Angst – ein häufiges Problem in der Hausarztpraxis 4. Tag der Allgemeinmedizin, Homburg, 2012 Prof. Dr. med. Volker Köllner Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Medizinische Fakultät der Universität des Saarlandes MediClin Bliestal Kliniken, 66440 Blieskastel [email protected] MediClin Bliestal Kliniken Fachkliniken für Innere Medizin, Orthopädie und Rheumatologie sowie Psychosomatische Medizin Enge Kooperation mit der Uniklinik Homburg In der Psychosomatik ca. 1.500 vollstationäre Reha-Maßnahmen/Jahr, Tagesklinik und Ambulanz. Schwerpunktstation zur Behandlung von Angst- und Traumafolgestörungen Was ist Angst? Angst ist die natürliche Reaktion des Menschen auf Gefahren. Sie äußert sich auf allen Ebenen unseres Verhaltens und Erlebens: im kognitiven und emotionalen Bereich: z. B. Einengung der Wahrnehmung auf gefahren-relevante Reize, Einengung des Denkens und Fühlens bei Befürchtungen, selektives Lernen und Erinnern, im Verhalten: meist Flucht oder Vermeidung auf der körperlichen Ebene: Alarmreaktionen im sympathischen Nervensystem, z. B. Herzrasen, Schwitzen, Beschleunigung, Hyperventilation, Zittern. Was ist eine Angststörung? Andauernde Fehl- regulation des AngstStreß-Reaktionssystems Angst tritt in unangemessener Stärke und in unangemessenen Situationen auf Erwartungsangst führt zu Daueraktivierung des Angstsystems Vermeidungsverhalten verhindert Habituation Angststörungen sind häufige Erkrankungen: Nach Bundesgesundheitssurvey (1998) litten 14,2% der Bevölkerung zwischen 18 und 65 innerhalb eines Jahres unter einer klinisch relevanten Angststörung 50% Komorbidität mit Depression, somatoformen Störungen oder Suchtstörung Hohe volkswirtschaftliche Relevanz z. B. durch häufige AU-Tage und sozialmedizinische Folgen Angststörung & Arbeitsunfähigkeit: Prozentualer Anteil von Männern und Frauen mit mindestens einem Ausfalltag pro Monat für verschiedene Erkrankungsgruppen im Vergleich zur Gruppe ohne psychische Störungen und ohne körperliche Erkrankung (aus Bundesgesundheitssurvey, 1998) AU–Tage/Monat bei unterschiedlichen Diagnosen (Wittchen & Jacobi, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2004) Erkrankung Kardiovask. Erkrankung Diabetes Alkoholabhängigkeit Major Depression Spez. Phobie Agoraphobie Generalisierte Angststörung Panikstörung Soziale Phobie Männer 1,8 3,5 1,2 2,1 4,2 4,2 4,6 4,6 6,9 Frauen 1,4 2,1 1,3 1,8 2,6 2,8 2,3 3,6 1,9 Leben wir in einem Zeitalter der Angst? Noch nie sind so viele Menschen gesund alt geworden. Noch nie waren die Anforderungen an den einzelnen Menschen so komplex. Noch nie haben wir Katastrophen überall auf der Welt „live“ mitverfolgen können. Gleichzeitig Wegfall von Bindunghen durch Werte und familiäre Strukturen einerseits vergleichsweise hohe „objektive Sicherheit“ andererseits hohe „gefühlte“ Angst Bezeichnungen nach ICD-10 Agoraphobie / mit Panik Soziale Phobie Spezifische Phobie F40.00 /01 F40.1 F40.2 statt „phobische Neurose“ Panikstörung F41.0 generalisierte Angststörung F41.1 statt „Angstneurose“ Angstdiagnostik Erfragen von Leitsymptomen in der Anamnese Leitsymptome ermöglichen oft schon Diagnose und therapeutische Weichenstellung Zeitlicher Verlauf der Symptomatik? Zusammenhang mit biographischen Ereignissen? Ausmaß der Beeinträchtigung/Vermeidung? Somatische