PTSD Posttraumatische Belastungsstörung PTSD Misshandlung sexueller Missbrauch Fragen nach Arten von Traumatisierung: Misshandlung und sexueller Missbrauch nur ein kleiner Ausschnitt von möglichen Traumatisierungen Dr. med. Gottfried Maria Barth, M.A. PTSD ein typisches Muster, aber nicht die einzige Reaktionsmöglichkeit Barth 2010 Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes und Jugendalter der Universitätsklinik Tübingen Barth 2010 1 [email protected] Telefon: +49-7071-29 8 65 33 Osianderstraße 16, D-72076 Tübingen, Germany http://www.medizin.uni-tuebingen.de/ppkj/ 2 Fragen nach Belastungsfolgen: Email: Grenzen der Verarbeitung Umgehen mit Traumatisierung Es gibt Ereignisse, • die sich kaum verarbeiten lassen • mit denen man leben muss immer zwischen den Polen Was heißt überhaupt verarbeiten • aushalten? • wegschieben? • trauern? • integrieren? Abwehr Verarbeitung Verdrängen Vergessen Projektion Idealisierung Abspaltung … Erinnern Besprechen Verstehen Fühlen Gutes akzeptieren … Barth 2010 3 Barth 2010 4 Bewältigung baut immer auf einem Gleichgewicht zwischen beiden Polen auf Jeder braucht seine eigene Mischung In unserer Gesellschaft ist Abwehr im Vordergrund, nicht die aufwendige psychische Verarbeitung Taumaforschung Traumatisierungspotential • • Kriegspsychiatrie im 1. Weltkrieg Altersabhängig (Säugling kann Bedeutung nicht verstehen, Adoleszenter kann Trennung besser aushalten) Kriegshysterie, Schreckenstrauma wird behandelt zur Wiederherstellung der Kriegstüchtigkeit Störungen zeigten sich in der Regel erst nach der Anspannung Anwendung drastischer Methoden zur Erzwingung der Symptomreduktion • Ansteigend in der Reihenfolge Naturkatastrophen Unfälle durch Menschen Kriegsgräuel Innerfamiliäre Katastrophen • Abhängig von Reaktion der Bezugspersonen Entwicklungsstand Protektiven Faktoren Postexpositionellen Faktoren • PTSD-Konzept: 1980 5 6 Barth 2010 Barth 2010 Ausgehend von Vietnam-Veteranen Folgen von Traumatisierung Traumatypen (u.a. Terr 1987, Khan 1963, Keilson 1998) • Typ I • Unterscheidung von Ursachen und Auslöser! Singuläre kurz dauernde traumatische Ereignisse (häufig akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit, Überraschung) führt zu klassischen Symptomen der PTSD • Reaktionen oft mit großer zeitlicher Verzögerung • Leiden oft sehr viel später bewusst • Typ II • Symptome können Lösungsweg sein: Lang anhaltende, wiederholte traumatische Ereignisse (Kumulation und geringe Vorhersagbarkeit) führt zu Leugnung, Betäubtsein, dissoziativen Symptomen, Impulsstörungen weniger Spontanremission – Selbstverletzungen – Magersucht • kumulative Traumatisierung Barth 2010 ¾ dürfen nicht einfach weggenommen werden! Barth 2010 Wiederholungen traumatisierender Erfahrungen 7 • sequentielle Traumatisierung Reaktionen auf schwere Belastungen Hauptfaktoren psychischer Traumatisierung • Diskrepanz zwischen Bewältigungsfähigkeit und Situationsanforderung • Akute Belastungsreaktion (F43.0) – vorübergehend – außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung • Hilflosigkeit • Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) • Schutzlose Preisgabe – verzögerte Reaktion auf außergewöhnliche Belastung • Anpassungsstörungen (F43.2) • dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses Barth 2010 9 10 – subjektive und emotionale Beeinträchtigung mit Beginn innerhalb 1 Monat und Dauer bis 6 Monate Barth 2010 Siehe Lehrbuch Psychotraumatologie Fischer/Riedesser 2003 akute Belastungsreaktion PTSD und Anpassungsstörung • 8 – …. traumatische Auswirkung durch gemeinsames Auftreten Akute posttraumatische Belastungsstörung: < 3Monate, vegetative Erscheinungen, Wiedererinnerung • • über Stunden bis wenige Tage • wechselndes gemischtes Bild mit Chronische