Reihe 5 Das Magazin der Staatstheater Stuttgart Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett / Schauspiel Stuttgart Si Ei e fli n H ege ef t ü n ho be ch rH .U el nd de n fall en tie f. Nr.1 Sept – Nov 2015 EDITORIAL SCHWERPUNKTTHEMA HELDEN Dieses Zeichen weist den Weg: zu einem außergewöhnlichen Menschen, einer großen Geschichte und bemerkenswerten Leistung – zu einem Helden, einer Heldin eben Die Büste des Ex-NSA-Mitarbeiters EDWARD SNOWDEN stellten Künstler im New Yorker Fort Greene Park auf. Dort stand sie nicht lange. Die Stadtverwaltung ließ das Ehrenmal innerhalb eines Tages entfernen www.porsche.de Des einen Held ist des anderen Dämon – je nach Blickrichtung Barbara Korte (Seite 20) Wenn das Leben eine Bühne ist, sollte man jeden Tag darauf tanzen. Sehr geehrte Leserinnen und Leser, Porsche ist stolz auf die erfolgreiche Partnerschaft mit dem Titelmotiv: Vincenzo Fagnani Foto: picture alliance/AP Photo Stuttgarter Ballett und wünscht Ihnen stets erstklassige Unterhaltung. Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 6,9–6,7 · außerorts 5,9–5,7 · kombiniert 6,3–6,1; CO2-Emissionen 164–159 g/km herzlich willkommen in Reihe 5, dem neuen Magazin der Staatstheater Stuttgart. Wieso Reihe 5? Im Stuttgarter Opernhaus befinden sich die besten Plätze, bezogen auf Sicht und Akustik, in der Mitte der fünften Reihe. Und genau dies möchten wir ab sofort in jeder Ausgabe machen: Wir platzieren Sie in unserer Mitte. Und laden Sie vier Mal im Jahr ein zu erleben, was bei uns passiert. Auf den Bühnen, hinter den Kulissen und in den Köpfen der Menschen, die sich das alles ausdenken und es inszenieren, bauen und aufführen. Alle Künste – und so auch Oper, Ballett und Schauspiel – sind Gespräche mit ihrer Zeit. Jede Ausgabe von Reihe 5 widmet sich daher einem Schwerpunktthema. Das aktuelle entstand so: Für die Spielzeit 2015/16 inszenierte das Stuttgarter Ballett seine Tänzer als Superhelden (Seite 6) und produzierte sogar einen Comic (ab Seite 32)! Diese Idee fanden wir so spannend, dass wir intern sofort begannen, über Helden nachzudenken und die Frage, was sie uns heute eigentlich bedeuten. Kaum eine Geschichte, die ohne Helden auskommt. Sie sind Treiber, Getriebene, Randgestalten. Sie erweitern unseren Spielraum, verschieben Grenzen, leisten Großes – und erdulden oft Unerträgliches. Das macht sie zu Arche­ typen des Dramas – und zu Akteuren der Veränderung. Lesen Sie im Interview mit der Freiburger Literaturwissenschaftlerin Barbara Korte, was Edward Snowden, Fidelio, Boris Becker und Peter Pan mitein­ ander gemein haben (ab Seite 20). Reihe 5 möchte Sie als Leser nicht nur bestmöglich platzieren, sondern auch integrieren. Sie finden in diesem Heft daher immer wieder Orte, an denen Menschen aus Stuttgart Menschen aus Oper, Ballett und Schauspiel begegnen – und befragen. Sie haben eine Frage? Möchten eine Probe besuchen? Einen Künstler treffen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: [email protected]. Wir freuen uns auf Sie! Die Staatstheater Stuttgart 3 INHALT 19 In der Rolle von 3 Editorial 4 Inhalt Der Countertenor Iestyn Morris singt Peter Pan FOYER 6 12 Mein Akkord Bilder 12 Momente 13 Das Requisit 14 Mit Kirill Serebrennikov kommt der unbequemste Regisseur Russlands nach Stuttgart, um die Salome zu inszenieren Zufrieden ist Roman Novitzky mit sich nie. Nur deshalb schaffte der Tänzer den Sprung von Bratislava nach Stuttgart Die Lieblingsstelle des Solohornisten Philipp Römer 16 18 Mein Weg 20 Alles, außer gewöhnlich Junge Seite Für Mädchen, Jungs, Knirpse – und andere Besucher, die schon mehr als drei Käse hoch sind Wodurch Menschen wie Muhammad Ali zu Helden werden BÜHNE 20 36 Das Gespräch Barbara Korte kennt den Stoff, aus dem Helden sind 32 Flug ins Ungewisse Die Tänzer des Stuttgarter Balletts bei ihrem wichtigsten Einsatz 38 Zwei Seiten einer Familie Die Geschwister Aino und Martin Laberenz im Porträt Schau nie zurück Als Bert Neumann erzählte, was er sich für den Fidelio in Stuttgart ausgedacht hatte, ahnte niemand, dass diese Bühne eine seiner letzten sein würde 30 Andersons Zeitreise Zu seinem 20­jährigen Jubiläum hat Ballettintendant Reid Anderson die Perlen des Repertoires zu einem einzigartigen Abend verbunden 32 Superhelden! Nur gemeinsam können die 13 Tänzer des Stuttgarter Balletts ihre Welt retten 36 Der Solarprophet Zu Lebzeiten wurde Andrej Platonov von Stalins Machtapparat zensiert. Heute sind seine Visionen zeitgemäßer denn je 38 Bruder und Schwester Wie Aino und Martin Laberenz Theater entstehen lassen 4 BACKSTAGE Fotos: Christoph Kalscheuer; Sasa Zivkovic; Martin Sigmund; picture-alliance / dpa; shutterstock; Lisa Fuß 24 Zur Sonne, zur Freiheit 42 Die visionären Thesen des Russen Andrej Platonov Post aus Das Schauspielensemble war für ein Gastspiel in Mailand und schrieb ein Kärtchen 43 Kantinengespräch Kammersängerin Catriona Smith und der Tänzer Martí Paixa reden über Stuttgart 44 In der Probe Der Stuttgarter Johannes Ellrott erlebt als Zaungast seine erste Generalprobe: Rigoletto 45 Hausbericht Mein Arbeitsplatz 45 Impressum Fakten aus Oper, Ballett und Schauspiel Zahlen und Fakten aus der Produktion 46 Der Technische Leiter des Kammertheaters Benno Brösicke über den Reiz seines Jobs 46 Die Spielzeit in Zahlen 5 FOYER The Making of a Superhero 6 Foto: Bernd Weisbrod Für eine Fotoserie verwandelten sich im Frühjahr die dreizehn Ersten Solisten des Stuttgarter Balletts in Superhelden. Jeder erhielt eine Identität, zugeschnitten auf seine tänzerischen Fähigkeiten. Hier: Erster Solist Jason Reilly als Captain Fantastic. Zu sehen sind diese Ausnahmeerscheinungen im Jahresheft der Staatstheater, auf www.stuttgarter-ballett.de, fast jeden Abend auf der Bühne – und auf Seite 32 als Comicfiguren 7 FOYER © 2013 by Emilio Pomàrico, Paris Senden und empfangen »Als Komponist kann ich nur versuchen, den Menschen ihre verborgenen – und verbogenen – Antennen und damit ihr kreatives Potenzial bewusst zu machen«, sagt Helmut Lachenmann. Am 27. November wird der gebürtige Stuttgarter 80 Jahre alt – er gehört zu den bedeutendsten lebenden Komponisten Deutschlands. Vom 7. November bis zum 7. Dezember können Sie Ihre Antennen nach ihm ausrichten. Die Frequenz heißt: Lachenmann-Perspektiven 8 9 FOYER Ein weltberühmter Künstler und seine Frau werden vor dieser Skulptur stehen, verzweifelt, denn ihr Kind ist krank und ihre Leben, ihre Liebe drohen daran zu zerbrechen. Eine Szene aus dem Episodenstück Buch (5 ingredientes de la vida) von Fritz Kater, inszeniert von Armin Petras. Die Themen: Utopie, Phantasie, Liebe und Tod, Instinkt, Sorge. Die Premiere in Stuttgart findet am 6. November statt 10 11 Foto: Fabian Iberl Woraus das Leben ist FOYER Im Täuschungsmanöver Mein Moment »In Endstation Warum darf man backstage nicht pfeifen? MICHAEL ZIMMERMANN, 49, Bühnenoberinspektor und seit 1987 bei den Staatstheatern Stuttgart, antwortet: Vor ungefähr 150 Jahren entdeckte man Gas als Lichtquelle. Nach und nach wurden nicht nur Privathaushalte mit Gasleitungen ausgestattet. Auch in den Theatern löste es die Kerzen ab. Gas macht aber nicht nur Licht, es kann auch schnell entflammen. Deshalb war es so wichtig, die zahlreichen Leitungen ständig zu kontrollieren, gerade im Theater, wo auch heute noch viel Holz und Stoff verarbeitet wird. Da Gas früher noch nicht mit Geruchsstoffen versetzt war, reichte eine gute Nase nicht aus, um Lecks in den Leitungen aufzuspüren. Ein untrügliches Zeichen für ausströmendes Gas war ein Pfeifton. Damit nicht unnötigerweise Alarm geschlagen wurde, war es strengstens untersagt, hinter der Bühne zu pfeifen. Gasleitungen gibt es heute längst nicht mehr, das Pfeifverbot hat aber überlebt. Wenn Sie wie JULIA SCHENKENHOFER auch eine Frage haben, dann schreiben Sie uns eine E-Mail an [email protected] 12 Sehnsucht von John Neumeier tanze ich die Rolle der Blanche DuBois. Am Ende eines schmerzhaften Weges ist sie in der Psychiatrie gelandet. Wenn der Vorhang aufgeht, stehe ich allein auf der Bühne, hart wie kalter Stein. Langsam beginne ich zu atmen, die Musik setzt ein und alle Erinnerungen fließen aus mir heraus. Sie ist eine der schwierigsten Rollen im Stuttgarter Repertoire. Ich habe immer davon geträumt, sie einmal zu tanzen.« Das Requisit Im Fundus der Staatstheater Stuttgart stehen pinke Plastikflamingos, Möbel aus der Zeit, als in Deutschland noch Kaiser regierten, und eine Betonmischmaschine. Wenn bald ein elektrischer Rasierer in diese Reihe aufgenommen wird, dann hat das einen guten Grund. Den hat das Regieteam Hofmann&Lindholm gefunden: In der Stadtrauminszenierung Familie Weiß wird das Leben einer fiktiven Familie simuliert. Die Idee kam den Konzeptkünstlern, als Lindholm im Bad des Kölner Ateliers einen Rasierapparat laufen ließ, aus dem Gebäude ging und so seine Anwesenheit vortäuschte. Was wäre, wenn wir auf diese Weise das Zusammenleben einer ganzen Familie nachahmen? Mit Geräten, Geräuschen, Licht, Radio, ALICIA AMATRIAIN ist Erste Solistin des Stuttgarter Balletts. In Endstation Sehnsucht ist sie am 24. und 25. September 2015 im Schauspielhaus zu sehen Zu ihr gehen mit all diesen Trollen als Schergen? Reden und doch schweigen, beichten und doch bergen? Mein Akkord »Eine meiner Lieblingsstellen stammt aus dem 4. Satz der 1. Sinfonie von Johannes Brahms. Nach zweieinhalb Minuten wird es sehr ruhig und die Sinfonie nimmt mit einem leuchtenden Alphorn-Ruf ihre große Wendung von c-moll nach C-Dur. Brahms hat diese Melodie einmal als Gruß an Clara Schumann geschickt, unterlegt mit dem Text »Hoch aufm Berg, tief im Thal, grüß ich Dich viel tausendmal!« Meine Szene »Ich konfrontiere hier Edgar Selge als Peer Gynt: Er hat mit einer Trollin ein Kind gezeugt, will nun aber zurück zu seiner Frau Solvejg. Was mich daran interessiert, ist die Frage, wie viel Wahrheit wir zu ertragen imstande sind. Welche Maßstäbe legen wir an andere an? Wie weit werden wir ihnen selbst gerecht?