Differentialdiagnostik Cave: Erklärungsmodell des Patienten bestimmt Gebiet des aufgesuchten Arztes (O2-Mangel in vollem Kaufhaus => Pneumologe oder Kardiologe) Cave: Über- Unter- und Fehldiagnostik Auf Suchterkrankungen (Entzugssymptome achten) Vorbefunde einbeziehen zügige Abklärung somatischer Symptome gemäß diagnostischer Leitlinien Verhaltensanalyse Lebensgeschichte, Wertesystem S O R K + lang + kurz - Soziales Umfeld, Normen, Rahmenbedingungen S = Auslösesituation; O = Organismus-Variablen; R = Reaktion; K = Konsequenzen; lang = langfristig; kurz = kurzfristig. S, R und K können auf der physiologischen, psychischen und sozialen Ebene beschrieben werden. Kurzfristige Konsequenzen steuern das Verhalten deutlich stärker als langfristige! Agoraphobie (ICD-10 F40.0) Leitsymptom: Angst an bestimmten Orten, von denen aus es keinen „Fluchtweg“ gibt; Versuch, diese zu vermeiden. Kombination mit Panik u. Depression häufig Lebenszeitprävalenz: 5,7% m<w Arztbesuch v. a. wegen körperlichen Symptomen (z. B. Dyspnoe in vollen Räumen). Viele Patienten wissen nicht um die Art der Erkrankung und die guten Therapiemöglichkeiten und suchen deshalb keine Hilfe. Soziale Phobie F40.1 Leitsymptome: - Furcht vor prüfender Betrachtung und Blamage; dysfunktionale Annahmen über die Bewertung durch andere und deren Konsequenzen; - Versuch soziale Situationen zu vermeiden. Lebenszeitprävalenz 2 -10% Symptomatik wird häufig verschwiegen. Arztbesuch allenfalls wegen körperlicher Symptome wie Zittern, Schwitzen, Erröten. Häufig sekundärer Alkohol- oder Medikamenten-Abusus. Spezifische Phobien F40.2 Leitsymptom: Angst vor spezifischen Objekten/Situationen (Tiere, Höhen, Fliegen, Blut, Spritzen); Versuch, diese zu vermeiden. Lebenszeitprävalenz 5-15%, m<w Viele Patienten wissen nicht um die guten Therapiemöglichkeiten und suchen deshalb keine Hilfe. Bei Blut-/Spritzenphobie ist Ohnmacht häufig! Therapie phobischer Störungen Exposition ist Therapie der Wahl: „It is paticulary important to note the long history and current success that exposure treatments of various kinds have with anxiety disorders.“ Lambert MJ (Ed). Bergin & Garfield’s Handbook of psychotherapy and behavior change, 5th Ed. New, 2004 Exposition in vivo ist effektiver als Exposition in sensu Die besten Ergebnisse haben Programme mit längeren, unterbrechungsfreien Blocksitzungen Ggf. Erweiterung des Therapieplans zur Bearbeitung dysfunktionaler kognitiver und emotionaler Schemata Angst wird nicht gelöscht, sondern Angstbewältigung gelernt! Expositionstherapie Beginn mit Psychoedukation/ kognitiver Vorbereitung & Beziehungsaufbau Erste positive Erfahrungen mit Exposition in virtueller Realität Bei sozialer Phobie Modifikation als Verhaltensexperiment zur Überprüfung dysfunktionaler Kognitionen Bei Blut- und Spritzenphobie „applied tension“ (2-5 Sitzungen) Systematische Desensibilisierung hat nur noch historische Bedeutung. Cave: Bei Abbruch vor Symptomabfall oder verdecktem Vermeidungsverhalten Verschlechterung Benzodiazepine verhindern Angstanstieg und Habituation Probleme: Nur 40% aller Patienten mit Angststörung erhalten überhaupt eine Behandlung, nur etwa 10% Verhaltenstherapie. Auch Verhaltenstherapeuten neigen dazu, bei Patienten mit phobischem Vermeidungsverhalten keine Konfrontationsbehandlung