Die Maske des Stils - Deutsche Gesellschaft für Semiotik

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Stil als Zeichen. Funktionen – Brüche – Inszenierungen.
Beiträge des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) vom 24.-26. Juni 2005 an der Europa-Universität
Viadrina. Frankfurt (Oder) 2006. (Universitätsschriften – Schriftenreihe der Europa-Universität Viadrina, Band 24).
CD-ROM (ISSN 0941-7540).
Bernhard Langer
Die Maske des Stils:
das Performative in der Architektur von Herzog & de
Meuron
Mit dem von Joseph Bayer 1886 geprägten Begriffspaar „Stilhülse“ und „Kern“ (s. auch
Oechslin 1994) hat eine Betrachtungsweise ihre Formel gefunden, welche die
Diskussionen in der Architektur spätestens seit Gottfried Sempers Der Stil prägt.
Anhand dieser Metaphern lässt sich an einem Gebäude zwischen einer sinnlich
wahrnehmbaren Oberfläche und einem konzeptuellen Kern unterscheiden und damit
die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Aspekte stellen. Wird unter dem Stil eines
Gebäudes das Phänomen der Oberfläche verstanden, d.h. die äußere Schicht als Träger
öffentlicher, expressiver, semiotischer oder ikonischer Aspekte, so tritt der Begriff meist
im Plural auf und steht für jene Werte, die sich mit den Phänomenen der Bekleidung,
des Modischen oder Ephemeren verbinden. Hatten die Stilkleider bei Semper die
positive Funktion, die alltägliche Wirklichkeit, „die Mittel“ und „den Stoff“ der
Architektur zu verschleiern und vergessen zu machen, um das Gebäude im positiven
Sinn frei für seine soziale und kulturelle Funktion zu machen (1860/1977: 231 f, Anm.
2), so bewegt sich die Architektur der modernen Avantgarde in den Fußspuren der
abendländischen Philosophie, für die die Oberfläche mit all ihren rhetorischen und
sinnlichen Mitteln der Verführung bloß in Verdacht stand, das Wesen zu verstellen.
Wenn etwa Hedrik Petrus Berlage die Wahrheit der Architektur sucht – ohne
„Konfusion mit Kleidern“ – so ist diese Wahrheit eine unbekleidete: „die Wahrheit, die
wir wollen, ist ganz nackt.“ (1908: 13) Die Wahrheit als nackte war auch das Ziel der
traditionellen Form der westlichen Philosophie, der Metaphysik. Als ihre Aufgabe galt
es, die sich in verschiedene Verhüllungen und Verkleidungen gebende Wahrheit zu
entschleiern. Der Prototyp einer relativistischen Philosophie, die griechische Sophistik,
wird dann auch von Platon mit einer der Mode verwandten Scheinkunst verglichen, „die
gar verderblich ist und betrügerisch, unedel und unanständig, und die durch Gestalten
und Farben und Glätte und Bekleidungen die Menschen (...) betrügt.“ (Platon, Gorgias:
465 b)1
Auch wenn es mit der jüngsten Renaissance von Gottfried Sempers
„Bekleidungstheorie“ zu einer Reevaluierung der modernen Architektur und ihrer
Selbstdarstellung kam und die Themen der Bekleidung, des Stils und der Mode ins
Zentrum der Betrachtung rückten2, ist doch der Verdacht, dass sich in den glänzenden
Oberflächen vieler der neuen, oft im kommerziellen Kontext entstandenen
Architekturen doch nur ein Interesse an „oberflächlichen“, der Architektur nicht
1
Zur Wahrheitsmetaphorik der Metaphysik s. Blumenberg 1960. Zum Phänomen der Bekleidung in der
Philosophie s. Niehues-Pröbsting 2001.
2
Insbesondere durch den von Deborah Fausch u.a. (1994) herausgegebenen Band Architecture: In Fashion
und Mark Wigleys (1995) White Walls, Designer Dresses: The Fashioning of Modern Architecture. Zu dieser
Diskussion s. Kinney 1999.
2
wesentlich zugehörigen Phänomenen verrät, verbreitet. „Stil – als innerer
Zusammenhang – hat vor Styling abgedankt, das den Zusammenhang äusserlich
herstellt“, schreibt etwa Martin Steinmann (1988: 14). Ich möchte im Folgenden
exemplarisch die Position von Herzog & de Meuron besprechen, um von hier aus zu
einem allgemeineren, in der neueren Diskussion vernachlässigten Aspekt der „Stilhülse“
von Architektur zu gelangen, nämlich jenen der Performativität im Sinne Judith Butlers.
Ich gehe von Herzog & de Meuron aus, da sich in ihrem Werk nicht nur das Anliegen
einer intensiven Erfahrungsweise im Zeichen von Unmittelbarkeit bzw. Distanzlosigkeit
artikuliert, welche immer auch Kennzeichen performativer Handlungsmuster sind,
sondern ebenso das Thema Oberfläche, Haut, Bekleidung und deren Verhältnis zum
konzeptuellen Gehalt von Architektur auf anspruchsvolle Weise thematisiert wird. Die
folgenden Überlegungen nehmen freilich nicht in Anspruch, das skizzierte Problemfeld
erschöpfend zu behandeln, sondern verstehen sich im Sinn einer Arbeitsskizze.
