15. Koprojektion und Inkorporation Peter Gallmann, Jena, 2016/17: Leere Kategorien 15.1. Verschmelzungen Bestimmte Elemente scheinen mehr als einer grammatischen Kategorie anzugehören. Ein bekanntes Beispiel sind die Verschmelzungen von Präposition und Artikel im Deutschen: im, ins, aufs, zum, zur. Wie sind solche Elemente zu erklären? In der Fachliteratur finden sich unter anderem zwei Ansätze, die im Folgenden einander gegenübergestellt werden sollen, nämlich • Koprojektion • Inkorporation (Kopfbewegung) 15.2. Koprojektion Bei Koprojektion kann auf leere Kerne verzichtet werden. Typische Kandidaten sind Kombinationen von »lexikalischen« und »funktionalen« syntaktischen Kategorien. Die höherrangige Kategorie »projiziert« auch höher. • Verschmelzung von Präposition + Artikel (zum Beispiel: zur, zum, im, ins): P/D → P/DP → PP • Adverbiale Subjunktion (zum Beispiel: seit, seitdem, bevor): P/C → P/CP → PP • Adverbiale Kasus als Äquivalente von Präpositionen, zum Beispiel Nomen bei »agglutinierenden« Sprachen wie dem Türkischen: P/D/N → P/D/NP → P/DP → PP • Interrogativpronomen (im Nebensatz) und Relativpronomen: C/D → C/DP → CP • Artikellose Eigennamen: D/N → D/NP → DP • Finites Verb: I/V → I/VP → IP Aber nur schwer lösbare Knacknuss: • Zweitstellung des finiten Verbs Keine Lösung für leere Phrasen: • Nullsubjekte: PRO, pro 1 15. Koprojektion und Inkorporation 15.3. Inkorporation Inkorporation: Bewegung von Kernen (Köpfen) = Kopfbewegung. Leere Kategorie »Spur« an der Ausgangsposition. Rigide Bewegungsbeschränkung (Fachliteratur: head movement constraint, HMC): Ein Kern Y0 kann nur dann zur Position X0 bewegt werden, wenn YP ein »Komplement« von XP ist. Lexikalische Kategorie → funktionale Kategorie: • V → I → C (= die klassische Analyse für das Deutsche) • N → D (zum Beispiel: artikellose Eigennamen, vgl. Longobardi 2005; nominal flektierte Indefinita des Typs etwas, nichts, genug) Funktionale Kategorie → lexikalische Kategorie: • Verschmelzung von Präposition und Artikel: D → P • adverbiale Subjunktion: C → P • adverbialer Kasus bei Nomen: N → D → P Lexikalische Kategorie → lexikalische Kategorie: • N → V (zum Beispiel: Zeitung lesen; Schritt halten, Rechnung tragen) • P → V (zum Beispiel: durch den Ort fahren → den Ort durchfahren; in einem Haus wohnen → ein Haus bewohnen) • A → V (zum Beispiel: die Freundin wach_küssen, den Teller leer_essen) • V → V (zum Beispiel: den Bleistift fallen lassen, vor der Ampel stehen bleiben) 15.4. Kritik Bei der Evaluation konkurrierender Ansätze ist zu fragen: • Was wird von beiden Ansätzen gleichermaßen erklärt? (Zum Beispiel Verschmeldung von Präposition und Artikel, adverbiale Subjunktionen.) • Was kann zusätzlich erklärt werden? (Zum Beispiel Inkorporation: bestimmte Konstruktionen mit Verben.) • Was kann nicht erklärt werden? (Zum Beispiel Koprojektion: Struktur der V/2Sätze.) • Notwendige Zusatzannahmen? (Zum Beispiel bei Koprojektion: Beziehung zwischen Relativphrase und Verb; bei Inkorporation: Rektionsverlust der Spur – immer oder nur unter bestimmten Bedingungen?) Tendenz: Koprojektion sieht auf den ersten Blick weniger aufwendig und damit eleganter aus. Aber der Ansatz kann nichts erklären, was sich mit Inkorporation nicht auch erklären lässt. Vielleicht ist Koprojektion nur eine Schreibvariante für eine Teilmenge der Inkorporationsstrukturen. 2 15. Koprojektion und Inkorporation 15.5. Fachliteratur in Auswahl Mit anderen Worten: unvollständig . . . Baker, Mark C. (1988): Incorporation. A Theory of Grammatical Function Changing. Chicago / London: The University of Chicago Press. Gallmann, Peter (2009): Skript zur Vorlesung Einführung in die wissenschaftliche Grammatik (Modul Grammatiktheorie II), Block M http://www2.uni-jena.de/philosophie/germsprach/syntax/2/doc/skript/WissBlock_M.pdf Haider, Hubert (1989): «Matching Projections». In: Cardinaletti, Anna / Cinque, Guglielmo / Giusti, Giuliana (eds.) (1989): Constituent Structure. Dordrecht: Foris. Seiten 101–121. Longobardi, Giuseppe (2005): «Toward a Unified Grammar of Reference». In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 24.1 / 2005: Themenheft Eigennamen. Seiten 5–44. Öhl, Peter (2003): Economical Computation of Structural Descriptions in Natural Language. PhD Dissertation, University of Stuttgart. 3