LEIBNIZ | SPEKTRUM Puzzlearbeit Die Moleküle, denen sich Christian Hertweck widmet, sind winzig — aber extrem komplex. Eines Tages könnten sie Grundlage neuer Chemiker nun den Leibniz-Preis verliehen. 38 Fotos: David Ausserhofer/DFG Medikamente sein. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat dem 1/2015 LEIBNIZ | SPEKTRUM Jena ist eine Stadt, die erst auf den zweiten Blick ihren Charme entfaltet. Der Weg vom Paradiespark zum Beutenberg Campus, dem wissenschaftlichen Zentrum, führt entlang wulstiger, blauer Fernwärmerohre. Ab und an rauscht ein Zug vorbei. Aber löst man den Blick von den Rohren und Gleisen, bleibt er an dem grünen Kessel aus bewachsenen Hügeln hängen, der die Stadt umschließt. Auf der anderen Seite ϐé Ǥ Heute läuft Christian Hertweck diesen Weg vom Bahnhof, den er sonst mit dem Klapprad oder der Straßenbahn zurücklegt. 60 Zugminuten trennen seinen Wohnort Leipzig und seinen Arbeitsplatz auf dem Beutenberg, das LeibnizInstitut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – HansKnöll-Institut (HKI). „Das kann schon anstrengend sein“, sagt er, „aber ich habe gelernt, die Zeit effektiv zu nutzen. Zwei Stunden, in denen mich niemand anderes als der Schaffner stört.“ Am HKI füllt Christian Hertweck gleich mehrere Rollen aus. Er ist Leiter der Abteilung für Biomolekulare Chemie, stellvertretender Direktor und Mentor für junge Wissenschaftler. Außerdem hat er die Professur für Naturstoffchemie an der FriedrichSchiller-Universität Jena inne. Er beschäftigt sich mit kleinen, aber komplexen organischen Molekülen aus Mikroorganismen. Diese Naturstoffe sind einerseits ökologisch bedeutsam – andererseits können sie als Wirkstoffe die Grundlage für neue Medikamente sein. Antibiotika aus Bakterien Mit seiner Arbeitsgruppe hat Hertweck bereits viele Puzzleteile zusammengetragen, die entschlüsseln, wie Mikroben die kompliziert aufgebauten Moleküle herstellen. Mit Hilfe dieses Wissens haben die Forscher erstmals neuartige Antibiotika aus anaeroben Bakterien gewonnen. Hinzu kommen grundlegend neue Erkenntnisse zum Zusammenleben von Pilzen und Bakterien. 1/2015 Im Labor: Christian Hertweck und Mitarbeiter. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat dem gebürtigen Bonner deshalb Anfang März den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis verliehen. „Nicht geglaubt, was gelehrt wurde“ Der Weg dorthin war durchaus von Zweifeln begleitet. Nach vier Semestern unterbricht Christian Hertweck erst einmal sein Chemiestudium an der Universität Bonn. „Ich habe nicht geglaubt, was da gelehrt wurde“, sagt er. „Diese ganzen Formeln und dass da irgendwelche Elektronen rumwandern.“ Doch auch ein Intermezzo in Philosophie, Psychologie und Germanistik erklärt ihm nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält. „Erst später ist mir aufgegangen, dass solche Formeln nicht die Realität sind, sondern gut funktionierende Modelle, mit denen man etwas beschreibt, was dann erfahrbar wird.“ Heute nutzt der Forscher theoretische Modelle aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, weil sie es ihm ermöglichen, Fragestellungen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Das spiegelt sich auch in der Auswahl seiner Mitarbeiter: Chemiker, Biologen, Biochemiker, Pharmazeuten und Mikrobiologen arbeiten in seiner Abteilung zusammen. 