Die Architektur von Herzog & de Meuron gilt schon seit längerem, spätestens
aber seit ihrer Bibliothek der Fachhochschule Eberswalde (Wettbewerb 1993,
ausgeführt 1996–98) als Vorreiter einer neuen „Oberflächlichkeit“ in der Architektur.
Indem sie die Flächigkeit der Architektur hervorheben und zu einem autonomen
Problem machen, laufen sie jedoch für Kritiker wie Hans Frei Gefahr, „die Oberfläche
durch architektonische Abstraktion von der räumlichen Wirklichkeit“ zu lösen (1996:
113). Kenneth Frampton rechnet Herzog & de Meuron gar einer Gruppe von
Architekten zu, die „den halluzinatorischen Effekten der Medienwelt unterlegen zu sein
scheinen“, da sie die sinnliche Wirkung der Architektur fetischisieren, und zwar
„losgelöst vom Inhalt oder vom Zusammenhang.“ (1995: 12) Eine solche Beurteilung
der Architektur von Herzog & de Meuron entspricht jedenfalls nicht ihrem Selbstbild.
In einem Interview mit Jeffrey Kipnis 1993 meinte Jacques Herzog: „The strength of
our buildings is in the immediate visceral impact they have on the visitor. For us that is
all that is important in architecture.” (1993: 18) Und später: „It stands there, as if it
created itself, without the laughable particularity of the author, without his mark (…)
The architecture is understood only by means of itself, with no aids to understanding,
capable of being produced only out of architecture, not out of anecdotes or quotes or
functional processes. Architecture is its own substantiality in it‘s location.” (Herzog und
de Meuron1996: 182)
In diesen Zitaten kommen verschiedene Haltungen zum Ausdruck: einmal die
modernistische Idee, Architektur von der „Partikularität“ ihres Autors zu befreien –
eine in der modernen Kunst, in Literatur (etwa in der surrealistischen écriture automatique
von Philippe Soupault und André Breton) und Musik (s. Schulze 2000) in vielen
Spielarten verwirklichte Idee. Im Kontext der Architektur besitzt dieser Anspruch einen
Anklang einerseits zur modernen Sachlichkeit, die, in ihrer radikalen Ausprägung etwa
bei Hannes Meyer oder Ludwig Hilberseimer, sich um eine rein logische Deduktion des
Architekturkörpers aus als notwendig anerkannten Bedingungen und Fakten wie von
selbst ableitet; oder auch mit der beispielhaft von Adolf Loos vertretenen Sehnsucht
nach einem „aufrichtigen“ (Loos würde sagen: „kultivierten“) Architekturschaffen, das
sich allein aus den Fertigkeiten des Handwerks und den Regeln der Tradition ergibt.
Das Idealbild des Architekten bei Loos ist das eines Professionisten, der, wie der
Zimmermann oder der Bauer, ganz und gar auf seine Arbeit konzentriert ist, ohne sich
um Originalität, kommerziellen Erfolg usw. zu kümmern. „Der zimmermann ... macht
3
das dach. Was für ein dach? Ein schönes oder ein häßliches? Er weiß es nicht. Das
dach.“ (1987: 90f)3
Auf jeden Fall entspricht dem Anspruch, das Gebäude von der Partikularität des
Autors zu befreien, ein Wille zur Ganzheit oder „Substanzialität“, die keine
Zufälligkeiten oder unmotivierte Willkürlichkeiten verträgt. Substanzialität kennzeichnet
ein aus sich selbst heraus stehendes, sich selbst von unten herauf- und hervorstellendes
(sub-stare) Wesen, das sich ontologisch aus einem inhärenten Prinzip ableitet. Weniger
philosophisch interpretiert spricht es von einer Konzentration auf das Wesentliche, auf
das Notwendige und Einfache. Das würde Herzog & de Meuron in das Umfeld des
„swiss essentialism“ setzen, um einen Ausdruck von Peter Buchanan (1991) zu
gebrauchen. Von Seiten des Entwurfs bzw. der Produktion auf die Architektur geblickt,
impliziert Substanzialität eine Art von innerer Einheit bzw. Kohärenz; also auch eine
Einheit von „Schein“ und „Sein“, bzw. von Oberfläche und jenen Komponenten, die
den Baukörper gleichsam „von innen heraus“ formen. Neben der Verankerung in
Kontext und Kultur ist also auch eine produktionslogische Einheit von Form und
Material, Tektonik und Konstruktion angesprochen, welche, konträr zum oben
genannten Befund, auch immer wieder als ein Kennzeichen der Architektur von Herzog
& de Meuron gilt (s. etwa Steinmann 1988).
Wichtiger noch scheint mir die in diesen Zitaten angesprochene Einheit bzw.
