Erforschung der Lebensraumnutzung Das Wandern ist der Rehe Lust Rehe sind standorttreu und territorial – so die landläufige Meinung bisher. Doch Untersuchungen aus dem Nationalpark Bayerischer Wald haben gezeigt, dass unser Rehwild mitunter recht viel unterwegs ist und dass Geißen während der Blattzeit eher für einen Ausflug zu haben sind als Böcke. Dr. Marco Heurich fasst die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zusammen. D er Nationalpark Bayerischer Wald ist ein Teil des großen europäischen Forschungsprojektes „Eurodeer“, in dem die Nutzung der Lebensräume durch das Rehwild untersucht wird. Von Norwegen bis Italien dokumentieren 18 Forschergruppen, wie standorttreu Rehe sind, wann sie sich auf Wanderschaft begeben und vor allem warum. Im Bayerischen Wald Die Beweggründe, warum Rehe ihren Einstand verlassen, sind vielfältig. Im Frühjahr und Herbst zum Beispiel wandern sie hinter ihrer Äsung her. ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass es drei Beweggründe gibt, warum Rehe ihren Einstand verlassen und sich zumindest zeitweise ein neues Zuhause suchen. Diese sind: • saisonale Wanderungen von einem Sommerstreifgebiet in ein Winterstreifgebiet •die Abwanderung von Jungtieren nach der Loslösung vom Muttertier und •Wanderungen während der Paarungszeit, um einen Geschlechtspartner zu finden. Im Herbst und im Frühjahr wandern die Rehe sozusagen hinter der Äsung her. Wenn im Winter der Schnee im Gebirge fällt, haben die Tiere Schwierig­ 32 5/2013 Fotos: M. Breuer Je steiler das Gelände, desto mehr Rehwild wandert im Winter keiten, genügend Nahrung zu finden. Gleichzeitig kostet es viel Energie, bei den tiefen Temperaturen die Körperfunktionen aufrecht zu erhalten und sich im Schnee fortzubewegen. So wandert das Rehwild in tiefere Lagen ab, um mit den harschen Umweltbedingungen besser zurecht zu kommen. Im Frühling, wenn der Schnee geschmolzen ist, folgen die Tiere wiederum dem frischen Grün auf die Berge. Diese herbstlichen Wanderungen ziehen sich fast über sieben Monate hin. Sie werden durch ungünstige klimatische Bedingungen und Schneefall ausgelöst. Geißen starten übrigens früher als Böcke, vermutlich um sicher zu gehen, dass ihre Kitze gut durch den Winter kommen. Die Böcke machen sich erst dann auf den Weg, wenn das schlechte Wetter schon eingesetzt hat. Die Frühjahrswanderungen dagegen verlaufen einheitlicher innerhalb von nur drei Monaten, außerdem gibt es keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Auslöser im Frühling ist die Vegetation. Die Tiere folgen dem saftigen Grün in ihre Sommereinstände. Insgesamt verbringen die Rehe in allen Untersuchungsgebieten mehr Zeit in ihren Sommerstreifgebieten als in den Winterstreifgebieten, und Böcke bleiben länger in den Sommerterritorien als Geißen. In den Alpen, im Bayerischen Wald und in Norwegen macht der Anteil der Wanderrehe an der Rehpopulation etwa 50 Prozent aus, in Südschweden dagegen wurden trotz der rauen Klimabedingungen keine Wanderrehe gefunden. Der Grund: Nicht nur die Schneelage, auch die Hangneigung und der Waldanteil spielen eine Rolle, ob Rehe standorttreu sind oder auf Wanderschaft gehen. In Südschweden zum Beispiel gibt es keine tieferen Lagen mit besseren Winterquartieren, der Schnee ist überall gleich hoch, da lohnt sich das Wandern nicht. Kitze suchen sich ihr eigenes Zuhause Mit einem Alter von zehn bis zwölf Monaten entscheidet sich ein Teil der Kitze dazu, das mütterliche Streifgebiet zu verlassen, um sich ein eigenes Zuhause zu suchen. So vermeiden die Foto: M. Heurich Die Senderdaten eines Schmalrehs zeigen, dass es über 100 Kilometer zurücklegte, bevor es sich nahe des mütterlichen Streifgebiets wieder ansiedelte. 