« CD­Player, Fernseher, Zahnbürsten – und eben auch einem elektrischen Rasierapparat? In einer Wohnung an einem geheimen Ort irgendwo in Stuttgart werden sie diese Idee acht Wochen lang in die Tat umsetzen, in Kooperation mit der Akademie Schloss Solitude und dem Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Nach festgelegten Handlungsanweisungen werden Bürgerinnen und Bürger als sogenannte »Komplizen« so tun, als lebte dort eine Familie Weiß: den Wasserhahn aufdrehen, ohne sich zu waschen. Das Küchenlicht anschalten, ohne sich an den Tisch zu setzen. Und den Rasierapparat laufen lassen. Das Publikum kann das fiktive Wohnen über Bildschirme verfolgen. Oder noch besser: eine E-Mail an [email protected] schicken und von 2. Oktober bis Ende November als Komplizen selbst an der Simulation teilnehmen. Warum so ein Experiment? Es geht um die Grenzen zwischen privat und öffentlich. In einer Zeit, in der die überwachungsfreie Privatsphäre zu einem hohen Gut geworden ist und sich gleichzeitig Wohnungen in terroristische Keimzellen verwandeln können, wollen die beiden Künstler herausfinden, wo das Private endet und das Öffentliche beginnt. Und wie die Nachbarn reagieren, wenn sie merken, dass das Leben nebenan nur eine Täuschung war. FAMILIE WEISS – EINE STADTRAUMINTERVENTION von Hofmann&Lindholm Ab 2. Oktober bis Ende November 2015 in Ihrer Nachbarschaft Livestream täglich ab 17 Uhr im Foyer Schauspielhaus JULISCHKA EICHEL ist eine der Hauptdarstellerinnen in Peer Gynt. Ab 17. Oktober 2015 im Schauspielhaus Die Herausforderung für mich als Hornist ist es, einen möglichst großen Klang zu erzeugen, der aber nicht schmettern darf. Und wenn sich der Dirigent ein sehr langsames Tempo wünscht, kann zum Schluss die Luft knapp werden.« PHILIPP RÖMER ist Solohornist des Staatsorchesters Stuttgart. Die Sinfonie von Brahms wird im Rahmen des 1. Sinfoniekonzerts am 11. und 12. Oktober 2015 in der Liederhalle gespielt Fotos: Hannah Rosenkranz; Stuttgarter Ballett; shutterstock JULIA SCHENKENHOFER, 31, freie Journalistin aus StuttgartUntertürkheim, fragt: 13 FOYER KIRILL SEREBRENNIKOV: »Auf die alte Sowjetideologie reagiere ich mit der Kraft eines Panzers« Der fliegende Holländer Komponist: Richard Wagner Deutschland, 1841 MEIN WEG Der Querkopf Wach, kraftvoll, mutig: Mit Kirill Serebrennikov kommt der unbequemste Regisseur Russlands nach Stuttgart, um die Oper Salome zu inszenieren 14 Der junge Wilde kommt 2001 so doch noch in Moskau an. Er inszeniert an den renommierten Häusern, profiliert sich als international gefragter Kostümbildner und macht sich als Regisseur und Festivalgast in ganz Europa einen Namen. Bei den Filmfestspielen in Venedig wird sein Film Betrug 2012 für den Goldenen Löwen nominiert. Seit drei Jahren konzentriert er sich ganz auf seine Arbeit als Direktor des Gogol Centers. Das Haus gehört zu den wenigen unabhängigen Kultureinrichtungen der Hauptstadt. Es ist ein Labor der tabulosen Freiheit, das Serebrennikov vehement verteidigt. »Ich reagiere sofort, wenn etwas nach alter sowjetischer Ideologie riecht, und wenn es sein muss, mit der Kraft eines Panzers.« Zur Ruhe kommt der Buddhist und Yoga­Anhänger immer wieder in Berlin, wo er seit 2008 seinen Zweitwohnsitz hat. Für die Salome von Richard Strauss unterbricht er diese Reise gern. »Sie ist eine der spannendsten Frauenfiguren der Operngeschichte«, sagt er. »Das hat mich sehr inspiriert.« Uwe Killing SALOME von Richard Strauss Premiere am 22. November 2015 im Opernhaus 1969 Rostow am Don Russland 2001 Moskau Russland Bühnenreif. Made in Germany. Die LBBW ist Partner der Oper Stuttgart. 2008 Berlin Deutschland Foto: Dominique Brewing K irill Serebrennikov ist Anfang 20 und studiert Physik, als ihn in seiner Geburtsstadt Rostow am Don die Erschütterungen treffen. »Als Kind der Perestroika habe ich alles aufgesogen, was auf einmal zugänglich war: verbotene Literatur, westliche Kunst, vor allem Filme.« Euphorisiert reist der Sohn eines Chirurgen nach Moskau, bewirbt sich an der Filmhochschule, wird abgelehnt. Doch er kehrt mit der Gewissheit zurück: Die Welt der Formeln wird nicht seine bleiben. Heute zählt der 46­Jährige zu den profiliertesten Theater- und Filmemachern sowie Oppositionellen Russlands. Er setzt die subversive Kraft der Fantasie gegen Nationalismus, Zensur und Homophobie. Die Industriestadt Rostow entpuppt sich als idealer Nährboden. Serebrennikov tobt sich aus im Uni­Theater, auf lokalen Bühnen und als TV-Regisseur. Mit dem Forschergeist eines Physikers taucht er in die Figuren ein. Wer Serebrennikov heute bei Proben beobachtet, spürt noch die Anarchie der Anfänge: Seine kräftige Statur ist in Bewegung, er singt und berserkert inmitten seines Ensembles. Seine unakademische Ästhetik entwickelt sich aus Improvisation und impulsiver Körperlichkeit. Die Musik von Richard Wagner begeistert ein internationales Publikum. So wie die Oper Stuttgart, die in der jüngeren Vergangenheit mehrfach zum Opernhaus des Jahres gewählt wurde. Die Landesbank Baden-Württemberg wünscht ihrem langjährigen Partner für die neue Spielzeit viel Erfolg. Als verlässlicher Finanzdienstleister unterstützen wir unsere Partner und Kunden kraftvoll und ideenreich. Weitere Informationen unter www.LBBW.de Landesbank Baden-Württemberg FOYER ROMAN NOVITZKY ist nicht nur ein ungemein vielseitiger Tänzer. Er macht auch hochästhetische Fotos von seinen Kollegen MEIN WEG Der Perfektionist Mit seiner Leistung ist Roman Novitzky nie ganz zufrieden. Nur deshalb hat er es bis zum Ersten Solisten des Stuttgarter Balletts gebracht 16 gelangte er auf ähnliche Weise: unbeschwert und ohne Krampf. In Bratislava stieg er bald zum Ersten Solisten auf. Die Möglichkeiten, sich weiter zu verbessern, waren ausgereizt. Für jemanden wie ihn eine Marter. Als ihm seine heutige Freundin, ebenfalls aus der Slowakei stammend, von einem öffentlichen Vortanzen in Stuttgart erzählte, reiste er kurzerhand an. Wieder, ohne die Sache zu ernst zu nehmen. »Ich war überzeugt, dass ich keine Chance hatte«, erzählt er. »Ich dachte, dieses Niveau würde ich nie erreichen.« Sein Bestes gab er trotzdem. Mit 24 Jahren packte er die Koffer, verließ Familie und Freunde und zog nach Stuttgart. Dass sich die Tänzer hier jeden Tag gegenseitig zu Höchstleistungen antreiben, setzt seinen Ehrgeiz unter eine Art Dauerfeuer. Vor zwei Jahren schaffte er es im Rahmen des Made in Germany-Abends mit seiner eigenen Choreographie sogar auf die große Bühne. In Are you as big as me? tanzten drei Mitglieder der Compagnie zur Musik der New Yorker Blues- und Klezmer-Band Hazmat Modine. Deren Song Bahamut ist wie Novitzky selbst: kraftvoll, fröhlich – und immer mit 100­Prozent­ Puste. Kai Schächtele 1984 Bratislava Slowakei 2009 Stuttgart Deutschland Foto: Miriam Kacerova M anchmal verflucht Roman Novitzky sein ständiges Streben nach Perfektion. Nach jeder Aufführung geht er von der Bühne und grübelt. »Ich finde immer etwas, worin ich mich verbessern kann«, sagt er. »Glücklich bin ich immer erst am Morgen danach.« Ohne diesen Charakterzug wäre der 30­Jährige nie so weit gekommen. Novitzkys Laufbahn illustriert die Geschichte eines Tänzers, der harte Arbeit ganz leicht aussehen lässt. Zur neuen Saison wurde er in die Riege der Ersten Solisten berufen. Novitzky war zehn Jahre alt, als in seiner Schule in Bratislava ein Vortanzen angesetzt war. Das Ballettkonservatorium war auf der Suche nach neuen Talenten. Und obwohl sein eigentliches Ziel die Leichtathletik war, nahm er teil. Er hielt das für eine gute Vorbereitung. Durchtrainierte Muskeln, ein gesundes Körperempfinden – das hilft auf Tartan wie auf Parkett. Weil er immer 100 Prozent gibt, auch dann, wenn er von einer Sache zunächst nicht zu 100 Prozent überzeugt ist, trainierte er am Konservatorium so hart, dass er zum Ende der Ausbildung direkt vom Slowakischen Nationaltheater verpflichtet wurde. Der Sport hatte verloren. Nach Stuttgart JUNGE SEITE Gewinne einen Tag im Probesaal des Stuttgarter Balletts! Du würdest gerne zuschauen, wie die Tänzerinnen und Tänzer des Stuttgarter Balletts Pliés, Passés, Arabesquen, Drehungen und Cabrioles üben? Du tanzt vielleicht selbst? Und möchtest Eleven und Solisten einmal deine Fragen stellen? Schreibe einen Brief oder male ein Bild, in dem du erklärst, wieso du uns so gerne besuchen möchtest. Sende deine Nachricht an: Mein Tag, Stuttgarter Ballett, Oberer Schlossgarten 6, 70173 Stuttgart. Aus den Einsendungen wählen wir drei Gewinner aus. Wer bin ich? Ich habe vier Beine und mein Frauchen heißt Luise Pogge. Obwohl: Man kann sie noch gar nicht Frauchen nennen, denn sie ist ja noch ein Mädchen – ein recht neugieriges, ja sogar mutiges Mädchen Luise und ich wohnen in einem schicken Haus in Berlin. Gemeinsam mit ihren Eltern, Herrn und Frau Pogge, deren Haushälterin Berta und Fräulein Andacht, Luises Kindermädchen. Und mit diesem Fräulein Andacht, besser gesagt mit ihrem fiesen Bräutigam, beginnt die Geschichte, die Luise und ihr Freund Anton erleben. Ein Großteil dieser Geschichte spielt nachts. Ich schlafe da schon, eingerollt in meinem Hundekorb in Luises Zimmer. Währenddessen aber steht Luise mit Anton und Fräulein Andacht auf einer Brücke, tut so, als sei sie ein Bettlerkind, und verkauft Streichhölzer! Ich muss mich nachts ausruhen. Denn Luise, die alle nur Pünktchen nennen, geht tagsüber ziemlich ruppig mit mir um. Mal pudert sie meine Dackelschnauze ein und spielt Frisör. Mal legt sie mich in Sortiere die Geschichte Hoppla, da ist was durcheinandergeraten. Schaffst du es, die Handlung in die richtige Reihenfolge zu bringen? Nirgends ist ein Name zu finden, nicht einmal auf dem Friedhof. Auch der alte Fischer kann Schaf nicht helfen. Da schenkt ihm ein Engel einen Namen. Und Prinz Lorenzo will nun doch König werden. Ob die beiden Freunde bleiben? F IESTYN MORRIS ist Countertenor. Obwohl er ein erwachsener Mann ist, kann er mit seiner besonderen Stimme wie ein Junge singen Plötzlich kommt jemand gelaufen, ein Prinz! Er wird verfolgt, das Volk will ihn zum König machen, er aber will nicht. Schaf hilft ihm, seine Krone zu verstecken. C ihr Bett und ich soll einen Wolf spielen in einer Geschichte, die Rotkäppchen heißt. Einmal bindet sie das Ende eines Bindfadens an mein Bein, das andere Ende hat sie vorher um ihren wackelnden Milchzahn gebunden, und als ich davonlaufe, ist ihr Zahn gezogen. Solche Sachen macht Pünktchen. Doch das ist alles nichts gegen ihr Abenteuer mit Anton. Wer bin ich? Es ist ein schöner Morgen. Schaf weidet inmitten seiner Herde und lässt sich das Gras schmecken. Die Sonne geht gerade auf. S Schaf zieht in die Welt, um einen Namen zu finden. Aber o je, ohne Namen kommt Schaf nicht einmal hinein in die Stadt! A PÜNKTCHEN UND ANTON von Erich Kästner Premiere am 21. November 2015 im Schauspielhaus Dabei sein, wenn die Tänzer des Stuttgarter Balletts trainieren Der Prinz heißt Lorenzo. Und Schaf? Schaf heißt Schaf wie alle anderen Schafe. »Das geht nicht«, sagt Lorenzo. »Mein Freund braucht einen eigenen Namen.« H Finde die Fehler Fünf Fehler haben sich beim Kopieren eingeschlichen. Vergleiche die beiden Bilder. Kannst du die Unterschiede entdecken? Und welches Märchen führen wohl die Tänzer des Stuttgarter Balletts auf? »Ich spiele einen Jungen, der sich weigert, älter zu werden, und in jeder Sekunde tut, wozu er Lust hat. Peter Pan erlebt mit Wendy, ihren Brüdern und den verlorenen Jungs jede Menge Abenteuer in Nimmerland – und er kann sogar fliegen. Für mich ist das gar nicht so einfach, denn ich muss dabei singen. Dafür hänge ich an einem engen Gürtel, der mit zwei dünnen Stahlseilen verbunden ist. Wenn die mich in die Höhe ziehen, bekomme ich weniger Luft als sonst. Bis ich mich daran gewöhnt hatte, hing ich wochenlang eine Stunde am Tag in der Luft. Aber dafür macht es jetzt umso mehr Spaß.