Ganzheit der Erfahrung, der Wahrnehmung und Rezeption von Architektur zu sein.
Jacques Herzog postuliert hier eine bestimmte Form der Präsenz von Architektur:
Architektur entfaltet sich autonom (sie bestimmt den Modus der Erfahrung und
definiert ihren Horizont: „architecture is understood only by means of itself“),
unmittelbar („immediate“) und körperbezogen („viszeral“). Das Insistieren auf
Unmittelbarkeit impliziert, dass es keine Trennung gibt zwischen dem rezipierenden
Subjekt und dem reinen, echten Ereignis. Keine Analyse ist notwendig, um sich
konstruierend oder rekonstruierend an ein Geschehen oder ein Kunstwerk
heranzuarbeiten. Alles ist in der Sache selbst präsent bzw. die Sache selbst ist präsent.
Herzog postuliert, überspitzt formuliert, eine reine, unmittelbare, kontextfreie, kulturell
unvermittelte4, autonome und authentische Präsenz von Architektur als solcher, von
Architektur als Architektur.
Was aber, und diese Frage soll im Folgenden weiter bearbeitet werden, kann
„Unmittelbarkeit“ im Kontext der Architektur bedeuten? Was „Unmittelbarkeit“ heißen
soll, leuchtet keineswegs unmittelbar ein. Die Schwierigkeit einer näheren Bestimmung
zeigt sich schon darin, dass Unmittelbarkeit ein negativer Ausdruck ist, der keinen
Hinweis darauf gibt, was positiv in ihm gemeint sein kann. Gewöhnlicher Weise nennen
wir unmittelbar etwas, was in einer zeitlichen oder räumlichen Nähe zu uns steht,
Unmittelbarkeit ist eine Form der Präsenz, die nicht durch Anderes verstellt ist.
Unmittelbarkeit meint im allgemeinen Sprachgebrauch somit in erster Linie das Nahe,
3
Dem würde auch die von Herzog & de Meuron vielfach hervorgehobene Verwendung von
konventionellen, alltäglichen architektonischen Elementen entsprechen, die, so Wilfried Wang, „sogar
banal sein mögen“ (1998: 15).
4
So auch Peter Zumthor: Zumthor postuliert Konstruktion (das „Fügen“) und insbesondere das Material
als fundamentale, gesellschaftlich und diskursiv unvermittelte Kerndimension der Architektur. Er sucht,
„das eigentliche Wesen [der] Materialien, das bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung ist,
freizulegen.“ Was sich dann ergibt, sei eine „selbstverständliche Präsenz der Dinge, wo alles seinen
richtigen Ort und seine richtige Form hat.“ (1998: 9)
4
Direkte, das Sofortige und Gegenwärtige. Warum aber sollten die Gebäude von Herzog
& de Meuron uns physisch näher stehen als andere?
Zwar spricht die Rhetorik von Jacques Herzog eine Sprache der Selbstständigkeit bzw. Authentizität, doch fällt ihr Werk ebenso durch sorgfältige mediale
Inszenierungen auf. Das betrifft einerseits ihr besonderes Augenmerk auf das Thema
Ausstellung (s. Ursprung 2002), andererseits die Präsentation ihrer Werke in den
Medien. Die verführerisch-stilvollen Fotografien ihrer Gebäude werden manchmal von
Portraitfotos begleitet, üblicher Weise von Jacques Herzog, die als authentifizierender
Stempel, als Qualitätssiegel wirken. Kurz, die Konstruktion der Erfahrung ihrer
Architektur ist weit davon entfernt, „objektimmanent“ zu sein; sie liegt nicht in der
körperlichen Begegnung zwischen Subjekt und Gebäude, im viszeral impact, sondern
zieht weite Kreise, eben auch über die Medien- und Publikationsmaschine des
Architekturbetriebs. Julia Chance geht sogar so weit zu behaupten, dass, da es keinen
einfach zu erkennenden, durchgehenden Stil in den Arbeiten von Herzog & de Meuron
gebe, die Konstanz oder Kontinuität ihrer Arbeiten erst durch die Verknüpfung mit der
Person Jacques Herzog, durch das von seinem Portraitphoto vermittelten Image
hergestellt wird (Chance 2001).
Ein zweiter Punkt, der gegen sinnliche Unmittelbarkeit spricht, ist, dass Herzog
& de Meuron in ebenso starker und eindeutiger Vehemenz das Konzeptuelle, das
Immaterielle oder, wie sie auch sagen, das „Geistige“ an ihrer Architektur betonen: „Die
Wirklichkeit der Architektur ist (...) nicht das real Gebaute, das Taktile, das Materielle.
Wir lieben zwar dieses Greifbare, aber nur in einem Zusammenhang innerhalb des
ganzen (Architektur-)Werks. Wir lieben seine geistige Qualität, seinen immateriellen
Wert.“ (In: Ursprung 2002: 29, Anm. 34) Diese Betonung des Konzeptuellen zieht sich
genauso wie ein roter Faden durch das Werk von Herzog & de Meuron wie ihre
Betonung sinnlicher Materialität bzw. purer Faktizität.
