Nr. 1 - Oper Stuttgart

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Reihe 5
Das Magazin der Staatstheater Stuttgart
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett / Schauspiel Stuttgart
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Nr.1 Sept – Nov 2015
EDITORIAL
SCHWERPUNKTTHEMA HELDEN
Dieses Zeichen weist
den Weg: zu einem
außergewöhnlichen
Menschen, einer großen Geschichte und
bemerkenswerten
Leistung – zu einem
Helden, einer Heldin
eben
Die Büste des Ex-NSA-Mitarbeiters EDWARD SNOWDEN
stellten Künstler im New Yorker Fort Greene Park auf.
Dort stand sie nicht lange. Die Stadtverwaltung ließ das
Ehrenmal innerhalb eines Tages entfernen
www.porsche.de
Des einen Held ist des anderen Dämon –
je nach Blickrichtung Barbara Korte (Seite 20)
Wenn das Leben eine Bühne ist,
sollte man jeden Tag darauf tanzen.
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Porsche ist stolz auf die erfolgreiche Partnerschaft mit dem
Titelmotiv: Vincenzo Fagnani
Foto: picture alliance/AP Photo
Stuttgarter Ballett und wünscht Ihnen stets erstklassige Unterhaltung.
Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 6,9–6,7 · außerorts 5,9–5,7 · kombiniert 6,3–6,1; CO2-Emissionen 164–159 g/km
herzlich willkommen in Reihe 5, dem neuen Magazin der Staatstheater Stuttgart.
Wieso Reihe 5? Im Stuttgarter Opernhaus
befinden sich die besten Plätze, bezogen
auf Sicht und Akustik, in der Mitte der fünften Reihe. Und genau dies möchten wir
ab sofort in jeder Ausgabe machen: Wir
platzieren Sie in unserer Mitte. Und laden
Sie vier Mal im Jahr ein zu erleben, was
bei uns passiert. Auf den Bühnen, hinter
den Kulissen und in den Köpfen der Menschen, die sich das alles ausdenken und
es inszenieren, bauen und aufführen.
Alle Künste – und so auch Oper, Ballett
und Schauspiel – sind Gespräche mit ihrer
Zeit. Jede Ausgabe von Reihe 5 widmet
sich daher einem Schwerpunktthema. Das
aktuelle entstand so: Für die Spielzeit
2015/16 inszenierte das Stuttgarter Ballett
seine Tänzer als Superhelden (Seite 6) und
produzierte sogar einen Comic (ab Seite 32)!
Diese Idee fanden wir so spannend, dass
wir intern sofort begannen, über Helden
nachzudenken und die Frage, was sie uns
heute eigentlich bedeuten. Kaum eine
Geschichte, die ohne Helden auskommt.
Sie sind Treiber, Getriebene, Randgestalten.
Sie erweitern unseren Spielraum, verschieben Grenzen, leisten Großes – und erdulden
oft Unerträgliches. Das macht sie zu Arche­
typen des Dramas – und zu Akteuren der
Veränderung. Lesen Sie im Interview mit
der Freiburger Literaturwissenschaftlerin
Barbara Korte, was Edward Snowden,
Fidelio, Boris Becker und Peter Pan mitein­
ander gemein haben (ab Seite 20).
Reihe 5 möchte Sie als Leser nicht nur
bestmöglich platzieren, sondern auch
integrieren. Sie finden in diesem Heft
daher immer wieder Orte, an denen Menschen aus Stuttgart Menschen aus Oper,
Ballett und Schauspiel begegnen – und
befragen. Sie haben eine Frage? Möchten
eine Probe besuchen? Einen Künstler
treffen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an:
[email protected].
Wir freuen uns auf Sie!
Die Staatstheater Stuttgart
3
INHALT
19
In der Rolle von
3
Editorial
4
Inhalt
Der Countertenor Iestyn
Morris singt Peter Pan
FOYER
6
12
Mein
Akkord
Bilder
12
Momente
13
Das Requisit
14
Mit Kirill Serebrennikov kommt der
unbequemste Regisseur Russlands nach
Stuttgart, um die Salome zu inszenieren
Zufrieden ist Roman Novitzky mit sich
nie. Nur deshalb schaffte der Tänzer den
Sprung von Bratislava nach Stuttgart
Die Lieblingsstelle des
Solohornisten Philipp Römer
16
18
Mein Weg
20
Alles, außer gewöhnlich
Junge Seite
Für Mädchen, Jungs, Knirpse –
und andere Besucher, die schon
mehr als drei Käse hoch sind
Wodurch Menschen
wie Muhammad Ali zu
Helden werden
BÜHNE
20
36
Das Gespräch
Barbara Korte kennt den Stoff, aus dem
Helden sind
32
Flug ins Ungewisse
Die Tänzer des Stuttgarter Balletts
bei ihrem wichtigsten Einsatz
38
Zwei Seiten
einer Familie
Die Geschwister
Aino und Martin
Laberenz im Porträt
Schau nie zurück
Als Bert Neumann erzählte, was er sich
für den Fidelio in Stuttgart ausgedacht
hatte, ahnte niemand, dass diese Bühne
eine seiner letzten sein würde
30
Andersons Zeitreise
Zu seinem 20­jährigen Jubiläum hat
Ballettintendant Reid Anderson die Perlen
des Repertoires zu einem einzigartigen
Abend verbunden
32
Superhelden!
Nur gemeinsam können die 13 Tänzer
des Stuttgarter Balletts ihre Welt retten
36
Der Solarprophet
Zu Lebzeiten wurde Andrej Platonov von
Stalins Machtapparat zensiert. Heute sind
seine Visionen zeitgemäßer denn je
38
Bruder und Schwester
Wie Aino und Martin Laberenz
Theater entstehen lassen
4
BACKSTAGE
Fotos: Christoph Kalscheuer; Sasa Zivkovic; Martin Sigmund; picture-alliance / dpa; shutterstock; Lisa Fuß
24
Zur Sonne,
zur Freiheit
42
Die visionären
Thesen des Russen
Andrej Platonov
Post aus
Das Schauspielensemble war für ein Gastspiel in Mailand und schrieb ein Kärtchen
43
Kantinengespräch
Kammersängerin Catriona Smith und der
Tänzer Martí Paixa reden über Stuttgart
44
In der Probe
Der Stuttgarter Johannes Ellrott erlebt als
Zaungast seine erste Generalprobe: Rigoletto
45
Hausbericht
Mein Arbeitsplatz
45
Impressum
Fakten aus Oper, Ballett
und Schauspiel
Zahlen und Fakten aus der Produktion
46
Der Technische Leiter des Kammertheaters
Benno Brösicke über den Reiz seines Jobs
46
Die Spielzeit
in Zahlen
5
FOYER
The Making of a Superhero
6
Foto: Bernd Weisbrod
Für eine Fotoserie verwandelten
sich im Frühjahr die dreizehn Ersten Solisten des Stuttgarter Balletts in Superhelden. Jeder erhielt
eine Identität, zugeschnitten auf
seine tänzerischen Fähigkeiten.
Hier: Erster Solist Jason Reilly als
Captain Fantastic. Zu sehen sind
diese Ausnahmeerscheinungen
im Jahresheft der Staatstheater,
auf www.stuttgarter-ballett.de,
fast jeden Abend auf der Bühne –
und auf Seite 32 als Comicfiguren
7
FOYER
© 2013 by Emilio Pomàrico, Paris
Senden und empfangen
»Als Komponist kann ich nur
versuchen, den Menschen ihre
verborgenen – und verbogenen –
Antennen und damit ihr kreatives
Potenzial bewusst zu machen«,
sagt Helmut Lachenmann. Am
27. November wird der gebürtige
Stuttgarter 80 Jahre alt – er gehört
zu den bedeutendsten lebenden
Komponisten Deutschlands. Vom
7. November bis zum 7. Dezember
können Sie Ihre Antennen nach
ihm ausrichten. Die Frequenz
heißt: Lachenmann-Perspektiven
8
9
FOYER
Ein weltberühmter Künstler und
seine Frau werden vor dieser
Skulptur stehen, verzweifelt,
denn ihr Kind ist krank und ihre
Leben, ihre Liebe drohen daran
zu zerbrechen. Eine Szene aus
dem Episodenstück Buch (5
ingredientes de la vida) von
Fritz Kater, inszeniert von Armin
Petras. Die Themen: Utopie,
Phantasie, Liebe und Tod, Instinkt,
Sorge. Die Premiere in Stuttgart
findet am 6. November statt
10
11
Foto: Fabian Iberl
Woraus das Leben ist
FOYER
Im Täuschungsmanöver
Mein Moment »In Endstation
Warum darf
man backstage
nicht pfeifen?
MICHAEL ZIMMERMANN, 49,
Bühnenoberinspektor und seit
1987 bei den Staatstheatern
Stuttgart, antwortet:
Vor ungefähr 150 Jahren
entdeckte man Gas als Lichtquelle. Nach und nach wurden
nicht nur Privathaushalte mit
Gasleitungen ausgestattet.
Auch in den Theatern löste es
die Kerzen ab. Gas macht
aber nicht nur Licht, es kann
auch schnell entflammen.
Deshalb war es so wichtig, die
zahlreichen Leitungen ständig
zu kontrollieren, gerade im
Theater, wo auch heute noch
viel Holz und Stoff verarbeitet
wird. Da Gas früher noch
nicht mit Geruchsstoffen
versetzt war, reichte eine gute
Nase nicht aus, um Lecks
in den Leitungen aufzuspüren.
Ein untrügliches Zeichen
für ausströmendes Gas war
ein Pfeifton. Damit nicht
unnötigerweise Alarm geschlagen wurde, war es
strengstens untersagt, hinter
der Bühne zu pfeifen. Gasleitungen gibt es heute längst
nicht mehr, das Pfeifverbot
hat aber überlebt.
Wenn Sie wie JULIA
SCHENKENHOFER auch eine
Frage haben, dann schreiben
Sie uns eine E-Mail an
[email protected]
12
Sehnsucht von John Neumeier
tanze ich die Rolle der Blanche
DuBois. Am Ende eines schmerzhaften Weges ist sie in der
Psychiatrie gelandet. Wenn
der Vorhang aufgeht, stehe ich
allein auf der Bühne, hart wie
kalter Stein. Langsam beginne
ich zu atmen, die Musik setzt
ein und alle Erinnerungen
fließen aus mir heraus. Sie ist
eine der schwierigsten Rollen
im Stuttgarter Repertoire. Ich
habe immer davon geträumt,
sie einmal zu tanzen.«
Das Requisit Im Fundus der
Staatstheater Stuttgart stehen
pinke Plastikflamingos, Möbel aus
der Zeit, als in Deutschland noch
Kaiser regierten, und eine Betonmischmaschine. Wenn bald ein
elektrischer Rasierer in diese Reihe
aufgenommen wird, dann hat das
einen guten Grund. Den hat das
Regieteam Hofmann&Lindholm
gefunden: In der Stadtrauminszenierung Familie Weiß wird das Leben
einer fiktiven Familie simuliert.
Die Idee kam den Konzeptkünstlern, als Lindholm im Bad des Kölner
Ateliers einen Rasierapparat laufen
ließ, aus dem Gebäude ging und
so seine Anwesenheit vortäuschte.
Was wäre, wenn wir auf diese
Weise das Zusammenleben einer
ganzen Familie nachahmen? Mit
Geräten, Geräuschen, Licht, Radio,
ALICIA AMATRIAIN
ist Erste
Solistin des Stuttgarter Balletts.
In Endstation Sehnsucht ist sie
am 24. und 25. September 2015 im
Schauspielhaus zu sehen
Zu ihr gehen mit
all diesen Trollen
als Schergen?
Reden und doch
schweigen,
beichten und doch
bergen?
Mein Akkord »Eine meiner Lieblingsstellen stammt aus dem 4. Satz der 1. Sinfonie
von Johannes Brahms. Nach zweieinhalb
Minuten wird es sehr ruhig und die Sinfonie
nimmt mit einem leuchtenden Alphorn-Ruf
ihre große Wendung von c-moll nach C-Dur.
Brahms hat diese Melodie einmal als Gruß
an Clara Schumann geschickt, unterlegt mit
dem Text »Hoch aufm Berg, tief im Thal,
grüß ich Dich viel tausendmal!«
Meine Szene »Ich konfrontiere hier Edgar Selge als Peer
Gynt: Er hat mit einer Trollin
ein Kind gezeugt, will nun aber
zurück zu seiner Frau Solvejg.
Was mich daran interessiert,
ist die Frage, wie viel Wahrheit
wir zu ertragen imstande sind.
Welche Maßstäbe legen wir
an andere an? Wie weit werden
wir ihnen selbst gerecht?«
CD­Player, Fernseher, Zahnbürsten
– und eben auch einem elektrischen
Rasierapparat? In einer Wohnung
an einem geheimen Ort irgendwo in
Stuttgart werden sie diese Idee acht
Wochen lang in die Tat umsetzen,
in Kooperation mit der Akademie
Schloss Solitude und dem Württembergischen Kunstverein Stuttgart.
Nach festgelegten Handlungsanweisungen werden Bürgerinnen
und Bürger als sogenannte »Komplizen« so tun, als lebte dort eine
Familie Weiß: den Wasserhahn
aufdrehen, ohne sich zu waschen.
