Selbstverletzendes Verhalten / artifizielle Störung / Münchhausen

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Universitätsklinik für
Psychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Fakultät
Selbstverletzendes Verhalten
/ artifizielle Störung / Münchhausen-Syndrom
Dr. med. Gottfried Maria Barth, M.A.
Email:
Barth 2008
Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie
im Kindes und Jugendalter
der Universitätsklinik Tübingen
1
[email protected]
Telefon: +49-7071-29 8 65 33
Osianderstraße 16, D-72076 Tübingen, Germany
http://www.medizin.uni-tuebingen.de/ppkj/
Selbstverletzendes Verhalten
• Von was reden wir?
• Synonyme:
engl.:
– self-injury, SI, self-harm, self-mutilation, automutilation, selfinflicted violence
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Selbstdestruktion
Selbstbestrafung
Autoaggression
Automutilation
Selbstverstümmelung
Masochistisches Verhalten
dermatitis fatitia
Para-Artefakte
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–
–
–
–
–
–
–
–
Aggressives Verhalten
Aggressives Verhalten lässt sich in
• physische Aggression (schlagen, beißen, stoßen),
• verbale Aggression (schimpfen, Gerüchte verbreiten,
lästern) oder in
• Rückzug (schmollen) unterteilen.
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Aggressive Handlungen haben meist die Intention,
andere zu schädigen oder manipulieren zu wollen.
Werden andere aus Versehen geschädigt, da das Kind
so unruhig ist und sich selbst schwer kontrollieren kann,
geht man eher von einer Hyperaktivität aus. Schon früh
kann sich die Disposition zu aggressivem Verhalten
zeigen.
Aggression:
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Fremdaggression oder
Selbstaggression
Psychische Symptome
bei Kindern und Jugendlichen
• Internalisierend
• Externalisierend
• bei Mädchen
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• bei Jungen
Psychische Symptome (bzw. Diagnosen)
bei Kindern und Jugendlichen
Externalisierend
Anorexie
Depression
Selbstverletzungen
Suizidales Verhalten
Zwang
Hysterie
Sozialverhaltensstörung
ADHD
Borderline
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Internalisierend
Jungen
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Mädchen
Selbstverletzendes Verhalten
Schmerz- und Gewaltanwendung gegen den eigenen Körper
Grobklassifizierung selbstschädigenden Verhaltens:
dissozial - suicidal - depressiv
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Häufig leichte, larvierte oder gedankliche Wendung gegen die eigene Person.
Beschädigung/Deformation des eigenen Körpers mit den Kriterien:
•· selbstzugefügt
•· eigenaktiv
•· direkt, unmittelbar, konkret
•· soziokulturell nicht akzeptiert
•· nicht direkt lebensbedrohlich
•· nicht offenkundig suizidal oder parasuizidal
•· funktional-absichtsvoll motiviert (bewußt oder unbewußt)
oder Automatismus
Indirekte Autoaggressionen: „paraselbstschädigendes Verhalten“:
• Suchtverhalten
• auch Magersucht
• selbstgefährdendes Verhalten
• gehäufte Unfälle
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Automanipulation von Krankheiten:
Absichtliches (d.h. nicht unbedingt freiwilliges), selbstinduziertes
Herbeiführen einer Krankheit oder von Symptomen, weil Kranksein
(Infirmität) als die einzig erträgliche Weise der Existenz erscheint.
Münchhausen-Syndrom:
Vorgetäuschte oder künstlich herbeigeführte Symptome zu einem
nicht offensichtlichen Zweck: Krankenversorgung, Rente usw.
