Frühe Kindheitstraumata sexueller Missbrauch Vernachlässigung PD Dr. Isabel Böge Psychiatrie VO 14.01.2016 Kinder und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie Universität Ulm Überblick • Was ist ein Trauma? • Posttraumatische Belastungsstörung & Traumafolgestörungen • Neurobiologische Prozesse • Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch • Intervention & Traumatherapie Traumatischer Stress & Gedächtnisbildung Definition Traumatisches Ereignis (A-Kriterium) – Person erlebte oder war Zeuge einer lebensbedrohlichen traumatischen Situation – Subjektiv: intensive Angst, Hilflosigkeit, Entsetzen – Alarmreaktion (bei Kindern desorganisiertes oder agitiertes Verhalten) Traumatische Ereignisse: – Unfall, Krieg, Folter, (sexueller) Missbrauch, körperliche Angriffe, Naturkatastrophen, aber auch emotionale Traumata sein (ständige Entwertung) Bei einer Traumatisierung laufen parallel zwei unterschiedliche physiologische Prozesse ab Übererregungs-Kontinuum Fight oder Flight • Alarmzustand Wachsamkeit • Angst/Schrecken • Adrenalin System wird aktiviert – Erregung • Serotonerge System verändert sich – Impulsivität, Affektivität, Aggressivität Dissoziatives-Kontinuum Freeze – ohnmächtige / passive Reaktion • Gefühlslosigkeit / Nachgiebigkeit • Dissoziation • Opioid System wird Aktiviert Euphorie, Betäubung • Veränderung der Sinnes,,Körperwahrnehmung (Ort, Zeit, etc.) Physiologisch • Blutdruck (Pulsrate ) • Atmung • Muskeltonus • Schmerzwahrnehmung Physiologisch • Pulsrate Blutdruck • Atmung • Muskeltonus • Schmerzwahrnehmung Relevante Hirnregionen Traumatischer Stress & Gedächtnisbildung Traumatischer Stress & Gedächtnisbildung Das sensorisch-perzeptuelle Netzwerk Hot Cold Traumatischer Stress & Gedächtnisbildung 10 Was passiert da Neurophysiologisch? Dysregulation der HPA Achse mit Cortisol HPA-Achse Bei Trauma wird im Hippocampus und Präfrontalen Cortex die HPA Aktivität inhibiert Amygdala erhöht die Corticotrope releasing Hormone Ausschüttung Folge: Dysregulation der HPA Achse mit Hypocortisolismus Diese Menschen sind dann lebenslang anfälliger für Stress und in der Folge für Depressionen oder Angsterkrankungen. Noradrenerges System Einfluss auf Angstreaktion Einfluss auf Amygdala NA Ausschüttung: Flashbacks induziert NA in synpt. Spalt↑ PTSD Symptome: Hyperarousal Gesteigerter Startle Reflex Gesteigerte Encodierung v. Angst Gesteigerte Hf nach Trauma: Prädiktor f. PTSD Entwicklung Bailey et al., 2013; Sherin & Nemeroff, 2011 Serotonerges System Ansprechen der Amygdala auf Bedrohung und Angstreaktion: serotonerge Neurotransmission Schnittstellen mit CRF und NA 5-HT Agonisten können bei PTSD Patienten Flashbacks auslösen 5-HT1b Rezeptor Dichte mit PTSD Symptomatik assoziiert Bailey et al., 2013 Strukturelle und funktionelle Gehirnveränderungen • Strukturelle und funktionelle Gehirnveränderungen: • Hippocampus: Volumenreduktion (Dendritenverlust: Gukokortikoide) • Amygdala: Hyperresponsivität • mPFC: Volumenverringerung (verantwortlich f. Inhibition, Hyporesponisivität b. PTSD f. Trigger) • dACC: Hyperresponsivität • Weitere Veränderungen: • OFC • DLPFC • Corpus callosum • Cerebellum Sherin & Nemeroff, 2011; Hart & Rubia, 2012, Pechtel & Pizzagalli, 2011; Pitman et al., 2012 D.h. Wir haben alle Hormonellen Systeme aktiv: • Dysregulation in der HPA Achse, mit Hypocortisolismus und => lebenslang anfällig für Stress • Erhöhung von Noradrenalin im Synapischen Spalt => Hyperarrousal, Flashbacks, hohe Herzfreqenz • Verringerte Rezeptorbindung von Serotonin=> Flashbacks • Veränderte Gehirnstrukturen Misshandlung/ Missbrauch im Kindesalter: fMRT Bestimmte Hirnregionen: hohe Zahl an Glukokortikoid Rezeptoren und längere postnatale Reifungsprozesse (PFC od. Hippocampus): anfällig f. Veränderungen durch frühkindliche