HdM: Lagerhaus Ricola, Laufen, 1986−91
Foto: Margherita Spiluttini
5
Eines der am meisten diskutierten Werke, das Lagerhaus Ricola in Laufen (1986–91),
veranschaulicht dieses doppelte Anliegen: Einerseits enthält das Gebäude eine
Anspielung auf die Funktion der Lagerung (Schichtung), eine Vergegenwärtigung des
Ortes (Aufnahme der Schichten des alten Steinbruches), und es thematisiert eine
allgemein als fundamentale Eigenschaft der Architektur akzeptierte Dimension, nämlich
„Schwere“ (verstärkt durch die dem gängigen Verständnis entgegengesetzte Anordnung
der Fassadenfelder). Gleichzeitig ist ein Bemühen um semantische Entleerung zu
beobachten, um Konkretheit und Buchstäblichkeit: Z.B. sind die Eternitpaneele der
Fassade leicht geneigt, um einen Blick auf die Konstruktion hinter der Verkleidung
freizugeben – hier wird alles gezeigt, die Elemente der Fassade wollen nichts sein bzw.
nichts vorspiegeln, was sie nicht sind (s. Reichlin 1988). Dieses Streben nach
Buchstäblichkeit stellt einen Anklang an die Strategien der Minimal Art dar. Für die
Fassadenpaneele gilt, was Michael Fried für die Objekte der Minimal Art festhält:
„[They] do not represent, signify, or allude to anything; they are what they are and
nothing more.“ (Fried 1995: 143)
HdM: Rudin House, Leymen, 1996-97
Foto: Margherita Spiluttini
Diese doppelte Geste der Betonung von Buchstäblichkeit und Symbol kommt noch
stärker im Haus in Leymen (1996–97) zum Tragen, welches auf der einen Seite ein
überdeutliches Zitat in Form einer Beschwörung archetypischer Behausung verkörpert
und gleichzeitig die Konkretheit des Objekts durch eine brutale Reduktion auf die
elementare Hausform und sein materielles Gewicht (Sichtbeton) zur Anschauung bringt.
Diese Doppelstrategie wird bzw. wurde von Herzog & de Meuron konsequent verfolgt.
Sie schreiben: „Wir versuchen deshalb stets die materielle, die physische
Erscheinungshaftigkeit von Architektur zu unterstreichen. In diesem Bereich werden
spezifische Eigenschaften oft erst erkennbar! Was verkörpert Schwere? Woraus
konstituiert sich Helligkeit? Was ist eine Mauer, was ist Licht etc. Immerhin sprechen all
diese Begriffe von der menschlichen Wahrnehmung der physischen Welt auf einer
gedanklichen, geistigen Ebene. Und genau diese gedankliche Ebene von Wahrnehmung
6
versuchen wir mit Architektur zu erreichen, zu treffen.“ (Wang 1992: 185f)
Kennzeichnend für das frühe Werk von Herzog & de Meuron ist, dass sich die durch
diese Doppelstrategie konstruierte Erfahrung von Architektur insofern „unmittelbar“
bzw. „substanziell“ zur Architektur verhält, als sich zeichen-, bildhafte und körperlich
erspürte Gehalte immer auf klassische Themen der Architektur wie Schwere,
Konstruktion, Materialität beziehen, auf das von Jacques Herzog so genannte
„spezifische Gewicht“ von Architektur (1982). Ein medial konstruiertes Image, die
Arbeit an der Qualität der sinnlichen Dimension von Architektur, die Strategie der
Buchstäblichkeit und ein vertrautes Verhältnis zur Geschichte der Architektur erzeugen
einen geschlossenen Horizont, innerhalb dessen Architektur „in ihrer eigenen
Substanzialität“ präsent zu werden vermag. Diese Momente tragen dazu bei, dass sich
Architektur scheinbar wie von selbst versteht und scheinbar nur durch sich selbst dem
Verständnis nahe bringt, „understood only by means of itself“. Erzeugt wird jener Sinn
von „Unmittelbarkeit“, der die Wendung vom „unmittelbaren Verstehen“ meint: Wenn
etwas „unmittelbar einleuchtet“, so ist gemeint, dass etwas sich wie von selbst versteht,
weil es so auf sich selbst bezogen ist, dass es, da selbstbezüglich und abgeschlossen,
keiner weiteren Erklärung bedarf.
HdM: Bibliothek Fachhochschule Eberswalde, 1994−99.