« SCHAF von Sophie Kassies. Wiederaufnahme am 23. Oktober 2015 im Kammertheater LÖSUNGEN // Wer bin ich? Der Dackel Piefke // Sortiere die Geschichte Schaf // Finde die Fehler Lösung: 1. Oben rechts sind die Kerzen aus / 2. Hinter der weißen Ballerina ist der linke Sessel lila / 3. Der Tänzer in der hinteren Reihe rechts hat zwei Federhüte auf / 4. Der Tänzer in der Mitte im gelben Kostüm hat grüne Arme / 5. Vorne fehlt ein Zwerg DORNRÖSCHEN von Marcia Haydée nach Charles Perrault wieder im Repertoire ab 30. September 2015 im Opernhaus 18 Fotos: Stuttgarter Ballett; Christoph Kalscheuer In der Rolle von Peter Pan PETER PAN von Richard Ayres Wiederaufnahme am 12. Dezember 2015 im Opernhaus 19 BÜHNE Führer, selbst ernannter Held, Despot und am Ende Gejagter: Iraker und US-Soldaten stürzen die Statue von SADDAM HUSSEIN im April 2003 vom Sockel DAS GESPRÄCH Foto: REUTERS/Goran Tomasevic Des einen Held ist des anderen Dämon 20 Wozu brauchen wir Helden? Warum vergöttern wir sie erst und stoßen sie dann vom Sockel? Und wie wird man überhaupt einer? Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Korte erforscht gemeinsam mit Historikern, Archäologen und Soziologen, wie Helden entstehen, wozu sie gut sind und was sie bewegen. Ein Gespräch über Menschen, die aus der Masse herausragen INTERVIEW: KAI SCHÄCHTELE 21 BÜHNE Die einen machen Heldentaten berühmt, die anderen führen sie in Repressalien: Boris Becker, Herkules, Nadeschda Tolokonnikowa von Pussy Riot Die Muster sind gleich, die Ziele könnten kaum unterschiedlicher sein: ein IS-Kämpfer, die Freiheitskämpfer Aung San Suu Kyi und Martin Luther King Frau Prof. Dr. Korte, was macht Menschen zu Helden? nicht nur um das Herstellen von Emotionen, sondern auch um das Reflektieren und Kommentieren. Egal ob im Theater, Ballett oder Kino: Das Publikum soll nicht einfach nur überwältigt, sondern auch darauf aufmerksam gemacht werden, wie das Heroische funktioniert und wie es instrumentalisiert wird, wie man sich selbst dazu stellen kann. Menschen und ihre Leistungen immer wieder zu Helden hoch? Bert Brecht sagt: Wehe dem Land, das Helden braucht. Viele Kommentatoren des politischen Geschehens fordern das postheroische Zeitalter, damit wir uns von Heldenkulten und den damit einhergehenden Kriegen verabschieden. Weil wir Menschen sind, schaffen wir Helden? Da fallen einem viele Figuren ein, Boris Becker zum Beispiel, der zeitlebens viel Häme einstecken musste. Irgendwann passen Helden nicht mehr zu dem Image, das um sie aufgebaut wurde. Jeder Held hat sein Verfallsdatum? Das macht den Heldentod so signifikant. Wer als Held stirbt, wird leichter als Held erinnert als jemand, der sein Heldentum überlebt. Spielen auch außergewöhnliche körperliche Fähigkeiten eine Rolle? Weil sich der Held in einen normalen Menschen zurückverwandelt? Das kann, muss aber nicht sein. Helden ragen über das Normalmaß hinaus. Sie haben etwas, das sie extraordinär macht: Kraft, Klugheit oder eben auch Zivilcourage. Ja. Wir gehen oft davon aus, dass der Held sich immer so verhält, wie er einmal war. Aber bei lebenden Menschen treten natürlich Entwicklungen ein, die dazu führen, dass ein Image, das zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgebaut wurde, irgendwann nicht mehr zu halten ist. Das ist aber nicht die Schuld der Helden, sondern die der Gesell- Macht das Edward Snowden zu einem typisch modernen Helden? Snowden ist vor allem ein Beleg dafür, dass der universelle Held nicht existiert. Aber er hat doch gekämpft, sogar ein persönliches Opfer erbracht. Und insofern erfüllt Snowden ein Merkmal des Helden, wie man es über alle Zeiten findet. Jede Heldenfigur verkörpert gewisse Werte und Ideale. Und je nachdem ob man diese Werte teilt, beurteilt man Edward Snowdens Taten entweder sehr positiv oder sehr negativ. Dieses Kippen ist übrigens keine Seltenheit. Gerade die Grauzonen und Kippfiguren sind für uns alle sehr interessant. Offensichtlich muss man das Heldsein auch aushalten können? 22 Ich habe noch keine Gesellschaft, keine Epoche ohne Helden gesehen schaft, die dieses Verhalten immer wieder einfordert. Spielen Massenmedien eine Rolle? Sicher ist das heute oft so. Aber auch frühere Epochen hatten ihre Kanäle. Das Heroische war immer auch ein Medienphänomen. Ohne dass irgendwer davon erfährt, wird niemand zum Helden. Was unterscheidet echte Helden von fiktiven? Vor allem ihre Inszenierungen. Je nach Kunstform ist das bei fiktiven Helden sehr unterschiedlich. Der Roman zum Beispiel stellt den Helden rein imaginativ vor. Das Theater zeigt ihn uns durch Schauspieler, also stark auch in körperlichen Dimensionen. Dadurch entstehen Dynamiken, die man beim Lesen eines Romans nicht hätte. Im 16. und 17. Jahrhundert übrigens gab es im Theater viele Stücke und zum Teil auch ganze Gattungen, die mit dem Heroischen befasst waren. Film wiederum kann mit seinen speziellen medialen Möglichkeiten unser Erleben von Heldentum auf andere Weise steigern als das im Theater möglich wäre. Auch Nachrichtenmedien haben ihre eigene Art der Inszenierung. Wie lassen sich Helden im Ballett inszenieren – ohne Sprache? Das geht sehr gut. Bestimmte Eigenschaften des Heroischen sind schlecht in Begriffe zu fassen und lassen sich oft besser in Bildern oder Bewegungen transportieren. Die sprechen in erster Linie Emotionen an. Welche Bedeutung haben diese dafür, wie wir Helden sehen? Die Empfindung spielt sicher eine Rolle. Aber das Bewusstsein von Helden hat mehr damit zu tun, wie über sie nachgedacht wird. Gerade in künstlerischer Darstellung geht es Ich habe noch keine Gesellschaft, keine Epoche gesehen, in der Helden ganz fehlen. In einer egalitären Gesellschaft wie heute in Deutschland versucht man das Heroische vielleicht eher im Alltag zu finden. Dennoch ist das Bedürfnis da. Das erklärt übrigens auch, warum wir heute mit einem stark aufgeweichten Heldenbegriff umgehen. Was meinen Sie mit aufgeweicht ? Fotos: picture­alliance / dpa (1, 3, 6); REUTERS (4); picture­alliance / 360­Berlin (5) Selbstloses Handeln, der Kampf gegen Widrigkeiten, die Bereitschaft sich aufzuopfern – das sind heutzutage wesentliche Merkmale. Im Militär gehen diese Aspekte so weit, dass erwartet wird, sein Leben für die Sache zu geben. Früher, im 19. Jahrhundert, wurden moralische, pflichtbewusste Helden verehrt, die ihre Aufgabe über ein normales Maß erfüllten. Auch der moderne Typus des Alltagshelden, wie wir ihn heute kennen und verehren, kommt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Da geht es weniger um Extreme als vielmehr darum, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Das Aushaltenkönnen ist ohnehin eines der Merkmale des Heroischen. Aber was reale Helden oft erdulden müssen, ist weniger ihr Heldentum als vielmehr die Reputation, die damit verbunden ist – die Art und Weise, wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen und behandelt werden. Ersatzsuperlative, die keiner ernst nimmt. Wenn Deodorantwerbung mit Helden arbeitet oder Pizzadienste als Lieferhelden angefahren kommen. Ist die Promischwemme auch ein Zeichen dieser Aufweichung? Sind Stars das, was früher Helden waren? Nein, das glaube ich nicht. Prominenz hängt an Reputation und medialem Image. Das steckt auch im Begriff »Celebrity«: Stars werden gefeiert, müssen aber nicht für gesellschaftliche Werte stehen. Helden brauchen zwar auch Berühmtheit, aber das echte Heroische hat mehr mit einer bestimmten Tat, Tatkraft oder dem Einsatz für andere zu tun. Dennoch: Warum genügt uns nicht Prominenz? Warum stilisieren wir Es gibt Kognitionswissenschaftler, die davon ausgehen, dass es in uns eine grundsätzliche Disposition für die Wertschätzung des Heroischen gibt, Muster der Wahrnehmung und des Verstehens, die uns dafür disponieren, Menschen als Helden zu kategorisieren. Weil sie in uns vielleicht ein Bedürfnis befriedigen, Exzellenz zu erkennen und all das, was über das Normale hinausgeht. Fest steht, dass es die Hinwendung zum Heroischen seit Menschengedenken gibt, vermutlich in allen Gesellschaften. Aber jede Gesellschaft prägt das auf ihre Weise aus. PROF. DR. BARBARA KORTE lehrt Englische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie ist außerdem stellvertretende Sprecherin des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs 948 »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne«. In dem interdisziplinären, kulturübergreifenden Projekt untersuchen Archäologen, Historiker, Literaturwissenschaftler, Soziologen und Kunsthistoriker, wie soziale Ordnungen durch Heldenfiguren stabilisiert, aber auch in Frage gestellt werden Können Helden die Welt verändern? Einzelne Figuren haben ihre Zeit verändert. Napoleon etwa, der über ganz Europa hinwegfegte und aktuell vielleicht auch Edward Snowden. Aber nicht jeder Held bewegt die Welt. Denken Sie nur an den Sport. Wie immunisieren wir uns gegen blinde Heldenverehrung? Indem wir sie kritisch und distanziert betrachten. Schon bei Shakespeare werden Helden nie idealisiert, sondern immer kritisch mitsamt Fehlern dargestellt. Auch das moderne Superheldenkino oder aktuelle TV-Serien betrachten die Mechanismen des Heroischen sehr differenziert. Aber auch der simple Held zieht noch immer. Bei Terrororganisationen wie dem IS inszenieren sich junge Männer als Märtyrer, um andere anzulocken. Das ist nicht neu. Man darf das Heroische nie naiv sehen. Das Heroische ist nicht an Heldenfiguren gebunden, sondern auch an die Systeme, Werte und Diskurse einer Ge- sellschaft. Wir dürfen nie nur auf die Figur schauen. Wir müssen die Prozesse betrachten, die durch die Figuren offenbar werden. Im Falle des IS heißt das: Der Held wird zur Waffe. Auch dies hat es schon immer gegeben. Lassen Sie mich das vorsichtig formulieren: Natürlich definieren sich junge Männer im IS als Helden – zum Teil sogar mit Mitteln des Hollywoodkinos, wodurch sich der Terrorismus und die Gesellschaften, die angegriffen werden, auch ineinander verschränken. Neben aller brutalen Wirklichkeit sind dies Belege dafür, dass heroische Muster Bestand haben und funktionieren. Und dafür, dass sie als Deutungsmuster in verschiedene Richtungen benutzt werden können. Vereinfacht gesagt: Des einen Held ist des anderen Dämon – je nach Blickrichtung. 23 BÜHNE Der Unbestechliche Wir trafen Bert Neumann, um über seine Entwürfe für den Fidelio in Stuttgart zu reden. Dabei hatte er eine Idee: Ob wir nicht auch Skizzen und Modelle anderer Arbeiten sehen wollen? Schließlich habe er die noch nie gezeigt, sagte er. Kurz darauf starb er. Und das Making-of wurde zum Nachruf – auf einen der größten deutschen Bühnenbildner A uf die Frage, ob die Oper Helden brauche, zuckte Bert Neumann mit den Schultern: »Ich kann mit dem Begriff nichts anfangen, deshalb kann ich dazu auch nichts sagen.