das war für Zeit und
Ort durchaus eine Pionierleistung. Hätte man
sich genau an die Vorgabe gehalten, wäre man
damit heute längst durch. Dieses eng umrissene
Ziel wurde aber bewusst fallengelassen. Es geht
heute vielmehr um eine schlüssige Programmgestaltung um die Bach-Kantaten herum.
Damit verfolgt Franz Schaffner, der Gründer
(gemeinsam mit Rudolf Zemp) und Leiter des Ensembles, eine mehr kontinuierliche denn akribische Bachpflege; er setzt mehr auf individuelle
Authentizität denn auf Spezialistentum. Letzteres
liesse sich in der Zusammensetzung eines, zwar
stimmlich geschulten, Laienchors und professioneller Instrumentalisten ohnehin nur bedingt
realisieren, zumal das Orchester auf modernen
Instrumenten spielt, wenn auch im Bewusstsein
historischer Spielweise. Da schlagen neuere Institutionen wie etwa das Bach Collegium Zürich
oder die J. S. Bach-Stiftung Trogen andere Wege
ein. Das Bach Ensemble Luzern hingegen ist in
der Tradition Helmuth Rillings verwurzelt: Aus
dessen massgebendem Verständnis für eine unmittelbare, stets greifbare Bach-Praxis ging das
Ensemble anfangs der Achtzigerjahre hervor. Ein
Kurs Rillings in Luzern war konkret der Auslöser
für die Gründung; das erste Konzert fand am
2. Januar 1981 statt. Schaffner selbst hat bei Rilling in Frankfurt studiert und bisweilen sogar bei
der berühmten Ersteinspielung aller Bach-Kantaten der Gächinger Kantorei mitgewirkt.
Das Vermächtnis zum Jubiläum
Wie bedacht Schaffner die Programme für sein
Bach Ensemble Luzern auswählt, verdeutlicht
die Konzeption zum Jubiläum: Die h-Moll-Messe,
Bachs Kompendium geistlicher Musik also, steht
im Zentrum der fünf Konzerte übers Jahr. Sie
Kreisen um ein überreiches Werk: Bach Ensemble Luzern wird schrittweise angeeignet, mit jenen Kantaten, die Bach in den einzelnen Messesätzen parodiert, ergänzt und schliesslich als Ganzes
aufgeführt. Ihr stellt Cembalist Schaffner die
Goldberg-Variationen gegenüber – auch sie sind
ein musikalisches Vermächtnis. «So wird Bachs
kompositorische Vorgehensweise und sein Umgang mit der eigenen Kunst aufgezeigt», erklärt
Schaffner und weist nochmals darauf hin, dass
die Kantaten zwar immer noch das Hauptanliegen des Ensembles seien, aber nicht das einzige:
«Es geht mir bei Bach ebenso um sein Umfeld,
um seinen Einfluss und seine Rezeption. Das
macht den Komponisten und seine Zeit im Konzert so interessant. Es gab schon Saisonprogramme, da haben wir keine einzige Note von Bach
gespielt.» Die Rückkehr zu Bachs Musik nach
einer solchen «Auszeit» evoziere jeweils eine ganz
besondere Vertrautheit.
Dass Bachs geistliche Musik auf die Sängerinnen und Sänger eine spezielle Faszination
ausübt, belegt der über die Jahre hinweg gleich
gross gebliebene, im Alter gut durchmischte und
stimmlich homogene Chor. Dem Ensemble
kommt die punktuelle Konzert- und Probenarbeit zugute, wobei es entsprechend seinen chorischen Möglichkeiten gefordert und gefördert
werden will. Das veranlasste Schaffner in den
letzten Jahren dazu, vorzugsweise auf chorstarke Literatur zurückzugreifen, auch auf Motetten,
Messen und Oratorien. Deshalb verzichtet er
beispielsweise weitgehend auf die Solokantaten,
die einzig einen Schlusschoral für den Chor vorsehen. Die Begeisterung für Bach geht auch über
die Musik hinaus: «Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr sich der Chor um weiterführende Informationen zu den einzelnen Werken
bemüht, etwa um musikgeschichtliche Bezüge,
um Textdeutung, um musikalische Figurenlehre und Affekte», sagt Schaffner. «Das ist meines
Erachtens der zentrale Punkt in der Bachpflege,
unabhängig von rein künstlerischen Belangen:
Die dauerhafte Auseinandersetzung mit dem
Komponisten und seinem Schaffen. Nur so lässt
Foto: © Georg Anderhub
sich die Musik, lassen sich die Partituren erleben
und immer wieder aufs Neue entdecken.»