1996 schließt Christian Hertweck schließlich sein Chemiestudium ab. Am ebenfalls auf dem Beutenberg ansässigen MaxPlanck-Institut für chemische Ökologie beendet er drei Jahre später seine Promotion. Nach einer Zwischenstation in Seattle kehrt er 2001 nach Jena zurück. Dieses Mal ans Hans-KnöllInstitut, wo ihm eine Nachwuchsgruppe übertragen wird. „Das war spannend, hat aber auch den Druck enorm erhöht. Ich musste in sehr kurzer Zeit lernen, Mitarbeiter anzuleiten und mich wissen ϐǤDz Ǧ ner Habilitation haben Elite-Universitäten wie die TU München und die ETH Zürich versucht, ihn abzuwerben, aber er ist Jena treu geblieben. Nicht zuletzt wegen der idealen Arbeitsbedingungen. Hertwecks Abteilung hat sich auf die Entdeckung neuer Wirkstoffe gegen Infektionen spezialisiert. Mit chemischen und biologischen Methoden untersuchen die Forscher, wie die mikrobiellen Naturstoffe aufgebaut sind und wirken. Mit synthetischen und gentechnischen Verfahren werden diese dann verändert, damit die Medizin sie nutzen kann. Giftstoff gegen Tumorzellen Rhizoxin ist einer dieser Wirkstoffe. In der Natur nutzt ein Pilz ǡ ϐ befallen. Tests haben jedoch gezeigt, dass Rhizoxin auch gegen Tumorzellen wirksam ist. Hertweck und seine Kollegen fanden in der Folge heraus, dass der Pilz nicht der wahre Produzent ist, sondern Bakterien, die im Inneren der Pilzzellen leben. Mit Hilfe dieser Bakterien konnten schließlich deutlich wirksamere Verbindungen produziert werden. „Ich würde mich sehr freuen“, sagt Hertweck, „wenn das, was wir hier machen, irgendwann mal eine Krankheit heilt oder eine Infektion bezwingt.“ Gleichzeitig sei ihm bewusst, dass der Weg zum Medikament weit ist. Das Fördergeld des Leibniz-Preises ermöglicht es ihm, nun auch riskantere Projekte zu verfolgen, für die sich sonst kaum Gelder ϐǤ 39 LEIBNIZ | SPEKTRUM Hertwecks Arbeitstage sind lang und gefüllt mit diversen Terminen, Projektmeetings und dem Schreiben wissenschaftlicher Artikel und Gutachten. Hinzu kommen die Vorlesungen an der Universität, administrative Aufgaben und ein ganzer Wust an E-Mails. Das hohe Arbeitspensum erfordert eine gute Strategie. „Auch um nicht irgendwann sonderlich zu werden.“ Zum Ausgleich macht Christian Hertweck Sport und verschiedene Entspannungsübungen. „Dabei geht es gar nicht darum, in eine andere Welt abzudriften, sondern präsenter und ausgeglichener in dieser Welt zu sein.“ An die große Glocke hängt der 45-Jährige das aber lieber nicht, immerhin sei die Wissenschaftswelt noch immer eine sehr rationale. „Wissenschaftler meinen manchmal, dass alles beweisbar und einer Logik unterworfen sein müsste, damit es wahr ist“, sagt er. „Für viele ist das eine Art Insel in einem ansonsten sehr unberechenbaren Universum. Dabei ist auch die Logik an sich nicht beweisbar. Man muss an sie glauben.“ An der Forschung wachsen Auch mit seinen Mitarbeitern spricht Hertweck nicht nur über Arbeitsfortschritte. Sie tauschen sich über Themen wie Frustrationsbewältigung oder den Umgang mit Prüfungssituationen aus. Ein weiterer Punkt, den Hertweck ihnen nahelegt: das „freundliche Nein-Sagen“. Das sei absolut notwendig, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können. An seinem Beruf als Wissenschaftler reizen Hertweck neben der Hoffnung auf Erkenntnisse, die Leiden lindern, auch diese zwischenmenschlichen Erfahrungen. Und das Wachsen an den gestellten Aufgaben. „Im Grunde sind das die gleichen Herausforderungen wie im täg Dzǡ ϐ Ǥ sei eine ritualisierte Übung, mit den ganz normalen Lebensaufgaben umzugehen. „Die eine Frage lautet: Kann man die Aufgabe lösen? Aber die andere ist: Was hat das Ganze mit einem selbst gemacht?“ Hertweck wirkt zufrieden. Mit beschwingtem Schritt setzt er seinen Weg zum HKI fort. An manchen Stellen löst sich der steinige Untergrund des Weges zu hellem Matsch und hinterlässt Spuren an Schuhen und Hosenbein. Christian Hertweck scheint das nicht der Rede wert. In etwa zehn Minuten wird er den Beutenberg erreicht haben. TINA KU NAT H Anzeige sehen sie auch überall den produktlebenszyklus? Mehr sehen. Mehr verstehen. Alles finden. ZBW. 40 Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft Leibniz Information Centre for Economics Über die ZBW haben Sie Zugriff auf qualitativ hochwertige Volltexte, Daten und Statistiken aus den Wirtschaftswissenschaften. In ganz Deutschland. www.alles-finden-zbw.eu 1/2015