Foto: Margherita Spiluttini
Mit den Entwürfen der 1990er Jahre, in denen sich die Behandlung der Oberfläche
ästhetisch und konzeptuell verselbständigt, scheint sich das zu verändern. In der
Universitätsbibliothek der Fachhochschule Eberswalde (1994–99) wird ein elementarer,
sockelloser, monolithischer Block, der wuchtig und schwer durch seiner Form erscheint,
mit einer filigran wirkenden Haut aus Beton- oder Glasplatten umspannt, in denen
Fotografien (aus dem Archiv von Thomas Ruff) eingeätzt sind. Hier ist, ebenso wie im
Ricola Produktions- und Lagerhaus in Mulhouse-Brunstatt (1992–93), der Gehalt der
Oberfläche strukturell und teilweise auch konzeptuell von der „Realität des Bauens“
weit entfernt. Die Oberfläche wird als autonomes, flächiges Gebilde behandelt, die
Bildwirkung steht im Vordergrund. Weit davon entfernt, objekthaft zu sein, wirkt sie im
Sinne einer Bekleidung verhüllend und enthüllend zugleich, doch bezieht sich die
Funktion der Enthüllung nicht auf das Freilegen eines nackten Kerns. In diesen Werken
kann man die Hülle mit Gottfried Semper als eine Maske bezeichnen, hinter der sich die
7
(banale) Individualität des Gebäudes versteckt. Der Karnevalskerzendunst, von dem
Semper an derselben Stelle seiner Stil-Schrift als „wahre Atmosphäre der Kunst“ spricht
(1860/1977: 231, Anm. 2), scheint sich in diesen Werken jedoch nicht einzustellen. Erst
in der Zuwendung zu größeren, kommerziellen Baufaufgaben in jüngerer Zeit,
insbesondere dem Allianz-Stadium in München und dem Prada Epicenter Store in
Tokyo kommt so etwas wie festliche Stimmung wieder herein und verleiht ihren
Arbeiten, wie ich zeigen möchte, wieder eine Art von „Einheit von Stilhülse und Kern“,
jedoch unter gewandelten Vorzeichen. In der Suche nach Unmittelbarkeit und
„viszeraler“ Körperlichkeit greifen Herzog & de Meuron auf die Erzeugung von
Atmosphären zurück – nach Gernot Böhme (1995) der Name für das Einzige in der
sinnlichen Wahrnehmung, dem man Unmittelbarkeit zuschreiben kann.
Bei diesen jüngeren Arbeiten scheint es so, als ob Herzog & de Meuron die
Mechanismen der medialen Inszenierung gleichsam in das Gebäude selbst inkorporiert
hätten. Ich komme noch einmal auf die eingangs angesprochene Spannung zwischen
Authentizität (oder Substanzialität) und Inszenierung (bzw. mediale Präsentation) zu
sprechen. Eine (mediale) Inszenierung ist in gewisser Weise das Gegenteil zu
Authentizität bzw. Selbst-Ständigkeit: Unter „Inszenierung“, verstanden in einer
unspezifischen Alltagsbedeutung, versteht man ein absichtsvolles Handeln, das seine
Effekte gegenüber einem Publikum ins Kalkül zieht. Inszenierungen sind diejenigen
Akte, die für ein Publikum vollzogen werden, dessen Existenz dem Akteur bewusst ist
und das er entsprechend einrechnet.5 Das Authentische hingegen scheint ohne eine
strategische Bezugnahme auf Erwartungshaltungen, ohne Vorwegnahme von
Bewertungsmechanismen, ohne ein Wirkungskalkül des Autors aus sich selbst heraus zu
bestehen – es ist, wie es ist und was es ist. Das Wort „authentisch“ enthält die
Bedeutung des sich selbst Vollendenden. Authentisch meint aber nicht nur das Wahre
und Echte (eines Schriftstückes oder einer ethischen Haltung), sondern es schwingt
auch die Bedeutung der „Unmittelbarkeit“ und Intensität einer Erfahrung mit: Man
weiß z.B. zwar nicht, wie es wirklich ist, einen Rennwagen der Formel Eins zu fahren,
aber die Cockpit-Kamera bringt uns hier ein Stück näher. (Hoffmann 2000)
Der einfache Gegensatz zwischen Authentizität und Inszenierung lässt sich so
formulieren: Was authentisch ist, kommt ohne Inszenierung aus bzw. was inszeniert ist,
verliert die Unvoreingenommenheit, Offenheit und Integrität des einfachen So-Seins.
Auf der anderen Seite gibt es schon von der Wortbedeutung her einen Zusammenhang
zwischen Inszenierung und Authentizität. Etwas „inszenieren“ bzw. etwas
„dramatisieren“ meint im Deutschen wie im Englischen „etwas auf die Bühne bringen“,
d.h. etwas in einem sozialen Rahmen, geplant und in Form einer sinnlich erfahrbaren
Gestalt vor einem Publikum zur Schau stellen. Die primäre Bedeutung von lat. scaena
(Bühne) und gr. skené war nicht theatralisch, sondern bezeichnete eine generische
Kennzeichnung von Orten: einen überdachten Ort, ein Zelt, einen Wohnort, einen
Tempel. Der Begriff der Inszenierung hebt somit in erster Linie das einrahmende
Moment hervor; weniger die Intensität und Glaubwürdigkeit von Handlungen oder
Erfahrungen. Doch beinhaltet mise en scène, dass etwas Bedeutsames eingerahmt oder in
Szene gesetzt worden ist. Die Szene stellt keinen neutralen Raum dar, sondern die
Stätte, an der sich etwas Entscheidendes ereignet, was im heutigen Gebrauch des
Wortes Szene als der Ort, wo sich etwas kulturell Bedeutendes abspielt, mitschwingt.