Bachs Sprache erahnen
Das Bach Ensemble Luzern gilt mittlerweile als
Institution auf dem Chorplatz Luzern, der aktuell
vor allem von jungen, projektorientierten Chören
angereichert wird. Es ist von einem Gönnerverein
gut abgestützt und findet für seine Konzerte nach
wie vor ein breites Publikum, das «den Chor als
einen Klangkörper mit Ausstrahlung wahrnimmt». Schaffner sieht gerade darin die Qualitäten seines Ensembles, «in der direkten Wärme
des etwas grösser besetzten, aber doch transparenten Chor- und Orchesterklanges. Ein solcher
kann sich mit der Perfektion der professionellen
(Kleinst-)Besetzungen nicht messen, hat aber genauso musikalische Substanz und Gültigkeit.»
Für den Dirigenten und sein Ensemble kommt
eine Spezialisierung auf historische Aufführungspraxis, etwa auf Originalinstrumenten, in naher
Zukunft (noch) nicht in Frage, was nicht heisst,
dass Schaffner die neuesten Erkenntnisse in diesem Bereich ignoriert. Im Gegenteil: Gerade als
Instrumentalist, als Organist und Cembalist, studiert er die Interpretationsgeschichte sehr genau,
überträgt diese auf seinen Chor und sein Orchester.
«Die Besetzung als solche hat sich etabliert», erläutert er die Entwicklung seines Ensembles, «und sie
stützt sich auf die doch schon lange Erfahrung
mit dem Kantatenwerk, das für mich heute so
klingen muss, dass es Bachs Ausdruckswillen widerspiegelt. Ich denke, das gelingt uns mit dem
gebräuchlichen, nun eben modernen Instrumentarium besser.» Der Bachforscher Martin Geck
schreibt: «Seine Musik kommt von weit her; sie
spricht eine Sprache, die wir verstehen und in der
wir doch eine andere erahnen.» Das Bach Ensemble Luzern spürt ihr seit 30 Jahren nach: Überzeugungsarbeit dafür leisten musste Schaffner nie.

> www.bachensembleluzern.ch
Résumé à la page 22
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Revue Musicale Suisse
N°3 / Mars 2011
Musik bei SRF Kultur
sem Bereich. Gysis spezifisches Interesse an der Technik hat sich wähIm Bereich Musik werden 7 tägliche und 20 wöchentliche Sendunrend ihrer freien Mitarbeit bei Radio
gen produziert. Dazu Feiertagsprogramme, Schwerpunkte und
DRS gefestigt. Schon in ihrer LizenMusikevents. Insgesamt sind das 3663 Sendestunden pro Jahr.
ziatsarbeit hat sie die Entwicklung
•Musikjournalismus (9 wöchentliche Sendungen): Musikmagazin,
der Aufnahmetechnik im klassiDiskothek im Zwei, Musik der Welt, Parlando etc.
schen Bereich untersucht, und de•Begleitprogramm: Musikstrecken, meist mit kurzen Wortelemenren Einfluss auf die musikalische
ten (6 tägliche und 5 wöchentliche Sendungen): Mattinata,
Interpretation. Um sich dafür mit
Klassiktelefon, à la carte, Concerto, Cocktail etc.