Simulation:
Vortäuschung somatischer oder psychischer Symptome zu
bestimmtem Zweck, z.B. Haftentlassung, Arbeitsbefreiung
Aggravation:
Verstärkung geringer Symptome zu bestimmtem Zweck: Krankenrolle
einnehmen zu dürfen, Geld
Automutilation:
Selbstverletzungen (Schneiden, Brennen, Schlagen) nicht suicidaler
Art bei verschiedenen psychiatrischen Krankheiten (z.B. BorderlineStörungen), bei verschiedener Motivation, bei Geistig Behinderten
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Differenzierung autoaggressiven Verhaltens:
Selbstverletzungen sind weit verbreitet
Es gibt eine „Szene“, in der eine Mode / ein Kult
des Selbstverletzenden Verhaltens gepflegt
wird:
• Jugendliche mit relativ typischen Formen der
Selbstverletzung
• Können sich gegenseitig anstecken
• Sind im Internet vernetzt
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• nicht voreilig aus dem Symptom auf die
Befindlichkeit / Situation schließen
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• Stellen nur einen Ausschnitt des Spektrums dar
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Internetseiten
Selbstverletzendes Verhalten
–
–
–
–
–
–
–
–
Selbstdestruktion
Selbstbestrafung
Autoaggression
Automutilation
Selbstverstümmelung
Masochistisches Verhalten
dermatitis fatitia
Para-Artefakte
engl.:
– self-injury, SI, self-harm, self-mutilation, automutilation, selfinflicted violence
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• Synonyme:
– SVV =
selbstverletzendes
Verhalten
– Ritzen,
– Cutten,
– Schneiden,
– Schnibbeln
– …
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• Von was reden wir?
• Selbstbeschreibung
Formen von Selbstverletzendem Verhalten
Selbstverletzendes Verhalten
Offene Selbstbeschädigung
z.B. psychiatrische Erkrankungen
z.B. Geistige Behinderung
Heimliche Selbstbeschädigung
z.B. Handgelenke und Unterarme
z.B. Haare ausreißen
Vorgetäuschte Erkrankung
z.B. Krankheitsgewinn
z.B. Ausweichen aus Haftbedingungen
z.B. Extremsportarten
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z.B. gefährlicher Fahrstil
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„zufällige“ Selbstverletzungen
Selbstverletzungen in der Geschichte
• schon immer gab es ritualisierte Formen von
Selbstverletzungen oft im Rahmen meditativer
Techniken
– sich an Haken aufhängen
– Fakire
– Feuerlaufen
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– Geissler
– Genitalbeschneidungen
– extremes Fasten
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• schon immer gab es gesellschaftlich akzeptierte
Formen der Selbstverletzung
Formen des selbstverletzenden Verhaltens
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Zwicken
Klemmen
Beißen
Kratzen
Stechen
Aufkratzen der Haut
Ritzen
Schneiden
Offenhalten bzw. Aufkratzen von Wunden / Wundschorf
Verbrennungen
Verbrühungen
Verätzungen mit Säuren oder Laugen
Quetschungen von Körperteilen
Ausreißen von Haaren, auch Wimpern oder Augenbrauen
Heftiges Schlagen von Kopf oder anderen Körperteilen an Wände etc.
Abschnürungen, um Durchblutungsstörungen hervorzurufen
Schlucken oder Spritzen von giftigen Substanzen
Knochen brechen
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Häufige Erscheinungsformen bei der ‚offenen und heimlichen Selbstverletzung’ sind:
Selbstverletzendes Verhalten - Körperteile
Zu den ‚bevorzugten’ Körperteilen gehören (in dieser
Reihenfolge):
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Arme, vor allem Unterarme und Handgelenke
Beine, vor allem Oberschenkel
Bauch
Kopf / Gesicht
Brust
Genitalbereich
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• Komasaufen
• andere Formen des schädlichen Gebrauchs (Drogen,
Nikotin, PC/Internet)
• Magersucht
• Bulimie / Erbrechen
• extreme Ausübung von Sport
• gefährliche Freizeitaktivitäten
• riskantes Fahren
• extremes Arbeiten, Schlafentzug
• massive Selbstvorwürfe, Grübeln, Zwangsgedanken
• Piercing, Tätowieren
• …
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aber es gehört auch dazu …
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Häufigste Form selbstdestruktiven Verhaltens
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Häufiges Bild
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Zunehmender Schweregrad des Ritzens
Die Klavierspielerin
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Ö/F 2001, Regie: Michael Haneke, Darsteller: Isabelle Huppert, Benoit Magimel
Verfilmung des gleichnamigen Romans von Elfriede Jelinek. Sehr eindrucksvoll durch schonungslose
Offenheit und herausragende schauspielerische Darstellung. Im Film werden die seelischen Abgründe des
menschlichen Seelenlebens einfühlsam dargestellt und schrecken zum einen ab, faszinieren aber zugleich.