Das Küchenlicht anschalten, ohne
sich an den Tisch zu setzen. Und
den Rasierapparat laufen lassen.
Das Publikum kann das fiktive
Wohnen über Bildschirme verfolgen.
Oder noch besser: eine E-Mail an
[email protected]
schicken und von 2. Oktober bis
Ende November als Komplizen selbst
an der Simulation teilnehmen.
Warum so ein Experiment? Es
geht um die Grenzen zwischen privat
und öffentlich. In einer Zeit, in der
die überwachungsfreie Privatsphäre
zu einem hohen Gut geworden ist
und sich gleichzeitig Wohnungen in
terroristische Keimzellen verwandeln
können, wollen die beiden Künstler
herausfinden, wo das Private
endet und das Öffentliche beginnt.
Und wie die Nachbarn reagieren,
wenn sie merken, dass das Leben
nebenan nur eine Täuschung war.
FAMILIE WEISS – EINE STADTRAUMINTERVENTION von Hofmann&Lindholm
Ab 2. Oktober bis Ende November 2015
in Ihrer Nachbarschaft
Livestream täglich ab 17 Uhr im Foyer
Schauspielhaus
JULISCHKA EICHEL ist eine
der Hauptdarstellerinnen in Peer
Gynt. Ab 17. Oktober 2015 im
Schauspielhaus
Die Herausforderung für mich als Hornist
ist es, einen möglichst großen Klang zu erzeugen, der aber nicht schmettern darf. Und
wenn sich der Dirigent ein sehr langsames
Tempo wünscht, kann zum Schluss die Luft
knapp werden.«
PHILIPP RÖMER
ist Solohornist des Staatsorchesters Stuttgart. Die Sinfonie von Brahms
wird im Rahmen des 1. Sinfoniekonzerts am 11.
und 12. Oktober 2015 in der Liederhalle gespielt
Fotos: Hannah Rosenkranz; Stuttgarter Ballett; shutterstock
JULIA SCHENKENHOFER, 31,
freie Journalistin aus StuttgartUntertürkheim, fragt:
13
FOYER
KIRILL SEREBRENNIKOV:
»Auf die alte
Sowjetideologie reagiere
ich mit der
Kraft eines
Panzers«
Der fliegende Holländer
Komponist: Richard Wagner
Deutschland, 1841
MEIN WEG
Der Querkopf
Wach, kraftvoll, mutig: Mit Kirill Serebrennikov kommt der unbequemste
Regisseur Russlands nach Stuttgart, um die Oper Salome zu inszenieren
14
Der junge Wilde kommt 2001 so doch noch in Moskau
an. Er inszeniert an den renommierten Häusern, profiliert sich als international gefragter Kostümbildner und
macht sich als Regisseur und Festivalgast in ganz Europa einen Namen. Bei den Filmfestspielen in Venedig wird
sein Film Betrug 2012 für den Goldenen Löwen nominiert. Seit drei Jahren konzentriert er sich ganz auf seine
Arbeit als Direktor des Gogol Centers. Das Haus gehört
zu den wenigen unabhängigen Kultureinrichtungen der
Hauptstadt. Es ist ein Labor der tabulosen Freiheit, das
Serebrennikov vehement verteidigt. »Ich reagiere sofort,
wenn etwas nach alter sowjetischer Ideologie riecht, und
wenn es sein muss, mit der Kraft eines Panzers.«
Zur Ruhe kommt der Buddhist und Yoga­Anhänger
immer wieder in Berlin, wo er seit 2008 seinen Zweitwohnsitz hat. Für die Salome von Richard Strauss unterbricht er diese Reise gern. »Sie ist eine der spannendsten
Frauenfiguren der Operngeschichte«, sagt er. »Das hat
mich sehr inspiriert.« Uwe Killing
SALOME
von Richard Strauss
Premiere am 22. November 2015 im Opernhaus
1969
Rostow am Don
Russland
2001
Moskau
Russland
Bühnenreif. Made in Germany.
Die LBBW ist Partner der Oper Stuttgart.
2008
Berlin
Deutschland
Foto: Dominique Brewing
K
irill Serebrennikov ist Anfang 20 und studiert
Physik, als ihn in seiner Geburtsstadt Rostow
am Don die Erschütterungen treffen. »Als
Kind der Perestroika habe ich alles aufgesogen, was auf
einmal zugänglich war: verbotene Literatur, westliche
Kunst, vor allem Filme.« Euphorisiert reist der Sohn eines
Chirurgen nach Moskau, bewirbt sich an der Filmhochschule, wird abgelehnt. Doch er kehrt mit der Gewissheit
zurück: Die Welt der Formeln wird nicht seine bleiben.
Heute zählt der 46­Jährige zu den profiliertesten Theater- und Filmemachern sowie Oppositionellen Russlands. Er setzt die subversive Kraft der Fantasie gegen
Nationalismus, Zensur und Homophobie.
Die Industriestadt Rostow entpuppt sich als idealer
Nährboden. Serebrennikov tobt sich aus im Uni­Theater,
auf lokalen Bühnen und als TV-Regisseur. Mit dem Forschergeist eines Physikers taucht er in die Figuren ein.
Wer Serebrennikov heute bei Proben beobachtet, spürt
noch die Anarchie der Anfänge: Seine kräftige Statur ist
in Bewegung, er singt und berserkert inmitten seines
Ensembles. Seine unakademische Ästhetik entwickelt
sich aus Improvisation und impulsiver Körperlichkeit.
Die Musik von Richard Wagner begeistert ein internationales Publikum. So wie die Oper Stuttgart, die in der jüngeren
Vergangenheit mehrfach zum Opernhaus des Jahres gewählt
wurde. Die Landesbank Baden-Württemberg wünscht ihrem
langjährigen Partner für die neue Spielzeit viel Erfolg. Als verlässlicher Finanzdienstleister unterstützen wir unsere Partner
und Kunden kraftvoll und ideenreich. Weitere Informationen
unter www.LBBW.de
Landesbank Baden-Württemberg
FOYER
ROMAN
NOVITZKY
ist nicht nur
ein ungemein
vielseitiger
Tänzer. Er
macht auch
hochästhetische Fotos
von seinen
Kollegen
MEIN WEG
Der Perfektionist
Mit seiner Leistung ist Roman Novitzky nie ganz zufrieden. Nur deshalb
hat er es bis zum Ersten Solisten des Stuttgarter Balletts gebracht
16
gelangte er auf ähnliche Weise: unbeschwert und ohne
Krampf. In Bratislava stieg er bald zum Ersten Solisten
auf. Die Möglichkeiten, sich weiter zu verbessern, waren
ausgereizt. Für jemanden wie ihn eine Marter. Als ihm
seine heutige Freundin, ebenfalls aus der Slowakei stammend, von einem öffentlichen Vortanzen in Stuttgart erzählte, reiste er kurzerhand an. Wieder, ohne die Sache
zu ernst zu nehmen. »Ich war überzeugt, dass ich keine
Chance hatte«, erzählt er. »Ich dachte, dieses Niveau
würde ich nie erreichen.« Sein Bestes gab er trotzdem.
Mit 24 Jahren packte er die Koffer, verließ Familie und
Freunde und zog nach Stuttgart.
Dass sich die Tänzer hier jeden Tag gegenseitig zu
Höchstleistungen antreiben, setzt seinen Ehrgeiz unter
eine Art Dauerfeuer. Vor zwei Jahren schaffte er es im
Rahmen des Made in Germany-Abends mit seiner eigenen Choreographie sogar auf die große Bühne. In Are
you as big as me? tanzten drei Mitglieder der Compagnie zur Musik der New Yorker Blues- und Klezmer-Band
Hazmat Modine. Deren Song Bahamut ist wie Novitzky
selbst: kraftvoll, fröhlich – und immer mit 100­Prozent­
Puste. Kai Schächtele
1984
Bratislava
Slowakei
2009
Stuttgart
Deutschland
Foto: Miriam Kacerova
M
anchmal verflucht Roman Novitzky sein
ständiges Streben nach Perfektion. Nach jeder Aufführung geht er von der Bühne und
grübelt. »Ich finde immer etwas, worin ich mich verbessern kann«, sagt er. »Glücklich bin ich immer erst am
Morgen danach.« Ohne diesen Charakterzug wäre der
30­Jährige nie so weit gekommen. Novitzkys Laufbahn
illustriert die Geschichte eines Tänzers, der harte Arbeit
ganz leicht aussehen lässt. Zur neuen Saison wurde er
in die Riege der Ersten Solisten berufen.
Novitzky war zehn Jahre alt, als in seiner Schule in
Bratislava ein Vortanzen angesetzt war. Das Ballettkonservatorium war auf der Suche nach neuen Talenten.
Und obwohl sein eigentliches Ziel die Leichtathletik war,
nahm er teil. Er hielt das für eine gute Vorbereitung.
Durchtrainierte Muskeln, ein gesundes Körperempfinden – das hilft auf Tartan wie auf Parkett. Weil er immer
100 Prozent gibt, auch dann, wenn er von einer Sache
zunächst nicht zu 100 Prozent überzeugt ist, trainierte er
am Konservatorium so hart, dass er zum Ende der Ausbildung direkt vom Slowakischen Nationaltheater verpflichtet wurde. Der Sport hatte verloren. Nach Stuttgart
JUNGE SEITE
Gewinne
einen Tag
im Probesaal
des Stuttgarter
Balletts!
Du würdest gerne zuschauen,
wie die Tänzerinnen und Tänzer
des Stuttgarter Balletts Pliés,
Passés, Arabesquen, Drehungen
und Cabrioles üben? Du tanzt
vielleicht selbst? Und möchtest
Eleven und Solisten
einmal deine Fragen stellen?
Schreibe einen Brief oder male
ein Bild, in dem du erklärst,
wieso du uns so gerne besuchen
möchtest.
Sende deine Nachricht an:
Mein Tag, Stuttgarter Ballett,
Oberer Schlossgarten 6,
70173 Stuttgart.
Aus den Einsendungen wählen
wir drei Gewinner aus.
Wer bin ich? Ich habe vier
Beine und mein Frauchen heißt
Luise Pogge. Obwohl: Man
kann sie noch gar nicht Frauchen nennen, denn sie ist ja
noch ein Mädchen – ein recht
neugieriges, ja sogar mutiges
Mädchen
Luise und ich wohnen in einem schicken
Haus in Berlin. Gemeinsam mit ihren
Eltern, Herrn und Frau Pogge, deren
Haushälterin Berta und Fräulein Andacht,
Luises Kindermädchen. Und mit diesem
Fräulein Andacht, besser gesagt mit ihrem
fiesen Bräutigam, beginnt die Geschichte,
die Luise und ihr Freund Anton erleben.
Ein Großteil dieser Geschichte spielt
nachts. Ich schlafe da schon, eingerollt in
meinem Hundekorb in Luises Zimmer.
Währenddessen aber steht Luise mit
Anton und Fräulein Andacht auf einer
Brücke, tut so, als sei sie ein Bettlerkind, und verkauft Streichhölzer!
Ich muss mich nachts ausruhen. Denn
Luise, die alle nur Pünktchen nennen,
geht tagsüber ziemlich ruppig mit mir um.
Mal pudert sie meine Dackelschnauze
ein und spielt Frisör. Mal legt sie mich in
Sortiere die Geschichte
Hoppla, da ist was durcheinandergeraten. Schaffst du
es, die Handlung in die richtige
Reihenfolge zu bringen?
Nirgends ist ein Name zu
finden, nicht einmal auf dem
Friedhof. Auch der alte Fischer
kann Schaf nicht helfen. Da schenkt
ihm ein Engel einen Namen. Und Prinz
Lorenzo will nun doch König werden.
Ob die beiden Freunde bleiben?
F
IESTYN MORRIS
ist Countertenor.
Obwohl er ein
erwachsener
Mann ist, kann
er mit seiner
besonderen
Stimme wie ein
Junge singen
Plötzlich kommt jemand
gelaufen, ein Prinz! Er wird
verfolgt, das Volk will ihn zum
König machen, er aber will nicht. Schaf
hilft ihm, seine Krone zu verstecken.
C
ihr Bett und ich soll einen Wolf spielen in
einer Geschichte, die Rotkäppchen heißt.
Einmal bindet sie das Ende eines Bindfadens an mein Bein, das andere Ende hat
sie vorher um ihren wackelnden Milchzahn
gebunden, und als ich davonlaufe, ist
ihr Zahn gezogen. Solche Sachen macht
Pünktchen. Doch das ist alles nichts gegen
ihr Abenteuer mit Anton. Wer bin ich?
Es ist ein schöner Morgen.
Schaf weidet inmitten seiner
Herde und lässt sich das Gras
schmecken. Die Sonne geht gerade auf.
S
Schaf zieht in die Welt, um
einen Namen zu finden. Aber
o je, ohne Namen kommt Schaf
nicht einmal hinein in die Stadt!
A
PÜNKTCHEN UND ANTON von Erich Kästner
Premiere am 21. November 2015
im Schauspielhaus
Dabei sein, wenn die Tänzer des
Stuttgarter Balletts trainieren
Der Prinz heißt Lorenzo. Und
Schaf? Schaf heißt Schaf wie
alle anderen Schafe. »Das geht
nicht«, sagt Lorenzo. »Mein Freund
braucht einen eigenen Namen.«
H
Finde die Fehler
Fünf Fehler haben sich beim Kopieren eingeschlichen. Vergleiche die beiden Bilder.