5
S. Erwing Goffmans Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühne (Goffman 1959).
8
Inszenieren bedeutet somit auch, „etwas als aufregender oder wichtiger behandeln oder
so erscheinen lassen“: Was inszeniert wird, soll sich vom Alltag durch eine gesteigerte
Erfahrung und Bedeutsamkeit abheben. Dieser Konnex zwischen Inszenierung und
Authentizität (verstanden als gesteigerte Präsenz) ist nach Richard Shusterman (2001)
konstitutiv für die Kunst als solche. Beide Mechanismen, der soziale Rahmen und die
größere Lebendigkeit von Erfahrung und Handlung, dienen dazu, Kunst zu definieren,
d.h. vom Rest der Welt zu unterscheiden und somit hervorzuheben. Mit anderen
Worten: in Inszenierungen gibt es immer eine Doppelpräsenz von sinnkulturellen
Elementen (am Beispiel Oper: die Handlung) und präsenzkulturellen Effekten (das
Stimmvolumen von Orchester und Sängerinnen) (s. Gumbrecht 2001). Herzog & de
Meurons Doppelstrategie der Betonung des körperlich-viszeralen und des „Geistigen“
bzw. Gedanklichen spiegelt diese konstitutive Dichotomie wider.
Ein wichtiger Aspekt von Inszenierungen ist es somit, in Form eines
Demarkationsrituals so etwas wie „Präsenz“ zu markieren. Demarkationen sind aber nie
neutral, das Parergon eines Werkes geht konstitutiv in das Ergon mit ein, d.h.
Inszenierungen geben soziale Rahmenbedingungen und Kontexte ab, die das Ereignis
mitkonstituieren. Weiters sind Demarkationen bzw. Präsentationen eines Werkes nicht
nur etwas Statisches, etwa in zeichen- oder bildhafter Form. Zeichen und Bilder sind
immer Teil von Inszenierungen, verweisen aber auf einen rituellen oder performativen
Kontext, in dem sie ihre Funktion ausüben. Um diesen Aspekt der Präsentation von
Architektur zu beschreiben, kann man sich einer Begrifflichkeit bedienen, die dem
Theater entliehen ist: eben Performance, Inszenierung, Spiel, Maskerade, Spektakel,
Verkörperung usw. (s. dazu Fischer-Lichte 2001). Eine Architekturbetrachtung oder produktion unter dem Aspekt der Inszenierung versucht dementsprechend, die
Architektur aus ihrem Verhaftet-Sein mit dem rein Bildhaften, Visuellen oder
Kontemplativen hin zu einer umfassenderen, wirkungs- und handlungsbezogenen
Erfahrung zu bringen. Nicht zufällig steht das Theater Pate für eine Auffassung von
Kunst, die diesem Weg folgt: Insbesondere Nietzsche hat im Rückgriff auf die antike
Tragödientheorie betont, dass ästhetische Erfahrung generell weniger mit
Kontemplation und rationaler Erkundung etc. zu tun hat, sondern mit Rausch, Tanz,
sexueller Ekstase, religiöser Verzückung.
Der Ausdruck Performance bzw. performativ im engeren Sinn soll hier jedoch
im Sinne Judith Butlers gebraucht werden. Butler führte den Begriff 1988 in die
kulturwissenschaftliche Diskussion ein in dem Versuch zu zeigen, dass
Geschlechtsidentität (gender) – bzw. Identität überhaupt – nicht biologisch oder
ontologisch gegeben ist, sondern das Ergebnis bestimmter kultureller und sozialer
Konstitutionsleistungen darstellt. Identität wird produziert durch eine „stylized
repetition of acts“, d.h. durch nicht-referenzielle körperliche Handlungen, die sich nicht
auf etwas beziehen, das sie zum Ausdruck bringen sollen, sondern Identität erst als ihre
„Bedeutung“ hervorbringen (Fischer-Lichte 2004: 36ff). Durch die stilisierte
Wiederholung performativer Akte werden bestimmte historisch-kulturelle
Möglichkeiten verkörpert und auf diese Weise sowohl der Körper als historisch-kulturell
markierter wie auch Identität allererst erzeugt. Butler vergleicht die Verkörperungen mit
einer Theateraufführung: Wie bei einer Theateraufführung stellen die performativen
Akte, die Identität konstituieren, keine individuellen Handlungen oder Entscheidungen
dar, sondern reproduzieren eine „geteilte Erfahrung“ und damit eine Form von
Kollektivität. Jede Wiederholung einer Handlung ist ein „re-enactment“ und ein „re-
9
experiencing“ eines Repertoires von Bedeutungen, die gesellschaftlich bereits etabliert
sind. Butlers Theorie der Performance entspricht, freilich nur bis zu dem Grad, wie sie
hier dargestellt wurde, Pierre Bourdieus Ausführungen zum Begriff des Habitus, der
nicht nur zwischen kollektiven und individuellen Denk- und Handlungsschemata
vermittelt, sondern auch zwischen dem Aspekt der Handlung und jener der materiellräumlichen, insbesondere der architektonischen Strukturen der Lebenswelt (Bourdieu
1974: 125 ff).
