Psychosoziale Entwicklung von Kindern und

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Public Health Forum 2015; 23(4): 237–239
Sina Wanderer* und Veit Roessner
Psychosoziale Entwicklung von Kindern und
Jugendlichen in stationären Einrichtungen der
Jugendhilfe
Psychosocial development of children and adolescents living in foster care
DOI 10.1515/pubhef-2015-0084
Zusammenfassung: Obwohl die Mehrheit der Kinder und
Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Jugend­
hilfe die Kriterien einer psychischen Störung erfüllen,
zeigen circa 40% ein weitgehend gesundes, altersgerech­
tes Erleben und Verhalten. Protektiv wirkende Faktoren
liegen dabei sowohl auf Seiten der Kinder und Jugendli­
chen selbst (wie Selbstwirksamkeit, Intelligenz) als auch
in der Beschaffenheit der Einrichtungen (wie Strukturen,
Gleichaltrigen-Kontakten). Wenn diese Faktoren nicht
ausreichen, ist eine tragfähige Kooperation zwischen
Jugendhilfe, Jugendamt und Kinder- und Jugendpsychia­
trie wichtig.
Schlüsselwörter: Kinder- und Jugendpsychiatrie; sta­
tionäre Jugendhilfe; Lebenskompetenz; psychische
Gesundheit.
Abstract: The majority of children and adolescents living
in foster care fulfill the criteria of mental health disor­
ders. On the other hand, about 40% of the juveniles show
­normal and appropriate perception and behavior in rela­
tion to their age. There exist protective factors within the
child or adolescent himself (e.g. self-efficacy and intelli­
gence) or within the character of foster care (e.g. frame­
work, contact with peers). If protective factors do not
suffice a viable and solid cooperation between foster care,
youth welfare service and child and adolescent psychiatry
is necessary.
Keywords: child and adolescent psychiatry; foster care;
life competence; mental health.
*Korrespondenz: Sina Wanderer, Universitätsklinikum der
Technischen Universität Dresden, Kinder- und Jugendpsychiatrie
und –psychotherapie, Fetscher Str. 74, 01307 Dresden,
E-mail: [email protected]
Veit Roessner: Universitätsklinikum der Technischen Universität
Dresden, Kinder- und Jugendpsychatrie
Von Jahr zu Jahr erhalten mehr Kinder und Jugendliche
Leistungen der Jugendhilfe. So steigt die Zahl der Inob­
hutnahmen sowie der Vollzeitpflege in stationären Ein­
richtungen der Jugendhilfe kontinuierlich [1, 2]. Gründe
für eine Fremdplatzierung sind vielfältig und mit Blick auf
die psychosoziale Entwicklung der Kinder und Jugend­
lichen häufig kritische Lebensereignisse: mangelnde
Erziehungskompetenzen und Überforderung der Eltern,
Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch, Gefährdung des
Kindeswohls etc.
So verwundert es nicht, dass laut etlichen Studien
psychische Belastungen sowie Prävalenzraten von psychi­
schen Störungen bei Kindern und Jugendlichen in statio­
nären Einrichtungen der Jugendhilfe deutlich höher sind
als bei Kindern und Jugendlichen in der Allgemeinbevöl­
kerung. Circa 60% der Kinder und Jugendlichen in statio­
nären Einrichtungen der Jugendhilfe erfüllen die Kriterien
einer psychischen Störung [3, 4], wobei die Mehrheit
unter externalisierenden Störungen (wie hyperkinetische
Störung, Störung des Sozialverhaltens) leidet [5].
Wendet man jedoch den Blick von psychosozialen
(Verhaltens-)Auffälligkeiten hin zu den Ressourcen und
Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen bedeutet der
Umkehrschluss, dass trotz schwerwiegender, frühkind­
licher Negativerfahrungen 40% der Kinder und Jugend­
lichen in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe ein
weitgehend gesundes, altersgerechtes Erleben und Ver­
halten zeigen. Mögliche Faktoren, die die Entwicklung
der Kinder und Jugendlichen schützen können, sind
Intelligenz, konstante Bezugspersonen, aktive Bewälti­
gungsstrategien, Anpassungsfähigkeit sowie Distanzie­
rung vom belastenden Elternhaus [6]. Dabei spielt auch
die Selbstwirksamkeitserwartung, d.h. die Überzeugung,
durch das eigene Handeln Ziele bzw. Absichten errei­
chen und steuern zu können, eine große Rolle. Sie ist ein
unspezifisch wirkender Resilienzfaktor, der durch posi­
tive Erfahrungen im Alltag weiterentwickelt und gestärkt
werden kann [7].
Rahmenbedingungen und Strukturen der stationä­
ren Einrichtungen der Jugendhilfe wirken sich zudem
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238 Wanderer und Roessner: Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
positiv auf die psychosoziale Entwicklung der Kinder
und Jugendlichen aus. Maßnahmen und Dienste der
stationären Einrichtungen der Jugendhilfe ermögli­
chen eine nachhaltige Rehabilitation und schützen vor
erneuten Belastungen in den Ursprungsfamilien [8].
Durch die Erfahrung von neuen, angemessenen Bin­
dungsangeboten und daraus erwachsenden tragfähi­
gen Beziehungen, Zuverlässigkeit durch klare Grenzen
und Strukturen sowie durch Unterstützung und Schutz
wird es betroffenen Kindern und Jugendlichen ermög­
licht, altersgerechte Entwicklungsschritte zu gehen [7].