« Wir saßen in einem Café am Prenzlauer Berg, Anfang Juli, in der Nähe seiner Wohnung, um Bilder seiner Entwürfe zu betrachten und darüber zu reden, wie er seine Ideen entwickelt, sich Theaterstücken und Opern nähert, was eine gute Bühne ausmacht. »Haltung«, sagte er. Zwischendurch machte Neumann sich über Berlin lustig, Hipster-Touristen und Kulturpolitik. Seine Waffe war der Spott, kühl und nüchtern. Große Posen und Rhetorik waren ihm suspekt. Seine Distanz zu Menschen und Verhältnissen, die ihm unangenehm waren, war leise und glasklar. Die Näherinnen in den Theaterwerkstätten und Bühnenarbeiter nahm er ernst, Berliner Kultursenatoren und Münchner Intendanten nicht so sehr. Für Regisseure war er ein Partner, niemals Dienstleister. Seine Bühnen waren klug, radikal, unverwechselbar. Blow­up­Teddys, Livevideos, Stalin­Porträts, wasserspeiende Walfische, Wohncontainer, Bungalows, Swimmingpools, ganze Stadtlandschaften hat er in Theatern aufgebaut. Kaum ein deutscher Bühnenbildner hat Theater in den letzten zwei Jahrzehnten so geprägt wie Bert Neumann. Als Bühnenbildner und Chefdesigner gestaltete er seit Beginn von Castorfs Intendanz 1992 die Berliner Volksbühne mit. René Pollesch, mit dem er mehr als 15 Jahre arbeitete, nannte ihn »den ersten Autor seiner Inszenierungen«. Er schuf Ikonen, oft waren seine Bühnen schon das halbe Konzept einer Inszenierung. In seinem Stammhaus, der Volksbühne, sowieso, aber auch wenn er als Gast woanders arbeitete – wie seit Jahren an der Oper Stuttgart. »Ich versuche, bei Opern relativ werkgetreu zu sein«, sagte Bert Neumann über seine Arbeit in Stuttgart. »Mich interessiert die Entstehungszeit. Welche Wirkung hatten Musik und die Geschichte? Rigoletto basiert auf einem Theaterstück von Victor Hugo, die Uraufführung sorgte für einen riesigen Skandal. Es kam im Publikum zu Saalschlachten. Im Sinne der Werktreue müsste man eigentlich versuchen, eine ähnliche 24 Wirkung zu erzeugen.« Vom Pathos zur Saalschlacht, ein typischer Neumann-Gedanke. Zwanghafte Aktualisierungen interessierten ihn nicht. »Ich mag das Fremde, das Künstliche der Oper«, sagte Neumann. »Oper hat mit unserer Alltagsrealität wenig zu tun. Es geht um die Extremvergrößerung von Affekten, um Schaureize. Da kann die Bühne schlecht kleinteilig und naturalistisch sein. Bei Verdi knallt es, da kann die Bühne auch knallen.« Und Beethovens Fidelio? »Fidelio gilt ja als Freiheitsoper«, sagte Neumann, winkte gleich wieder ab: »Aber allein das Wort ›Freiheit‹ ist wahrscheinlich neben ›Liebe‹ das am meisten missbrauchte Wort der Welt – eine Leerformel.« Worum geht es dann? »Um Macht und Kontrolle«, antwortete Wir trauern um den Künstler er. »Beides ist heute unsichtbar. Jeder und Freund. Der Verlust greift kontrolliert sich selbst und den anderen. tief ins Theater und in uns. Ich weiß nicht, ob ich das schon erzählen Unsere Enttäuschung und Wut darf, es hängen im Fidelio gut sichtbar darüber sind maßlos. Bert etliche Raummikrophone über den Sänbleibt unvergessen, unsere gern. Nicht als Deko, die werden wirklich Arbeit wird an ihn erinnern. benutzt, man kann leise sprechen und Frank Castorf, Intendant, wird trotzdem vom Publikum verstanVolksbühne Berlin den«, sagte Neumann, bevor er seinen Gedanken beendete: »Ein anderes Motiv in Fidelio ist Pflichterfüllung. Alle erfüllen ihre Pflicht, als Gefängniswärter, als Ehefrau, als aufrechter politischer Gefangener. ›Meine Pflicht hab ich getan‹, heißt es einmal. Ein Schlüsselsatz.« Der Bühnenbildentwurf für den Stuttgarter Fidelio war eine von Neumanns letzten Arbeiten. Am 30. Juli starb er im Alter 54 Jahren. Er war in seinem Ferienhaus in Mecklenburg, in dem er die Ferien mit seiner Frau Lenore Blievernicht und seinem Sohn Leonhard verbrachte. Neumann litt seit vielen Jahren unter schwerem Asthma. Sein Tod ist ein fürchterlicher Verlust. Für das Theater, für die Künstler, die mit ihm gearbeitet haben. Für die Menschen, die ihn und seine Bühnen geliebt und aufrichtig verehrt haben. OPER STUTTGART FIDELIO VON LUDWIG VAN BEETHOVEN Premiere am 27. Oktober 2015 im Opernhaus Foto: Lenore Blievernicht/LSD TEXT: PETER LAUDENBACH BERT NEUMANN (1960–2015). Wie kaum ein Bühnenbildner seiner Generation prägte er ein Haus, eine Stadt und gleich zwei Regisseure. Die Volksbühne Berlin, Castorf und Pollesch wären ohne ihn andere. Seine Schöpfungen leben weiter, auch die zahlreichen Bühnen, die er für die Oper Stuttgart schuf 25 BÜHNE Keiner findet sich schön 1 Volksbühne Berlin Regie: René Pollesch, 2015 Unaufgeregt, unbestechlich, höflich, aufmerksam »Bei dieser Figur dachte ich ein bisschen an den Marshmallow-Mann aus Ghostbusters. Seit einiger Zeit stelle oder hänge ich für Renés Inszenierungen gerne große Objekte in den leeren Raum – ein Schiff, einen Totenkopf, ein Flugzeug. Man kann sie besteigen, in Es war ein Ausflug, den ich nicht vergessen werde. Eine Fahrt mit dem Auto durch Stuttgart, zum Killesberg und wieder zurück zum Theater, um ein mögliches Haus für die nächste Produktion von René Pollesch anzuschauen. Weißenhof-Siedlung, Reichsgartenschau 1939, Europaviertel, Tattoostudio. Ihm schwebte Stammheim vor. Seinen Blick auf die Stadt werde ich nicht vergessen. Die unaufgeregte Kraft, die spöttische Unbestechlichkeit, die Aufmerksamkeit und Höflichkeit. Es war ein Ausflug, der tatsächlich wie ein Anfang schien. Ein Ausflug aus dem Theater zum Theater. Ich werde ihn nicht vergessen. 5 ihnen rumkrabbeln, mit ihnen kämpfen. Dieser weiße Riese hier wird in der Vorstellung relativ schnell aufgeblasen, ein infantiles Monster, das nur aus heißer Luft besteht, wie die ganzen Geschäfte am Prenzlauer Berg, die Krümelchen oder so heißen und alle so fürchterlich niedlich sind. Renés Texte entstehen während der Proben. Das heißt, ich mache einen Raum, bevor ich das Stück kenne. Wenn man meine Pollesch­Bühnen 6 nebeneinander stellen würde, könnte man wahrscheinlich sehen, wie sie sich weiterentwickelt haben, genau wie Renés Texte sich von Stück zu Stück fortsetzen. Das Modell habe ich wie ein Bildhauer erstellt, nicht aus Stein, sondern aus Schaumstoff. In der Vorstellung kämpft Fabian Hinrichs mit diesem Riesending und er kommt schwer ins Schwitzen. Und je länger das dauert, desto lustiger ist es.« 5 Neumann modellierte die Figur aus Schaumstoff. Später nähte ein Hersteller nach der Vorlage die riesige Aufblaspuppe 6 Bereits im Modell glänzte der Boden in rotweißen Streifen – genau wie später auf dem erheblich größeren Bühnenboden 7 Mann gegen Puppe: Schauspieler Fabian Hinrichs kämpft gegen die Bühnenikone Jan Hein, Leitender Dramaturg am Schauspiel Stuttgart Er war der erste Autor meiner Inszenierungen 7 Rigoletto Oper Stuttgart, Regie: Jossi Wieler und Sergio Morabito, 2015 »Bei der Uraufführung 1851 hatten Rigolettos Haus und das Wirtshaus, in dem der Mord geschieht, denselben Grundriss. Das habe ich übernommen, auch als kleine Referenz an die Theatergeschichte. Ich wollte gebaute und gemalte Kulissen verwenden – und man sollte sehen, dass es Kulissen sind und nicht die Wirklichkeit. Die runde Wand rechts ist drehbar, an ihrer Außenseite hängt ein Theatervorhang, der so aussieht wie der echte Vorhang in Stuttgart. Das ist ein direktes Zitat, genau wie Details im Bühnenbild den Stuck im Zuschauerraum zitieren. Ich spiele gern mit der Theatersituation. Das passt gut zu Rigoletto, einer Oper, in der all diese höfischen Figuren voreinander Theater spielen. Jeder agiert in einer Rolle, die Mitmenschen sind sein Publikum. Verdi hat oft etwas Reißerisches, er vertraut Theatereffekten wie in der Commedia dell’arte, das gefällt mir.« 1 Ein Bühnenmaler arbeitet am Hintergrund von Rigoletto. Das Entwurfsmodell für die bedrohliche Bergszenerie war kaum größer als ein Pizzakarton (Bild 3) 2 Bert Neumanns Skizze zur RigolettoBühne: Schraffierungen markieren, was gebaut, was gemalt werden soll 3 Bevor die Werkstätten zu bauen begannen, testete Neumannn am Modell das Licht und die Stimmung aller Elemente 4 Die fertige Bühne: In den verwinkelten Gassen wird Rigolettos Tochter ermordet Dass wir an der Volksbühne mit Video arbeiten, liegt daran, dass Bert Neumann irgendwann anfing, geschlossene Räume oder sogar ein ganzes Haus auf die Bühne zu stellen und uns damit einen ganz konkreten Grund geliefert hat, eine Kamera in die Hand zu nehmen: Es war einfach die einzige Lösung, dem Publikum zu zeigen, was in seinem Inneren vorgeht. Diese Idee berührt das, was man vor allem sein kann, in seinen Bühnenbildern: konkret. Jeder Raum, den er gebaut hat, erzählt von Autonomie. Und lässt einen an der eigenen Autonomie bauen. Er war der erste Autor meiner Inszenierungen. Wenn es einen Künstler gibt, den ich uneingeschränkt verehre, dann ist es Bert Neumann. René Pollesch, Theaterregisseur 3 4 Fotos: Bert Neumann (1–3, 5–7); A.T. Schaefer (4) 2 26 27 Unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns BÜHNE 1 Wiener Festwochen / Volksbühne Berlin Regie: Frank Castorf, 2015 »Eine der Hauptfiguren in Dostojewskis Roman ist Gruschenka, eine Frau, die alle verrückt macht. Jeder Mann verliebt sich in sie – das Objekt der Begierde. Wir sehen ihr Haus und darin ein Zimmer, das aussieht wie ein Mädchenzimmer mit Postern. Neben dem Bild von Courtney Love hängen Fotos der russischen Dichterinnen Marina Zwetajewa und Anna Achmatova: Frauen, die sich künstlerisch artikuliert und sicher auch selbst stilisiert haben. Des weiteren hängt da eine Mondsichel an der Wand, ich wollte einfach keinen Naturalismus haben. In Wien haben wir das Stück in einer einstigen Sargfabrik gespielt, ein enormer, riesiger Raum. Weit weg von Gruschenkas Haus steht das Vaterhaus der Karamasows, dafür haben wir ein relativ realistisches Holzhaus Ein konsequent eigensinniger Künstler 2 28 Er war der Souveränste von allen. Was er einbrachte, vertrat er cool und zurückhaltend und humorvoll. Es war immer verblüffend. Und eine große Herausforderung für die anderen. Es richtete sich nicht nach Trends oder nach der Mode. Es setzte Trends. Bert Neumann war viel mehr als ein Bühnenbildner, er war ein konsequent eigensinniger Künstler, der die seltene Fähigkeit besaß, feinfühlig in kollektiven Zusammenhängen arbeiten zu können, ohne die geringste Dienstleistungsmentalität. Carl Hegemann, Dramaturg, u. a. Volksbühne Berlin (1992–2006) 3 Oper Stuttgart, Regie: Jossi Wieler und Sergio Morabito, 2014 »Wenn es im Libretto so ein gutes Motiv gibt wie dieses Schiff, wäre ich dumm, es nicht zu benutzen. Das hängende, schaukelnde Schiff schwebt im ersten Akt wie eine Skulptur im Raum. Im dritten Akt, beim Tod des Liebespaars, liegt es vor einer riesigen Wand aus Leuchtstoffröhren als gestrandetes Wrack am Boden. Mit dem Schiff wird Isolde als Kriegs- 4 Modell: Wie später auf der Bühne hebt sich der schwarze Schiffskörper vom abstrakten Innenraum ab 5 Bühne im Schlussakt: Vor der gleißenden Rückwand mit Leuchtstoffröhren liegt das leckgeschlagene, gestrandete Wrack beute gebracht, später ist es der Ort der Liebe von Tristan und Isolde – wie ein Raum außerhalb der Welt. Heterotopien nennt Foucault diese mehrdeutigen Orte und Themen; das Schiff ist konkret, gleichzeitig so etwas wie eine Metapher. Ich finde, dass es einfach gut aussieht, weil seine Form völlig von seiner Funktion herrührt. Jedes Kind kann verstehen, dass diese beiden Figuren auf dem Schiff in einer besonderen Situation sind. Ein gutes Bühnenbild ist immer beides: konkret und abstrakt.