Traumata: vulnerable Phasen Analyse von 12 Datensätzen (n= 331 mit Misshandlungen und 362 HC): Defizite in der grauen Substanz: ventrolateral, prefrontal, limbisch, temporal: f. spät entwickelte Funktionen: Affekt und kognitive Kontrolle, Selbstregulation, sozio-emotionaler Verhaltensweisen Lim et al., Am J Psychiatry, 2014; Pechtel & Pizzagalli, 2011 Traumatischer Stress & Gedächtnisbildung 18 Hippocampus Amygdala Stresslevel Stress Ausschüttung: Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol Steigerung der Gedächtnis- und Speicherleistung Hochstress / Traumatischer Stress Adrenalin & Noradrenalin verstärken Amygdalaaktivität Cortisol schädigt Hippocampus Folgen fürs Kind: permanente Anspannung, Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit Chronische Überflutung des sich entwickelnden Gehirns mit Stress Amygdala in Daueralarm implizites Gedächtnis intakt, häufige Intrusionen Hippocampus blockiert Verarbeitung und Speicherung im expliziten Gedächtnis behindert Wiederholtes Erleben von Schrecken und Angst im Baby- und Kleinkindalter werden als mentale Zustände enkodiert Enkodierte mentale Zustände werden im späteren Leben durch Trigger immer wieder unbewusst aufgerufen Pathologische Repräsentation der Traumaerinnerung Keine chronologische Reihenfolge Fragmentierte Erinnerung Schwierigkeiten, das Erlebte in Worte zu fassen Erinnerung ist losgelöst von Raum und Zeit Intrusionen Wiederkehrende belastende Erinnerungen in Bildern, Gedanken und Träumen mit allen sensorischen Details Gefühl der akuten Bedrohung im Hier und Jetzt Traumafolgestörungen Psychotrauma Akute Belastungsreaktion Anpassungsstörungen Posttraumatische Belastungsstörung Komplexe Störungen Akute Belastungsreaktion (F43.0) Folge einer extremen psychischen Belastung, keine geeignete Bewältigungsstrategie Vorübergehend, Stunden bis max Tage, in seltenen Fällen Wochen. Symptome in der Akutphase unterscheiden sich von denen der anschließenden Verarbeitungsphase. – Akutphase: wie betäubt mit Bewusstseinseinengung, Wahrnehmungsstörung, Desorientiertheit , außerdem kommen dissoziative Symptome vor, Ebenso starke emotionale Schwankungen. Zusätzlich gibt es vegetativen Reaktion, wie Schwitzen, Herzrasen oder Übelkeit. – Verarbeitungsphase eher Wiedererleben Intrusionen, der Ereignisse, in Form von Albträumen oder auch als sich aufdrängende Erinnerungen, Flashbacks. Hat zunächst keinen Krankheitswert, sondern ist eine normale Reaktion der menschlichen Psyche auf eine außergewöhnliche Erfahrung. Anpassungsstörung (F43.2) Diagnosekriterien für Anpassungsstörungen A. Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalem Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats. B. Symptome und Verhaltensstörungen, wie sie bei affektiven Störungen (F3) (außer Wahngedanken und Halluzinationen), bei der neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) oder Störungen des Sozialverhaltens (F91) vorkommen können. Die Kriterien einer einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt. Die Symptome können in Art und Schwere variieren. C. Die Symptome dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen an, außer bei der längeren depressiven Reaktion (F43.21). Diagnosekriterien PTSD (ICD-10: F43.1) A. Die Betroffenen sind einem kurz oder lang dauernden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde. B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis. ICD 10 Kriterien PTSD D. Entweder 1. oder 2. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern. 2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht 1. vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale: a. b. c. d. e. Ein- und Durchschlafstörungen Reizbarkeit oder Wutausbrüche Konzentrationsschwierigkeiten Hypervigilanz erhöhte Schreckhaftigkeit E. Die Kriterien B, C und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden). Traumatypologie nach L. Terr (1991) Typ – I - Trauma › Einzelnes, unerwartetes, traumatisches Erlebnis von kurzer Dauer. › z.B. Verkehrsunfälle, Opfer/Zeuge von Gewalttaten, Naturkatastrophen. › Öffentlich, besprechbar Symptome: Meist klare sehr lebendige Wiedererinnerungen Vollbild der PTSD Hauptemotion = Angst Eher gute Behandlungsprognose Typ – II - Trauma › Serie miteinander verknüpfter Ereignisse oder lang andauernde, sich wiederholende traumatische Erlebnisse. › Körperliche sexuelle Misshandlungen in der Kindheit, überdauernde zwischen-menschliche Gewalterfahrungen. Nicht öffentlich Symptome: › Nur diffuse Wiedererinnerungen, starke Dissoziationstendenz, Bindungsstörungen Hohe Komorbidität, komplexe PTSD Sekundäremotionen (z.B. Scham, Ekel) Schwerer zu behandeln Traumafolgestörungen KindheitsTraumata akute Belastungsstörung PTBS Bindungsstörungen Normale Entwicklung (Resilienz) Depression Suizidalität + Risikoverhalten Substanzmissbrauch Körperl. Erkrankungen Fergusson et al. 1996, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry.35:1365-74 Felitti et al. 1998, Am J Prev Med. 14:245-258 Houck et al. 2010, J Ped. Psychol, 35:473-483 Irish, Kobayashi & Delahanty 2010, J Ped Psychol 35:450-461 Oswald, Heil, & Goldbeck, J Ped Psychol. 2010, 35:462-72 Pears & Capaldi 2001, Child Abuse and Neglect 25:1439-61 u.v.m. (Adipositas, Herz-Kreislauf,…) Transgenerationale Weitergabe (Opfer => Täter) Folgen frühkindlicher Traumatisierung Psychopathologische Auffälligkeiten: affektive und Angststörungen, Dissoziation, Aufmerksamkeitsstör., Persönlichkeitsstörungen Substanzmissbrauch (z.B. Famularo et al. 1996; Finkelhor et al. 2007; Cicchetti & Toth 1995; Zanarini, 2006) Aggressives und delinquentes Verhalten (z.B. Cicchetti et al. 1995; Jaffee et al. 2004; Lansford et al. 2007; Smith et al. 2005) Störungen der Bindungsfähigkeit: Entwicklung eines unsicheren Bindungsverhaltens (z.B. Kim & Cicchetti 2004) Kognitive Verzerrungen: Wahrnehmung geprägt durch Misstrauen, Ärger und Feindseligkeit (z.B. Dodge et al. 1990) Affektive Dysregulation: Störungen in der Kontrolle von Emotionen, Impulsivität und Ärger (z.B. Paivio & Laurent 2001) Komorbiditäten Psychische Erkrankungen – Affektive Symptomatik – Angststörungen – Somatisierungsstörungen – BPS – Abhängigkeitserkrankungen – Psychosen – Dissoziative Identitätsstörungen Somatische Störungen – kardiovaskuläre, pulmonale und rheumatische Erkrankungen Gesteigerte Mortalität Frommberger et al., 2014 Folgen frühkindlicher Traumatisierung 17,3 % Mädchen (mit Penetration 5,6%); 3,4% Jungen (mit Penetration 1,4%) bis 16. LJ missbraucht • Depression: OR 3,6 (5,4) • Alkoholabhängigkeit und anderer Substanzabusus: OR 2,7 (6,6) • Suizidversuche: OR 5 • Angsterkrankungen: OR 3 • Verhaltensauffälligkeiten allgemein: OR 12 Ferguson et al. (1996) Relativer Effekt von Typen der Misshandlung Teicher, Am J Psychiatr, 2006 Kampagnenwebsite: www.sprechen-hilft.de 32 Mehr-Ebenen-Strategie der Prävention 1. Vorlage eines verbindlichen Schutzkonzeptes 2. Durchführung einer einrichtungsinternen Analyse zu arbeitsfeldspezifischen Gefährdungspotentialen und Gelegenheitsstrukturen 3. Bereitstellung eines internen und externen Beschwerdeverfahrens 4. Notfallplan für Verdachtsfälle 5. Hinzuziehung eines/einer externen Beraters/Beraterin Verdachtsfällen (z.B. Fachkraft für Kinderschutz) 6. Entwicklung eines Dokumentationswesens für Verdachtsfälle 7. Themenspezifische Fortbildungsmaßnahmen für MitarbeiterInnen durch externe Fachkräfte 8. Prüfung polizeilicher Führungszeugnisse 9. Aufarbeitung und konstruktive Fehlerbearbeitung im Sinne der Prävention und Rehabilitierungsmaßnahmen (Unterarbeitsgruppe I des Runden Tisches Kindesmissbrauch) Vorliegende