Auch positiv verlaufende, soziale Kontakte unter den
Kindern und Jugendlichen, die gemeinsam in stationä­
ren Einrichtungen der Jugendhilfe leben, können sich
bereichernd auf ihre Lebensqualität und –kompetenzen
auswirken. Die Kinder und Jugendlichen teilen ähnliche
Erlebnisse und Erfahrungen (mit Eltern, Betreuern, im
Alltag usw.) und geben sich gegenseitig Halt und Unter­
stützung [9].
Nicht nur in einzelnen Studien, sondern auch bei
deren meta-analytischer Gesamtbetrachtung zeigt sich,
dass psychosoziale (Verhaltens-)Auffälligkeiten von
Kindern und Jugendlichen nach längerem Aufenthalt in
stationären Einrichtungen der Jugendhilfe niedriger aus­
fallen als zuvor. Dabei sind jedoch die Effektgrößen sehr
heterogen und schwanken je nach Studiendesign mit
Alter, Geschlecht und Störungsbereich der Kinder und
Jugendlichen, dem Konzept sowie den Angeboten der
stationären Einrichtung der Jugendhilfe. Unter anderem
fanden sich z.B. deutlichere Verhaltensverbesserungen
bei Kindern mit externalisierenden (wie hyperkinetische
Störung, Störung des Sozialverhaltens) im Vergleich zu
internalisierenden Störungen (wie Depression, Soziale
Phobie) [10]. Leider gibt es jedoch unter den bisherigen
Studien kaum mehrere Jahre umfassende Längsschnitter­
hebungen [10, 11].
Trotz der benannten günstigen Faktoren bei Kindern
und Jugendlichen in stationären Einrichtungen der
Jugendhilfe reichen diese manchmal nicht als „Gegen­
gewicht“ zu den psychosozialen Belastungen bzw.
negativen Erfahrungen aus. Dann ist zusätzliche Hilfe
notwendig, um eine altersgerechte Entwicklung zu unter­
stützen. Dem wachsenden Trend der letzten Jahre folgend
ist daher bei einer zunehmenden Anzahl von Kindern und
Jugendlichen eine enge und tragfähige Kooperation zwi­
schen Jugendhilfe, Jugendamt und Kinder- und Jugend­
psychiatrie notwendig, um eine optimale Förderung der
psychosozialen Entwicklung der betroffenen Kinder und
Jugendlichen und damit eine Abwendung der Chronifizie­
rung von psychosozialen (Verhaltens-)Auffälligkeiten zu
erreichen [8, 12, 13].
Aus dem gegenseitigen Aufeinanderangewiesen­
sein der Hilfesysteme erwächst die Notwendigkeit, sich
grundlegend über die eigene Arbeit und entsprechende
Handlungsstrukturen zu verständigen, um kooperative
Entscheidungsprozesse aktiv gestalten zu können. Dabei
birgt unter anderem eine interdisziplinär ausgerichtete
Weiterbildung die Chance, Kooperationsbereitschaft und
verbesserte organisationsübergreifende Gestaltung von
Prozessen und Beziehungen zwischen den Mitarbeitern
der verschiedenen Institutionen zu fördern [14]. Erste
Ergebnisse zu Akzeptanz und positivem Erleben einer
solchen gemeinsamen Weiterbildung liefern Groen und
Jörns-Presentati [15] in einem internationalen Forschungs­
projekt. Inwiefern jedoch neben einer Verbesserung der
Kooperation eine interdisziplinäre Weiterbildung u.a.
durch den Wissenstransfer auch zu einer Verbesserung
der psychosozialen Entwicklung der Kinder und Jugendli­
chen führt, ist wissenschaftlich noch nicht untersucht. In
einer Studie der Kinder- und Jugendpsychiatrie Dresden
sollen diese Effekte nun betrachtet werden. Dabei werden
Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der
Jugendhilfe im Alter von sechs bis 18 Jahren über drei
Jahre in ihrer psychosozialen Entwicklung begleitet. Dazu
kommen neben klinisch und wissenschaftlich etablier­
ten Instrumenten auch selbstentwickelte Maße zur Erfas­
sung der Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern
der beteiligten Institutionen (in Anlehnung an [16, 17])
zum Einsatz. Mitarbeiter der stationären Einrichtungen
der Jugendhilfe sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie
und des Jugendamtes Dresden nehmen an einem gemein­
samen Curriculum teil, welches in zwei Durchgängen
(Warte-Kontrollgruppen-Design) erfolgt. Inwiefern das
Curriculum einen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder
und Jugendlichen hat, gilt es zu prüfen.
Als Gegenstand möglicher Interessenkonflikte
können angesehen werden: Förderung der Schnittstel­
lenforschung durch das Sächsische Staatsministerium für
Soziales und Verbraucherschutz sowie die Friede-Sprin­
ger-Stiftung. Trotz des möglichen Interessenkonflikts ist
der Beitrag unabhängig und produktneutral.
Literatur
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Bundesamt (Destatis) [Internet]. 2013 [zitiert 26. Juni 2015].
Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/
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2. Statistisches Bundesamt. Staat & Gesellschaft – Kinder- &
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(Destatis) [Internet]. 2014 [zitiert 26. Juni 2015]. Verfügbar unter:
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Wanderer und Roessner: Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen 239
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