den technischen Möglichkeiten ver•Jazz (1 tägliche und 3 wöchentliche Sendungen, ca. 50 Konzerttraut zu machen, arbeitete Gysi in
und 40 CD-Produktionen): Apéro, Jazz aktuell, Jazz collection,
einem privaten Tonstudio mit und
Jazz live / Classics
war Operatrice bei Radio DRS. «Was
•Musikproduktion DRS 2 (3 wöchentliche Sendungen,
mir endgültig den Ärmel reinge180 Konzert­aufzeich­nungen und 20 Studioproduktionen,
nommen hat, war der Wechsel von
275 Sendestunden pro Jahr): ­Im Konzertsaal
der analogen Audiowelt zur Compu•Musik und Events: (1 wöchentliche Sendung, 1 Musikevent pro
ter-Audiotechnik anfangs der
Jahr): Stars, Stars live, Stars extra
1990er-Jahre, da sich durch den
Technologiewandel auch die Redakverstärkten Kommunikationsangebot für die
tions- und Produktionsabläufe wesentlich verZuschauer und Hörerinnen – etwa dank einer
ändert haben. Ich war bei den Pionierprojekten
künftigen Kultur Multimediaplattform.»
mit dabei, machte die ersten Versuche und erarbeitete mir in Kursen das technische Know-how.»
Schon bald war Gysi im Technischen Stab der
Leiten und produzieren
Abteilung Infrastruktur Projektleiterin für den
Das A und O für das Gelingen dieses Entwicktechnischen Umbau von DRS 2 in Basel.
lungsprozesses liegt in der Motivation der MitSie kennt also nicht nur das redaktionelle
arbeiter. Barbara Gysi kommuniziert nicht nur
DRS-Personal, mit dem sie selber zusammengelocker und sympathisch, sie ist auch eine zielarbeitet hat, sie geniesst auch den Respekt der
Techniker. Typisch für ihr Temperament ist, dass
strebige Strategin und weiss, wovon sie spricht.
sie nun nicht einfach die übergeordnete Chefin
So hat sie in den vergangenen sechs Jahren als
für die Musikabteilung sein will, sondern zuLeiterin der Audiotechnik in der Abteilung Ingleich aktiv in der Produktion bleibt, als Leiterin
formation im Radiostudio Bern das technische
Team reorganisiert und hat DRS 4 News mit
des Bereichs Musikproduktion von DRS 2. Welche
aufgebaut. Ausgerechnet die Produktionstechnik
Visionen hat sie in ihrem neuen Amt? «Ich verhat sie geleitet, und das als einzige Frau in diestehe es als unsere Aufgabe, die Konzerte der
Musikszene mit Informationen zu versehen, sie
redaktionell aufzubereiten und so indirekt für
sie zu werben. Radio DRS 2 hat bis anhin 250
Konzerte pro Jahr gesendet, das ist redaktionell
fast nicht zu bewältigen. Ich bin der Meinung,
dass bisher zu viel aufgenommen und einfach
ausgestrahlt wurde. Wir sollten künftig eher
etwas weniger aufnehmen, das dann aber redaktionell besser betreuen.» Eben doch eine stärkere Konzertration auf die Musik-Events und die
grossen Festivals?
Zumindest betont Gysi, dass SpezialitätenSendungen etwa für Neue Musik wichtig sind
und als genuine Radioformate bleiben. Zudem
gibt es keine neuen Sparvorgaben: «Wir können
mit dem, was wir haben, viel machen. Es gilt, das
Optimum herauszuholen, konstruktive Partnerschaften zu bilden und uns gemeinsam auf verschiedenen Kanälen für Musikproduktionen
einzusetzen. Ein wichtiger Zweig ist die OnlinePlattform, das Aufbereiten einer gemeinsamen
Website von Radio und Fernsehen. Dort findet
man CD-Tipps, Dossiers über Komponisten, Hörbeispiele, ganze Stücke und weiterführende Interviews, die in der Sendung nicht vollumfänglich
Platz hatten. Das Interesse der Musikszene an
dieser Online-Plattform sei gross, deshalb soll
auch der Musik Broadcast zum herunterladen
erweitert werden. Es ist eine grosse Herausforderung, im Bereich der Musik Hören und Sehen
sinnvoll zu verbinden. Ob da nicht zu viel Vermittlungs- und Konvergenz-Arbeit auf Kosten des
eigentlichen Inhalts, der Musik, gehen? Spannend
wird sein, diese Experimentierphase mitzuverfolgen und kritisch zu kommentieren. Radiomen
schen haben immer ein offenes Ohr.