5/2013 33 Fotos: L. Bufka, M. Breuer Die Tiere wurden mit GPS-Halsbandsendern ausgestattet. Auch während der Paarungszeit sind die Rehe viel unterwegs. Die Geißen sind dabei wanderlustiger als die Böcke. Tiere Inzucht und Konkurrenz zwischen Verwandten. Im Bayerischen Wald wandern 23 Prozent der jungen Wilden ab, in Vasterbotten in Schweden fast 100 Prozent. Die Ursache liegt vermutlich in der unterschiedlichen Lebensraumqualität. In Waldgebieten wandert im Durchschnitt jedes fünfte Reh ab, in Wald-FeldGebieten sind es fast doppelt so viele. Außerdem gilt: Je stärker die Jährlinge, desto eher suchen sie sich ein neues Zuhause. Starke Tiere bedeuten möglicherweise eine stärkere Konkurrenz für die Böcke vor Ort und werden deshalb vehementer vertrieben als leichte Tiere. In einem Untersuchungsgebiet in Frankreich konnte gezeigt werden, dass nur Rehe mit einem Gewicht von über 14 Kilogramm abwandern. Einen Unterschied zwischen dem Wanderverhalten von Jährlingen und Schmalrehen ließ sich nicht erkennen. Auch während der Paarungszeit sind die Rehe viel unterwegs. Doch meistens machen sie während der Brunft nur Bayerischer Wald: 23,0 % Toulouse (F): 34,0 % Dourdan (F): 27,6% Aurignac (F): 35,0% Bogesund (S) : 47,0% Chizé (F): 69,9% Ekenas (S): 73,0 % Vasterbotten (S): 90 – 100 % Anteil von abwandernden Jungtieren in verschiedenen Rehwildpopulationen (F: Frankreich, S: Schweden) Der Autor im Blickfeld: Dr. Marco Heurich Dr. Marco Heurich forscht seit 1996 im Nationalpark Bayerischer Wald, wo er sich mit den Themen Wald- und Wildtierökologie beschäftigt und mittlerweile mehr als 200 Veröffentlichungen publiziert hat. 34 5/2013 kurzfristige Ausflüge, sozusagen um jemanden kennen zu lernen. Solche Exkursionen sind von Bedeutung, da die Geißen nur über einen Zeitraum von etwa 36 Stunden paarungsbereit sind und sich in diesem Zeitraum entscheidet, ob ein bestimmter Bock zum Zug kommt oder nicht. Dabei sind es vor allem die Geißen, die von zuhause weg wollen. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass bei den Böcken nur 18 Prozent während der Paarungszeit Exkursionen unternehmen, bei den Geißen aber 42 Prozent. Geißen wandern für ein „Date“ Nimmt man die Wanderungen genauer unter die Lupe, zeigt sich, dass die Geißen vor allem zum Höhepunkt der Blattzeit auf Achse sind. Bei den Böcken machen sich meistens nur die jungen auf den Weg, während die älteren in der Regel brav zuhause bleiben und ihr Territorium verteidigen. Die Geißen verlassen also die Streifgebiete „ihrer“ Böcke und suchen sich gerne mal einen anderen. Dabei legen sie Strecken bis zu vier Kilo­ metern zurück. Vermutlich dienen die Ausflüge der Geißen dazu, sich ihren Geschlechtspartner selbst auszuwählen, die Reproduktion sicherzustellen und Inzucht zu vermeiden. Möglicherweise schützen die Ausflüge auch davor, dass sich die Tiere mit dem eigenen Vater paaren.