Kannst du die Unterschiede entdecken? Und welches Märchen führen wohl die Tänzer des Stuttgarter Balletts auf?
»Ich spiele einen Jungen, der sich
weigert, älter zu werden, und in jeder Sekunde tut, wozu er Lust hat.
Peter Pan erlebt mit Wendy, ihren Brüdern und den verlorenen Jungs jede
Menge Abenteuer in Nimmerland – und er kann sogar fliegen. Für mich
ist das gar nicht so einfach, denn ich muss dabei singen. Dafür hänge
ich an einem engen Gürtel, der mit zwei dünnen Stahlseilen verbunden
ist. Wenn die mich in die Höhe ziehen, bekomme ich weniger Luft als
sonst. Bis ich mich daran gewöhnt hatte, hing ich wochenlang eine Stunde am Tag in der Luft. Aber dafür macht es jetzt umso mehr Spaß.«
SCHAF von Sophie Kassies. Wiederaufnahme
am 23. Oktober 2015 im Kammertheater
LÖSUNGEN // Wer bin ich? Der Dackel Piefke // Sortiere die Geschichte Schaf //
Finde die Fehler Lösung: 1. Oben rechts sind die Kerzen aus / 2. Hinter der weißen Ballerina
ist der linke Sessel lila / 3. Der Tänzer in der hinteren Reihe rechts hat zwei Federhüte
auf / 4. Der Tänzer in der Mitte im gelben Kostüm hat grüne Arme / 5. Vorne fehlt ein Zwerg
DORNRÖSCHEN von Marcia Haydée nach Charles Perrault
wieder im Repertoire ab 30. September 2015 im Opernhaus
18
Fotos: Stuttgarter Ballett; Christoph Kalscheuer
In der Rolle von Peter Pan
PETER PAN von Richard Ayres
Wiederaufnahme am 12. Dezember 2015 im Opernhaus
19
BÜHNE
Führer, selbst ernannter
Held, Despot und
am Ende Gejagter:
Iraker und US-Soldaten
stürzen die Statue von
SADDAM HUSSEIN im
April 2003 vom Sockel
DAS GESPRÄCH
Foto: REUTERS/Goran Tomasevic
Des einen Held
ist des anderen Dämon
20
Wozu brauchen wir Helden? Warum vergöttern wir sie erst
und stoßen sie dann vom Sockel? Und wie wird man überhaupt einer?
Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Korte erforscht
gemeinsam mit Historikern, Archäologen und Soziologen, wie Helden
entstehen, wozu sie gut sind und was sie bewegen.
Ein Gespräch über Menschen, die aus der Masse herausragen
INTERVIEW: KAI SCHÄCHTELE
21
BÜHNE
Die einen machen Heldentaten berühmt, die anderen führen sie in Repressalien: Boris Becker, Herkules, Nadeschda Tolokonnikowa von Pussy Riot
Die Muster sind gleich, die Ziele könnten kaum unterschiedlicher sein: ein IS-Kämpfer, die Freiheitskämpfer Aung San Suu Kyi und Martin Luther King
Frau Prof. Dr. Korte, was macht
Menschen zu Helden?
nicht nur um das Herstellen von Emotionen,
sondern auch um das Reflektieren und Kommentieren. Egal ob im Theater, Ballett oder
Kino: Das Publikum soll nicht einfach nur
überwältigt, sondern auch darauf aufmerksam gemacht werden, wie das Heroische
funktioniert und wie es instrumentalisiert
wird, wie man sich selbst dazu stellen kann.
Menschen und ihre Leistungen immer
wieder zu Helden hoch?
Bert Brecht sagt: Wehe dem Land, das
Helden braucht. Viele Kommentatoren
des politischen Geschehens fordern das
postheroische Zeitalter, damit wir uns
von Heldenkulten und den damit einhergehenden Kriegen verabschieden.
Weil wir Menschen sind, schaffen wir
Helden?
Da fallen einem viele Figuren ein, Boris
Becker zum Beispiel, der zeitlebens viel
Häme einstecken musste.
Irgendwann passen Helden nicht mehr zu
dem Image, das um sie aufgebaut wurde.
Jeder Held hat sein Verfallsdatum?
Das macht den Heldentod so signifikant. Wer
als Held stirbt, wird leichter als Held erinnert
als jemand, der sein Heldentum überlebt.
Spielen auch außergewöhnliche
körperliche Fähigkeiten eine Rolle?
Weil sich der Held in einen normalen
Menschen zurückverwandelt?
Das kann, muss aber nicht sein. Helden ragen über das Normalmaß hinaus. Sie haben
etwas, das sie extraordinär macht: Kraft,
Klugheit oder eben auch Zivilcourage.
Ja. Wir gehen oft davon aus, dass der Held
sich immer so verhält, wie er einmal war.
Aber bei lebenden Menschen treten natürlich Entwicklungen ein, die dazu führen, dass
ein Image, das zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgebaut wurde, irgendwann nicht
mehr zu halten ist. Das ist aber nicht die
Schuld der Helden, sondern die der Gesell-
Macht das Edward Snowden zu einem
typisch modernen Helden?
Snowden ist vor allem ein Beleg dafür, dass
der universelle Held nicht existiert.
Aber er hat doch gekämpft, sogar ein
persönliches Opfer erbracht.
Und insofern erfüllt Snowden ein Merkmal
des Helden, wie man es über alle Zeiten
findet. Jede Heldenfigur verkörpert gewisse
Werte und Ideale. Und je nachdem ob man
diese Werte teilt, beurteilt man Edward
Snowdens Taten entweder sehr positiv oder
sehr negativ. Dieses Kippen ist übrigens
keine Seltenheit. Gerade die Grauzonen
und Kippfiguren sind für uns alle sehr interessant.
Offensichtlich muss man das Heldsein
auch aushalten können?
22
Ich habe
noch keine
Gesellschaft,
keine Epoche
ohne Helden
gesehen
schaft, die dieses Verhalten immer wieder
einfordert.
Spielen Massenmedien eine Rolle?
Sicher ist das heute oft so. Aber auch frühere
Epochen hatten ihre Kanäle. Das Heroische
war immer auch ein Medienphänomen.
Ohne dass irgendwer davon erfährt, wird
niemand zum Helden.
Was unterscheidet echte Helden von
fiktiven?
Vor allem ihre Inszenierungen. Je nach
Kunstform ist das bei fiktiven Helden sehr
unterschiedlich. Der Roman zum Beispiel
stellt den Helden rein imaginativ vor. Das
Theater zeigt ihn uns durch Schauspieler,
also stark auch in körperlichen Dimensionen. Dadurch entstehen Dynamiken, die
man beim Lesen eines Romans nicht hätte.
Im 16. und 17. Jahrhundert übrigens gab es
im Theater viele Stücke und zum Teil auch
ganze Gattungen, die mit dem Heroischen
befasst waren. Film wiederum kann mit
seinen speziellen medialen Möglichkeiten
unser Erleben von Heldentum auf andere
Weise steigern als das im Theater möglich
wäre. Auch Nachrichtenmedien haben ihre
eigene Art der Inszenierung.
Wie lassen sich Helden im Ballett
inszenieren – ohne Sprache?
Das geht sehr gut. Bestimmte Eigenschaften
des Heroischen sind schlecht in Begriffe zu
fassen und lassen sich oft besser in Bildern
oder Bewegungen transportieren.
Die sprechen in erster Linie Emotionen
an. Welche Bedeutung haben diese
dafür, wie wir Helden sehen?
Die Empfindung spielt sicher eine Rolle. Aber
das Bewusstsein von Helden hat mehr damit zu tun, wie über sie nachgedacht wird.
Gerade in künstlerischer Darstellung geht es
Ich habe noch keine Gesellschaft, keine Epoche gesehen, in der Helden ganz fehlen. In
einer egalitären Gesellschaft wie heute in
Deutschland versucht man das Heroische
vielleicht eher im Alltag zu finden. Dennoch
ist das Bedürfnis da. Das erklärt übrigens
auch, warum wir heute mit einem stark aufgeweichten Heldenbegriff umgehen.
Was meinen Sie mit aufgeweicht ?
Fotos: picture­alliance / dpa (1, 3, 6); REUTERS (4); picture­alliance / 360­Berlin (5)
Selbstloses Handeln, der Kampf gegen Widrigkeiten, die Bereitschaft sich aufzuopfern
– das sind heutzutage wesentliche Merkmale. Im Militär gehen diese Aspekte so
weit, dass erwartet wird, sein Leben für die
Sache zu geben. Früher, im 19. Jahrhundert,
wurden moralische, pflichtbewusste Helden
verehrt, die ihre Aufgabe über ein normales
Maß erfüllten. Auch der moderne Typus des
Alltagshelden, wie wir ihn heute kennen und
verehren, kommt in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts auf. Da geht es weniger um
Extreme als vielmehr darum, im richtigen
Moment das Richtige zu tun.
Das Aushaltenkönnen ist ohnehin eines der
Merkmale des Heroischen. Aber was reale
Helden oft erdulden müssen, ist weniger ihr
Heldentum als vielmehr die Reputation, die
damit verbunden ist – die Art und Weise,
wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen und behandelt werden.
Ersatzsuperlative, die keiner ernst nimmt.
Wenn Deodorantwerbung mit Helden arbeitet oder Pizzadienste als Lieferhelden
angefahren kommen.
Ist die Promischwemme auch ein
Zeichen dieser Aufweichung? Sind
Stars das, was früher Helden waren?
Nein, das glaube ich nicht. Prominenz hängt
an Reputation und medialem Image. Das
steckt auch im Begriff »Celebrity«: Stars werden gefeiert, müssen aber nicht für gesellschaftliche Werte stehen. Helden brauchen
zwar auch Berühmtheit, aber das echte Heroische hat mehr mit einer bestimmten Tat,
Tatkraft oder dem Einsatz für andere zu tun.
Dennoch: Warum genügt uns nicht
Prominenz? Warum stilisieren wir
Es gibt Kognitionswissenschaftler, die davon
ausgehen, dass es in uns eine grundsätzliche
Disposition für die Wertschätzung des Heroischen gibt, Muster der Wahrnehmung und
des Verstehens, die uns dafür disponieren,
Menschen als Helden zu kategorisieren.
Weil sie in uns vielleicht ein Bedürfnis befriedigen, Exzellenz zu erkennen und all
das, was über das Normale hinausgeht. Fest
steht, dass es die Hinwendung zum Heroischen seit Menschengedenken gibt, vermutlich in allen Gesellschaften. Aber jede
Gesellschaft prägt das auf ihre Weise aus.
PROF. DR. BARBARA KORTE
lehrt Englische Philologie an der
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Sie ist außerdem stellvertretende
Sprecherin des durch die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG)
geförderten Sonderforschungsbereichs 948 »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der
Antike bis zur Moderne«. In dem
interdisziplinären, kulturübergreifenden Projekt untersuchen
Archäologen, Historiker, Literaturwissenschaftler, Soziologen und
Kunsthistoriker, wie soziale
Ordnungen durch Heldenfiguren
stabilisiert, aber auch in Frage
gestellt werden
Können Helden die Welt verändern?
Einzelne Figuren haben ihre Zeit verändert.
Napoleon etwa, der über ganz Europa hinwegfegte und aktuell vielleicht auch Edward
Snowden. Aber nicht jeder Held bewegt die
Welt. Denken Sie nur an den Sport.
Wie immunisieren wir uns gegen blinde
Heldenverehrung?
Indem wir sie kritisch und distanziert betrachten. Schon bei Shakespeare werden
Helden nie idealisiert, sondern immer kritisch mitsamt Fehlern dargestellt. Auch das
moderne Superheldenkino oder aktuelle
TV-Serien betrachten die Mechanismen des
Heroischen sehr differenziert.
Aber auch der simple Held zieht noch
immer. Bei Terrororganisationen wie
dem IS inszenieren sich junge Männer
als Märtyrer, um andere anzulocken.
Das ist nicht neu. Man darf das Heroische
nie naiv sehen. Das Heroische ist nicht an
Heldenfiguren gebunden, sondern auch an
die Systeme, Werte und Diskurse einer Ge-
sellschaft. Wir dürfen nie nur auf die Figur
schauen. Wir müssen die Prozesse betrachten, die durch die Figuren offenbar werden.
Im Falle des IS heißt das: Der Held wird
zur Waffe.
Auch dies hat es schon immer gegeben.
Lassen Sie mich das vorsichtig formulieren:
Natürlich definieren sich junge Männer im IS
als Helden – zum Teil sogar mit Mitteln des
Hollywoodkinos, wodurch sich der Terrorismus und die Gesellschaften, die angegriffen werden, auch ineinander verschränken.
Neben aller brutalen Wirklichkeit sind dies
Belege dafür, dass heroische Muster Bestand
haben und funktionieren. Und dafür, dass sie
als Deutungsmuster in verschiedene Richtungen benutzt werden können. Vereinfacht
gesagt: Des einen Held ist des anderen Dämon – je nach Blickrichtung.