« Protokoll: Peter Laudenbach 4 5 Jossi Wieler und Sergio Morabito, Intendant und Chefdramaturg, Oper Stuttgart gebaut. Auf dem unteren Bühnenbild sieht man das Untergeschoss von Gruschenkas Haus, dort findet eine rauschhafte Orgie statt. In Dostojewskis Vorlage spielt die Orgie eigentlich in einem Gasthaus, aber ich wollte nicht schon wieder eine Kneipe auf die Bühne stellen. Davor liegen nackte Puppen herum. Weshalb die dort liegen, kann ich gar nicht so genau sagen. Es ist ja auch mal schön, wenn im Theater nicht alles immer so eindeutig und sofort verständlich ist.« 1 Modell des Zimmers einer Femme fatale: An den Wänden hängen Poster von Courtney Love und anderer Popstars 2 Variation der Idee: Hier schaut Courtney Love durchs Fenster wie eine Zuschauerin aus dem Pop-Jenseits 3 Bigger than life: Träume und Blumen auf der Pop-Tapete sind größer als die erdrückende Wirklichkeit Tristan und Isolde Fotos: Bert Neumann (1 – 4); A.T. Schaefer (5) Brüder Karamasow Groß geworden ist Bert Neumann in der DDR. Diese Erfahrung hat ihn geprägt und von ihr haben wir lernen können. Denn seine innere Freiheit war groß. Seine Räume waren immer auch Freiräume für die Menschen, die sie betraten. Sie stellten gerade auch durch ihren Abstraktionsgrad eine intime und zärtliche Nähe zu den Darstellern her. Bei jeder unserer gemeinsamen Arbeiten wiederholte sich das Wunder, wie die menschlichen Gestalten groß wurden, ja zu schweben schienen. Seine mitunter monumentalen Raumsetzungen bewirkten Closeups auf Körper und Seelen. Er war einer der größten Theatermacher unserer Zeit. Er wurde das aber genau auch dadurch, dass er sich niemals zum Gesamtkunstwerker stilisiert hat, der für Bühne, Kostüme und Regie gleichzeitig verantwortlich zeichnet − eine Versuchung gerade für die Großen seines Faches. Theater war für ihn anders als im Dialog gar nicht sinnvoll denkbar, ohne den Freiraum und Respekt, die er den vielen Künsten entgegenbrachte, die im Theater zusammenwirken – verbunden mit der distanzierten Zuneigung, mit der er seine Partner begleitete. Berts Tod beraubt uns eines Stücks Zukunft. 29 BÜHNE 1970 Fotos: Stuttgarter Ballett; Roman Novitzky Starke Frauen und die erotische Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern – eine Szene aus Variations for two Couples Andersons Zeitreise Der Meister, der Tänzern den Atem raubt Poème de l’extase von John Cranko Solo und Variations for two Couples von Hans van Manen Ich kann mich noch genau erinnern, wie es war, als unser damaliger Direktor John Cranko eines Morgens mit einer Idee in den Ballettsaal kam, die uns den Atem stocken ließ: John wollte ein Stück speziell für Margot Fonteyn entwickeln. Margot war einer der großen Ballettstars des 20. Jahrhunderts und damals schon über 50 Jahre alt. Normalerweise geht die Karriere von Balletttänzern zu Ende, wenn sie die 40 überschritten haben. Ihre Körper halten den Dauerbelastungen nicht länger stand. Doch die Leute wollen die ganz Großen bis zur letztmöglichen Sekunde sehen. Zu dieser Kategorie gehörte Fonteyn. Das Besondere an Johns Idee war: Sie sollte keine 16­Jährige tanzen, wie zum Beispiel in Dornröschen, sondern eine Frau mit Vergangenheit. Das war damals eine Sensation. Das Stück erzählt die Geschichte einer Diva, in die sich ein junger Mann verliebt. Davon umschmeichelt, erinnert sie sich an ihre früheren Beziehungen. Bei der Uraufführung von Poème de l’extase von 1970 war ich 20 Jahre alt. Es war ein magischer Abend. Zuerst habe ich in der Gruppe getanzt, kurz darauf war ich einer der Liebhaber. Die Choreographie ist ein Stück lebendig gewordener Jugendstil: farbenfroh, verträumt, sinnlich. Die Musik des russischen Komponisten Alexander Skrjabin lässt die Zuschauer eintauchen in ihre Sehnsüchte und das SichVerlieren in ihren Erinnerungen. Das Bühnenbild von Jürgen Rose ist den Gemälden von Gustav Klimt nachempfunden. In jeder der Bewegungen kann man seine Bilder sehen. Diesen Abend jetzt wieder originalgetreu erleben zu können, ist etwas Außergewöhnliches. Denn die spannende Frage wird sein: Wie interpretiert diejenige die Rolle, die in Fonteyns Fußstapfen tritt? Die Persönlichkeit verbindet sich mit der Choreographie – das ist es, was diese Kunstform so interessant macht. 1981 Der Revolutionär, der Grenzen verschob Was überdauert? Was sticht heraus? Was bleibt in Erinnerung? Diese Fragen stellte sich Ballettintendant Reid Anderson, als er zu seinem 20-jährigen Jubiläum vier Choreographien für einen besonderen Abend auswählte. Das Ergebnis ist ein Streifzug durch die Tanzgeschichte – und gleichzeitig die Essenz ihrer Moderne PROTOKOLL: KAI SCHÄCHTELE 30 1997 /2014 Die Diva mit Vergangenheit Vergessenes Land von Jiří Kylián Das Stück Vergessenes Land von Jiří Kylián ist elf Jahre nach dem von Cranko entstanden. Doch das sieht man ihm nicht an. Es gibt Choreographien, bei denen man sich denkt: »Das war damals, heute wird anders getanzt.« Andere dagegen bleiben ewig modern. STUTTGARTER BALLETT BALLETTABEND KYLIÁN / VAN MANEN / CRANKO Premiere am 27. Oktober 2015 im Opernhaus Was sich dagegen geändert hat, sind die technischen Möglichkeiten der Tänzer. Wo früher jemand innerhalb eines Taktes eine Pirouette gedreht hat, sind es heute vier. Wir haben vor Kurzem zum Beispiel eine Choreographie zu einem Konzert von Wolfgang Amadeus Mozart aufgeführt, die Mitte der 60er Jahre entwickelt wurde. Als wir das einstudiert haben, hingen die Tänzer irgendwann mit der Zunge am Boden und haben sich gefragt: »Wie haben die das gemacht?« Die Antwort ist ganz einfach: Die Beine waren nicht so weit ausgedreht, sie waren auch nicht so hoch. Die Tänzer konn­ ten sich nicht so schnell drehen und nicht so hoch springen. Es ist so ähnlich wie im Fußball: Wer sich heute ein Spiel aus den 70ern ansieht, hat das Gefühl, er sieht sich eine Zeitlupe an. Die Technik hat sich weiter entwickelt. Vergessenes Land ist ein sehr melancholisches, tiefsinniges Stück. Die Musik stammt vom britischen Komponisten Benjamin Britten, seine Sinfonia da Requiem klingt wie eine Vertonung der Bewegungen des Meeres: mal sanft und friedlich, dann tosend und voller Energie. Ausgangspunkt für Jiří Kyliáns Choreographie waren ein Gemälde von Edvard Munch und die Küstenregion im Osten Englands, in der Benjamin Britten gelebt hat. Das Bühnenbild ist dem Verlauf von Wellen nachempfunden. Die Tänzer bewegen sich dazu in wellenartigen Sequenzen: im einen Moment verträumt und in sich gekehrt, im nächsten expressiv und dramatisch. Jiří und ich kamen 1969 von der Royal Ballet School, als uns John engagierte. Er ermutigte Kylián schon sehr früh, eigene Choreographien zu entwickeln. Seine ersten Ballette hat er in Stuttgart gezeigt. 1978 erlebte er bei einem Festival in Amerika seinen internationalen Durchbruch. Und drei Jahre später, am 12. April 1981, feierte er mit Vergessenes Land hier in Stuttgart einen Riesenhit. Es hat in der Geschichte dieser Compagnie deshalb einen besonderen Stellenwert. Kylián hat die Grenzen des Tanzes genauso verschoben, wie sich die Küstenlinien im Laufe der Zeit verändern. Hans van Manen ist für den Tanz das, was Piet Mondrian für die Malerei war: ein Meister der Reduktion. Alles ist klar definiert: wie die Tänzer laufen, wie sie ihre Hände halten, sogar wie sie atmen. Das Stuttgarter Ballett hat über 30 Stücke von ihm im Repertoire, mehr als jede andere Compagnie außerhalb der Niederlande. Wir werden zwei Stücke von ihm zeigen. Solo stammt aus dem Jahr 1997. Trotz des Titels ist es ein Stück für drei Tänzer. Für einen allein ist es unmöglich, die Choreographie durchzuhalten. Van Manen hat zwei sehr schnelle Stücke von Johann Sebastian Bach ausgewählt. Mit einem Lächeln im Gesicht hat er einmal gesagt, dass am Ende alle nach Luft hechelnd auf dem Boden liegen. Das andere Stück Variations for two Couples, in Stuttgart erstaufgeführt bei einer Gala 2014, ist eine sehr ausdrucksstarke Choreographie, bei der die erotische Anziehungskraft zwischen Mann und Frau zu spüren ist. Zu Musik von Benjamin Britten, Einojuhani Rautavaara, Stean Kovács Tickmayer und Astor Piazzolla tanzen zwei Paare. Es ist ein mitreißendes Stück, das die Zuschauer die Kraft spüren lässt, die aus dem Mit­ und Gegeneinander der Geschlechter entsteht. Wir haben den Abend so zusammengestellt, dass sich sehr unterschiedliche Stile zu etwas Gemeinsamen vereinen. Es ist im Tanz wie in der Fotografie: Je nach Linse fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus. Manchmal ist es ein Teleskop, mit dem man bis zum Mond blicken kann, manchmal eine Lupe, mit der die Rillen der Haut sichtbar werden. Jede Perspektive hat ihren eigenen Reiz. REID ANDERSON kam 1969 mit 19 nach Stuttgart. In seiner 17-jährigen Laufbahn tanzte er die großen Rollen des Stuttgarter Balletts, acht Jahre davon als Erster Solist. 1996 wurde er Direktor, am Ende der ersten Spielzeit wurde er zum ersten Ballettintendanten Deutschlands ernannt. Die Spielzeit 2015/16 steht ganz im Zeichen seines 20-jährigen Jubiläums 31 Comic: Sasa Zivkovic BÜHNE 32 33 BÜHNE 34 35 36 auslöschen, tauchen in seinen literarischen Visionen auf. Platonov war ein Mahner, ein Visionär – und er war einer der ersten Schriftsteller, der von sich und seiner Zunft verlangte, neue Technologien nicht nur zu beschreiben, sondern sie tatsächlich auch zu begreifen, um ihre Folgen für Mensch, Gesellschaft und Natur abzuschätzen. 