durchzuführen. Unsachgemäß durchgeführte Konfrontation kann Patienten demoralisieren und die Angst verschlimmern. Was wird aus den verbleibenden 20% therapierefraktärer Patienten ? Panikstörung F41.0 Leitsymptom: Unvorhersehbar auftretende Anfälle mit heftigen vegetativen Symptomen und Angst vor Tod oder Kontrollverlust. Häufig Verstärkung durch Hyperventilation Lebenszeitprävalenz 2,4%; m<w; bei Männern 2. Häufigkeitsgipfel um 40. Lj. Patienten kommen oft zum Arzt, da sie körperl. Ursachen der Symptome vermuten. Wichtige DD in Notfallsprechstunden. Panik-Teufelskreis Wahrnehmung Körperl. Veränderung Bewertung Gefahr harmlos (z. B. Pulsfrequenz ⇑) ☺ Physiologische Angstreaktion: Puls RR Atmung Schwitzen, Vasokonstriktion, Muskelspannung Angst Panikanfä Panikanfälle: Häufige DD in der Akutmedizin 34 – 56% aller Patienten mit unauffälligem Herzkatheter- befund erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Panikstörung erfüllen(Fleet et al, 2000) 16 – 25% aller Patienten in einer Notfallambulanz und 25 – 57% aller Patienten mit atypischem Brustschmerz (Jeejeebhoy et al, 2000) haben einen Panikanfall bei 50 – 98% aller Patienten, die wegen eines Panikanfalls eine kardiologische Sprechstunde aufsuchen, die Diagnose nicht gestellt wird (Ormel et al., JAMA, 1994) Synonyme für Panikstörung in Arztbriefen Neurozirkulatorische Herzphobie Asthenie Neurasthenie Hyperkinetisches Herzsyndrom DaCosta-Syndrom vegetative Labilität Reizherz Herzneurose Hypochondrie Lokomotorische Angst Vasomotorische Neurose .... Therapie der Panikstörung Kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition an interne und externe angstauslösende Reize (z. B. Sport, Hyperventilation, Schwindel) und Neuberwertung der Symptome ist am besten evidenzbasiert. Kombination mit körperlichem Ausdauertraining oft hilfreich Medikamentöse Therapie: - Benzodiazepine nur kurz als ultima ratio in Krisensituationen; CAVE: schnelle Suchtentwicklung - SSRI-Antidepressiva & VT: schnellerer Wirkungseintritt, aber höhere Dropoutrate - SSRI alleine ist VT alleine unterlegen Generalisierte Angststörung F41.1 Leitsymptom: ständige, nicht unterdrückbare Sorgen zu verschiedenen Lebensbereichen, Suche nach Rückversicherung und Vermeidung, vegetative Anspannung (=> Schmerz) , Erschöpfung, Schlafstörung, kognitive Beeinträchtigung. Lebenszeitprävalenz etwa 6%, m=w Arztbesuch v. a. wg. Streßsymptomen, Schlafstörung und Erschöpfung. Viele Patienten wissen nicht, daß sie an einer psychischen Störung leiden (Annahme: „Die Welt ist ein sehr gefährlicher Ort“) Therapie der GAS Kognitive VT am besten evidenzbasiert, aber geringere Erfolge als bei anderen Angststörungen 3 therapeutische Möglichkeiten: - Angewandte Entspannung - kognitive Therapie nach Wells (Zielpunkt: „Meta-Sorgen“) - Sorgenkonfrontation (die Sorge zu Ende denken, damit vebundene Gefühle zulassen) Bei Patienten mit interpersonellen Konflikten Ergänzung mit psychodynamischen verfahren sinnvoll Psychotherapie etwa gleich wirksam wie SSRI Hypochondrische Störung (F45.2)* Im Vordergrund steht die Angst, an einer bedrohlichen Erkrankung zu leiden. Meist auf eine bestimmte Erkrankung (z. B. Herzangst, Karzinophobie, HIV-Phobie) bezogen. Sonderform: Körperdysmorphe Störung = Angst, daß ein Körperteil mißgestaltet ist. Häufige ärztliche