Selbstverletzendes Verhalten
Häufigkeit:
Schätzungen in Deutschland gehen davon aus, dass 0,7 bis 1,5
Prozent der Gesamtbevölkerung von offener Selbstverletzung
betroffen sind, mit steigender Tendenz,
bei der Gruppe der 15-30-jährigen geht man von ca. zwei Prozent aus.
Bei 50% bereits ab dem 14. Lebensjahr, 90% vor 18. Lebensjahr
40% verletzen sich mehr als 5 Jahre, 15% länger als 10 Jahre
Die Selbstverletzung ist auch kein Phänomen einer bestimmten Gesellschaftsschicht.
Barth 2008
1998 gab es in den USA 1,9 Millionen Selbstverletzer (vor allem von
der Form des: Sich-Schneidens, Sich-Ritzens, Sich-Brennens und
Sich-die-Knochen-Brechens
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Frauen sind überwiegend: ca. 80%
Ausnahme: Selbstverletzung von Männern in Gefängnissen
Formen: Statistik
• 85% an den Extremitäten
73% Schneiden
35% Verbrennen
30% Sich schlagen
22% Wundheilung behindern
22% Kratzen
10% Haare ausreißen
8% Knochen brechen
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•
•
•
•
•
•
•
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• 93% erleben sich als abhängig vom SVV
Selbstverletzendes Verhalten als Form
psychiatrischer Krankheit
•
artefizielle Störung
(ICD 10: F 68.1)
„Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung“
•
Pica
(ICD 10: F 98.3)
Essen von nicht zum Verzehr geeigneten Dingen
•
Rumination
(ICD 10: F 98.2)
Hochwürgen von Nahrung
•
Trichotillomanie
(ICD 10: F 68.3)
v.a. Mädchen, 6.-11. Lebensjahr, neuerdings auch Adoleszenz
lustvoll und schmerzhaft, oft in Kombination
•
Impulskontrollstörung
•
Münchhausen und Münchausen by proxy
•
stereotype Bewegungsstörung bzw. stereotypes selbstschädigendes
Verhalten (ICD 10: F 98.4)
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– z.B. bei Geistiger Behinderung
– teifgreifende Entwicklungsstörungen (z.B. Autismus)
– schwere Deprivation
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(ICD 10: F 63.9)
Selbstverletzendes Verhalten bei
psychiatrischen Krankheiten
•
Schizophrenie
– besonders schwerwiegende
Selbstverstümmelungen
– „Konkretisierung von (Schuld-) Gefühlen
– Gefahr schwerer körperlichen Schäden
– Gefahr tödlichen Ausgangs
•
im Rahmen von drogeninduzierten Psychosen
•
Lesch Nyhan Syndrom und andere
Stoffwechselstörungen
– z.B. Abreißen von Ohrläppchen
– Abbeißen von Fingerkuppen
–
–
–
–
z.B. in die Augen bohren
ins Gesicht schlagen
in Hände, Lippen, andere Körperteile beißen
Kopf anschlagen
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Geistige Behinderung und Autismus
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•
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Lesh Nyhan Syndrom
Lesh Nyhan Syndrom
• 1:380 000
• Hypoxanthin-GuaninPhosphoribosyltransfer
ase (HGPRT)-Mangel
• Anreicherung von
Harnsäure
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– Festbinden
– Helm
– Schneidezähne entfernen
…
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Verlauf:
• Leichte Form: Gicht
• Schwere Form:
Tod vor dem Erwachsenenalter,
z.B. Nierenversagen
Therapie:
• Harnsäure regulieren
• Schutz:
Typisches Selbstverletzendes Verhalten bei
• Bulimia nervosa und Anorexia nervosa
• Zwangssyndrom
• Störung des Sozialverhaltens
• Schwere emotionale Störung
• Borderline-Störung und andere
Persönlichkeits(entwicklungs)störungen
• Anpassungsstörung nach Missbrauch oder
Misshandlung und anderen Traumatisierungen
• Depression
• Suchterkrankungen
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• Gilles de la Tourette Syndrom
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• Bipolare Störung
Einteilung nach Schweregrad
• Schwerste Selbstverstümmelungen
– Amputation
– Kastration
– Enukleation
• stereotype Selbstverletzungen