1930 macht er sich über Nachhaltigkeit Gedanken: Die Materie der Erde wird ununterbrochen vergeudet, und enden wird das mit einer großen Not. Und dass das niemandem leidtut! Wo ist die Wissenschaft der Sparsamkeit im Sinne der Existenz der künftigen Menschen? Es gibt sie nicht und sie ist nicht in Sicht. Er benennt die Gier der Industriegesellschaften nach Rohstoffen: Das ungelöste Ener- gieproblem ist die Wurzel allen Übels. Alles Übel auf der Welt rührt her von dem Mangel an freier, sofort zur Arbeit geeigneter Energie, die man nicht durch schwere Mühen erlangen muss. Und er zeichnet bereits in den frühen 1920er Jahren Visionen, deren Klarheit den Deklarationen der Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen gut zu Gesicht stünde: Das Licht ist eine solche Energie, die man nicht mit den Händen aus der Erde auszugraben braucht. Selbst die Energie des gespaltenen Atoms ist nichts im Vergleich zur Energie des Ozeans aus Licht. … In der neuen Wirtschaft werden Energie und Wärme aus fallenden Wassern und wehenden Winden gewonnen, das heißt mittels solcher Naturkräfte, durch deren Nutzung die Materie – das Kapital der Natur – nicht im Geringsten vernichtet wird. Am Ende der Zeit sollen die Menschen keine Not leiden – sie sollen dann durch unseren behütenden Verstand unter ihren Füßen einen unversehrten Erdball haben. … Und das ganze prachtvolle Leben der Menschheit möge auf Kosten der Sonne stattfinden. Platonovs Weitsicht gründet im eigenen Erleben, in der Katastrophe, die er in jungen Jahren nicht verhindern kann. 1921 sind durch die große Dürre im Westen der Sowjetunion nahezu 20 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Platonov ist 22 Jahre alt und als Bewässerungstechniker (Meliorator) dafür verantwortlich, von seiner Heimatstadt Woronesch aus die Elektrifizierung der Landwirtschaft voranzutreiben und die Dürre zu verhindern. »Kampf gegen die Wüste« nennt er seinen Einsatz. Der Literaturwissenschaftler Viktor Schklowski lernt den jungen Mann in dieser Zeit kennen: Genosse Platonov ist sehr beschäf- Auswahl und Übersetzung der Platonov-Zitate (außer Tschewengur): Michael Leetz ie Fahnen seines Romans Tschewengur sind schon gedruckt, als Andrej Platonov 1929 erfährt, dass die Machthaber das Erscheinen des Buchs verboten haben. Platonov ist zu dieser Zeit ein Mann von 30 Jahren und hat bereits mit eigenen Augen gesehen, wie der Raubbau an der Natur ganze Landschaften zerstörte. Er war Zeuge einer Dürre, die in seiner Heimat, dem zentralrussischen Schwarzerdegebiet, eine Hungerkatastrophe biblischen Ausmaßes ausgelöst hat. Das nächste Desaster steht bevor, in Folge der gewaltsamen Kollektivierung in der sozialistischen Landwirtschaft. In seinem neuen Roman will er dem Sowjetstaat seine Vision einer besseren Welt entgegenhalten. Stalin und sein Apparat beuten rigoros Umwelt und Menschen aus. Platonov ist überzeugt, dass nur ein sorgsamer Umgang mit der Natur die Welt retten wird. Dies und ein geheimnisvoller Stoff. Doch die Zensur verhindert, dass seine Mitbürger erfahren, welchen Stoff er meint. Erst Ende der 1980er Jahre kann das Buch in seiner Heimat erscheinen, in Folge von Glasnost und Perestroika. Der Roman erschüttert die sowjetische Öffentlichkeit, nahm er doch 60 Jahre zuvor Schicksal und Untergang des Staatssozialismus vorweg. Der russische Schriftsteller Andrej Bitow erkennt in Platonov einen wahren »Schriftsteller der Zukunft« und prophezeit: »Platonov wird sich als ein merkwürdig uneinfacher Schriftsteller erweisen, weil er der Erste war, der wirklich alles verstanden hat.« Dieses Alles-Verstehen reicht weit über die Grenzen der Sowjetunion hinaus. Der Schriftsteller mag seine Gegenwart mit dem Herzen eines überzeugten Kommunisten beschrieben haben. Doch seine Analysen dringen so tief in die Tragödie des aufkommenden Industriezeitalters ein, seine Ideen sind so spektakulär, dass man Andrej Platonov (1899– 1951) als einen der ersten Ökopropheten des 20. Jahrhunderts bezeichnen kann. Platonov erkennt die Notwendigkeit einer Energiewende, will fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energien ersetzen und beschreibt Sonne, Wind und Wasser als Stromerzeuger. Er sieht die ideologisch motivierten Völkermorde des 20. Jahrhunderts voraus. Sogar maschinelle Armeen, die Drohnenkriegern gleich ganze Städte tigt. Die Wüste greift an. Er fährt in einer wackeren Klapperkiste, genannt Automobil. Die Steppen sind weit. Es gibt Orte, wo es auf 40 Werst kein Wasser gibt. Die Wüste kriecht hierher durch die Schluchten. Die Flüsse wachsen zu, trocknen aus. Versiegen vollständig. Wenn man quer durch die Schluchten Dämme baut, kann man in ihnen das Wasser halten. In den letzten zwei Jahren hat man hier so viel Erde ausgegraben, dass sie einem Viertel des Berges Ararat entspricht. Platonov ist Meliorator. Er ist Arbeiter, 26 Jahre alt, blondhaarig. Andrej Platonov lebte von 1899 bis 1951. Sein Roman Tschewengur ist eine düstere, brutale Endzeiterzählung, die vom Scheitern eines sozialen Experimentes handelt. In dem Steppenort Tschewengur wollen Revolutionäre den Sozialismus direkt aus der Natur errichten – ohne jede Technik. Gerade als sie beginnen, die Gewalt hinter sich zu lassen, und in ihnen der »Stoff der Freundschaftlichkeit« entsteht, wird die Kommune von einer »mechanischen Armee« zerstört Foto: shutterstock D TEXT: MICHAEL LEETZ & RALF GRAUEL Er wäre der Jules Verne des Sozialismus geworden, hätte nicht Josef Stalin höchstpersönlich seine Romane verboten. Er sagte Sonnenkollektoren und Windräder voraus, Jahrzehnte vor ihrer Zeit. Lernen Sie Andrej Platonov kennen, den Pionier aller Ökopiraten Der Solarprophet BÜHNE SCHAUSPIEL STUTTGART TSCHEWENGUR VON ANDREJ PLATONOV Deutschsprachige Erstaufführung: 22. Oktober 2015 im Schauspielhaus Der rastlose Ingenieur erkennt die Ursachen der zerstörten Landschaften, sieht in ihnen die Gräber einst blühender Kulturen, die untergingen, weil sie ihre eigenen Lebensgrundlagen vernichteten. Wie die Verwüstungen anderer Epochen und Kontinente, so ist auch diese hier von Menschen gemacht: Zar Peter der Große ließ um Woronesch im 18. Jahrhundert ganze Wälder abholzen, um Holz für den Schiffbau zu gewinnen und damit die russische Kriegsflotte zu begründen. Noch während der junge Meliorator die Schäden sichtet, sitzt ihm die nächste Ökokatastrophe im Nacken. Der Sozialismus mit seinen Millionen Proletariern, die aus den Landgebieten in die Städte flüchten, weil sie dort eine bessere Zukunft ersehnen – eine junge Wachstumsgesellschaft, hungrig nach Weizen, Kohle, Stahl und Eisen. E in Jahr nach der Begegnung mit Schklowski, 1926, wird Platonov seine Arbeit als Meliorator verlieren. Die Erfahrung des Scheiterns in seinem »Kampf gegen die Wüste« wird die Grundlage seines literarischen Schaffens. Erlebnisse und Analysen schreibt er auf, verarbeitet sie in Aufsätzen, Erzählungen – und in seinem Roman. Die Steppe, das Überleben und der Kampf für eine bessere Zukunft bleiben seine Themen. Als Schriftsteller wird er so scheitern wie als Bewässerungsingenieur. Stalin persönlich erklärt Platonov zur Persona non grata. Seine Werke dürfen nicht mehr erscheinen. Die meisten von ihnen bleiben unveröffentlicht, bis zu seinem Lebensende. In literarischen Kreisen jedoch leben seine Texte im Untergrund weiter. Platonovs Themen bleiben die Natur, darin der Mensch – mit seinen Rohstoffe verschlingenden Gesellschaften, die, unterwegs zur nächsten gro­ ßen Utopie, kaum mehr erzeugen als Völkermorde und Wüste. Was der Club of Rome 1972 »Grenzen des Wachstums« nennt, bezeichnet Platonov knapp 40 Jahre zuvor – im Duktus seiner Epoche – als »erste sozialistische Tragödie«. Im gleichnamigen Essay (1934) stellt er fest, dass Völkern der Vergangenheit Technologien fehlten, die Natur bis in ihre tiefsten Tiefen auszubeuten, und das ist auch gut so , schreibt er, andernfalls hätten die Menschen die gesamte Natur längst ausgeplündert, verbraucht, aufgegessen, sich an ihr berauscht, sie ausgesogen bis auf ihre Knochen: Der Appetit hätte immer gereicht. Nun aber sei der Zeitpunkt da, wo der Mensch ins Innere der Erde einzudringen vermag, ohne allerdings die seelische Reife zu besitzen, mit der Natur verantwortungsvoll umzugehen: Der Mensch ändert sich langsamer, als er die Welt verändert. Genau darin besteht das Zentrum der Tragödie. Es ist schön und an der Zeit, mit Platonov den ersten Ökoliteraten des 20. Jahrhunderts zu entdecken. Anders als viele Zeitgenossen war Platonov nie einfach nur begeistert von den neuen Technologien. Dafür saß sein Schock viel zu tief, ausgelöst durch die selbst erlebten Verwüstungen. Platonov war Schriftsteller, Ingenieur und Philosoph in einer Person. Er lud seine Visionen mit Kritik auf, das macht sie so gültig. Grenzen des Wachstums? Erste sozialistische Tragödie? Egal, wie wir es nennen, die globale Herausforderung bleibt: Wachstum mit Nachhaltigkeit zu verbinden und eine Perspektive einzunehmen, die länger dauert als nur ein, zwei Menschenleben. Wir werden die Sonne brauchen, die Energie des Wassers, der Winde und fruchtbares Land. Aber selbst, wenn wir uns auf diesen Pakt mit den vier Elementen einlassen, so wird alles nichts, wenn der Menschheit das fünfte Element fehlt: Zusammenhalt, Liebe, Solidarität. Oder, wie Platonov es in Tschewengur bezeichnet: Einer muss vom anderen ablassen. Damit dieser Ort der Zwietracht, den die Sonne bescheint, mit dem Stoff der Freundschaftlichkeit erfüllt wird. 37 BÜHNE Bruder und Schwester Was Aino und Martin Laberenz unterscheidet, ist ihr Temperament. Was sie eint, ist ihr Mut zum Risiko. Ein Besuch bei den Proben zu Anton Tschechows Komödie Die Möwe TEXT: KAI SCHÄCHTELE 38 FOTOS: MARTIN SIGMUND 39 BÜHNE M an möchte nicht der Stuhl sein, auf dem Martin Laberenz während einer Probe sitzt. Auf der Bühne ringt der Hauptdarsteller Manolo Bertling gerade um die Liebe einer Frau, die ihn nicht will. Er schiebt ein Bett auf Rollen, türkisfarbenes Stahlgestell mit Drahtrost, Typ Feldlazarett, quer über die abschüssige Bühne. Ruft: »Nina, ich habe so lange auf dich gewartet. Die ganze Nacht habe ich geträumt.« Dann schwingt er das Bett in die andere Richtung und kommt so auch selbst in Fahrt. »NINA!« Die Stimme schwillt jetzt zu einem Kreischen an. Doch Martin Laberenz ist noch nicht zufrieden. Bertlings Leiden ist ihm nicht kitschig genug. Er beugt sich vor und geht dazwischen: »Manolo, du musst das Schlechtspielen ernst nehmen. Spiel es aus!« Bertling folgt. Und spielt seine Figur um Kopf und Kragen. Schreit und fleht wie ein Kind, das am Rockzipfel seiner Mutter hängt. Es ist genau das, was Laberenz aus ihm herauskitzeln wollte. Was da an diesem juliheißen Vormittag im Nord, dem Probenzentrum der Staatstheater, passiert, ist mentales Warmlaufen. Kein Sportler bringt mit kalten Muskeln Leistung, kein Schauspieler mit kalten Gedanken. Je länger die Szene dauert, umso mehr dreht auch Laberenz auf. Wirft sich zurück und lacht, wenn Bertling auf die Knie fällt. Richtet sich wieder auf, wenn Svenja Liesau, die Angebetete, den Packen Papier, den Bertling ihr zum Beweis seiner Liebe überreicht hat, von der Bühne schmeißt. »Ja, Svenja! Gute Idee. Weg damit.