Untersuchungen bringen kurzfristige Beruhigung und halten über negative Verstärkung die Erkrankung aufrecht. Ein Teil der Patienten vermeidet aus Angst vor einer schwerwiegenden Diagnose Arztbesuche, ist aber ständig durch krankheitsbezogene Sorgen belastet. *im ICD-10 noch unter somatoforme Störungen subsumiert, gehört aber konzeptuell zu den Angststörungen und wird im ICD-11 auch hier eingeordnet. Therapie der hypochondirschen Störung kognitive VT zur Umbewertung dysfunktionaler Bewertungen, Sorgenkonfrontation, Aufbau eines angemessenen Gesundheitsverhaltens Ausdauertraining zur Exposition an internale Reize und Aufbau von Selbstvertrauen in den eigenen Körper Aufbau eines angemessenen Gesundheitsverhaltens => Arzttermine zeit- und nicht symptomkontingent! Bei Antidepressiva oft schlechte Compliance nach Lesen des Beipackzettels Keine Benzos wegen Abhängigkeitsgefahr! Hinweise für die Hausarztpraxis 1 Information über das Vorliegen einer Angsterkrankung und plausible Erklärungsmodelle (Teufelskreismodell, „Fehlfunktion der Alarmanlage) wirken entängstigend und können im Anfangsstadium ausreichend sein. Motivation zu regelmässigem Ausdauertraining und Erlernen eines Entspannungsverfahrens Hinweis auf die Stressabhängigkeit von Angstsymptomen => Angstsymptome können (müssen aber nicht) Hinweis auf eine zu hohe Stressbelastung sein: Ermutigung zur Selbstreflektion.... Hinweise für die Hausarztpraxis 2 bei hypochondrischen Patienten mit häufigem Abklärungswunsch Terminvergabe zu festen Zeiten. Anleitung zur Selbstexposition mit Hilfe eines Patientenratgebers*. Bei fehlender Besserung oder Symptomverschlechterung Überweisung zur Fachpsychotherapie (VT). Medikamentöse Therapie mit Antidepressiva, nicht mit Benzodiazepinen oder (Depot)Neuroleptika. Langzeit-AU fördert die Chronifizierung => schnelle Einleitung einer stationären Rehamaßnahme. *auch nützlich, um sich selbst einen schnellen Überblick zu verschaffen Zusammenfassung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. ICD-10 - Diagnose weist den Weg zu evidenzbasierter Therapie; Diagnose ist anhand der Leitsymptome meist gut zu stellen Komorbide Störungen sind v. a. bei Chronifizierung häufig Bei Phobien und Panikstörung ist Verhaltenstherapie mit Konfrontation Therapie der 1. Wahl Bei GAS und komorbiden Störungen kann Kombination mit psychodynamischer Therapie in einem Gesamtbehandlungsplan sinnvoll sein Antidepressiva sind ebenfalls wirksam Häufigste Behandlungsfehler: Zu lange AU ohne therapeutisches Konzept und ärztlich induzierte Benzodiazepinabhängigkeit Ungelöstes Problem: Lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz... Köllner V, Broda M. Praktische Literatur Verhaltensmedizin, Thieme, 2005 Köllner V, Kindermann I, Berg G. Angststörungen und funktionelle somatische Syndrome in der Kardiologie. DMW 2007, 132: 2513-2525 S. Schneider, J. Margraf: Agoraphobie und Panikstörung, Hogrefe, 1998 U. Stangier et al., Soziale Phobie. Hogrefe, 2006 Patientenratgeber S. Schmidt-Traub: Angst bewältigen – Selbsthilfe bei Agoraphopie und Panik. Springer, 2008 Hogrefe Patientenratgeber zu Agoraphobie & Panik, Generalisierter Angststörung, Soziale Phobie, Somatisierung & Krankheitsängste, Dysmorphophobie, jeweils ca. 9,95€, 90 S. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!