Zusammenfassungen • Résumées
Résumé de la page 11
Résumé de la page 17
Zusammenfassung von Seite 9
En intimité avec Bach
Préserver le plaisir pour la musique
Begegnung mit F.-X. Delacoste
Le Bach Ensemble Luzern avait lors de sa création
il y a 30 ans l’ambition d’interpréter toutes les
cantates de Bach, soit quelque 200 œuvres liturgiques. Il en est aujourd’hui à 140. Mais entretemps, il a choisi d’autres directions et s’est attaqué également à des messes, des motets et des
œuvres instrumentales du cantor de Leipzig. Et
il a aussi mis à son répertoire des compositions
de Händel, Vivaldi, Charpentier et d’autres
contemporains du maître. Franz Schaffner, cofondateur de l’ensemble, en est toujours le directeur. Il fait jouer ses musiciens sur des instruments modernes, mais respecte scrupuleusement les manières de faire historiques, dans la
tradition d’Helmuth Rilling (dont Schaffner a
été l’élève). Pour son trentième anniversaire, le
Bach Ensemble Luzern donnera la Messe en si,
compendium de toute la musique liturgique de
Bach, qui sera tout d’abord découpée et exposée
avec les cantates que Bach parodie dans sa messe,
puis exécutée en entier. Schaffner, qui est aussi
claveciniste, a également mis au programme les
Variations Goldberg.
Résumé et traduction : Jean-Damien Humair
Dans notre cerveau, les neurones miroirs, découverts dans les années 1990, nous permettent de
ressentir une émotion – la peur, la douleur, la
joie, etc. – uniquement en observant une personne qui ressent la même émotion. Certains
estiment aujourd’hui que ces neurones ex­
pliquent l’empathie. Ainsi, comme le dit le neurologue Joachim Bauer, la motivation n’est pas
un phénomène purement psychologique, elle a
des causes neurobiologiques qui s’expliquent au
travers des neurones miroirs. Ainsi, un enseignant qui entre en classe en éprouvant de la joie
ou de l’enthousiasme va inconsciemment transmettre ces sentiments à ses élèves.
Les leçons de musique mettent l’élève dans
une situation où il se trouve très exposé : seul
face à l’enseignant, il doit exprimer des sentiments avec sa voix ou son instrument. Dénigrer
son élève ou se moquer de lui va non seulement
lui faire perdre sa motivation, mais causera également des dégâts psychologiques. C’est à l’enseignant – en partenariat avec les parents – de
préserver le plaisir de faire de la musique
Résumé et traduction : Jean-Damien Humair
François-Xavier Delacoste, 1950 in Monthey geboren, war von 1989–2005 Direktor des Konservatoriums Neuchâtel, danach übernahm er die
Leitung des Konservatoriums Sion. Er war auch
künstlerischer Leiter des Chorfestivals Neuchâtel. Vor allem sieht er sich aber als Komponist.
Sein Lehrer Pierre Wissmer spielte für ihn eine
entscheidende Rolle, indem er ihm ermöglichte,
sich selber zu sein, seine eigene kreative Begabung zu entdecken: «Alles, was man lernen muss,
trägt man schon in sich», pflegte er zu sagen.
François-Xavier Delacoste lässt sich vielseitig
anregen: von Guillaume de Machaut, Palestrina,
Schostakowitsch, Boulez. Auch Jacques Brel und
Leo Ferré mag er. Hingegen lehnt er alles ab, was
musikalisch vorfabriziert ist, wie auch zwiespältige, allzu negative, bedrückende Klangwelten.
Wäre er nicht Komponist, so wäre er gerne
Ethnologe geworden, um der mystischen Dimension anderer Menschen auf die Spur zu kommen.
Im Übrigen begreift er Musikalität und Klang als
etwas Physisches, das aber auf eine weitere Dimension verweist, wie ein Medium, ein Symbol.
Übersetzung: Philipp Zimmermann
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