« Vor, zurück, mal halb liegend, mal den Oberkörper aufrecht gegen die Lehne gedrückt: Zwei Stunden geht das so. Laberenz ist der Anheizer, der für die Hitze auf der Bühne sorgt. Sein Stuhl hat erst Pause, als der 33­Jährige die Probe unterbricht. Licht. Luft. Danke. Ein anderer Stuhl hat es dagegen bequem. Auf dem hat Aino Laberenz Platz genommen. Die ein Jahr ältere Schwester sitzt am Rand eines langen Tisches, auf dem Kaffeebecher, Manuskripte und Wasserflaschen verteilt sind. Still sieht sie zu. Manchmal nimmt sie einen Stift in die Hand und trägt etwas in ihr Skizzenbuch ein. Gucken, schweigen, zeichnen – das ist alles. Während der Probe hat es den Anschein, als mache es keinen Unterschied, ob sie im Raum ist oder nicht. Doch ihr Anteil am Gelingen einer Laberenz­Produktion ist ein entscheidender: Martin ist der Regisseur, der an die Oberfläche holt, was im Inneren seiner Schauspieler steckt. Aino ist die Kostümbildnerin, die so lange beobachtet, bis sie die passenden äußeren Formen gefunden hat. Gemeinsam mit ein paar Verbündeten wie Bühnenbildner Volker Hintermeier und der Musikerin Friederike Bernhardt mischt das Geschwisterpaar seit einiger Zeit die deutsche Theaterszene auf. In Stuttgart das nächste Mal ab Anfang Oktober mit Die Möwe von Anton Tschechow. Ein riesiger Spielplatz Eigentlich lassen sich die Geschwister nicht gern bei ihrer Arbeit zusehen. Theaterproben sind Schutzräume, in denen es noch bis ein, zwei Wochen vor der Premiere darum geht sich auszuprobieren. In dieser Zeit ist die komplett schwarz gestrichene Halle des Nord ein riesiger Spielplatz. Die Spielgeräte sind Requisiten, von denen die meisten später gar nicht zum Einsatz kommen werden: Koffer, Stühle, Beistelltische, eine ausgestopfe Möwe. In dieser Zeit werden weniger einzelne Szene aus dem Stück geprobt als vielmehr der Kosmos erschaffen, in dem das Stück spielen wird. Oft sitzt die Crew einfach nur am Tisch und liest aus dem Stück, unterhält sich aber auch über aktuelle Politik und Telefonate mit der Oma. Da sprechen dann alle miteinander: die Schauspieler und der Regisseur, aber auch Bühnenbilder, Musiker, Kostümbildner. Solche Runden werden schnell zu ihrer eigenen Performance. Dafür bedarf es der Intimität, in der keiner Angst zu haben braucht, sich zum Affen zu machen. Die Szene zum Beispiel, in der Manolo Bertling um Svena Liesau kämpft, steht nicht bei Tschechow. Sie ist das Ergebnis dessen, wovon Bertling und Liesau glauben, dass sie sich bei ihren beiden Figuren Kostja und Nina so entwickeln würde. Angefeuert von Laberenz, wenn sie auf der richtigen Spur sind. Zurückgepfiffen, wenn sie sich dabei verrennen. Und wenn einer singen soll, aber nicht möchte, weil er meint, dass er das nicht kann, antwortet Laberenz: umso besser. Genau darum geht’s ja: Grenzen verschieben, Hemmungen überwinden. Nur so entsteht das Besondere. Ihm selbst geht es nicht anders. Er fühle sich zu Beginn einer Probephase genauso nackt wie seine Spieler, sagt Martin Laberenz. Er weiß noch nicht, welche Passagen er aus dem Original übernehmen wird und welche aus den Szenen, die während der Probenarbeit entstehen. In seinem zehnköpfigen Ensemble gibt es Schauspieler, mit denen er noch nie zusammengearbeitet hat und die vielleicht eine andere Vorstellung von Theater haben. »Dadurch entsteht ein ständiger Druck, originell sein zu wollen. Der bleibt auch lange so. Er verschwindet erst kurz vor der Premiere, wenn man einmal alles angefasst hat und anfangen kann, das Stück zusammenzubauen.« Dieser Prozess ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. Einmal hatte es Laberenz mit einem Schauspieler zu tun, der so viele Geschichten von seiner Herangehensweise gehört hatte, dass er mit großen Bauchschmerzen zu den Proben kam. »Er fand die Arbeit dann sehr angenehm«, erzählt Laberenz. »Nicht meinetwegen, sondern, weil er sah, dass man sich ausprobieren kann und nicht aufgefordert ist zu funktionieren.« »Niemand soll schlecht aussehen. Aber ich bin kein Bestellschein. Manchmal will ich mit meinen Kostümen auch einen gewissen Widerstand aufbauen. Es macht mir Spaß, künstliche Welten zu erschaffen und Figuren zu überhöhen. Wenn jemand sagt, Rot steht mir nicht, ich aber einen anderen Eindruck habe, mache ich erstmal einen Vorschlag.« Und so wie sie das sagt, braucht man schon große Widerstandskräfte, um sich ihrem Charme zu entziehen. Es gibt ein Grundvertrauen MARTIN LABERENZ, 33 Seine erste Produktion brachte er mit 25 am Maxim Gorki Theater Berlin auf die Bühne, unter der Intendanz des heutigen Stuttgarter Schauspielintendanten Armin Petras. Er hat am Deutschen Theater in Berlin und am Schauspielhaus Düsseldorf inszeniert und war unter der Intendanz von Sebastian Hartmann Hausregisseur am Schauspiel Leipzig. Die Möwe ist seine dritte Regie in Stuttgart, wieder gemeinsam mit seiner Schwester Aino Ich will, dass sich jeder wohlfühlt SIEHST DU WAS, WAS ICH NICHT SEHE? Während der Proben haben Aino und Martin Laberenz verschiedene Aufgaben: Er feuert die Schauspieler an, sie beobachtet vom Rand. Danach sind sie einander wichtige Gesprächspartner 40 Von außen betrachtet hat man den Eindruck, als sei Aino Laberenz in vielem das Gegenteil ihres Bruders. Er gibt die Rampensau, sie sitzt am Rand. Er ist laut und kräftig, sie zurückhaltend und zierlich, obwohl beide in ihrer Jugend in Wetter an der Ruhr Zehn- bzw. Siebenkampf betrieben haben. Man darf ihre Stille aber nicht mit Teilnahmslosigkeit verwechseln. Sie ist genauso präsent wie ihr Bruder, aber auf eine andere Weise. Sie will verstehen, wie sich jemand verhält, wie er spricht und sich bewegt. Dadurch entwickelt sie die Phantasie, die aus Kostümen mehr macht als Kleidung. »Ich will, dass sich jeder wohl fühlt«, sagt sie. AINO LABERENZ, 34 Mit 20 begann sie, am Schauspielhaus Bochum im Bereich Kostümbild zu assistieren, fünf Jahre später erhielt sie eine Nennung als beste Nachwuchskostümbildnerin. Sie hat an der Berliner Volksbühne, am Wiener Burgtheater und bei den Bayreuther Festspielen gearbeitet. In Stuttgart ist sie zum fünften Mal engagiert Was die beiden unterscheidet, ist ihr Temperament. Was sie eint, ist die Lust am Spiel, die Durchsetzungskraft und der Mut zum Risiko. Oft sitzen sie nach den Proben beisammen, sprechen über das, was war, und das, was daraus werden soll. Und wie bei jedem Spiel, bei dem das Ergebnis zu Beginn nicht feststeht, kann auch dieses schief gehen. So ist es Martin Laberenz vor zwei Jahren in Dortmund passiert. Wochenlang hatte er mit dem Ensemble an den Nibelungen von Friedrich Hebbel geprobt. Doch von Beginn an wollte kein gemeinsames Gespräch entstehen. »Plötzlich waren alle auf das zurückgeworfen, wovon man glaubte, dass so Theater funktioniere. Aber reine Wirkungsmechanik kann ich nicht. Ich muss wissen, warum ich etwas mache.« Wenige Tage vor der Premiere entschied er, das Ergebnis dem Publikum nicht zuzumuten. Das Stück wurde abgesetzt. Er nahm das auf seine Kappe und hat daraus gelernt: Seinem Bauchgefühl vertraut er heute so strikt wie seine Schwester. Für ihre tägliche Arbeit habe es keine große Bedeutung, dass sie Geschwister sind, finden beide. Je dichter es auf die Premiere zugeht, umso mehr wird das Überflüssige aus dem Material gedampft. Da sind die beiden ständig im Gespräch, doch das gilt genauso für den Bühnenbildner, die Frau an den Keyboards oder die Schauspieler. Ihre Verwandtschaft macht sich auf anderen Ebenen bemerkbar. »Es gibt ein Grundvertrauen, um das man sich nicht kümmern muss«, sagt Martin. »Wenn es in Phasen geht, in denen man wütet, gehe ich als Schwester zu ihm und rede mit ihm, weil es mir völlig wurscht ist, wenn ich alles abkriege«, sagt Aino. Wie es sich für eine große Schwester gehört. SCHAUSPIEL STUTTGART DIE MÖWE VON ANTON TSCHECHOW Premiere: 2. Oktober 2015 im Schauspielhaus 41 BACKSTAGE Catriona Smith und Martí Fernandez Paixa in der Kantine der Staatstheater Stuttgart, die während der Spielzeit auch fürs Publikum geöffnet ist Smith Das geht mir genauso. Und dieses Gefühl wird mit den Jahren immer stärker. Es ist wirklich erstaunlich: Die Leute kommen hier an, manche nur für ein paar Monate, und alle sagen irgendwann: »Ich weiß nicht, woran es liegt, aber irgendwas hat Stuttgart, was es besonders macht.« Die Leute sind so freundlich, alles wird ohne Stress und Aufregung erledigt. Das schafft eine sehr entspannte Atmosphäre, in der sich jeder schnell geborgen fühlt. Mailand KANTINENGESPRÄCH Irgendwas hat Stuttgart, was es besonders macht POST AUS Jeden Mittag kommen Künstler aus 50 Nationen zum Essen. Zwei davon sind Catriona Smith und Martí Paixa. Sie haben sich hier sofort zu Hause gefühlt - auch wegen des Publikums Frau Smith, Sie sind Schottin und kamen 1991 nach Stuttgart. Wie war der Start? Catriona Smith Ich dachte, es würde relativ einfach werden. Ich wurde in Hannover geboren, weil mein Vater mit dem britischen Militär dort stationiert war. Deshalb kannte ich auch ein bisschen was von der Sprache. Aber man sagte mir: »Da unten im Süden wirst du kein Wort verstehen.« Das war anfangs eine Barriere. Manchmal saß ich still daneben und die Leute dachten, ich sei schüchtern. Im Juli war Manja Kuhl in Mailand. Dort führte sie gemeinsam mit vier Schauspielkollegen 5 morgen von Fritz Kater auf. Ihre Postkarte zeigt beinahe alle Sehenswürdigkeiten der Stadt. Was fehlt, ist das Piccolo Teatro, wo das Stuttgarter Ensemble gastierte: Bei seiner Eröffnung 1947 war es das erste Staatstheater Italiens. Heute ist es eine der wichtigsten Bühnen Europas Fotos: Arthur Zalewski; Martin Sigmund Herr Paixa, Sie kommen aus Spanien. Wie war es bei Ihnen? 42 Hat das auch etwas mit dem Stuttgarter Publikum zu tun? Martí Paixa Die Sprache ist auch bei uns ein Thema. Die Tänzer kommen aus der ganzen Welt, untereinander reden wir nur Englisch, es ist die einzige gemeinsame Sprache. Wir haben gar keine Gelegenheit, Deutsch zu lernen. Man müsste Privatstunden nehmen oder abends lernen. Aber da ist man meistens so müde, dass man sich einfach nur ausruhen möchte. Smith Das ist in der Opernwelt etwas einfacher, weil man von Beginn an viele Rollen in deutscher Sprache einstudiert. Da gibt es immer jemanden, der hilft. Als ich ankam, haben zwei Kollegen gesagt: »Wir werden nur Deutsch mit dir reden.