23
BÜHNE
Der Unbestechliche
Wir trafen Bert Neumann, um über seine Entwürfe für den Fidelio
in Stuttgart zu reden. Dabei hatte er eine Idee: Ob wir nicht auch Skizzen
und Modelle anderer Arbeiten sehen wollen? Schließlich habe er die
noch nie gezeigt, sagte er. Kurz darauf starb er. Und das Making-of wurde
zum Nachruf – auf einen der größten deutschen Bühnenbildner
A
uf die Frage, ob die Oper Helden brauche,
zuckte Bert Neumann mit den Schultern:
»Ich kann mit dem Begriff nichts anfangen,
deshalb kann ich dazu auch nichts sagen.« Wir saßen
in einem Café am Prenzlauer Berg, Anfang Juli, in der
Nähe seiner Wohnung, um Bilder seiner Entwürfe zu
betrachten und darüber zu reden, wie er seine Ideen
entwickelt, sich Theaterstücken und Opern nähert, was
eine gute Bühne ausmacht. »Haltung«, sagte er.
Zwischendurch machte Neumann sich über Berlin
lustig, Hipster-Touristen und Kulturpolitik. Seine Waffe
war der Spott, kühl und nüchtern. Große Posen und Rhetorik waren ihm suspekt. Seine Distanz zu Menschen und
Verhältnissen, die ihm unangenehm waren, war leise und
glasklar. Die Näherinnen in den Theaterwerkstätten und
Bühnenarbeiter nahm er ernst, Berliner Kultursenatoren
und Münchner Intendanten nicht so sehr. Für Regisseure
war er ein Partner, niemals Dienstleister.
Seine Bühnen waren klug, radikal, unverwechselbar.
Blow­up­Teddys, Livevideos, Stalin­Porträts, wasserspeiende Walfische, Wohncontainer, Bungalows, Swimmingpools, ganze Stadtlandschaften hat er in Theatern
aufgebaut. Kaum ein deutscher Bühnenbildner hat
Theater in den letzten zwei Jahrzehnten so geprägt wie
Bert Neumann. Als Bühnenbildner und Chefdesigner
gestaltete er seit Beginn von Castorfs Intendanz 1992
die Berliner Volksbühne mit. René Pollesch, mit dem
er mehr als 15 Jahre arbeitete, nannte ihn »den ersten
Autor seiner Inszenierungen«.
Er schuf Ikonen, oft waren seine Bühnen schon das
halbe Konzept einer Inszenierung. In seinem Stammhaus, der Volksbühne, sowieso, aber auch wenn er als
Gast woanders arbeitete – wie seit Jahren an der Oper
Stuttgart. »Ich versuche, bei Opern relativ werkgetreu
zu sein«, sagte Bert Neumann über seine Arbeit in
Stuttgart. »Mich interessiert die Entstehungszeit. Welche Wirkung hatten Musik und die Geschichte? Rigoletto basiert auf einem Theaterstück von Victor Hugo, die
Uraufführung sorgte für einen riesigen Skandal. Es kam
im Publikum zu Saalschlachten. Im Sinne der Werktreue müsste man eigentlich versuchen, eine ähnliche
24
Wirkung zu erzeugen.« Vom Pathos zur Saalschlacht,
ein typischer Neumann-Gedanke.
Zwanghafte Aktualisierungen interessierten ihn
nicht. »Ich mag das Fremde, das Künstliche der Oper«,
sagte Neumann. »Oper hat mit unserer Alltagsrealität
wenig zu tun. Es geht um die Extremvergrößerung von
Affekten, um Schaureize. Da kann die Bühne schlecht
kleinteilig und naturalistisch sein. Bei Verdi knallt es,
da kann die Bühne auch knallen.«
Und Beethovens Fidelio? »Fidelio gilt ja als Freiheitsoper«, sagte Neumann, winkte gleich wieder ab: »Aber
allein das Wort ›Freiheit‹ ist wahrscheinlich neben
›Liebe‹ das am meisten missbrauchte Wort der Welt –
eine Leerformel.« Worum geht es dann?
»Um Macht und Kontrolle«, antwortete
Wir trauern um den Künstler
er. »Beides ist heute unsichtbar. Jeder
und Freund. Der Verlust greift
kontrolliert sich selbst und den anderen.
tief ins Theater und in uns.
Ich weiß nicht, ob ich das schon erzählen
Unsere Enttäuschung und Wut
darf, es hängen im Fidelio gut sichtbar
darüber sind maßlos. Bert
etliche Raummikrophone über den Sänbleibt unvergessen, unsere
gern. Nicht als Deko, die werden wirklich
Arbeit wird an ihn erinnern.
benutzt, man kann leise sprechen und
Frank Castorf, Intendant,
wird trotzdem vom Publikum verstanVolksbühne Berlin
den«, sagte Neumann, bevor er seinen
Gedanken beendete: »Ein anderes Motiv
in Fidelio ist Pflichterfüllung. Alle erfüllen
ihre Pflicht, als Gefängniswärter, als Ehefrau, als aufrechter politischer Gefangener. ›Meine Pflicht hab ich getan‹,
heißt es einmal. Ein Schlüsselsatz.«
Der Bühnenbildentwurf für den Stuttgarter Fidelio war
eine von Neumanns letzten Arbeiten. Am 30. Juli starb er
im Alter 54 Jahren. Er war in seinem Ferienhaus in Mecklenburg, in dem er die Ferien mit seiner Frau Lenore Blievernicht und seinem Sohn Leonhard verbrachte. Neumann
litt seit vielen Jahren unter schwerem Asthma. Sein Tod ist
ein fürchterlicher Verlust. Für das Theater, für die Künstler,
die mit ihm gearbeitet haben. Für die Menschen, die ihn
und seine Bühnen geliebt und aufrichtig verehrt haben.
OPER STUTTGART
FIDELIO VON LUDWIG VAN BEETHOVEN
Premiere am 27. Oktober 2015 im Opernhaus
Foto: Lenore Blievernicht/LSD
TEXT: PETER LAUDENBACH
BERT NEUMANN
(1960–2015).
Wie kaum ein Bühnenbildner seiner
Generation prägte er
ein Haus, eine Stadt
und gleich zwei Regisseure. Die Volksbühne
Berlin, Castorf und
Pollesch wären ohne
ihn andere. Seine
Schöpfungen leben
weiter, auch die zahlreichen Bühnen,
die er für die Oper
Stuttgart schuf
25
BÜHNE
Keiner findet sich schön
1
Volksbühne Berlin
Regie: René Pollesch, 2015
Unaufgeregt, unbestechlich,
höflich, aufmerksam
»Bei dieser Figur dachte ich ein bisschen an
den Marshmallow-Mann aus Ghostbusters.
Seit einiger Zeit stelle oder hänge ich für Renés Inszenierungen gerne große Objekte in
den leeren Raum – ein Schiff, einen Totenkopf, ein Flugzeug. Man kann sie besteigen, in
Es war ein Ausflug, den ich nicht vergessen werde. Eine Fahrt mit dem
Auto durch Stuttgart, zum Killesberg
und wieder zurück zum Theater,
um ein mögliches Haus für die nächste
Produktion von René Pollesch anzuschauen. Weißenhof-Siedlung, Reichsgartenschau 1939, Europaviertel,
Tattoostudio. Ihm schwebte Stammheim vor. Seinen Blick auf die Stadt
werde ich nicht vergessen. Die unaufgeregte Kraft, die spöttische Unbestechlichkeit, die Aufmerksamkeit und
Höflichkeit. Es war ein Ausflug, der
tatsächlich wie ein Anfang schien. Ein
Ausflug aus dem Theater zum Theater.
Ich werde ihn nicht vergessen.
5
ihnen rumkrabbeln, mit ihnen kämpfen. Dieser weiße Riese hier wird in der Vorstellung
relativ schnell aufgeblasen, ein infantiles
Monster, das nur aus heißer Luft besteht, wie
die ganzen Geschäfte am Prenzlauer Berg,
die Krümelchen oder so heißen und alle
so fürchterlich niedlich sind. Renés Texte
entstehen während der Proben. Das heißt,
ich mache einen Raum, bevor ich das Stück
kenne. Wenn man meine Pollesch­Bühnen
6
nebeneinander stellen würde, könnte man
wahrscheinlich sehen, wie sie sich weiterentwickelt haben, genau wie Renés Texte
sich von Stück zu Stück fortsetzen. Das Modell habe ich wie ein Bildhauer erstellt, nicht
aus Stein, sondern aus Schaumstoff. In der
Vorstellung kämpft Fabian Hinrichs mit diesem Riesending und er kommt schwer ins
Schwitzen. Und je länger das dauert, desto
lustiger ist es.«
5 Neumann modellierte die Figur aus
Schaumstoff. Später nähte ein Hersteller
nach der Vorlage die riesige Aufblaspuppe
6 Bereits im Modell glänzte der Boden in
rotweißen Streifen – genau wie später auf
dem erheblich größeren Bühnenboden
7 Mann gegen Puppe: Schauspieler Fabian
Hinrichs kämpft gegen die Bühnenikone
Jan Hein, Leitender Dramaturg
am Schauspiel Stuttgart
Er war der erste Autor
meiner Inszenierungen
7
Rigoletto
Oper Stuttgart, Regie: Jossi Wieler
und Sergio Morabito, 2015
»Bei der Uraufführung 1851 hatten Rigolettos
Haus und das Wirtshaus, in dem der Mord
geschieht, denselben Grundriss. Das habe
ich übernommen, auch als kleine Referenz
an die Theatergeschichte. Ich wollte gebaute
und gemalte Kulissen verwenden – und man
sollte sehen, dass es Kulissen sind und nicht
die Wirklichkeit. Die runde Wand rechts ist
drehbar, an ihrer Außenseite hängt ein Theatervorhang, der so aussieht wie der echte
Vorhang in Stuttgart. Das ist ein direktes
Zitat, genau wie Details im Bühnenbild den
Stuck im Zuschauerraum zitieren. Ich spiele
gern mit der Theatersituation. Das passt gut
zu Rigoletto, einer Oper, in der all diese höfischen Figuren voreinander Theater spielen.
Jeder agiert in einer Rolle, die Mitmenschen
sind sein Publikum. Verdi hat oft etwas Reißerisches, er vertraut Theatereffekten wie in
der Commedia dell’arte, das gefällt mir.«
1 Ein Bühnenmaler arbeitet am Hintergrund
von Rigoletto. Das Entwurfsmodell für die
bedrohliche Bergszenerie war kaum größer
als ein Pizzakarton (Bild 3)
2 Bert Neumanns Skizze zur RigolettoBühne: Schraffierungen markieren,
was gebaut, was gemalt werden soll
3 Bevor die Werkstätten zu bauen begannen,
testete Neumannn am Modell das Licht
und die Stimmung aller Elemente
4 Die fertige Bühne: In den verwinkelten
Gassen wird Rigolettos Tochter ermordet
Dass wir an der Volksbühne mit Video
arbeiten, liegt daran, dass Bert Neumann irgendwann anfing, geschlossene
Räume oder sogar ein ganzes Haus
auf die Bühne zu stellen und uns damit
einen ganz konkreten Grund geliefert
hat, eine Kamera in die Hand zu nehmen:
Es war einfach die einzige Lösung,
dem Publikum zu zeigen, was in seinem
Inneren vorgeht. Diese Idee berührt
das, was man vor allem sein kann, in
seinen Bühnenbildern: konkret. Jeder
Raum, den er gebaut hat, erzählt von
Autonomie. Und lässt einen an der
eigenen Autonomie bauen. Er war der
erste Autor meiner Inszenierungen.
Wenn es einen Künstler gibt, den ich
uneingeschränkt verehre, dann ist
es Bert Neumann.
René Pollesch, Theaterregisseur
3
4
Fotos: Bert Neumann (1–3, 5–7); A.T. Schaefer (4)
2
26
27
Unendlich viel Hoffnung,
nur nicht für uns
BÜHNE
1
Wiener Festwochen / Volksbühne Berlin
Regie: Frank Castorf, 2015
»Eine der Hauptfiguren in Dostojewskis Roman ist Gruschenka, eine Frau, die alle verrückt macht. Jeder Mann verliebt sich in sie –
das Objekt der Begierde. Wir sehen ihr Haus
und darin ein Zimmer, das aussieht wie ein
Mädchenzimmer mit Postern. Neben dem
Bild von Courtney
Love hängen Fotos
der russischen Dichterinnen Marina Zwetajewa und Anna Achmatova: Frauen, die
sich künstlerisch artikuliert und sicher auch
selbst stilisiert haben. Des weiteren hängt
da eine Mondsichel an der Wand, ich wollte
einfach keinen Naturalismus haben. In Wien
haben wir das Stück in einer einstigen Sargfabrik gespielt, ein enormer, riesiger Raum.
Weit weg von Gruschenkas Haus steht das
Vaterhaus der Karamasows, dafür haben
wir ein relativ realistisches Holzhaus
Ein konsequent
eigensinniger Künstler
2
28
Er war der Souveränste von allen.
Was er einbrachte, vertrat er cool und
zurückhaltend und humorvoll. Es
war immer verblüffend. Und eine große
Herausforderung für die anderen.
Es richtete sich nicht nach Trends oder
nach der Mode. Es setzte Trends.
Bert Neumann war viel mehr als ein
Bühnenbildner, er war ein konsequent
eigensinniger Künstler, der die seltene
Fähigkeit besaß, feinfühlig in kollektiven Zusammenhängen arbeiten
zu können, ohne die geringste Dienstleistungsmentalität.
Carl Hegemann, Dramaturg, u. a.