• Oberflächliche Selbstverletzungen
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• Kompulsiv: zwanghaft-süchtig
• Episodisch: vorübergehend
• Repetitiv: wiederholend
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– übliche Form des Jugendalters
Abgrenzung
Suizidalität - Selbstverletzung
•
Intention:
Selbstverletzung wird häufig als Suizidversuch beschrieben
•
Form
Schnitte quer oder längs, in Arteriennähe
•
Kontext
vorausgegangene Suizidversuche
ausweglose Situation
•
Funktion
appellativ oder ungerichtet
•
Ursache
akuter Auslöser: impulsiv, entlastend
geplante Aktion: zielgerichtet
„Suizid als missglückter Suizidversuch / missglückte Selbstverletzung“
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mögliche Folgen
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•
Ursachen
• Impulskontrollstörung
• Störung der Affektkontrolle
• gelernte Verhaltensweisen
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• bei Unter- und Überstimulation
Differenzierung
• Entstehung:
–
–
–
–
Deprivation
Mißhandlung
Sexueller Mißbrauch
Innerpsychische Faktoren
• Funktion:
– Intrapsychische Funktion
•
•
•
•
•
Selbstfürsorge
Selbstkontrolle
Selbstbestrafung
Selbststimulation
....
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• Hilfsappell
• Kontrolle und Aggression
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– Interpsychische Funktion
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Wut gegen sich und andere
Rote Tränen
Goethes Erben (Tote Augen sehen Leben)
Es macht mir eigentlich keine Freude
in meine eigene Hand zu schneiden,
kleine rote Tränen zu beobachten,
die einen kleinen Rinnsal bildend mich verlassen.
Die einzige Möglichkeit mich an mir zu rächen
Zu sühnen für das was ich sprach und tat.
Ohne bewußt gehandelt zu haben.
Es kommt mir vor als hätte ich nie gelacht
nie geweint,
gelacht geweint
☻
Die Bilanz zeigt aufwärts
Doch verliert sich die schwarze Linie am trüben Horizont der brennt.
Mit steigender Tendenz Richtung Unendlichkeit
Weit entfernt von so etwas wie Gefühlen.
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Endlich rote Tränen zu weinen
Endlich rote Tränen zu weinen
... rote Tränen zu weinen
... Tränen zu weinen
... zu weinen
... weinen
☻
Barth 2008
Ich spüre nicht das Stück Fleisch,
daß anstatt meiner rote Tränen weint.
Im Moment noch wenige.
Und jeder Schritt abseits der Linie wird bestraft
mit flüsternden Worten die mehr rote Tränen fordern.
Hört nur wie sie flüstern und wispern
schimpfen und geifern
stechen und bohren
zerren und beißen
fordern: rote Tränen zu weinen
und schließlich darum betteln
10 % der sich selbst verletzenden Frauen verspürten starken Schmerz
23 % berichteten von mäßigem
38 % von leichtem und
29 % von gar keinem Schmerz (Favazza & Conterio, 286).
•
Sachsse äußert über das Schmerzempfinden seiner
Selbstverletzungspatientinnen: "Das SVV schafft hier ein Grenzerleben und
vermittelt ein Gefühl von Lebendigkeit. Die anästhetische Haut wird wieder
spürbar. Der Schnitt selbst ist schmerzfrei, erst nachträglich stellt sich ein
begrenztes Schmerzempfinden ein. Das warme, pulsierende Blut ist ein
Zeichen inneren Lebens." (Sachsse, 1995a, 43)
•
Manche Frauen empfinden Schmerz, ertragen ihn aber mit einer Art
Triumphgefühl, Sachsse nennt das den "masochistischen Triumph". "Ich
kann allerhand ab. Vor drei Jahren habe ich mir mal einen Schraubenzieher
durch die Hand gerammt und bin so in die Chirurgie gefahren. Dem
Chirurgen ist fast schlecht geworden. Anfänger! Er wollte mir sofort eine
Leitungsanästhesie setzen, aber das habe ich abgelehnt. ‚Ohne Betäubung’
habe ich gesagt. Es hat höllisch wehgetan, aber ich hab keine Miene
verzogen" (Sachsse, 1995a, 128).