« Und sie waren wirklich konsequent. Das half eine Menge. Wann hatten Sie das Gefühl, in der Stadt wirklich angekommen zu sein? Smith Als meine Kinder zur Welt kamen. Man muss sich um Kindergärten kümmern, später um die Schule. Damit kommt man automatisch mit vielen Menschen in Kontakt. Dafür bist du wohl noch etwas jung, Martí. Paixa Das macht aber nichts. Ich fühle mich hier trotzdem wohl. Ich habe hier viele nette Leute kennengelernt. Stuttgart bietet für junge Leute, aber auch für alte ... Oh, sorry, Catriona ... Smith Sag es ruhig: für die Großmütter. (Beide lachen.) Paixa ... tolle Möglichkeiten. Du kannst in Museen gehen, es gibt schöne Bars, in denen man sich mit Freunden treffen kann. Und obwohl es erst meine erste Saison ist, ist das Opernhaus schon jetzt mein Zuhause. Smith Ja. Ich habe in vielen Häusern auf der ganzen Welt gesungen, Stuttgart ist wirklich einzigartig. Das gilt für alle drei Sparten. Die Leute kennen die Sänger, die Schauspieler und die Tänzer. Sie verfolgen deine Karriere, sie unterstützen dich. Man merkt: Sie sind wirklich für dich da. Das gibt dir einen Anreiz, dich stetig zu verbessern. Paixa Bei uns sitzen Menschen im Publikum, die schon seit Jahrzehnten zu uns kommen. Inzwischen nicht nur mit ihren Kindern, sondern sogar mit ihren Enkeln. Diese Atmosphäre überträgt sich natürlich auch auf die Bühne. Geht das soweit, dass Sie Stammgäste erkennen, wenn Sie auf der Bühne stehen? Paixa Nein, dafür sitzt das Publikum zu weit weg. Aber wenn beim Schlussapplaus Leute Bravo rufen, erkennt man diejenigen, die regelmäßig kommen, an ihren Stimmen. Paula Heller CATRIONA SMITH, 51, ist seit 1991 im Ensemble und seit 2003 Kammersängerin der Oper Stuttgart. Die Sopranistin sang unter anderem die Gilda aus Rigoletto sowie die Susanna und Contessa in Le nozze di Figaro MARTÍ FERNANDEZ PAIXA, 19, kam 2011 an die John Cranko Schule, wurde in der Spielzeit 2014/15 Eleve des Stuttgarter Balletts und tanzt ab September 2015 im Corps de Ballet 43 BACKSTAGE IN DER PROBE Der Charmebuckel Beim Besuch der Generalprobe zu Rigoletto ist der Kulturmanager Johannes Ellrott überrascht, wie locker die Atmosphäre im Opernhaus ist. Doch dann erlebt er, wie der Hauptdarsteller Markus Marquardt den ganzen Saal am Kragen packt Kostüme hängen im Fundus Liter Flüssigseife der Staatstheater Baujahr der Violine von Carlo Antonio Testore. Die Geige ist damit das älteste Instrument, das im Orchester zum Einsatz kommt HAUSBERICHT 44 Einblick. »Das ist schon etwas Besonderes: Es ist ein viel lockererer Rahmen als bei einer Vorstellung. Aber sobald das Licht ausgeht, ist dieses Gefühl völlig weg.« Zweieinhalb Stunden später steht Ellrott in der Garderobe, dort, wohin sonst niemand Zutritt hat, der nicht zum Opernbetrieb gehört. Jede Menge Menschen wuseln herum, doch Markus Marquardt steht mittendrin und strahlt. Die Probe ist gut gelaufen. Gerade noch war der 45­Jährige ein Bär von Mann mit aufgeschnalltem Buckel auf dem Rücken und der Verzweiflung eines Vaters, der um seine Tochter kämpft. Jetzt ist er ein Charmebolzen, den nur der Hunger quält. Doch bevor Ellrott ihn entlässt, will er noch ein paar Dinge wissen. Es gab da diese eine Szene, in der Marquardt mit seiner Tochter kämpft, erst wie ein Boxer mit erhobenen Fäusten, dann wie ein Karatekid, mit dem rechten Knie auf Brusthöhe – wie läuft so etwas? Geben das die Regisseure vor? »Nein«, antwortet Marquardt. »Man bietet an und der Regisseur sagt: ›Gekauft.‹ oder ›Nicht gekauft‹. Gerade hier haben wir sehr viel Freiraum. Dieser Kampf hat den Sinn, mit der dramatischen Atmosphäre zu brechen.« Das Gespräch dauert noch länger. Die beiden unterhalten sich über das Leben eines Opernstars, der öffentliche Verkehrsmittel meidet (wegen der Viren) und bei Gastspielen immer seine Pfanne dabei hat (wegen des Teflons). Da öffnet sich die Tür, ein Mitarbeiter steckt den Kopf herein und sagt: »Markus, Jossi wartet.« Die letzte Besprechung vor der Premiere. Da muss der Hunger noch etwas warten. Paula Heller OPER STUTTGART RIGOLETTO VON GIUSEPPE VERDI Paar Spitzenschuhe werden in einer Spielzeit von den Damen der BallettCompagnie zerschlissen Die Staatstheater Stuttgart in Zahlen wieder im Repertoire ab 27. April 2016 im Opernhaus Kilometer ist die weiteste Entfernung zwischen dem Heimatort eines Künstlers und Stuttgart. Daniel Camargo, Erster Solist des Stuttgarter Balletts, stammt aus Sorocaba bei São Paulo Mitarbeiter sind an den Staatstheatern Stuttgart beschäftigt Möchten auch Sie einmal einen Blick hinter die Kulissen einer Probe von Oper, Ballett oder Schauspiel werfen? Dann bewerben Sie sich unter reihe5@staats theater-stuttgart.de Fotos: Martin Sigmund Z ehn Minuten bis zum Beginn der entscheidenden Probe und die Orchestermusiker sitzen in Straßenkleidung im Graben und plaudern, als wären sie beim Kaffeeklatsch. Im Zuschauerraum des Opernhauses, genau über Reihe 6, steht noch das große Regiepult, darauf Computerbildschirme, Mikrofone, Kaffeebecher und Papier. Es ist das letzte Relikt einer Probephase, an deren Beginn die Idee stand, Rigoletto auf eine neue Weise zu zeigen. Die berühmte Oper von Giuseppe Verdi erzählt die Geschichte eines Hofnarren, der von der Welt verspottet wird, rebelliert und am Ende den Tod seiner Tochter Gilda zu verantworten hat. Entspannt warten die beiden Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito auf den Beginn der Probe. Sie wollen ihren Rigoletto in aller Tragik zeigen, aber auch mit der grotesken Komik, die schon in der Dramenvorlage von Victor Hugo angelegt ist – an die sich viele Inszenierungen aber nicht herantrauen. Der Saal verdunkelt sich, der Vorhang geht auf und die legere Probenatmosphäre löst sich unmittelbar auf in der Konzentration des letzten Durchlaufs. Das Orchester setzt ein, der Chor beginnt zu singen und spätestens als Markus Marquardt in der Rolle des Rigoletto die Bühne betritt, ist das Publikum gefangen – von einer Stimme, deren Kraft jeden der etwa 100 Probenzuschauer am Kragen packt. Einer davon ist Johannes Ellrott. Er erlebt gerade seine erste Generalprobe. Der 27­Jährige geht in die Oper, seit ihn seine Eltern als Kind mitgenommen haben. Doch noch nie hatte er einen solchen Da kommt was zusammen Zeichnungen: Lisa Fuß »Das ist schon etwas Besonderes.« – Johannes Ellrott über die Generalprobe. Danach traf er die Sänger Markus Marquardt und Daniel Kluge werden in der Oper und im Schauspielhaus pro Spielzeit verbraucht Getränke werden während der Pausen der Vorstellungen in Opernhaus und Schauspielhaus verkauft Butterbrezeln werden je Spielzeit konsumiert Euro beträgt das Jahresbudget der Staatstheater Stuttgart 45 Reihe 5 im Abo! BACKSTAGE MEIN ARBEITSPLATZ Das Adrenalin steigt manchmal sonst wohin Kostenlos und viermal im Jahr bieten wir Ihnen noch mehr Geschichten vor, auf und hinter der Bühne. Benno Brösicke ist Technischer Leiter am Kammertheater. Sein Job besteht zum Großteil aus Planung. Sein wirkliches Können beweist er, wenn etwas schiefgeht Herr Brösicke, was macht ein Technischer Leiter? shops. Wir betreiben hier Zukunftsarbeit. Ich trage die Verantwortung für alles, was auf der Bühne passiert: Technik, Beleuchtung, Requisite, Ton, Video. Es gibt dafür jeweils einen eigenen Mitarbeiter, aber bei mir laufen die Fäden zusammen. Außerdem bin ich für die technische Sicherheit auf der Bühne verantwortlich. Das fängt schon bei der Planung an. Ein neues Bühnenbild muss immer auf seine Machbarkeit geprüft werden. Diesen Prozess begleite ich von der ersten Besprechung bis zur Premiere. Und wenn eine Produktion auf Gastspielreise geht, plane ich den Transport mit den Betriebsbüros von Oper, Ballett und Schauspiel. Manchmal reise ich auch mit. So ist es. Obendrein sitzt das Publikum hier sehr nah an der Spielfläche. Dadurch können sich die Zuschauer besonders gut in das Geschehen einfühlen. Und machen Theater zum Anfassen. Manchmal wollen zwei Sparten gleichzeitig bedient werden, da wird es dann schon mal schwierig. Meistens bin ich unterwegs: auf der Bühne, im Lager oder auf der anderen Straßenseite im Haupthaus. Was passiert auf der Bühne des Kammertheaters? Der gelernte Mess- und Regeltechniker BENNO BRÖSICKE, 59, reiste 1989 auf Einladung von Verwandten in Stuttgart aus der DDR aus und kehrte nicht mehr zurück. Die wenigste Zeit verbringt der Technische Leiter des Kammertheaters heute im Büro. Viel lieber ist er dort, wo Theater wirklich passiert: im Lager oder auf der Bühne IMPRESSUM Herausgeber Die Staatstheater Stuttgart Geschäftsführender Intendant Marc-Oliver Hendriks Intendant Oper Stuttgart Jossi Wieler Intendant Stuttgarter Ballett Reid Anderson Intendant Schauspiel Stuttgart Armin Petras 46 Das Besondere ist, dass wir für alle drei Sparten da sind und vor allem ein junges Publikum zu uns kommt. Das Ballett nutzt die Bühne für öffentliche Trainings und den sogenannten Blick hinter die Kulissen. Dann sind Tische wie bei einem Café aufgebaut und Choreographen und Tänzer geben Einblicke in ihre Arbeit. Auch die Junge Oper nutzt die Bühne für Aufführungen und Work- Konzept ErlerSkibbeTönsmann & Grauel Publishing GmbH Mitarbeit: Kai Schächtele Beratung der Herausgeber Johannes Erler, Ralf Grauel Redaktion Kai Schächtele (Leitung), Uwe Killing; Christoph Kolossa Redaktion für Die Staatstheater Stuttgart Thomas Koch, Claudia Eich­Parkin (Oper); Vivien Arnold, Ronja Ruppert (Ballett); Rebecca Rasem, Jan Hein (Schauspiel Stuttgart) Gestaltung Anja Haas; Inga Albers Schlusslektorat Isabelle Erler Anzeigen Simone Ulmer [email protected] Druck Bechtle Druck&Service GmbH, Esslingen Redaktionsschluss 7. September 2015 Erscheinungsweise 4 × pro Spielzeit Hausanschrift Die Staatstheater Stuttgart Oberer Schlossgarten 6, 70173 Stuttgart www.staatstheater-stuttgart.de Mich hat das Theater von Beginn an gefesselt. Ich liebe Musiktheater, ich liebe den Tanz. In meinem vorherigen Job als Bühnentechniker habe ich viele schöne Inszenierungen miterleben können und auch intensiv daran mitgearbeitet. Manchmal passieren ja auch Pannen. Gibt es welche, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind? Da ist eine Situation bei der Götterdämmerung von Richard Wagner. Es gab eine große Box, bei der an einer Seite Planen wie ein Raffrollo hoch und runter gezogen wurden. Während einer Vorstellung war die Seilführung beschädigt worden, eine Plane bewegte sich nicht. Und blieben nur zwei, drei Minuten. Wir mussten ganz schnell weitere Techniker rufen, gemeinsam haben wir die Plane mit extrem viel Kraftaufwand nach oben gezogen. In so einem Moment steigt der Adrenalinspiegel natürlich sonst wohin. Fehlt Ihnen dieser Thrill heute? Nein, den habe ich hier auch. Es ist zwar alles überschaubarer, aber die Aufregung bei einer Neuproduktion gibt es genauso. Da spielt es keine Rolle, ob 1 400 Menschen im Publikum sitzen oder 200. Fotos: Martin Sigmund Klingt nach viel Organisation. Was mögen Sie an Ihrem Job? Bestellen Sie unser Magazin Reihe 5 einfach kostenlos nach Hause! Per Post an: Die Staatstheater Stuttgart – Publikationen Postfach 10 43 45, 70173 Stuttgart Hauptsponsor des Stuttgarter Balletts Förderer des Stuttgarter Balletts Partner der Oper Stuttgart Online unter: www.staatstheater-stuttgart.de/reihe5 1.281 MUSEEN SIND EIN BISSCHEN VIEL* * Aber so ist es halt, wenn man etwas zu bieten hat. Vom Automobil bis zu klassischer und moderner Malerei: Im Süden hat jeder seine Dauerausstellung. Den aktuellen Kultursüden-Katalog können Sie kostenlos unter T +49 (0) 7 11 / 23 85 80 oder entspannt online unter [email protected] bestellen. facebook.com/wirsindsueden www.tourismus-bw.de [email protected]