posttraumatische Belastungsstörung: >= 3 Monate, dissoziative Erscheinungen, veränderte Affekte • – – – – – – – – – Posttraumatische Belastungsstörung mit verzögertem Beginn: Frühestens 6 Monate nach Trauma • Akute Belastungsstörung: Auftreten Sekunden bis Minuten nach dem Trauma Abklingen innerhalb von Stunden oder Tagen Depression, Angst, Ärger, Verzweiflung, Überaktivität, Rückzug • Anpassungsstörung: Keine Extremerfahrungen sondern z.B. Migration, Störung der Emotionen und/oder des Sozialverhaltens 12 (Fischer/Riedesser 2003) Barth 2010 dissoziative Identitätsstörung Viktimisierungsstörung Angststörungen depressive Störungen Sozialverhaltensstörung 11 weitere typische Störungen als Belastungsfolgen: Barth 2010 • Derealisation Dissoziation Depression Angst Ärger Verzweiflung Hyperaktivität Rückzug auch Mutismus, Anklammern, … PTSD Anpassungsstörungen • über einige Wochen bis viele Jahre • Ereignis mit besonderer Bedrohlichkeit • Symptome • in der Regel wenige Monate • keine Extremerfahrungen – auch positive Ereignisse möglich – Wiedererinnerung oder Wiederinszenierung in Gedächtnis, Träumen, Spiel, … – emotionaler und sozialer Rückzug, Vermeidung von auslösenden Reizen – Vegetative Störungen bis zu Übererregtheit – Stimmungsbeeinträchtigung 14 Barth 2010 13 – emotionale Störungen – sekundäre soziale Beeinträchtigungen Barth 2010 – Depression – Angst – Aggression • Symptomatik: Auftreten von PTSD PTSD-Folgen • Häufigkeit bei Kindern und Jugendlichen (Lebenszeitrisiko): 1,6 – 9,2% • (traumatische Ereignisse: 22%) • Häufigkeit bei Hochrisikogruppen (Lebenszeitrisiko): 24-34% • Mädchen: schwerere und längerdauernde PTSD-Symptomatiken • Jungen: häufiger traumatische Ereignisse • PTSD ist erhebliches Risiko für Komorbide Störungen Exazerbation bestehender anderer Störungen Spätere Depression, Angststörungen, Sucht Gleichzeitige Borderlinestörung 16 Barth 2010 Barth 2010 15 (Lonigan et al. 1994, Giaconia 1995, Essau et al. 1999 u.a.) Intrusion Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) nach DSM IV • Intrusion 1. Wiederholte unausweichliche Erinnerung oder Wiederinszenierung der Ereignise im Gedächtnis, Tagträumen, Träumen 2. 3. • Vermeidungsverhalten Deutlicher emotionaler Rückzug, Gefühlsabstumpfung, Vermeidung von Reizen, die eine Wiedererinnerung an das Trauma hervorrufen könnten 4. • Vegetative Übererregtheit 17 18 Barth 2010 5. Barth 2010 Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können Wiederkehrende belastende Träume von dem Ereignis Handeln oder Fühlen, ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, ob das Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen und externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern Körperliche Reaktionen bei Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern Vermeidungsverhalten 5. 6. Barth 2010 7. 20 4. Barth 2010 3. 1. Schwierigkeiten beim Ein- oder Durchschlafen 2. Reizbarkeit oder Wutausbrüche 3. Konzentrationsschwierigkeiten 4. Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz) 5. Übertriebene Schreckreaktion Pathogenese der PTSD Traumafolgenverlauf (Pitman 1988) 1. 2. 3. • unmittelbare Schädigung, Lebensgefahr • vorübergehende Kompensierung – Problem: Belastung wird nicht erkannt bis zur Dekompensation • Bewältigung – Eltern als Ressourcen für Bewältigung / Resilienz / Coping Barth 2010 Barth 2010 21 4. Ein extrem traumatisches Ereignis überstimuliert die endogenen streßabhängigen Hormone und Neuromodulatoren. Diese Substanzen interferieren mit der Gedächtnisspeicherung und führen eine Überkonsolidierung von Erinnerungsleistungen an das Ereignis herbei („Superkonditionierung“). Dadurch kommt es zu einer tiefen Verwurzelung traumatischer Erinnerungen. Zudem kommt es zu einer posttraumatischen