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•
•
•
•
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Schmerzempfindung während der
Selbstverletzung
Erklärung: Endorphine
• Mobilisierung der Endorphine:
– Hochgefühl
– betäubt anderen Schmerz
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• Suchtcharakter
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• Endorphine durch bedingten Reflex bereits
mobilisiert
Erklärungen
• Selbstverletzung aus Schuldgefühlen
• Selbstverletzung bei blockierter Aggression
• Selbstverletzung als Kompromiss zwischen Eros und
Thanatos
• Selbstverletzung als erlerntes Verhalten
• Selbstverletzung als Suchtverhalten
• Selbstverletzung als Erkundung
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• Selbstverletzung als Überwindung von
Depersonalisation
• Selbstverletzung als Dissoziation
• Selbstverletzung als Schutz vor suizidalen Handlungen
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– des eigenen Körpers und
– der sozialen Beziehungen
 Vorkommen und Erklärung autoaggressiven Verhaltens
Selbstverletzung bei Jugendlichen heute eine häufige
Verhaltensweise, besonders bei vorausgegangener oder
anhaltender emotionaler, körperlicher und/oder sexueller
Mißhandlung/Mißbrauch.
Häufig in Kombination mit der Entwicklung einer extremen Störung
des Sozialverhaltens, Borderline-Persönlichkeitsstörung und
extremen Bindungsunfähigkeit.
Häufig auch in Verbindung mit paraselbstschädigenden Störungen
wie Anorexie und Bulimie.
Oft zugrundeliegende schwere depressive Störung.
„damit ich den großen Schmerz nicht spüre“
Blut als Zeichen der eigenen Lebendigkeit
Vergewisserung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung
eigene Körpergrenze erspüren
Selbstfürsorge
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–
–
–
–
–
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Selbstverletzungen als Versuch der Selbsttherapie:
Erklärung autoaggressiven Verhaltens
Erregungsabfuhr ungerichteter oder blockierter innerer Erregung
umgeleitete aggressive Akte
Masturbationsersatz bzw. exzessive Masturbation
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Erlernt als Vermeidung von Unerwünschtem
Häufig Suche nach Zuwendung, Liebe, Aufmerksamkeit
bei Ich-Schwäche, Hilflosigkeit, Unreife, Ressentiment
Physiologische Prozesse als Ursache von Selbstverletzung: Lesh-Nyhan-Syndrom
kulturelles Phänomen bei Angst, Verzweiflung, Ausweglosigkeit (Bestattungsriten)
bei gefangenen Tieren oder mutterlos aufgewachsenen Tieren
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vor allem bei geistiger Behinderung:
– ungenügende Verknüpfung von Schmerz und Schmerzursache
– starker stimulierender Reiz bei Reizdeprivation infolge
Wahrnehmungseinschränkung
– Selbstvergewisserung durch Schmerz, Spüren des eigenen Körpers
– vor allem bei jung und lange institutionalisierten Patienten
– bei weiblichen Patienten häufiger
– bei männlichen Patienten schwerer
– häufig von Stereotypien begleitet
Selbstvergewisserung der eigenen Handlungsmöglichkeit
Erlernt durch soziale Zuwendung nach Selbstverletzung
– unmittelbare Wundversorgung
– präventive Betreuung
Entwicklungspsychopathologie im Kindes- und Jugendalter:
passagere Entwicklungsstörungen
nächtliches Kopfschleudern
Beißen an Nägeln, Nagelhäuten oder in die Wangenschleimhaut
Haareausreißen
Ritzen der Körperhaut mit scharfen Gegenständen
Primitivreaktionen in Verzweiflungs- und Erregungszuständen
sich selbst schlagen
mit dem Kopf auf Gegenstände schlagen
zwanghafte Bewegungsstereotype mit Selbstverletzung im Verlauf
endogener, besonders schizophrener Psychosen
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demonstrative Handlungen Jugendlicher in der Strafhaft als
Ausweich- und Zweckreaktionen
Fremdkörperschlucker
Einbringen entzündungsfördernder Fremdstoffe in offene Wunden
selbstbeigebrachte Verletzungen
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Autoaggressionen als Suizidäquivalente
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• Genau phänomenologische Erfassung des
selbstverletzenden Verhaltens
• Erfragung der Kognitionen beim
Selbstverletzen
• Erfassung der gesamten Lebensumstände
• Differentialdiagnostik mit umfassender
psychopathologischer Anamnese und
Befund
• Bedeutung und Verarbeitung der bereits
bestehenden Schäden
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Diagnostik
Beratung
•
•
•
•
•
•
Nicht wegschauen
eigene Reaktion aushalten
Ansprechen
Befinden erkunden
Gesamtsituation einschätzen
Unterscheidung in
Barth 2008
• sorgfältige Erstversorgung
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– passageres Phänomen, Ausprobieren
– Problemverhalten, Krankheit
Wichtigste Komponente
• Wie reagiere ich auf die Konfrontation mit
Selbstverletzungen?