Volksbühne Berlin (1992–2006)
3
Oper Stuttgart, Regie: Jossi Wieler und
Sergio Morabito, 2014
»Wenn es im Libretto so ein gutes Motiv gibt
wie dieses Schiff, wäre ich dumm, es nicht zu
benutzen. Das hängende, schaukelnde Schiff
schwebt im ersten Akt wie eine Skulptur im
Raum. Im dritten Akt, beim Tod des Liebespaars, liegt es vor einer riesigen Wand aus
Leuchtstoffröhren als gestrandetes Wrack am
Boden. Mit dem Schiff wird Isolde als Kriegs-
4 Modell: Wie später auf der Bühne hebt sich
der schwarze Schiffskörper vom abstrakten
Innenraum ab
5 Bühne im Schlussakt: Vor der gleißenden
Rückwand mit Leuchtstoffröhren liegt das
leckgeschlagene, gestrandete Wrack
beute gebracht, später ist es der Ort der Liebe
von Tristan und Isolde – wie ein Raum außerhalb der Welt. Heterotopien nennt Foucault
diese mehrdeutigen Orte und Themen; das
Schiff ist konkret, gleichzeitig so etwas wie
eine Metapher. Ich finde, dass es einfach gut
aussieht, weil seine Form völlig von seiner
Funktion herrührt. Jedes Kind kann verstehen,
dass diese beiden Figuren auf dem Schiff in
einer besonderen Situation sind. Ein gutes
Bühnenbild ist immer beides: konkret und
abstrakt.« Protokoll: Peter Laudenbach
4
5
Jossi Wieler und Sergio Morabito,
Intendant und Chefdramaturg,
Oper Stuttgart
gebaut. Auf dem unteren Bühnenbild sieht
man das Untergeschoss von Gruschenkas
Haus, dort findet eine rauschhafte Orgie
statt. In Dostojewskis Vorlage spielt die
Orgie eigentlich in einem Gasthaus, aber
ich wollte nicht schon wieder eine Kneipe
auf die Bühne stellen. Davor liegen nackte
Puppen herum. Weshalb die dort liegen,
kann ich gar nicht so genau sagen. Es ist
ja auch mal schön, wenn im Theater nicht
alles immer so eindeutig und sofort verständlich ist.«
1 Modell des Zimmers einer Femme fatale:
An den Wänden hängen Poster von Courtney
Love und anderer Popstars
2 Variation der Idee: Hier schaut Courtney
Love durchs Fenster wie eine Zuschauerin
aus dem Pop-Jenseits
3 Bigger than life: Träume und Blumen
auf der Pop-Tapete sind größer als die
erdrückende Wirklichkeit
Tristan und Isolde
Fotos: Bert Neumann (1 – 4); A.T. Schaefer (5)
Brüder Karamasow
Groß geworden ist Bert Neumann in
der DDR. Diese Erfahrung hat ihn
geprägt und von ihr haben wir lernen
können. Denn seine innere Freiheit
war groß. Seine Räume waren immer
auch Freiräume für die Menschen, die
sie betraten. Sie stellten gerade auch
durch ihren Abstraktionsgrad eine
intime und zärtliche Nähe zu den Darstellern her. Bei jeder unserer gemeinsamen Arbeiten wiederholte sich das
Wunder, wie die menschlichen Gestalten groß wurden, ja zu schweben
schienen. Seine mitunter monumentalen Raumsetzungen bewirkten Closeups auf Körper und Seelen.
Er war einer der größten Theatermacher unserer Zeit. Er wurde das aber
genau auch dadurch, dass er sich
niemals zum Gesamtkunstwerker stilisiert hat, der für Bühne, Kostüme
und Regie gleichzeitig verantwortlich
zeichnet − eine Versuchung gerade
für die Großen seines Faches. Theater
war für ihn anders als im Dialog gar
nicht sinnvoll denkbar, ohne den Freiraum und Respekt, die er den vielen
Künsten entgegenbrachte, die im Theater zusammenwirken – verbunden
mit der distanzierten Zuneigung, mit
der er seine Partner begleitete.
Berts Tod beraubt uns eines Stücks
Zukunft.
29
BÜHNE
1970
Fotos: Stuttgarter Ballett; Roman Novitzky
Starke Frauen
und die erotische
Anziehungskraft
zwischen den
Geschlechtern –
eine Szene aus
Variations for two
Couples
Andersons Zeitreise
Der Meister, der Tänzern den Atem raubt
Poème de l’extase
von John Cranko
Solo und Variations for two Couples
von Hans van Manen
Ich kann mich noch genau erinnern, wie es
war, als unser damaliger Direktor John Cranko eines Morgens mit einer Idee in den Ballettsaal kam, die uns den Atem stocken ließ:
John wollte ein Stück speziell für Margot Fonteyn entwickeln. Margot war einer der großen
Ballettstars des 20. Jahrhunderts und damals
schon über 50 Jahre alt. Normalerweise geht
die Karriere von Balletttänzern zu Ende, wenn
sie die 40 überschritten haben. Ihre Körper
halten den Dauerbelastungen nicht länger
stand. Doch die Leute wollen die ganz Großen
bis zur letztmöglichen Sekunde sehen. Zu dieser Kategorie gehörte Fonteyn. Das Besondere
an Johns Idee war: Sie sollte keine 16­Jährige
tanzen, wie zum Beispiel in Dornröschen, sondern eine Frau mit Vergangenheit. Das war
damals eine Sensation.
Das Stück erzählt die Geschichte einer
Diva, in die sich ein junger Mann verliebt. Davon umschmeichelt, erinnert sie sich an ihre
früheren Beziehungen. Bei der Uraufführung
von Poème de l’extase von 1970 war ich 20
Jahre alt. Es war ein magischer Abend. Zuerst
habe ich in der Gruppe getanzt, kurz darauf
war ich einer der Liebhaber.
Die Choreographie ist ein Stück lebendig
gewordener Jugendstil: farbenfroh, verträumt,
sinnlich. Die Musik des russischen Komponisten Alexander Skrjabin lässt die Zuschauer
eintauchen in ihre Sehnsüchte und das SichVerlieren in ihren Erinnerungen. Das Bühnenbild von Jürgen Rose ist den Gemälden von
Gustav Klimt nachempfunden. In jeder der
Bewegungen kann man seine Bilder sehen.
Diesen Abend jetzt wieder originalgetreu
erleben zu können, ist etwas Außergewöhnliches. Denn die spannende Frage wird sein:
Wie interpretiert diejenige die Rolle, die in
Fonteyns Fußstapfen tritt? Die Persönlichkeit
verbindet sich mit der Choreographie – das ist
es, was diese Kunstform so interessant macht.
1981
Der Revolutionär, der Grenzen verschob
Was überdauert? Was sticht heraus? Was bleibt in Erinnerung?
Diese Fragen stellte sich Ballettintendant Reid Anderson, als er zu seinem
20-jährigen Jubiläum vier Choreographien für einen besonderen
Abend auswählte. Das Ergebnis ist ein Streifzug durch die Tanzgeschichte –
und gleichzeitig die Essenz ihrer Moderne
PROTOKOLL: KAI SCHÄCHTELE
30
1997 /2014
Die Diva mit Vergangenheit
Vergessenes Land
von Jiří Kylián
Das Stück Vergessenes Land von Jiří Kylián
ist elf Jahre nach dem von Cranko entstanden.
Doch das sieht man ihm nicht an. Es gibt Choreographien, bei denen man sich denkt: »Das
war damals, heute wird anders getanzt.«
Andere dagegen bleiben ewig modern.
STUTTGARTER BALLETT
BALLETTABEND
KYLIÁN / VAN MANEN / CRANKO
Premiere am 27. Oktober 2015
im Opernhaus
Was sich dagegen geändert hat, sind die
technischen Möglichkeiten der Tänzer. Wo
früher jemand innerhalb eines Taktes eine
Pirouette gedreht hat, sind es heute vier.
Wir haben vor Kurzem zum Beispiel eine
Choreographie zu einem Konzert von Wolfgang Amadeus Mozart aufgeführt, die Mitte der 60er Jahre entwickelt wurde. Als wir
das einstudiert haben, hingen die Tänzer
irgendwann mit der Zunge am Boden und
haben sich gefragt: »Wie haben die das gemacht?« Die Antwort ist ganz einfach: Die
Beine waren nicht so weit ausgedreht, sie
waren auch nicht so hoch. Die Tänzer konn­
ten sich nicht so schnell drehen und nicht
so hoch springen. Es ist so ähnlich wie im
Fußball: Wer sich heute ein Spiel aus den
70ern ansieht, hat das Gefühl, er sieht sich
eine Zeitlupe an. Die Technik hat sich weiter
entwickelt.
Vergessenes Land ist ein sehr melancholisches, tiefsinniges Stück. Die Musik stammt
vom britischen Komponisten Benjamin Britten, seine Sinfonia da Requiem klingt wie
eine Vertonung der Bewegungen des Meeres:
mal sanft und friedlich, dann tosend und voller Energie. Ausgangspunkt für Jiří Kyliáns
Choreographie waren ein Gemälde von Edvard Munch und die Küstenregion im Osten
Englands, in der Benjamin Britten gelebt hat.
Das Bühnenbild ist dem Verlauf von Wellen
nachempfunden. Die Tänzer bewegen sich
dazu in wellenartigen Sequenzen: im einen
Moment verträumt und in sich gekehrt, im
nächsten expressiv und dramatisch.
Jiří und ich kamen 1969 von der Royal
Ballet School, als uns John engagierte. Er
ermutigte Kylián schon sehr früh, eigene
Choreographien zu entwickeln. Seine ersten Ballette hat er in Stuttgart gezeigt. 1978
erlebte er bei einem Festival in Amerika seinen internationalen Durchbruch. Und drei
Jahre später, am 12. April 1981, feierte er mit
Vergessenes Land hier in Stuttgart einen
Riesenhit. Es hat in der Geschichte dieser
Compagnie deshalb einen besonderen Stellenwert. Kylián hat die Grenzen des Tanzes
genauso verschoben, wie sich die Küstenlinien im Laufe der Zeit verändern.
Hans van Manen ist für den Tanz das, was
Piet Mondrian für die Malerei war: ein Meister der Reduktion. Alles ist klar definiert: wie
die Tänzer laufen, wie sie ihre Hände halten,
sogar wie sie atmen. Das Stuttgarter Ballett
hat über 30 Stücke von ihm im Repertoire,
mehr als jede andere Compagnie außerhalb
der Niederlande. Wir werden zwei Stücke
von ihm zeigen.
Solo stammt aus dem Jahr 1997. Trotz
des Titels ist es ein Stück für drei Tänzer. Für
einen allein ist es unmöglich, die Choreographie durchzuhalten. Van Manen hat zwei
sehr schnelle Stücke von Johann Sebastian
Bach ausgewählt. Mit einem Lächeln im Gesicht hat er einmal gesagt, dass am Ende alle
nach Luft hechelnd auf dem Boden liegen.
Das andere Stück Variations for two Couples,
in Stuttgart erstaufgeführt bei einer Gala
2014, ist eine sehr ausdrucksstarke Choreographie, bei der die erotische Anziehungskraft zwischen Mann und Frau zu spüren ist.
Zu Musik von Benjamin Britten, Einojuhani
Rautavaara, Stean Kovács Tickmayer und
Astor Piazzolla tanzen zwei Paare. Es ist
ein mitreißendes Stück, das die Zuschauer
die Kraft spüren lässt, die aus dem Mit­ und
Gegeneinander der Geschlechter entsteht.
Wir haben den Abend so zusammengestellt, dass sich sehr unterschiedliche Stile zu
etwas Gemeinsamen vereinen. Es ist im Tanz
wie in der Fotografie: Je nach Linse fallen die
Ergebnisse unterschiedlich aus. Manchmal
ist es ein Teleskop, mit dem man bis zum
Mond blicken kann, manchmal eine Lupe,
mit der die Rillen der Haut sichtbar werden.
Jede Perspektive hat ihren eigenen Reiz.
REID ANDERSON
kam 1969 mit 19 nach Stuttgart.
In seiner 17-jährigen Laufbahn tanzte
er die großen Rollen des Stuttgarter
Balletts, acht Jahre davon als
Erster Solist. 1996 wurde er Direktor,
am Ende der ersten Spielzeit wurde
er zum ersten Ballettintendanten
Deutschlands ernannt. Die Spielzeit
2015/16 steht ganz im Zeichen
seines 20-jährigen Jubiläums
31
Comic: Sasa Zivkovic
BÜHNE
32
33
BÜHNE
34
35
36
auslöschen, tauchen in seinen literarischen
Visionen auf. Platonov war ein Mahner,
ein Visionär – und er war einer der ersten
Schriftsteller, der von sich und seiner Zunft
verlangte, neue Technologien nicht nur zu
beschreiben, sondern sie tatsächlich auch
zu begreifen, um ihre Folgen für Mensch,
Gesellschaft und Natur abzuschätzen.
1930 macht er sich über Nachhaltigkeit
Gedanken: Die Materie der Erde wird
ununterbrochen vergeudet, und enden
wird das mit einer großen Not. Und dass
das niemandem leidtut! Wo ist die Wissenschaft der Sparsamkeit im Sinne der
Existenz der künftigen Menschen? Es gibt
sie nicht und sie ist nicht in Sicht. Er benennt die Gier der Industriegesellschaften
nach Rohstoffen: Das ungelöste Ener-
gieproblem ist die Wurzel allen Übels.