Manifestation, die sich in intrusiven Wiedererinnerungen und konditionierten emotionalen Antworten äußert. Traumakompensation PTSD-Folgen • Kampf- und Fluchtreaktion Unterdrückung von Gefühlen Rückgriff auf frühesichere Erfahrungen Bewältigung durch Dissoziation, Misstrauen, Hyperaktivität, Überanpassung, Impulskontrollstörung, … PTSD ist erhebliches Risiko für Komorbide Störungen Exazerbation bestehender anderer Störungen Spätere Depression, Angststörungen, Sucht Gleichzeitige Borderlinestörung • Posttraumatische Symptome sind Versuche der Traumakompensation (Fischer/Riedesser 2003) • PTSD Symptome zeigen starke Tendenz zur Abnahme, wenn die traumatischen Auslöser nicht mehr gegeben sind. Kumulative traumatisierende Erfahrungen erhöhen das Risiko fortbestehender PTSD-Symptome (Thabet & Vostanis 2000) 24 Barth 2010 (s. Streeck-Fischer 19992) Unklar ist, ob die Aktivierung der Stressachse und des vegetativen Nervensystems in ebensolchem Ausmaß rückläufig ist. 23 • Barth 2010 – – – – – – 22 2. Bewußtes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen Bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die die Erinnerung an das Trauma wachrufen Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern Deutlich vermindertes Interesse oder keine Teilnahme an wichtigen Aktivitäten Das Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen Eingeschränkte Bandbreite des Affektes (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. keine Erwartung, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben) 19 1. Vegetative Übererregtheit bei PTSD PTSD-Therapie unterschwellige unspezifische Symptome Barth 2010 Barth 2010 • Wichtig ist die inneren (Beziehungs-) Phantasien, Ich-Zustände und Bewältigungsversuche zu erkennen und adäquat zu berücksichtigen – ß-Blocker – SSRI (Antidepressiva) – Carbamazepin (Stimmungsstabilisierung) – Clonidin (antiaggressiv) – Neuroleptika (spannungsreduzierend) PTSD-Therapie human interest strategy • Kognitiv-verhaltenstherapeutisch Therapie muss eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen. Dazu bedarf eines persönlichen Engagements der Therapeuten. Es muss vermieden werden, gegenseitige Vorurteile aufrechtzuerhalten bzw. zu bedienen Häufig wird der Mangel an Vertrauen übersehen und eine technisch orientierte Therapie durchgeführt, der dann jedoch die Grundlage fehlt. Zielsetzung und Psychoedukation Entwicklung von Coping-Strategien Expositionstherapie Verselbständigung und Rückfallprophylaxe • EMDR Desensibilisierung durch Augenbewegungen (Wirkmechanismus unklar und Effekt umstritten) • Psychoanalytische Verfahren Stärkung der Ich-Funktionen Integration der Erfahrungen • Pharmakotherapie 28 Barth 2010 27 (Feldmann et al. 2007) Barth 2010 Senkung der des Erregungsniveaus Behandlung von Begleitsymptomen 26 • keine spezifische medikamentöse Therapie • v.a. unspezifische Erregungs- bzw. Aggressions- und Emotionsdämpfung Schlafprobleme Konzentrations- und Leistungsprobleme Dysphorie psychosomatische Symptome Konversionsstörungen vegetative Dysfunktion 25 • • • • • • Stress Stress Traumatisierende Wirkung abhängig von – Intensität – Dauer – Subjektiver Bewertung Akuter und kontrollierbarer Streß • • • • – fördert Synaptogenese – und adaptives Verhalten Für Kinder hat die Situation der gesamten Familie und insbesondere auch der Eltern ganz besondere Bedeutung. Chronischer und unkontrollierbarer Streß Psychische Krankheit oder unsicherer Aufenthalt der Familie 29 30 Barth 2010 – belastet Kinder direkt und – lässt die Kinder auch unmittelbar die Belastung der Eltern erleben – und kann ein paranoid-unsicheres Familienklima schaffen Barth 2010 – Synapsenauflösung – Transmitter-Depot-Entleerung – Schrumpfung des Hippocampus (u.a. Zelltod) Bedeutung? Bewältigbar? Vorhersagbar? Kontrollierbar? Kinder traumatisierter Eltern Wirkung elterlicher Traumatiierung auf Kinder Kinder haben altershabhängig wenig Ressourcen, sich vor traumatisierenden Erfahrungen zu schützen und sind aktuellen Traumatisierungen und den Belastungen der traumatisierten Eltern ungefiltert ausgesetzt • Nachweis der traumatischen bzw. zu Psychopathologie führenden Wirkung elterlicher Traumatisierung auf Kinder: eine traumatische Belastung der Eltern führt zu traumatisierender Belastung des Kindes: (Yehuda et al. 2001, Spencer 2006) (Kogan 1998 – dargestellt durch Riedesser 2005 im Forum KJPP, siehe auch Lehrbuch Psychotraumatologie, Fischer/Riedesser 2003) • Diese Wirkung ist geschlechtsabhängig (besonders stark Mutter -> Tochter) ¾ Wiederholung der traumatischen Affekte mit dem Kind durch projektive Identifizierung ¾ Traumatisierung durch emotionale Unzulänglichkeit der Eltern (Ostrowsky et al. 2007, Aguilera-Guzmann 2004) ¾ Wiederholung der Traumatisierung in der Phantasie der Kinder • Kinder reagieren auf Migration stärker als Erwachsene. Das Erleben der hilflosen, oft angsterfüllten und in ihrer schützenden Funktion beschädigten Eltern führt zu • • 32 Reaktion von Kindern auf Trauma Traumatisierung durch Dekonstruktion der Eltern • Ein unsicherer Aufenthaltsstatus behindert die Eltern in der eigenen Bewältigung der traumatischen Erfahrungen und fördert oben genannte Reaktionen. Barth 2010 31 Barth 2010 (Levitt et al. 2005) ¾ Selbstverlust der Kinder, die als Substitut der Eltern dienen • Kleinkinder: frühe Emotionen, Verleugnung frühen Störungen durch Depression und emotionale Unzulänglichkeit der Mutter / des Vaters Parentifizierung mit Überforderung und zunächst forcierter Reifung und dann behinderter Ablösung pathologische Identifizierung mit den Belastungen und Symptomen der Eltern – Protest – Hoffnungslosigkeit – Passivität, Rückzug – Erholung stark abhängig von Erwachsenen (Riedesser 2005) Barth 2010 33 Barth 2010 – hinterbliebener Elternteil selbst psychisch beeinträchtigt – wenig intensive Betreuung durch Hinterbliebene schon vor dem Todesereignis – finanzielle Probleme nach Todesfall 34 • größte Belastung wenn In allen Entwicklungsabschnitten, beginnend vor der Geburt, bis ins Erwachsenenalter beeinträchtigen traumatisierende Belastungen der Eltern die gesunde psychische Entwicklung von Kindern. León und Rebecca Grinberg (1990) 2 – 10-jährige Kinder nach Tod des Vaters: > 50% starke psychische Beeinträchtigung • Kinder eingebettet in Familie sind geschützter • Familie selbst verunsichert • Kinder sind ausgesetzter da keine Entscheidungsträger 70% mit depressiven Symptomen nach 1 Monat 43% mit depressiven Symptomen nach 1 Jahr Kaffmann und Elizur 1983 Einige Kinder entwickeln erst nach Monaten oder Jahren die stärksten Symptome, vor allem bei Kindern < 5 Jahre Fristad et al. 1989, Kaffmann und Elizur 1983 • Im Säuglingsalter erlittene Migration kann lebenslange Folgen haben • Anforderungen der Migration stoßen auf altersabhängige Entwicklungsaufgaben Kinder die bei der Erinnerung trauern sind weniger verhaltensauffällig als die, die beim Erinnern Ärger, Furcht oder positive Affekte zeigen 35 36 Barth 2010 Kranzler 1990 Barth 2010 Kranzler 1990 Langfristig negative Folgen bis ins Erwachsenenalter vor allem wenn Tod vor dem Grundschulalter Wechselwirkung von Trauma und Migration Psychoanalytische Sicht auf Migrationsfolgen (Grinberg 1990) Unter Berücksichtigung der Wirkung lang dauernder Belastungen und Stresssituationen ergibt sich die Wechselwirkung übermäßige Mutterbindung Phobien Isolation Schulverweigerung Leistungshemmung und Lernprobleme Mobbing-Opfer Abwertung der peers körperliche Störungen Veränderung der eigenen Erscheinung Traumatophilie … • • • • Migration zur Beendigung der Traumatisierung Traumatisierung durch Migration Traumatisierung durch Folgen der Migration Modifizierung der Traumatisierung durch Migration ¾ Migration bedeutsamer als vorausgehende Traumatisierung? • • keine einseitige Reihenfolge oder Kausalität zwischen Migration und Traumatisierung festgelegt bei gegenseitiger Rückwirkung Wahrscheinlichkeit von Eigendynamik im Sinne eines bei zwei auf sich zurückwirkenden Belastungsfaktoren ist der Teufelskreis wahrscheinlich Folge von Migration Migrationsfolgen bei Kindern von Migranten Migration per se wirkt nicht traumatisierend! Migrantenkinder in Deutschland sind nicht öfters krank als deutsche. (Adam 2005) 39 Traumafolgen bei Erwachsenen Traumafolgen bei Kindern nach Migration Nach einem Jahr 20- 30 % mit PTSD Risiko für psychiatrische Störung bei Flüchtlingen aus Somalia in UK: • Kriegserlebnisse • Beschäftigungsverhältnis vor Flucht • Gebrauch von Qat nach der Flucht (Berman et al. 1996 und andere) Unterschiedliche Formen von Migration: Auswanderung und Flucht – – – – (Bhui et al. 2003) Verlust von Land und Familie Trauer oft nicht erkannt Unmöglichkeit des Ausdrucks und Selbsterlebens Erhöhtes Risiko psychischer Probleme Spätfolgen nach Trauma bei Vietnamesen in Australien: Durchschnittlich 14 Jahre nach Trauma: • 8% mit psychiatrischer Störung • 7% psychiatrische Störung bei Berücksichtigung kultureller Unterschiede • 12% bei Mehrfachtrauma (>=3) • 3% wenn ohne Traumaerfahrung (Fantino and Colak 2001) 42 Barth 2010 (Bolea et al. 2003) (Steel et al. 2002) 41 – Reise und Flüchtlingslager werden als Fortsetzung des Traumas empfunden – Religion wird als Stärkung empfunden – Kontakt mit eigener Kultur und mit anderen Kindern in gleicher Situation hilfreich Barth 2010 • (Storch & Poustka 2000, Steinhausen & Remschmidt 1982) Barth 2010 (Hjern, 2005) Barth 2010 Widersprüchliche Ergebnisse über Folgen von Migration • 35-50% der Kinder mit psychischen Problemen (in Skandinavien) • Flüchtlingskinder mit besserer psychischer Gesundheit als andere Kinder (Schweden) Kinder von Migranten zeigen folgende Symptome: • sozialer Rückzug • Ängste • Schlafstörungen • unklare Schmerzen • Dissoziationen • Enuresis • Enkopresis • Schulphobie • Suizidalität 40 (Schepker 2003) aber ist häufig verbunden mit • besonderen traumatischen Erlebnisse • u.U. lang dauernder unsicherer Lebenssituation • Identitätskonflikte • Soziale Belastungen • Integrationsproblemen • Barth 2010 37 • 38 – Engelskreises – oder Teufelskreises Barth 2010 • • • • • • • • • • • PTSD nach Trauma und Migration Gründe für unsicheren Aufenthalt von Kindern • Ausländerkinder ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis PTSD bei 50-70% bestimmter Migranten • fehlende Kooperation der ausländischen Eltern mit besonderer Abhängigkeit der Kinder (Mollica 1987, Kinzie 1990) • • PTSD bei 21% von Flüchtlingen aus Südostasien Trauma bei 74 % von Flüchtlingen aus Südostasien • PTSD nicht abhängig von Anzahl der Traumatisierungen oder anderen Variablen vor der Migration PTSD nicht abhängig von Art der Migration oder Traumatisierung PTSD-Gruppe: • unsicheres Fußfassen der Eltern im Westen • strittige Scheidungen • drohender Sorgerechtsentzug Weniger Trennung und Wiedervereinigung von Familien Weniger Bindung an Herkunftskultur Mehr Erleben und Ausdruck von Wut Häufigere Umzüge nach Migration Abhängiger von öffentlicher Hilfe • drohende bzw. vorübergehende vollstationäre Unterbringung von Kindern Barth 2010 • … Tod ≠ Tod Erleben von unsicherem Aufenthalt Schicksal: Suizid eines Elternteils Eines der schlimmsten Schicksale, die ein Kind treffen kann Kein seltenes Schicksal Kind bleibt zurück mit 46 Tod ≠ Tod Suizid eines Elternteils • • • • • • • 47 • In USA jährlich 