Barth 2008
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– schon die ersten Sekundenbruchteile können
über Vertrauen und Beratungserfolg
entscheiden
 Umgehen mit Autoaggressionen:
Übernahme der Autoaggression durch klar strukturierendes, ja
beschränkendes Verhalten kann helfen, entlasten und
Freiheit geben: keine Selbstbestrafung mehr nötig.
Barth 2008
Pflegende liebevolle Versorgung aller Verletzungen als
Zeichen, daß unbedingt die Integrität des Selbstverletzenden
wiederhergestellt werden soll. Heilen des Körpers = Pflege
der Seele. Jede solche Versorgung ist ein Stück Integration
des beschädigten Ichs des Selbstverletzers und ein
Gegengewicht zu oft vorausgehenden tiefgehenden
Verletzungen durch andere.
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(jedoch: Durchbrechen des Zirkels der Gewalt, auch bei Paaren, in dem die
Aggression des anderen gesucht wird.
Also Strukturierung, vor der eigenen unkontrollierten affektiven Antwort)
Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung
Akzeptanz der Funktion des SVV
Aufbau alternativer Verhaltensweisen
Entzug von Zuwendung direkt nach SVV
Behandlung von Grunderkrankungen
Korrekturverfahren
Kognitive Therapieansätze (DBT u.a.)
Tiefenpsychologische Therapie
time out, Fixierung, Medikamente
Barth 2008
•
•
•
•
•
•
•
•
•
44
Therapie
Versuche Dich zu entspannen bzw. abzulenken, z.B. Tief durchatmen, Baden, Musik hören,
Lesen, Fernsehen...
•
Mit jemandem sprechen (ein Freund, Therapeut oder Telefon-Krisendienst)
•
Versuche, möglichst nicht alleine zu sein (einen Freund besuchen, einkaufen,
spazierengehen)
•
Tagebuch schreiben bzw. schreibe das auf, was Du momentan fühlst, was Dir durch den
Kopf geht
•
Versuche deine Gefühle kreativ umzusetzen, z.B. durch Zeichnen
•
Trage ein Gummi um Dein Handgelenk und laß es schnalzen, wenn Du den Drang hast,
Dich selber verletzen zu wollen.
•
Male Dir rote Striche mit wasserlöslichen Filzstiften auf die Haut anstatt zu schneiden.
•
Presse Eiswürfel an Deine Haut. Die Kälte ist zwar schmerzhaft, aber weder gefährlich
noch gesundheitsschädlich.
•
Versuche Dich nicht in Versuchung führen zu lassen, d.h. halte Dich nicht an Orten auf, wo
du z.B. deine Klingen aufbewahrst
•
Versuche Deine Aggressionen loszuwerden (Schlag auf ein Kissen oder eine Matratze, geh
nach draussen und schrei alles aus Dir heraus)
•
Suche Dir eine Sportart, bei der Du Deinen inneren Stress abbauen kannst
•
Weine, wenn du kannst. Du fühlst dich besser, wenn die Tränen erst einmal raus sind.
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•
45
Selbsthilfe-Ratschläge
Tu irgendetwas mit deinen Händen (Malen, Zeichen, Aufräumen, Abwaschen,
Hausarbeiten)
•
Schreibe einen Brief an die Person, die Dich traurig oder wütend macht bzw. die Dich
verletzt hat.
•
Schreibe Dir Deinen ganzen Frust von der Seele, verfasse Kurzgeschichten oder Gedichte.
•
Mach Musik, spiele ein Instrument spielen oder erlerne es.