Alles Übel auf der Welt rührt her von
dem Mangel an freier, sofort zur Arbeit
geeigneter Energie, die man nicht durch
schwere Mühen erlangen muss. Und er
zeichnet bereits in den frühen 1920er Jahren
Visionen, deren Klarheit den Deklarationen
der Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen gut zu Gesicht stünde: Das Licht
ist eine solche Energie, die man nicht mit
den Händen aus der Erde auszugraben
braucht. Selbst die Energie des gespaltenen Atoms ist nichts im Vergleich zur
Energie des Ozeans aus Licht. … In der
neuen Wirtschaft werden Energie und
Wärme aus fallenden Wassern und wehenden Winden gewonnen, das heißt
mittels solcher Naturkräfte, durch deren
Nutzung die Materie – das Kapital der
Natur – nicht im Geringsten vernichtet
wird. Am Ende der Zeit sollen die Menschen keine Not leiden – sie sollen dann
durch unseren behütenden Verstand unter ihren Füßen einen unversehrten Erdball haben. … Und das ganze prachtvolle
Leben der Menschheit möge auf Kosten
der Sonne stattfinden.
Platonovs Weitsicht gründet im eigenen Erleben, in der Katastrophe, die er in
jungen Jahren nicht verhindern kann. 1921
sind durch die große Dürre im Westen der
Sowjetunion nahezu 20 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Platonov ist
22 Jahre alt und als Bewässerungstechniker
(Meliorator) dafür verantwortlich, von seiner
Heimatstadt Woronesch aus die Elektrifizierung der Landwirtschaft voranzutreiben und
die Dürre zu verhindern. »Kampf gegen die
Wüste« nennt er seinen Einsatz.
Der Literaturwissenschaftler Viktor Schklowski lernt den jungen Mann in dieser Zeit kennen: Genosse Platonov ist sehr beschäf-
Auswahl und Übersetzung der Platonov-Zitate (außer Tschewengur): Michael Leetz
ie Fahnen seines Romans Tschewengur
sind schon gedruckt,
als Andrej Platonov
1929 erfährt, dass die
Machthaber das Erscheinen des Buchs
verboten haben. Platonov ist zu dieser Zeit
ein Mann von 30 Jahren und hat bereits mit
eigenen Augen gesehen, wie der Raubbau an
der Natur ganze Landschaften zerstörte. Er
war Zeuge einer Dürre, die in seiner Heimat, dem zentralrussischen Schwarzerdegebiet, eine Hungerkatastrophe biblischen
Ausmaßes ausgelöst hat. Das nächste Desaster steht bevor, in Folge der gewaltsamen
Kollektivierung in der sozialistischen Landwirtschaft.
In seinem neuen Roman will er dem Sowjetstaat seine Vision einer besseren Welt
entgegenhalten. Stalin und sein Apparat
beuten rigoros Umwelt und Menschen aus.
Platonov ist überzeugt, dass nur ein sorgsamer Umgang mit der Natur die Welt retten
wird. Dies und ein geheimnisvoller Stoff.
Doch die Zensur verhindert, dass seine Mitbürger erfahren, welchen Stoff er meint.
Erst Ende der 1980er Jahre kann das
Buch in seiner Heimat erscheinen, in Folge
von Glasnost und Perestroika. Der Roman
erschüttert die sowjetische Öffentlichkeit,
nahm er doch 60 Jahre zuvor Schicksal
und Untergang des Staatssozialismus vorweg. Der russische Schriftsteller Andrej
Bitow erkennt in Platonov einen wahren
»Schriftsteller der Zukunft« und prophezeit:
»Platonov wird sich als ein merkwürdig uneinfacher Schriftsteller erweisen, weil er der
Erste war, der wirklich alles verstanden hat.«
Dieses Alles-Verstehen reicht weit über die
Grenzen der Sowjetunion hinaus. Der Schriftsteller mag seine Gegenwart mit dem Herzen
eines überzeugten Kommunisten beschrieben haben. Doch seine Analysen dringen so
tief in die Tragödie des aufkommenden Industriezeitalters ein, seine Ideen sind so spektakulär, dass man Andrej Platonov (1899–
1951) als einen der ersten Ökopropheten des
20. Jahrhunderts bezeichnen kann.
Platonov erkennt die Notwendigkeit einer Energiewende, will fossile Brennstoffe
durch erneuerbare Energien ersetzen und
beschreibt Sonne, Wind und Wasser als
Stromerzeuger. Er sieht die ideologisch
motivierten Völkermorde des 20. Jahrhunderts voraus. Sogar maschinelle Armeen,
die Drohnenkriegern gleich ganze Städte
tigt. Die Wüste greift an. Er fährt in einer
wackeren Klapperkiste, genannt Automobil. Die Steppen sind weit. Es gibt Orte,
wo es auf 40 Werst kein Wasser gibt. Die
Wüste kriecht hierher durch die Schluchten. Die Flüsse wachsen zu, trocknen aus.
Versiegen vollständig. Wenn man quer
durch die Schluchten Dämme baut, kann
man in ihnen das Wasser halten. In den
letzten zwei Jahren hat man hier so viel
Erde ausgegraben, dass sie einem Viertel
des Berges Ararat entspricht. Platonov
ist Meliorator. Er ist Arbeiter, 26 Jahre
alt, blondhaarig.
Andrej Platonov lebte von 1899 bis 1951.
Sein Roman Tschewengur ist eine düstere, brutale Endzeiterzählung, die vom
Scheitern eines sozialen Experimentes
handelt. In dem Steppenort Tschewengur
wollen Revolutionäre den Sozialismus
direkt aus der Natur errichten – ohne
jede Technik. Gerade als sie beginnen,
die Gewalt hinter sich zu lassen, und in
ihnen der »Stoff der Freundschaftlichkeit« entsteht, wird die Kommune von
einer »mechanischen Armee« zerstört
Foto: shutterstock
D
TEXT: MICHAEL LEETZ & RALF GRAUEL
Er wäre der Jules Verne des Sozialismus geworden, hätte nicht Josef Stalin höchstpersönlich
seine Romane verboten. Er sagte Sonnenkollektoren und Windräder voraus,
Jahrzehnte vor ihrer Zeit. Lernen Sie Andrej Platonov kennen, den Pionier aller Ökopiraten
Der Solarprophet
BÜHNE
SCHAUSPIEL STUTTGART
TSCHEWENGUR
VON ANDREJ PLATONOV
Deutschsprachige Erstaufführung: 22. Oktober 2015
im Schauspielhaus
Der rastlose Ingenieur erkennt die Ursachen der zerstörten Landschaften, sieht in ihnen die Gräber einst blühender Kulturen, die
untergingen, weil sie ihre eigenen Lebensgrundlagen vernichteten. Wie die Verwüstungen anderer Epochen und Kontinente, so
ist auch diese hier von Menschen gemacht:
Zar Peter der Große ließ um Woronesch im
18. Jahrhundert ganze Wälder abholzen, um
Holz für den Schiffbau zu gewinnen und damit die russische Kriegsflotte zu begründen.
Noch während der junge Meliorator die
Schäden sichtet, sitzt ihm die nächste Ökokatastrophe im Nacken. Der Sozialismus mit
seinen Millionen Proletariern, die aus den
Landgebieten in die Städte flüchten, weil sie
dort eine bessere Zukunft ersehnen – eine
junge Wachstumsgesellschaft, hungrig nach
Weizen, Kohle, Stahl und Eisen.
E
in Jahr nach der Begegnung mit
Schklowski, 1926, wird Platonov
seine Arbeit als Meliorator verlieren. Die Erfahrung des Scheiterns
in seinem »Kampf gegen die Wüste« wird
die Grundlage seines literarischen Schaffens. Erlebnisse und Analysen schreibt er
auf, verarbeitet sie in Aufsätzen, Erzählungen – und in seinem Roman. Die Steppe, das
Überleben und der Kampf für eine bessere
Zukunft bleiben seine Themen.
Als Schriftsteller wird er so scheitern wie
als Bewässerungsingenieur. Stalin persönlich erklärt Platonov zur Persona non grata.
Seine Werke dürfen nicht mehr erscheinen.
Die meisten von ihnen bleiben unveröffentlicht, bis zu seinem Lebensende. In literarischen Kreisen jedoch leben seine Texte
im Untergrund weiter. Platonovs Themen
bleiben die Natur, darin der Mensch – mit
seinen Rohstoffe verschlingenden Gesellschaften, die, unterwegs zur nächsten gro­
ßen Utopie, kaum mehr erzeugen als Völkermorde und Wüste.
Was der Club of Rome 1972 »Grenzen
des Wachstums« nennt, bezeichnet Platonov knapp 40 Jahre zuvor – im Duktus
seiner Epoche – als »erste sozialistische
Tragödie«. Im gleichnamigen Essay (1934)
stellt er fest, dass Völkern der Vergangenheit Technologien fehlten, die Natur bis in
ihre tiefsten Tiefen auszubeuten, und das
ist auch gut so , schreibt er, andernfalls
hätten die Menschen die gesamte Natur
längst ausgeplündert, verbraucht, aufgegessen, sich an ihr berauscht, sie ausgesogen bis auf ihre Knochen: Der Appetit
hätte immer gereicht. Nun aber sei der
Zeitpunkt da, wo der Mensch ins Innere der
Erde einzudringen vermag, ohne allerdings
die seelische Reife zu besitzen, mit der Natur verantwortungsvoll umzugehen: Der
Mensch ändert sich langsamer, als er die
Welt verändert. Genau darin besteht das
Zentrum der Tragödie.
Es ist schön und an der Zeit, mit Platonov
den ersten Ökoliteraten des 20. Jahrhunderts
zu entdecken. Anders als viele Zeitgenossen
war Platonov nie einfach nur begeistert
von den neuen Technologien. Dafür saß
sein Schock viel zu tief, ausgelöst durch die
selbst erlebten Verwüstungen. Platonov war
Schriftsteller, Ingenieur und Philosoph in einer Person. Er lud seine Visionen mit Kritik
auf, das macht sie so gültig.
Grenzen des Wachstums? Erste sozialistische Tragödie? Egal, wie wir es nennen, die
globale Herausforderung bleibt: Wachstum
mit Nachhaltigkeit zu verbinden und eine
Perspektive einzunehmen, die länger dauert
als nur ein, zwei Menschenleben.
Wir werden die Sonne brauchen, die
Energie des Wassers, der Winde und fruchtbares Land. Aber selbst, wenn wir uns auf
diesen Pakt mit den vier Elementen einlassen, so wird alles nichts, wenn der Menschheit das fünfte Element fehlt: Zusammenhalt, Liebe, Solidarität. Oder, wie Platonov
es in Tschewengur bezeichnet: Einer muss
vom anderen ablassen. Damit dieser Ort
der Zwietracht, den die Sonne bescheint,
mit dem Stoff der Freundschaftlichkeit
erfüllt wird.
37
BÜHNE
Bruder und Schwester
Was Aino und Martin Laberenz unterscheidet, ist ihr
Temperament. Was sie eint, ist ihr Mut zum Risiko. Ein Besuch
bei den Proben zu Anton Tschechows Komödie Die Möwe
TEXT: KAI SCHÄCHTELE
38
FOTOS: MARTIN SIGMUND
39
BÜHNE
M
an möchte nicht der Stuhl
sein, auf dem Martin Laberenz während einer Probe
sitzt. Auf der Bühne ringt
der Hauptdarsteller Manolo Bertling gerade
um die Liebe einer Frau, die ihn nicht will.
Er schiebt ein Bett auf Rollen, türkisfarbenes
Stahlgestell mit Drahtrost, Typ Feldlazarett,
quer über die abschüssige Bühne. Ruft:
»Nina, ich habe so lange auf dich gewartet.
Die ganze Nacht habe ich geträumt.« Dann
schwingt er das Bett in die andere Richtung
und kommt so auch selbst in Fahrt. »NINA!«
Die Stimme schwillt jetzt zu einem Kreischen an.
Doch Martin Laberenz ist noch nicht
zufrieden. Bertlings Leiden ist ihm nicht
kitschig genug. Er beugt sich vor und
geht dazwischen: »Manolo, du musst das
Schlechtspielen ernst nehmen. Spiel es
aus!« Bertling folgt. Und spielt seine Figur um
Kopf und Kragen. Schreit und fleht wie ein
Kind, das am Rockzipfel seiner Mutter hängt.
Es ist genau das, was Laberenz aus ihm herauskitzeln wollte. Was da an diesem juliheißen Vormittag im Nord, dem Probenzentrum der Staatstheater, passiert, ist mentales
Warmlaufen. Kein Sportler bringt mit kalten
Muskeln Leistung, kein Schauspieler mit
kalten Gedanken.
Je länger die Szene dauert, umso mehr
dreht auch Laberenz auf. Wirft sich zurück
und lacht, wenn Bertling auf die Knie fällt.
Richtet sich wieder auf, wenn Svenja Liesau,
die Angebetete, den Packen Papier, den Bertling ihr zum Beweis seiner Liebe überreicht
hat, von der Bühne schmeißt. »Ja, Svenja!