7000 bis 12000 Kinder betroffen • In Tübingen ständig 1-2 Kinder stationär • 25-30% der Kinder werden depressiv • Evtl. 40% mit PTSD • Zunächst Tod belastend • Später Todesart belastend • • • • Barth 2010 Tod ≠ Tod Barth 2010 45 – Schuldgefühlen – Selbstvorwürfen – Minderwertigkeitsgefühlen – schlimmen Erinnerungsbildern – unbändiger Wut Barth 2010 führt zu • unsicheren Beziehungen • Hemmung sich einzulassen • Fehlen von Vertrauen • Flucht in eine eigene Welt • Suizidalität • Permanenz von Angst und Stress • psychiatrische Störung • PTSD • Neigung zu körperlichen Symptomen • geringeres Angebot an Hilfsangeboten 44 • Langzeitbehandlungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Barth 2010 (Abe et al. 1994) • • Belastungen nach Suizid eines Elternteils Trauer Schuldgefühle, den Suizid nicht verhindert zu haben. Schuldgefühle den Suizid verursacht zu haben Selbstentwertung infolge der Missachtung durch den Suizid („das Überleben nicht wert gewesen zu sein“) Stigmatisierung als Kind eines Selbstmörders Wut auf den toten Elternteil Wut auf den überlebenden Elternteil als projektive Entlastung Projektionsfläche zu sein für die Wut anderer Überlebender Angst vor weiteren schrecklichen Ereignissen verlorenes Vertrauen, sicher geborgen zu sein Angst, die Veranlagung zum Suizid in sich zu tragen oder bei nahen Verwandten befürchten zu müssen ggf. eigene Erleichterung ohne Selbstanklage akzeptieren lernen Notwendigkeit einer Sinngebung des Geschehenen 48 – – – – – • berufliche Flexibilität der Eltern 43 • • • Kinder werden durch Eltern zurückgeschickt (innerfamiliär ist äusländisches Recht in Deutschland gültig) Barth 2010 • Tod ≠ Tod Tod ≠ Tod Suizid/Angriff eines Elternteils Suizid eines Elternteils wird häufig versucht zu verleugnen/verdrängen. führte zu • Schuldgefühle • Selbstentwertung und Scham • Wut Deshalb • Entwicklungsadäquate Mitteilung des Suizids • Hilfe zur Emotionsbewältigung – Wut – Projektion von Wut – Projektionsfläche von Wut 50 Barth 2010 49 ¾ Rechtzeitige Therapie Barth 2010 • Verlorene Geborgenheit • Angst ¾ Begleitung dieser Kinder Vernachlässigung - Misshandlung Misshandlungssymptome • Körperlich: • Vernachlässigung – auffällige untypische Verletzungen – körperlich – emotional (Deprivation) (Lokalisation, Art (kreisrund), Abdrücke, …) – reduzierter Allgemein- und hygienischer Zustand Interaktionsauffälligkeit: eingefrorene Mimik Nähe-Distanz-Regulation Verhaltensauffälligkeiten Angst sexualisiertes Verhalten … Bindungsstörung PTSD Substanzmissbrauch Suzidalität und selbstschädigendes Verhalten • Risiko erhöht für Barth 2010 – Depression – Sozialverhaltensstörung 53 • • • • • bei fortbestehender Gefährdung: Inobhutnahme (§ 42 KJHG), Einschränkung der elterlichen Sorge (§ 1666 BGB) oder stationäre Aufnahme • Vermittlung von Schutz und Sicherheit • Abbau von Schuldvorwürfen • Aufgreifen von Ängsten • Therapie geht vor Strafverfolgung (keine Anzeigepflicht!) • kein Risiko eingehen • sorgfältige Dokumentation • keine Suggestion • Cave: übertriebene Trauma-Besprechung 54 Interventionen Barth 2010 Langzeitfolgen Barth 2010 – – – – – – Barth 2010 – körperlich – emotional – Münchhausen by proxy 51 • Misshandlung 52 • Psychisch: Sexueller Missbrauch Keine verlässlichen Zahlen Sexueller Missbrauch – da hohe Dunkelziffer – uneinheitliche Altersgrenze (14-16-18 Jahre) – unklare Definition von Missbrauch/Freiwilligkeit In den letzten 50 Jahren keine wesentliche Veränderung der Inzidenz angzeigten Missbrauchs: ca. 15 000 / Jahr in D (Dunkelziffer: 1:20 -> 300 000 / Jahr?) Bange 2002 Besonders gefährdete Gruppen Barth 2010 Barth 2010 55 – 15-25 % der Frauen mit Erfahrungen sexueller Übergriffe in der Kindheit – bis zu 5% der Männer Bange 2002 56 Tendenz in Befragungen (Prävalenz): Sexueller Missbrauch • • • § 176 StGB sexueller Missbrauch von Kindern § 182 StGB sexueller Missbrauch von Jugendlichen § 174 StGB sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen • • § 177 StGB sexuelle Nötigung; Vergewaltigung § 178 StGB sexuelle Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge § 179 StGB sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen § 180 StGB Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger • Barth 2010 57 • Barth 2010 • Beischlaf oder anderes Eindringen in den Körper durch über 18-jährigen • gemeinschaftliche Tat von mehreren • Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder erheblicher Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung • Täter in den letzten 5 Jahren rechtskräftig verurteilt • Absicht der Verbreitung pornographischer Darstellung der Tat • schwere körperliche Misshandlung • Gefahr des Todes • (§ 176 b: Todesfolge) 60 59 unter 14 Jahre an dem Kind vornehmen von dem Kind an sich vornehmen lassen von oder an Drittem vornehmen lassen vor einem Kind vornehmen ein Kind an sich vornehmen lassen einem Kind pornographische Inhalte darbieten • der Versuch ist strafbar § 171 Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht § 173 Beischlaf zwischen Verwandten § 181 schwerer Menschenhandel und Zuhälterei § 183 Exhibitionistische Handlungen § 184 Pornographische Schriften z.B. an Jgl. unter 18 Jahren § 176 a StGB schwerer sexueller Missbrauch von Kindern § 176 StGB sexueller Missbrauch von Kindern • • • • • • • • • • • • Barth 2010 z.B. Geistig Behinderte Migranten soziale Isolierung … Barth 2010 • • • • 58 StGB Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung § 182 StGB sexueller Missbrauch von Jugendlichen § 174 StGB sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen • Täter über 18 Jahre • Jugendliche unter 16 Jahre § 174 a – c StGB sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen Besondere Schwierigkeiten Gefangene behördlich Verwahrte Kranke und Hilfsbedürftige in Einrichtungen Amtlich Anvertraute Beratungsverhältnis Behandlungsverhältnis Betreuungsverhältnis • Schwerer innerer Zwiespalt für die Betroffenen Besondere Schwierigkeiten Barth 2010 • Basis des inneren Vertrauens (Urvertrauen) kann zerstört werden 64 • Betroffene können Ausmaß des Unrechts selbst oft nicht einschätzen oder nur mit Verzögerung erkennen 63 • ohne Alterbeschränkung • Missbrauchs der jeweiligen Stellung bzw. des Verhältnisses • Ausnutzung von Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit • Versuch ist strafbar • Tat oft durch Vertrauenspersonen Barth 2010 – – – – – – – • an und vor dem Schutzbefohlenen • an diesen vornehmen oder durch diese vornehmen lassen um sich oder diesen sexuell zu erregen • der Versuch ist strafbar Barth 2010 • Berücksichtigung des Verhaltens des Opfers bei Bestrafung 61 – sexuelle Handlungen an ihr oder durch sie – sexuelle Handlungen an Dritten bestimmen Barth 2010 • Täter über 21 Jahre • Jugendliche unter 16 Jahre 62 • zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraute Personen unter 16 Jahren • zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraute Personen unter 18 Jahren unter Ausnutzung der damit verbundenen Abhängigkeit • eigenes Kind unter 18 Jahren (auch angenommenes Kind) – Ausnutzung einer Zwangslage – Handlungen an und durch Jugendlichen auch an Dritten Besondere Schwierigkeiten • Beurteilung der Zuverlässigkeit der Aussagen durch Glaubhaftigkeitsbegutachtung • Täter oft nicht geständig • Aussagen des Kindes von besonderem Gewicht • Entstehung der Aussagen muss nachvollzogen werden können • kindliche Aussagen nur bedingt nachprüfbar 66 • Suggestive Einflüsse machen Beurteilung unmöglich Barth 2010 Barth 2010 65 • selten objektivierbare Befunde