•
Höre laut Musik und versuche dich voll auf das Lied zu konzentrieren, lasse dich
sozusagen davon fesseln.
•
Versuche Deine Gefühle mitzuteilen anstatt sie zu schlucken oder sie für Dich zu behalten.
•
Nimm den Gegenstand, mit dem du dich sonst selber verletzt und richte es dieses Mal
gegen etwas anderes als dich selbst.
•
Sage Dir, dass Du Dich in 15 Minuten immer noch verletzten kannst. Versuche nach den 15
Minuten, ob du es nochmal 15 Minuten aushälst.
•
Schreib eine Liste mit Gründen, warum du das Schneiden aufhören wirst. Immer wenn du
dann den Drang verspürst, dich selber zu verletzen, lies die Liste als Erinnerung daran,
warum du es jetzt nicht tun solltest.
•
Wenn Du kurz davor bist Dich zu verletzten, versuche nachzudenken: Warum mache ich
das? Möchte ich es wirklich? Hilft es mir? Was werden die Folgen sein? Möchte ich mit
diesen Folgen leben?
•
Wenn der Drang dennoch nicht weniger wird, erlaube Dir das SVV, aber bestimme woher
wie weit und versuche die Grenze nicht zu überschreiten.
Barth 2008
•
46
Selbsthilfe-Ratschläge
Artefizielle Störung
= Münchhausen-Syndrom (ICD 10: F68.1) (Asher 1951)
• Absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von
körperlichen oder psychischen Symptomen oder
Behinderungen.
• häufig und beständig
• überzeugend und hartnäckig
• kann viele Untersuchungen oder gar Operationen zur
Folge haben
• oft mit anderen Persönlichkeitsstörungen kombiniert
Barth 2008
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Cave: nicht „Simulation“ (Z76.5)
Artefizielle Störung
Barth 2008
48
Häufigkeit: 0,5-2% unter chirurgischen
Patienten
Durchschnit 20 – 25 Jahre
Beginn oft in Adoleszenz
In der KJP:
ab 8 Jahre, DS 14 Jahre
71% Mädchen
Artefizielle Störung
Barth 2008
49
Haut
internistisch
gynäkologisch
chirurgisch
urologisch
psychiatrisch
Münchhausen by Proxy
= artefizielle Störung by Proxy (Meadow 1977)
ICD 10: T74
DSM-IV-Forschungskriterien:
Barth 2008
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• Absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von
körperlichen oder psychischen Zeichen oder Symptomen
bei einer anderen Person, die von der betreffenden
Person versorgt wird.
• Das Motiv für das Verhalten liegt im stellvertretenden
Kankheitsgewinn (by proxy).
• Äußere Gründe fehlen.
• Das Verhalten wird nicht durch eine andere psychische
Störung hervorgerufen
Münchhausen by Proxy
Alter: 1 – 21 Jahre, DS 40 Monate
Fast immer durch die Mutter
Klinische Auffälligkeiten:
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Blutungen (44%)
Anfälle (42%
ZNS-Störungen (19%)
Apnoe (15%)
Durchfälle (11%)
Erbrechen (10%)
Fieber (10%)
Barth 2008
–
–
–
–
–
–
–
Münchhausen by Proxy
Merkmale:
• Häufig eigene Anamnese von Missbrauch und
Ablehnung bei der Mutter
• Pathologische Bindung Mutter-Kind:
Barth 2008
• Ungewollt unterstützende Rolle des medizinischen
Systems
• Nur bei 15% der Mütter eigene psychiatrische Diagnose
• „gepflegte, kooperative und engagierte Mütter“
• oft aus medizinischen Berufen
• oft alleinerziehend
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– Frühe Interaktionsstörungen
– Balance Liebe-Hass gestört
Münchhausen by Proxy
Vorgehen
• Genaue Beobachtung
• Schutz der Kinder
• forensischer Nachweis
Barth 2008
53
Cave:
• ärztliche Tätigkeit ist auslösend
• emotionale Reaktionen des Helfersystems
Vernachlässigung - Misshandlung
• Vernachlässigung
– körperlich
– emotional (Deprivation)
Barth 2008
– körperlich
– emotional
– Münchhausen by proxy
54
• Misshandlung
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