Die gesuchte Einheit bzw. Ganzheit („Substanzialität“) und Unmittelbarkeit der
Architektur und ihrer Erfahrung, deren Erzeugung als ein Anliegen von Herzog & de
Meuron vorgestellt wurde, könnte ihre Erfüllung in den wechselseitigen Bestätigungen
stilisierter, performativer und wiederholter Handlung finden, die zwischen den
materiellen Strukturen der Architektur und den habituellen Schemata vermitteln. Es ist
der Begriff des Stils, der für eine solche Einheit von „Handlung“ und Architektur schon
Ende des 19. Jahrhunderts stand, als Synonym für umfassende Lebensgestaltung – und
zwar „vom Sofakissen bis zur Stadtplanung“ (Hermann Muthesius) mit totalisierender
und kommunitaristischer Tendenz.
Die Einheit
von Architekturstil (im
Sinne
einer ästhetischen
Oberflächenwirkung) und Lebensstil betont auch Gernot Böhme. Atmosphären, der Titel
für das, was mehr oder weniger unmittelbar und unbewusst auf uns einwirkt, wenn wir
ein Gebäude betreten, gehören immer zu einer bestimmten Lebensform. Folgt man
Böhme, dann hat selbst die unmittelbarste, sinnlichste Materialwirkung eine strenge
soziale Codierung: sie wird immer entsprechend einem umfassenden Konzept von
Lebensstil aufgefasst und evaluiert (Böhme 1995) – eine Einsicht, die insbesondere bei
Architekturen mit primär markt- und konsumorientierter Ausrichtung erfolgreich
praktiziert wird. Stellvertretend für viele Beispiele sei hier die von Philippe Starck und
John Hitchcox gegründete Firma YOO genannt, die in destination cities weltweit
Apartments im Luxussektor bereitstellt, deren hervorstechendste Merkmale ein auf
atmosphärisches Styling zugeschnittenes Design sowie ein gutes Marketing sind. Die
Ästhetik von Architektur und Design wird atmosphärisch vermittelt und ist
marktorientiert auf einige wenige Typen von Lebensstil zugeschnitten.6
6
Kunden haben jeweils die Auswahl zwischen vier Stilen: „klassisch“, was Starck mit Zigarren, Jaguar und
Tweed-Anzügen assoziiert, eine architektonische Entsprechung wird in dunklen Holzfußböden,
Ledermöbeln und viel Marmor gefunden. Weiters „culture“ (ein Mix aus Neonlicht und Barock),
„minimal“ (klare Linien, Edelstahl) und „Natur“ (blasse Farben, robuste Textilien). S.
www.yooarehere.com (Dez. 2005).
10
YOO: Tribeca Apartments, East Melbourne (s. www.youarehere.com)
Verständlicher Weise sind es vor allem die Architekturen für den Konsum, die in
besonderer
Weise
versuchen,
den
von
Semper
angesprochenen
„Karnevarlskerzendunst“ zu erzeugen, oder anders gesagt, einen „emotional
angeregten“ Zustand herzustellen (Mikunda 2002). So kann man auch Herzog & de
Meurons Prada Store in Tokyo in diesem Sinn interpretieren. Stellte Martin Steinmann
1988 noch fest, dass sich die Architektur von Herzog & de Meuron „den
aussergewöhnlichen Bildern, die zum Ausweis des postmodernen Bewusstseins
geworden sind“, verweigert (1988: 14), so steht der Prada Store unverkennbar in der
Tradition von John Paxtons Crystal Palace, dessen gläserne Außenhülle als Schatulle der
innen angehäuften Reichtümer wirkt. Gleichzeitig gibt das Gebäude dem Konsumenten
ein starkes Bild mit auf den Weg – das Bild eines Diamanten –, das Markenidentität und
Lebensstil als Ikone versinnbildlicht.
Die angesprochene Einheit von Lebensstil und Unmittelbar-Sinnlichem wird
durch ein Set von Strategien erreicht: Herzog & de Meuron haben weitgehend auf
Formen virtueller „Interaktion“ verzichtet, zugunsten einer taktilen, atmosphärischen
Erfahrung. Aus geschosshohen Projektionsflächen im Projektstadium wurden geradezu
ängstlich kleine. Im Vordergrund steht die sinnliche Landschaft, mit der sich die
Kleidung und Accessoires von Prada, die Architektur, die Regale, Möbel, Leuchtkörper
vermischen: Es gibt Lack, Pelz, gegossenes Fiberglas, Leder, mit Fiberglas überzogenes
Kunstharz, poröse Eiche, perforierte Nirosta-Platten, Baumwolle, Schaumstoff, Nylon.