Gute Idee. Weg damit.« Vor, zurück, mal
halb liegend, mal den Oberkörper aufrecht
gegen die Lehne gedrückt: Zwei Stunden
geht das so. Laberenz ist der Anheizer, der
für die Hitze auf der Bühne sorgt. Sein Stuhl
hat erst Pause, als der 33­Jährige die Probe
unterbricht. Licht. Luft. Danke.
Ein anderer Stuhl hat es dagegen bequem. Auf dem hat Aino Laberenz Platz
genommen. Die ein Jahr ältere Schwester
sitzt am Rand eines langen Tisches, auf dem
Kaffeebecher, Manuskripte und Wasserflaschen verteilt sind. Still sieht sie zu. Manchmal nimmt sie einen Stift in die Hand und
trägt etwas in ihr Skizzenbuch ein. Gucken,
schweigen, zeichnen – das ist alles.
Während der Probe hat es den Anschein,
als mache es keinen Unterschied, ob sie
im Raum ist oder nicht. Doch ihr Anteil am
Gelingen einer Laberenz­Produktion ist ein
entscheidender: Martin ist der Regisseur,
der an die Oberfläche holt, was im Inneren
seiner Schauspieler steckt. Aino ist die Kostümbildnerin, die so lange beobachtet, bis
sie die passenden äußeren Formen gefunden
hat. Gemeinsam mit ein paar Verbündeten
wie Bühnenbildner Volker Hintermeier und
der Musikerin Friederike Bernhardt mischt
das Geschwisterpaar seit einiger Zeit die
deutsche Theaterszene auf. In Stuttgart
das nächste Mal ab Anfang Oktober mit Die
Möwe von Anton Tschechow.
Ein riesiger Spielplatz
Eigentlich lassen sich die Geschwister nicht
gern bei ihrer Arbeit zusehen. Theaterproben sind Schutzräume, in denen es noch bis
ein, zwei Wochen vor der Premiere darum
geht sich auszuprobieren. In dieser Zeit ist
die komplett schwarz gestrichene Halle des
Nord ein riesiger Spielplatz. Die Spielgeräte sind Requisiten, von denen die meisten
später gar nicht zum Einsatz kommen
werden: Koffer, Stühle, Beistelltische, eine
ausgestopfe Möwe. In dieser Zeit werden
weniger einzelne Szene aus dem Stück geprobt als vielmehr der Kosmos erschaffen,
in dem das Stück spielen wird. Oft sitzt die
Crew einfach nur am Tisch und liest aus
dem Stück, unterhält sich aber auch über
aktuelle Politik und Telefonate mit der Oma.
Da sprechen dann alle miteinander: die
Schauspieler und der Regisseur, aber auch
Bühnenbilder, Musiker, Kostümbildner. Solche Runden werden schnell zu ihrer eigenen
Performance. Dafür bedarf es der Intimität,
in der keiner Angst zu haben braucht, sich
zum Affen zu machen.
Die Szene zum Beispiel, in der Manolo Bertling um Svena Liesau kämpft, steht nicht
bei Tschechow. Sie ist das Ergebnis dessen,
wovon Bertling und Liesau glauben, dass
sie sich bei ihren beiden Figuren Kostja und
Nina so entwickeln würde. Angefeuert von
Laberenz, wenn sie auf der richtigen Spur
sind. Zurückgepfiffen, wenn sie sich dabei
verrennen. Und wenn einer singen soll, aber
nicht möchte, weil er meint, dass er das nicht
kann, antwortet Laberenz: umso besser. Genau darum geht’s ja: Grenzen verschieben,
Hemmungen überwinden. Nur so entsteht
das Besondere.
Ihm selbst geht es nicht anders. Er fühle
sich zu Beginn einer Probephase genauso
nackt wie seine Spieler, sagt Martin Laberenz. Er weiß noch nicht, welche Passagen
er aus dem Original übernehmen wird und
welche aus den Szenen, die während der
Probenarbeit entstehen. In seinem zehnköpfigen Ensemble gibt es Schauspieler, mit
denen er noch nie zusammengearbeitet hat
und die vielleicht eine andere Vorstellung
von Theater haben. »Dadurch entsteht ein
ständiger Druck, originell sein zu wollen. Der
bleibt auch lange so. Er verschwindet erst
kurz vor der Premiere, wenn man einmal
alles angefasst hat und anfangen kann, das
Stück zusammenzubauen.«
Dieser Prozess ist für alle Beteiligten eine
Herausforderung. Einmal hatte es Laberenz
mit einem Schauspieler zu tun, der so viele
Geschichten von seiner Herangehensweise
gehört hatte, dass er mit großen Bauchschmerzen zu den Proben kam. »Er fand die
Arbeit dann sehr angenehm«, erzählt Laberenz. »Nicht meinetwegen, sondern, weil er
sah, dass man sich ausprobieren kann und
nicht aufgefordert ist zu funktionieren.«
»Niemand soll schlecht aussehen. Aber ich
bin kein Bestellschein. Manchmal will ich
mit meinen Kostümen auch einen gewissen
Widerstand aufbauen. Es macht mir Spaß,
künstliche Welten zu erschaffen und Figuren
zu überhöhen. Wenn jemand sagt, Rot steht
mir nicht, ich aber einen anderen Eindruck
habe, mache ich erstmal einen Vorschlag.«
Und so wie sie das sagt, braucht man schon
große Widerstandskräfte, um sich ihrem
Charme zu entziehen.
Es gibt ein Grundvertrauen
MARTIN LABERENZ, 33
Seine erste Produktion brachte er
mit 25 am Maxim Gorki Theater
Berlin auf die Bühne, unter der
Intendanz des heutigen Stuttgarter
Schauspielintendanten Armin
Petras. Er hat am Deutschen Theater
in Berlin und am Schauspielhaus
Düsseldorf inszeniert und war unter
der Intendanz von Sebastian Hartmann
Hausregisseur am Schauspiel
Leipzig. Die Möwe ist seine dritte
Regie in Stuttgart, wieder gemeinsam
mit seiner Schwester Aino
Ich will, dass sich jeder wohlfühlt
SIEHST DU WAS, WAS ICH
NICHT SEHE?
Während der Proben haben
Aino und Martin Laberenz
verschiedene Aufgaben: Er
feuert die Schauspieler an,
sie beobachtet vom Rand.
Danach sind sie einander
wichtige Gesprächspartner
40
Von außen betrachtet hat man den Eindruck, als sei Aino Laberenz in vielem das
Gegenteil ihres Bruders. Er gibt die Rampensau, sie sitzt am Rand. Er ist laut und
kräftig, sie zurückhaltend und zierlich, obwohl beide in ihrer Jugend in Wetter an der
Ruhr Zehn- bzw. Siebenkampf betrieben
haben. Man darf ihre Stille aber nicht mit
Teilnahmslosigkeit verwechseln. Sie ist genauso präsent wie ihr Bruder, aber auf eine
andere Weise. Sie will verstehen, wie sich
jemand verhält, wie er spricht und sich bewegt. Dadurch entwickelt sie die Phantasie,
die aus Kostümen mehr macht als Kleidung.
»Ich will, dass sich jeder wohl fühlt«, sagt sie.
AINO LABERENZ, 34
Mit 20 begann sie, am Schauspielhaus
Bochum im Bereich Kostümbild
zu assistieren, fünf Jahre später erhielt sie eine Nennung als beste
Nachwuchskostümbildnerin. Sie hat an
der Berliner Volksbühne, am Wiener
Burgtheater und bei den Bayreuther
Festspielen gearbeitet. In Stuttgart ist
sie zum fünften Mal engagiert
Was die beiden unterscheidet, ist ihr Temperament. Was sie eint, ist die Lust am Spiel,
die Durchsetzungskraft und der Mut zum Risiko. Oft sitzen sie nach den Proben beisammen, sprechen über das, was war, und das,
was daraus werden soll. Und wie bei jedem
Spiel, bei dem das Ergebnis zu Beginn nicht
feststeht, kann auch dieses schief gehen.
So ist es Martin Laberenz vor zwei Jahren
in Dortmund passiert. Wochenlang hatte
er mit dem Ensemble an den Nibelungen
von Friedrich Hebbel geprobt. Doch von Beginn an wollte kein gemeinsames Gespräch
entstehen. »Plötzlich waren alle auf das zurückgeworfen, wovon man glaubte, dass so
Theater funktioniere. Aber reine Wirkungsmechanik kann ich nicht. Ich muss wissen,
warum ich etwas mache.« Wenige Tage vor
der Premiere entschied er, das Ergebnis dem
Publikum nicht zuzumuten. Das Stück wurde
abgesetzt. Er nahm das auf seine Kappe und
hat daraus gelernt: Seinem Bauchgefühl vertraut er heute so strikt wie seine Schwester.
Für ihre tägliche Arbeit habe es keine große Bedeutung, dass sie Geschwister sind, finden beide. Je dichter es auf die Premiere zugeht, umso mehr wird das Überflüssige aus
dem Material gedampft. Da sind die beiden
ständig im Gespräch, doch das gilt genauso für den Bühnenbildner, die Frau an den
Keyboards oder die Schauspieler. Ihre Verwandtschaft macht sich auf anderen Ebenen
bemerkbar. »Es gibt ein Grundvertrauen, um
das man sich nicht kümmern muss«, sagt
Martin. »Wenn es in Phasen geht, in denen
man wütet, gehe ich als Schwester zu ihm
und rede mit ihm, weil es mir völlig wurscht
ist, wenn ich alles abkriege«, sagt Aino. Wie
es sich für eine große Schwester gehört.
SCHAUSPIEL STUTTGART
DIE MÖWE
VON ANTON TSCHECHOW
Premiere: 2. Oktober 2015
im Schauspielhaus
41
BACKSTAGE
Catriona Smith und
Martí Fernandez Paixa
in der Kantine der
Staatstheater Stuttgart,
die während der Spielzeit
auch fürs Publikum
geöffnet ist
Smith Das geht mir genauso. Und dieses
Gefühl wird mit den Jahren immer stärker. Es
ist wirklich erstaunlich: Die Leute kommen
hier an, manche nur für ein paar Monate,
und alle sagen irgendwann: »Ich weiß nicht,
woran es liegt, aber irgendwas hat Stuttgart,
was es besonders macht.« Die Leute sind
so freundlich, alles wird ohne Stress und
Aufregung erledigt. Das schafft eine sehr
entspannte Atmosphäre, in der sich jeder
schnell geborgen fühlt.
Mailand
KANTINENGESPRÄCH
Irgendwas hat Stuttgart,
was es besonders macht
POST AUS
Jeden Mittag kommen Künstler aus 50 Nationen zum Essen.
Zwei davon sind Catriona Smith und Martí Paixa. Sie haben
sich hier sofort zu Hause gefühlt - auch wegen des Publikums
Frau Smith, Sie sind Schottin und kamen
1991 nach Stuttgart. Wie war der Start?
Catriona Smith Ich dachte, es würde relativ einfach werden. Ich wurde in Hannover
geboren, weil mein Vater mit dem britischen Militär dort stationiert war. Deshalb
kannte ich auch ein bisschen was von der
Sprache. Aber man sagte mir: »Da unten im
Süden wirst du kein Wort verstehen.« Das
war anfangs eine Barriere. Manchmal saß
ich still daneben und die Leute dachten, ich
sei schüchtern.
Im Juli war Manja Kuhl in Mailand.
Dort führte sie gemeinsam mit vier
Schauspielkollegen 5 morgen von Fritz
Kater auf. Ihre Postkarte zeigt beinahe
alle Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Was fehlt, ist das Piccolo Teatro, wo
das Stuttgarter Ensemble gastierte: Bei
seiner Eröffnung 1947 war es das erste
Staatstheater Italiens. Heute ist es eine
der wichtigsten Bühnen Europas
Fotos: Arthur Zalewski; Martin Sigmund
Herr Paixa, Sie kommen aus Spanien.
Wie war es bei Ihnen?
42
Hat das auch etwas mit dem Stuttgarter
Publikum zu tun?
Martí Paixa Die Sprache ist auch bei uns
ein Thema. Die Tänzer kommen aus der ganzen Welt, untereinander reden wir nur Englisch, es ist die einzige gemeinsame Sprache.
Wir haben gar keine Gelegenheit, Deutsch
zu lernen. Man müsste Privatstunden nehmen oder abends lernen. Aber da ist man
meistens so müde, dass man sich einfach
nur ausruhen möchte.
Smith Das ist in der Opernwelt etwas einfacher, weil man von Beginn an viele Rollen
in deutscher Sprache einstudiert. Da gibt es
immer jemanden, der hilft. Als ich ankam,
haben zwei Kollegen gesagt: »Wir werden
nur Deutsch mit dir reden.« Und sie waren
wirklich konsequent. Das half eine Menge.
Wann hatten Sie das Gefühl, in der Stadt
wirklich angekommen zu sein?
Smith Als meine Kinder zur Welt kamen.
Man muss sich um Kindergärten kümmern,
später um die Schule. Damit kommt man
automatisch mit vielen Menschen in Kontakt. Dafür bist du wohl noch etwas jung,
Martí.
Paixa Das macht aber nichts. Ich fühle
mich hier trotzdem wohl. Ich habe hier viele
nette Leute kennengelernt. Stuttgart bietet
für junge Leute, aber auch für alte ... Oh, sorry, Catriona ...
Smith Sag es ruhig: für die Großmütter.
(Beide lachen.)
