M E D I Z I N R E P O R T Onkologie Wie chronische Entzündungen zu Krebserkrankungen führen Foto: Lilly Deutschland/Okapia Die stufenweise Entwicklung von malignen Tumoren auf der Basis von langzeitigem oxidativen Stress und Inflammation wurde bei einem internationalen Symposium in Heidelberg an konkreten Beispielen vorgestellt. Wie spleißende Taue sehen Asbestfasern unter dem Mikroskop aus. Lagert sich das Mineral im Lungengewebe ab, wird das Karzinomrisiko um den Faktor zehn erhöht. C hronische Entzündungen sind Triggerfaktoren für Malignome. „Derzeit wird etwa jede fünfte Krebserkrankung damit in Zusammenhang gebracht“, sagte Prof. Dr. med. Curtis C. Harris vom US National Cancer Institute (NCI) bei einem internationalen Symposium in Heidelberg. Die Forscher gehen jedoch davon aus, dass chronische Entzündungen an weit mehr Krebsarten beteiligt sind, als heute bekannt ist. Zum Spektrum der Entzündungen, die mit einem höheren Entartungsrisiko einhergehen, gehören unter anderem: > die entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa; > Entzündungen auf viraler Basis, beispielsweise die Hepatitis B und C; A 592 > bakteriell verursachte Inflammationen durch Helicobacter pylori oder > parasitär bedingte Entzündungen, zum Beispiel durch den Leberegel; > Sodbrennen erhöht das Risiko für ein Ösophaguskarzinom um das Fünfzig- bis Hundertfache und > Asbestexposition für die Entstehung eines Bronchialkarzinoms um mehr als das Zehnfache. Die schwelenden Entzündungen im Körper lösen eine Kaskade von Reaktionen aus. Wie Harris berichtete, werden bioaktive Peptide aus Nervenzellen, Zytokine oder Rezeptormoleküle aktiviert, welche die mikrobiellen Erreger erkennen und bewirken, dass das Immunsystem Mastzellen und Leukozyten an den „Schadensort“ dirigiert. Dadurch komme es zu einer „Atmungsexplosion“ – also einer verstärkten Aufnahme von Sauerstoff, die letztlich dazu führe, dass verstärkt Radikale aus den Leukozyten freigesetzt und Makrophagen aktiviert werden. Diese Überproduktion von freien Radikalen wird als „oxidativer Stress“ bezeichnet. Die angriffslustigen Radikale attackieren die DNA im Zellkern. Ferner beeinflussen sie das Zellwachstum und die Tumorausbreitung, indem sie Signalübertragungswege aktivieren. Potenzielle Krebsgene werden dadurch ebenfalls aktiviert. Somit ist die Anfälligkeit für Krebs nach Aussage von Harris „eine krankhafte Folge von bestimmten Entzündungen und dem damit verbundenen anhaltenden Stress durch freie Radikale sowie den daraus resultierenden DNA-Schäden“. Ein Exempel für die Krebsentstehung auf dem Boden einer chronischen Entzündung ist das hepatozelluläre Karzinom. Chronische Entzündungen durch Virusinfektionen oder Alkoholmissbrauch führen zu oxidativem Stress. Diese Verbindungen könnten entweder direkt oder über entzündliche Veränderungen entstehen, sagte Prof. Dr. med. Helmut K. Seitz (Salem). Reaktive Sauerstoffmoleküle So führe zum Beispiel das Hepatitis-CVirus über sein Cor-Protein und das NS5A-Protein zu oxidativem Stress; ebenso setze eine virusbedingte chronische Entzündung Oxidationsprozesse in Gang, und bei der Umwandlung von Alkohol zu Azetaldehyd über Cytochrom P4502E1 entstünden ebenfalls reaktive Sauerstoffmoleküle. Durch deren Über- ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 10⏐ ⏐ 10. März 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N R E P O R T produktion komme es zur Lipidperoxidation. Freie Radikale greifen dabei die Doppelbindungen an den mehrfach ungesättigten Fettsäuren der Zellmembranen an. Es entstehen wiederum reaktive Stoffwechselprodukte, die dann mit der DNA im Zellkern reagieren und die erbgutverändernden Addukte bilden. Eine neuere Erkenntnis sei, dass auch die nichtalkoholische Steatohepatitis ein Risiko für ein Leberkarzinom darstellt, berichtete Seitz. Gefährdet für diese Form von Leberentzündung beziehungsweise für die Zirrhose sind übergewichtige Typ-2-Diabetiker mit einem metabolischen Syndrom. „Es ist zu viel Fett in der Leber, dies macht sie sehr empfindlich gegen oxidativen Stress. Die entstehenden Sauerstoffradikale greifen die Leberzellen an, schädigen sie, es kommt zur krankhaften Bindegewebsvermehrung und Krebsbildung“, erklärte Seitz. Da die Zahl der übergewichtigen Personen in den westlichen Ländern dramatisch zunimmt (80 Prozent aller 50- bis 60-jährigen und 40 Prozent der 20- bis 30-jährigen deutschen Männer sind übergewichtig), rechnet Seitz damit, dass die Leberkarzinomrate entsprechend zunehmen wird. Dieser durch Übergewicht und metabolisches Syndrom bedingte Mechanismus der Onkogenese könnte auch anderen Organtumoren zugrunde liegen, mutmaßen die Forscher. So wird geschätzt, dass Adipositas das Krebsrisiko für verschiedene Organkrebserkrankungen versechsfacht. Das gilt zum Beispiel auch für die Bauchspeicheldrüse. „Als kleines Organ mit einer zeitweisen sehr hohen Stoffwechselaktivität ist das Pankreas besonders empfindlich für Zellschäden“, betonte Prof. Dr. med. Matthias Löhr, der Leiter der Klinischen Kooperationseinheit Molekulare Gastroenterologie des Deutschen Krebsforschungszentrums an der II. Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Mannheim. Die Arbeitsgruppe habe bereits zeigen können, dass sich bei Patienten mit einer chronischen Pankreatitis, die überdies stark rauchen, molekulare Veränderungen häufen,wie man sie auch beim Pankreaskarzinom findet. Es handele sich dabei um Mutationen im so genannten K-ras-Onkogen. Durch diese Mutationen werde das Genprodukt so A 594 verändert, dass es dauerhaft aktiv sei und nicht mehr inaktiviert werden könne. Welche Bedeutung Mutationen im K-rasOnkogen zukommt, bestätigt ein Modell zur Tumorentstehung, das die Arbeitsgruppe um Löhr etabliert hat: „Es ist uns im Reagenzglas gelungen, genau diese aktivierende K-ras-Mutation in normale Pankreasgangzellen einzuführen und dadurch die Entstehung einer Pankreaskarzinomzelle nachzuahmen.“ Rauchen sowie die chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse erzeugen besondere reaktive Sauerstoffund Stickstoffmoleküle (ROS beziehungsweise RNS), die ihrerseits weitere Reaktionen eingehen – unter anderem mit den natürlich vorkommenden Fettsäuren. Die hierbei entstehenden Aldehyde können sich an der Erbsubstanz anlagern und diese direkt oder auch indirekt schädigen. Etheno-Addukte als Biomarker für oxidativen Stress Solche DNS-Addukte können nach Angaben von Löhr alleine noch keinen Tumor hervorrufen, sind aber wichtige Kofaktoren, die die Reparaturkazapität fehlerhafter DNS verhinderten und das Persistieren tumorverursachender Mutationen (etwa im K-ras-Onkogen) ermöglichten. Diese Kapazität sei dann schneller erschöpft, wenn Noxen und schädliche Einflüsse wie Alkohol und Rauchen die Überhand gewinnen. Um Risikopersonen herauszufiltern, bei denen sich die Entzündungsreaktion zu Krebs entwickelt, wurden in der Abteilung Toxikologie und Risikofaktoren des Deutschen Krebsforschungszentrums unter der Leitung von Prof. Dr. med. Helmut Bartsch viel versprechende DNS-Biomarker entwickelt. Die Rationale dafür ist, dass DNSSchäden schon frühzeitig durch die Addukte, die sich als Folge von Entzündungen an die Erbsubstanz anlagern, messbar sind. So wird als Abwehrmaßnahme der Zelle gegen eine chronische Infektion, eine Entzündung oder eine Noxe ein Enzym hochreguliert, welches Stickstoffmonoxid (NO) erzeugt. Durch Folgereaktionen bilden sich Etheno-Addukte an der DNA, die zu genetischer Instabilität und damit zur Umwandlung prämaligner in maligne Zellen führen. Somit könnten Ethenoaddukte als Biomarker für permanenten oxidativen Stress genutzt werden. Dies hat die Arbeitsgruppe um Bartsch an Gewebeproben von Patienten mit chronischer Pankreatitis, Leberzirrhose, Colitis und der familiären adenomatösen Polyposis zeigen können. Die Wertigkeit dieser hoch empfindlichen Nachweismethoden konnte bestätigt werden. Die Adduktspiegel waren bei Patienten mit alkoholbedingter Leberzirrhose und Fibrose deutlich höher als bei gesunden Personen. In einer von der Deutschen Krebshilfe geförderten Studie soll jetzt überprüft werden, ob diese Marker im Pankreassaft von Patienten mit einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung eine Aussage darüber zulassen, ob das Risiko für eine Krebsentwicklung auf dem Boden der Entzündung anhand der Menge der DNS-Addukte vorhersehbar ist. Bartsch: „Wir wollen wissen, ob sich anhand der Adduktspiegel, die in Körperflüssigkeiten, Biopsien oder Blutzellen gemessen werden, der Krankheitsverlauf von Krebsvorstufen bis zur bösartigen Geschwulst vorhersagen lässt. Für die Krebsprävention könnte diese Messmethode einen Fortschritt bringen, wenn sich die Wirksamkeit therapeutischer und chemopräventiver Maßnahmen, wie beispielsweise die Antioxidanzienzufuhr aus der Nahrung, überprüfen ließe. Erste Untersuchungen deuten darauf hin: Eine Pilotstudie innerhalb der großen Ernährungsstudie (EPIC) hat bestätigt, dass Probandinnen, die sich mit einer sehr vitaminreichen Kost – vor allem Vitamin E und C – ernährt hatten, deutlich weniger DNS-Schäden in ihren Lymphozyten hatten als jene mit einer normalen Kost. Dies hat sich auch in einer japanischen Interventionsstudie bestätigt, wo Frauen, die über einen bestimmten Zeitraum zu gesunder Kost angehalten wurden, deutlich weniger DNS-Schäden im Blut aufgewiesen hatten. Jetzt wird die Effizienz dieses viel versprechenden „Krebsrisiko-Tests“ in der Ingeborg Bördlein Klinik erprobt. Internationales Expertentreffen über den „Zusammenhang zwischen oxidativem Stress, chronischer Entzündung und Krebs“ am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 10⏐ ⏐ 10. März 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