Nicht nur der Mix aus hyper-künstlich und hyper-natürlich, sondern die Koexistenz von
fest und lose, warm und kalt, glatt und rau, haarig und abweisend, weich und hart tragen
zu einer Art von Auflösungserscheinung der architektonischen Strukturen bei. Dazu
kommt eine für Kommerzarchitektur typische Auflösung des Raums: Das Haus ist als
ein Ein-Raum-Haus konzipiert, nur die Spitze des Kristalls (Technikgeschoss) ist nicht
zugänglich. Sonst ist das Konzept spürbar gemacht: Aussparungen der Decken neben
den horizontalen Röhren schaffen mehrgeschossige Bezüge und einen um die vertikalen
Kerne und horizontalen Röhren fließenden Raum. Den Innenraum unterteilen drei
schmale, an den Ecken abgerundete vertikale Kerne, die sich stellenweise zu Regalen
ausweiten. Weiter gibt es drei horizontale, im Schnitt rhombenförmige Röhren, die den
11
Bau von Fassade zu Fassade durchdringen (Umkleideräume und erweiterte Regale).
Jedes dieser Elemente funktioniert immer auch als strukturelles Element, Herzog & de
Meuron bezeichnen den Bau als ihren ersten, bei dem Struktur, Raum und Fassade eine
Einheit bilden.
Alles in allem sind die Elemente so platziert, dass die Konsumenten nicht
zwischen den einzelnen Ebenen unterscheiden können, sondern einen kontinuierlichen
Raum wahrnehmen. Verstärkt wird der Effekt des Enthobenseins oder der
Verzauberung noch durch die Wirkung der Glaspaneele, denn die verschiedenen
Geometrien generieren eine Unzahl von Reflexen, die den Besucher mit ständig
wechselnden Bildern beliefern, sowie den Einblick von außen abwechselnd gestatten
und verweigern. In Summe sind es traditionelle Mittel neu interpretiert, um eine quasisakrale
Stimmung
zu
erzeugen:
illuisionistische
Effekte,
dramatische
Raumerweiterungen, Durchblicke und Lichtwirkungen.
Neben der dichten räumlich-atmosphärischen Wirkung kommt es zu einer
gezielten Verschmelzung von Marke und Architektur: das trademark der Marke Prada ist
der erfinderische Einsatz von dekontextualisierten Materialien und technologisch
innovativen Stoffen. Architektur wird hier zu einer Markenlandschaft, die neben
intensiven Erlebnissen, die eine wiederholte Einschreibung eines bestimmten
Verhaltensstils erzeugen möchten, ein symbolhaftes Bild der Firmenphilosophie bietet,
um Markenpräsenz zu erhalten – die zeichenhafte, kristalline Form soll sich genauso
einprägen wie die Marke Prada. Einerseits scheint mir mit diesem auf Markenidentität
und atmosphärisch-räumliche Einheit zugespitzten Entwurf die „organische Einheit“
bzw. der innere Zusammenhang, für den der Stilbegriff auch steht, wieder eingeholt zu
sein. Der durch Architektur und Marketing eingeschriebene Lebensstil bildet einen
kollektiven, auf durch ritualisierte Handlungsschemata erzeugte Einschreibungen von
Identität beruhenden Verständnishorizont, innerhalb dessen die Architektur Teil eines
synästhetischen Gesamterlebnisses wird. Dass sie jedoch nicht gänzlich im
performativen Ensemble des Konsums aufgeht, ist der Bewusstheit und Konsequenz
ihrer Gestaltung zu verdanken. Die Wahl ihrer symbolischen Form – ein Kristall oder
Diamant – ist ebenso deutlich bzw. archetypisch wie die der elementaren Hausform
beimHausLeymen.
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HdM: Prada Store Tokyo, 2003 Pedro Pablo Arroyo Albo und Johanna Truestedt
Georg Simmel sieht den Diamanten als die beste Form des Schmucks an, und den
Schmuck selbst als eine Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit zu erweitern oder
steigern. Er schreibt von der „Radioaktivität des Menschen“, vom buchstäblichen
Strahlen des Schmuckes, das sinnliche Aufmerksamkeit erregt und das Strahlen des
Menschen verstärkt. „Der Diamant ist der zweckmäßigste Schmuck, denn er ist
sozusagen selbst körperlos, seine Wirkung besteht nur in den Strahlen.“ (Simmel 1986)
In ihrer überdeutlichen Symbolkraft – Kristall, Juwel, Schmuck mit all ihren
Konnotationen von Luxus, Feier und Fest – wird die immersive, auf Verankerung von
Verhaltensstilen angelegte Erlebnisatmosphäre wieder in Distanz gebracht. Der
Benutzer wird, wie durch einen zusätzlichen Kommentar auf das im Augenblick
Geschehende, in die Position des Betrachters gesetzt. Die Wahl des Kristalls zeigt den
Versuch an, der Architektur einen Rest Eigenständigkeit im Erlebnis des Konsums zu
erhalten, bzw. in der Inszenierung des Konsums ein Stück Selbst-Inszenierung mit
hineinspielen zu lassen.
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