Paixa ... tolle Möglichkeiten. Du kannst in
Museen gehen, es gibt schöne Bars, in denen
man sich mit Freunden treffen kann. Und obwohl es erst meine erste Saison ist, ist das
Opernhaus schon jetzt mein Zuhause.
Smith Ja. Ich habe in vielen Häusern auf der
ganzen Welt gesungen, Stuttgart ist wirklich
einzigartig. Das gilt für alle drei Sparten. Die
Leute kennen die Sänger, die Schauspieler
und die Tänzer. Sie verfolgen deine Karriere,
sie unterstützen dich. Man merkt: Sie sind
wirklich für dich da. Das gibt dir einen Anreiz, dich stetig zu verbessern.
Paixa Bei uns sitzen Menschen im Publikum, die schon seit Jahrzehnten zu uns
kommen. Inzwischen nicht nur mit ihren
Kindern, sondern sogar mit ihren Enkeln.
Diese Atmosphäre überträgt sich natürlich
auch auf die Bühne.
Geht das soweit, dass Sie Stammgäste erkennen, wenn Sie auf der Bühne stehen?
Paixa Nein, dafür sitzt das Publikum zu
weit weg. Aber wenn beim Schlussapplaus
Leute Bravo rufen, erkennt man diejenigen,
die regelmäßig kommen, an ihren Stimmen.
Paula Heller
CATRIONA SMITH, 51, ist seit
1991 im Ensemble und seit 2003
Kammersängerin der Oper Stuttgart. Die Sopranistin sang unter
anderem die Gilda aus Rigoletto
sowie die Susanna und Contessa
in Le nozze di Figaro
MARTÍ FERNANDEZ PAIXA, 19,
kam 2011 an die John Cranko
Schule, wurde in der Spielzeit
2014/15 Eleve des Stuttgarter
Balletts und tanzt ab September
2015 im Corps de Ballet
43
BACKSTAGE
IN DER PROBE
Der Charmebuckel
Beim Besuch der Generalprobe zu Rigoletto ist der Kulturmanager Johannes Ellrott
überrascht, wie locker die Atmosphäre im Opernhaus ist. Doch dann erlebt
er, wie der Hauptdarsteller Markus Marquardt den ganzen Saal am Kragen packt
Kostüme hängen im Fundus
Liter Flüssigseife
der Staatstheater
Baujahr der Violine von Carlo
Antonio Testore. Die Geige ist
damit das älteste Instrument, das im Orchester zum Einsatz
kommt
HAUSBERICHT
44
Einblick. »Das ist schon etwas Besonderes: Es ist ein viel
lockererer Rahmen als bei einer Vorstellung. Aber sobald
das Licht ausgeht, ist dieses Gefühl völlig weg.«
Zweieinhalb Stunden später steht Ellrott in der Garderobe, dort, wohin sonst niemand Zutritt hat, der nicht
zum Opernbetrieb gehört. Jede Menge Menschen wuseln
herum, doch Markus Marquardt steht mittendrin und
strahlt. Die Probe ist gut gelaufen. Gerade noch war der
45­Jährige ein Bär von Mann mit aufgeschnalltem Buckel auf dem Rücken und der Verzweiflung eines Vaters,
der um seine Tochter kämpft. Jetzt ist er ein Charmebolzen, den nur der Hunger quält.
Doch bevor Ellrott ihn entlässt, will er noch ein paar
Dinge wissen. Es gab da diese eine Szene, in der Marquardt mit seiner Tochter kämpft, erst wie ein Boxer mit
erhobenen Fäusten, dann wie ein Karatekid, mit dem
rechten Knie auf Brusthöhe – wie läuft so etwas? Geben
das die Regisseure vor? »Nein«, antwortet Marquardt.
»Man bietet an und der Regisseur sagt: ›Gekauft.‹ oder
›Nicht gekauft‹. Gerade hier haben wir sehr viel Freiraum. Dieser Kampf hat den Sinn, mit der dramatischen
Atmosphäre zu brechen.« Das Gespräch dauert noch
länger. Die beiden unterhalten sich über das Leben eines
Opernstars, der öffentliche Verkehrsmittel meidet (wegen der Viren) und bei Gastspielen immer seine Pfanne
dabei hat (wegen des Teflons). Da öffnet sich die Tür, ein
Mitarbeiter steckt den Kopf herein und sagt: »Markus,
Jossi wartet.« Die letzte Besprechung vor der Premiere.
Da muss der Hunger noch etwas warten. Paula Heller
OPER STUTTGART
RIGOLETTO
VON GIUSEPPE
VERDI
Paar Spitzenschuhe
werden in einer Spielzeit
von den Damen der BallettCompagnie zerschlissen
Die Staatstheater Stuttgart in Zahlen
wieder im Repertoire
ab 27. April 2016 im
Opernhaus
Kilometer ist die weiteste
Entfernung zwischen dem
Heimatort eines Künstlers und
Stuttgart. Daniel Camargo,
Erster Solist des Stuttgarter
Balletts, stammt aus Sorocaba
bei São Paulo
Mitarbeiter sind an den Staatstheatern
Stuttgart beschäftigt
Möchten auch Sie
einmal einen Blick
hinter die Kulissen
einer Probe von Oper,
Ballett oder Schauspiel werfen? Dann
bewerben Sie sich
unter reihe5@staats
theater-stuttgart.de
Fotos: Martin Sigmund
Z
ehn Minuten bis zum Beginn der entscheidenden Probe und die Orchestermusiker
sitzen in Straßenkleidung im Graben und
plaudern, als wären sie beim Kaffeeklatsch.
Im Zuschauerraum des Opernhauses, genau über Reihe
6, steht noch das große Regiepult, darauf Computerbildschirme, Mikrofone, Kaffeebecher und Papier. Es ist das
letzte Relikt einer Probephase, an deren Beginn die Idee
stand, Rigoletto auf eine neue Weise zu zeigen. Die berühmte Oper von Giuseppe Verdi erzählt die Geschichte
eines Hofnarren, der von der Welt verspottet wird, rebelliert und am Ende den Tod seiner Tochter Gilda zu verantworten hat. Entspannt warten die beiden Regisseure
Jossi Wieler und Sergio Morabito auf den Beginn der
Probe. Sie wollen ihren Rigoletto in aller Tragik zeigen,
aber auch mit der grotesken Komik, die schon in der
Dramenvorlage von Victor Hugo angelegt ist – an die
sich viele Inszenierungen aber nicht herantrauen.
Der Saal verdunkelt sich, der Vorhang geht auf und
die legere Probenatmosphäre löst sich unmittelbar auf
in der Konzentration des letzten Durchlaufs. Das Orchester setzt ein, der Chor beginnt zu singen und spätestens als Markus Marquardt in der Rolle des Rigoletto
die Bühne betritt, ist das Publikum gefangen – von einer
Stimme, deren Kraft jeden der etwa 100 Probenzuschauer am Kragen packt. Einer davon ist Johannes Ellrott. Er
erlebt gerade seine erste Generalprobe. Der 27­Jährige
geht in die Oper, seit ihn seine Eltern als Kind mitgenommen haben. Doch noch nie hatte er einen solchen
Da kommt
was
zusammen
Zeichnungen: Lisa Fuß
»Das ist schon etwas Besonderes.« – Johannes Ellrott über die Generalprobe. Danach traf er die Sänger Markus Marquardt und Daniel Kluge
werden in der Oper
und im Schauspielhaus pro Spielzeit
verbraucht
Getränke werden während
der Pausen der Vorstellungen
in Opernhaus und Schauspielhaus verkauft
Butterbrezeln
werden je Spielzeit konsumiert
Euro beträgt das Jahresbudget
der Staatstheater Stuttgart
45
Reihe 5 im Abo!
BACKSTAGE
MEIN ARBEITSPLATZ
Das Adrenalin steigt
manchmal sonst wohin
Kostenlos und viermal im Jahr
bieten wir Ihnen noch mehr
Geschichten vor, auf und hinter
der Bühne.
Benno Brösicke ist Technischer Leiter am Kammertheater.
Sein Job besteht zum Großteil aus Planung. Sein wirkliches
Können beweist er, wenn etwas schiefgeht
Herr Brösicke, was macht ein
Technischer Leiter?
shops. Wir betreiben hier Zukunftsarbeit.
Ich trage die Verantwortung für alles, was
auf der Bühne passiert: Technik, Beleuchtung, Requisite, Ton, Video. Es gibt dafür
jeweils einen eigenen Mitarbeiter, aber bei
mir laufen die Fäden zusammen. Außerdem
bin ich für die technische Sicherheit auf der
Bühne verantwortlich. Das fängt schon bei
der Planung an. Ein neues Bühnenbild muss
immer auf seine Machbarkeit geprüft werden. Diesen Prozess begleite ich von der ersten Besprechung bis zur Premiere. Und wenn
eine Produktion auf Gastspielreise geht, plane ich den Transport mit den Betriebsbüros
von Oper, Ballett und Schauspiel. Manchmal
reise ich auch mit.
So ist es. Obendrein sitzt das Publikum hier
sehr nah an der Spielfläche. Dadurch können
sich die Zuschauer besonders gut in das Geschehen einfühlen.
Und machen Theater zum Anfassen.
Manchmal wollen zwei Sparten gleichzeitig
bedient werden, da wird es dann schon mal
schwierig. Meistens bin ich unterwegs: auf
der Bühne, im Lager oder auf der anderen
Straßenseite im Haupthaus.
Was passiert auf der Bühne des
Kammertheaters?
Der gelernte Mess- und Regeltechniker
BENNO BRÖSICKE, 59, reiste 1989 auf Einladung von Verwandten in Stuttgart aus
der DDR aus und kehrte nicht mehr zurück.
Die wenigste Zeit verbringt der Technische
Leiter des Kammertheaters heute im Büro.
Viel lieber ist er dort, wo Theater wirklich
passiert: im Lager oder auf der Bühne
IMPRESSUM
Herausgeber
Die Staatstheater Stuttgart
Geschäftsführender Intendant
Marc-Oliver Hendriks
Intendant Oper Stuttgart
Jossi Wieler
Intendant Stuttgarter Ballett
Reid Anderson
Intendant Schauspiel Stuttgart
Armin Petras
46
Das Besondere ist, dass wir für alle drei
Sparten da sind und vor allem ein junges
Publikum zu uns kommt. Das Ballett nutzt
die Bühne für öffentliche Trainings und den
sogenannten Blick hinter die Kulissen. Dann
sind Tische wie bei einem Café aufgebaut
und Choreographen und Tänzer geben Einblicke in ihre Arbeit. Auch die Junge Oper
nutzt die Bühne für Aufführungen und Work-
Konzept ErlerSkibbeTönsmann &
Grauel Publishing GmbH
Mitarbeit: Kai Schächtele
Beratung der Herausgeber
Johannes Erler, Ralf Grauel
Redaktion Kai Schächtele (Leitung),
Uwe Killing; Christoph Kolossa
Redaktion für Die Staatstheater
Stuttgart Thomas Koch, Claudia
Eich­Parkin (Oper); Vivien Arnold,
Ronja Ruppert (Ballett); Rebecca
Rasem, Jan Hein (Schauspiel Stuttgart)
Gestaltung Anja Haas; Inga Albers
Schlusslektorat Isabelle Erler
Anzeigen Simone Ulmer
[email protected]
Druck Bechtle Druck&Service GmbH,
Esslingen
Redaktionsschluss 7. September 2015
Erscheinungsweise 4 × pro Spielzeit
Hausanschrift
Die Staatstheater Stuttgart
Oberer Schlossgarten 6, 70173 Stuttgart
www.staatstheater-stuttgart.de
Mich hat das Theater von Beginn an gefesselt. Ich liebe Musiktheater, ich liebe den
Tanz. In meinem vorherigen Job als Bühnentechniker habe ich viele schöne Inszenierungen miterleben können und auch intensiv
daran mitgearbeitet.
Manchmal passieren ja auch Pannen.
Gibt es welche, die Ihnen in Erinnerung
geblieben sind?
Da ist eine Situation bei der Götterdämmerung von Richard Wagner. Es gab eine
große Box, bei der an einer Seite Planen
wie ein Raffrollo hoch und runter gezogen
wurden. Während einer Vorstellung war die
Seilführung beschädigt worden, eine Plane
bewegte sich nicht. Und blieben nur zwei,
drei Minuten. Wir mussten ganz schnell weitere Techniker rufen, gemeinsam haben wir
die Plane mit extrem viel Kraftaufwand nach
oben gezogen. In so einem Moment steigt
der Adrenalinspiegel natürlich sonst wohin.
Fehlt Ihnen dieser Thrill heute?
Nein, den habe ich hier auch. Es ist zwar alles überschaubarer, aber die Aufregung bei
einer Neuproduktion gibt es genauso. Da
spielt es keine Rolle, ob 1 400 Menschen im
Publikum sitzen oder 200.
Fotos: Martin Sigmund
Klingt nach viel Organisation.
Was mögen Sie an Ihrem Job?
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Per Post an:
Die Staatstheater Stuttgart – Publikationen
Postfach 10 43 45, 70173 Stuttgart
Hauptsponsor des
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Förderer des
Stuttgarter Balletts
Partner der
Oper Stuttgart
Online unter:
www.staatstheater-stuttgart.de/reihe5
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zu bieten hat. Vom Automobil bis zu
klassischer und moderner Malerei:
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