Daten der UBSKM Datenbasis des Endberichts der wissenschaftlichen Begleitforschung: • Telefonische Anlaufstelle der UBSKM (Unabhängiger Beauftragte für sexuellen Kindesmissbrauch) – über 20.000 Telefonanrufe – daraus gewonnene verwertbare Datensätze N= 5.179 • Briefe und E-Mails an die UBSKM – rund 3.000 Briefe und E-Mails – daraus gewonnene verwertbare Datensätze N=1.575 • Gesamtstichprobe – verwertbare Datensätze N=6.754 Angaben zu Geschlecht und Alter Alter (Angaben von N=4.015 Personen) – Durchschnittsalter: 46 Jahre – Altersspanne: sechs bis 89 Jahre Geschlecht (Angaben von N=6.017 Personen) – 66% (N=3.951) Frauen – 34% (N=2.054) Männer Angaben zum Missbrauchsgeschehen* • Art des Missbrauchs (Angaben von N=4.298 Personen) - 96% mit Körperkontakt • Zeitpunkt des Missbrauchsgeschehens (Angaben von N=4.608 Personen) –90% (N=4.133) Missbrauch in der Vergangenheit • Häufigkeit des Missbrauchsgeschehens (Angaben von N=3.159 Personen) –89% mehrfacher und wiederkehrender Missbrauch • Geschlecht der Täter/innen (Angaben von N=3.730 Personen) – 88% (N=3.272) männliche Täter – 6% (N=229) weibliche Täterinnen – 6% (N=229) mehrere Täter/innen verschiedenen Geschlechts _______________________________________________________________________________ * nach Angaben von Betroffenen und Kontaktpersonen in Telefongesprächen und Briefen/E-Mails Auswirkungen des Missbrauchs • Betroffene berichten unter anderem von bei ihnen gestellten Diagnosen psychischer Erkrankungen als Auswirkung von Missbrauch (N=2.208 Angaben): – Posttraumatische Belastungsstörung (19,2%, N=425) – Angst-/Panikstörung (19,2%, N=425) – Persönlichkeitsstörungen (16,3%, N=361) – Depression (14,3%, N=315) – Depression mit Suizidalität (7,1%, N=156) – Essstörung (13,4%, N=296) – Alkoholabhängigkeit (2,3%, N=51) – Medikamenten-/Drogenabusus (0,8%, N=18) – Sonstiges (7,3%, N=161) Auswirkungen des Missbrauchs Betroffene berichten unter anderem von folgenden Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Lebensgestaltung (N=3.938 Angaben): – Körperliche Folgen (43,1%, N=837) – Beziehungs-/ Partnerschaftsprobleme (41,6%, N=808) – Leistungsbeeinträchtigung (30,0%, N=582) – Flashbacks, Intrusionen, Alpträume (29,9%, N=568) – Probleme mit Körperlichkeit und Sexualität (17,3%, N=337) – Selbstwertproblematik (17,1%, 332) – Minderung der Lebensqualität (13,2%, N=256) – Orientierungs-/Hilflosigkeit (7,4%, N=144) – Externalisierendes Verhalten (4,1%, N=79) „Ich quäle mich durchs Leben.“ Hinderliche Aspekte bei der Verarbeitung des Erlebten negative Reaktionen auf Hilfegesuche: Demütigungen, Drohungen, Schuldzuweisungen, Stigmatisierung, Strafe gesellschaftlicher Umgang mit dem Thema und (gesetzliche) Rahmenbedingungen keine bzw. keine hilfreiche Unterstützung durch andere spezifische belastende Gefühle der Betroffenen zusätzliche belastende Umstände weiterhin Kontakt zum Täter/zur Täterin religiöse Vorstellungen/ scheinbar kirchliche Vorgaben Hilfreiche Aspekte bei der Verarbeitung des Erlebten Professionelle Hilfe, Beratung, Therapie Unterstützung durch die Familie Unterstützung durch das engere soziale Umfeld (öffentliche) Anerkennung des erlebten Unrechts darüber sprechen Glaube und Religion Selbstschutz: Abgrenzung und Verdrängung Berufliche, sportliche und kreative Tätigkeiten „Für mich waren Menschen hilfreich, die sich einmischen.“ „Das erste Mal nach soviel Jahren sprechen zu können, hat mir gut getan.“ "Die öffentliche Diskussion um den Missbrauch ist hilfreich und sollte aufrechterhalten werden." Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) § 1 Kinderschutz und staatliche Mitverantwortung § 2 Information der Eltern über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung § 3 Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung Änderungen in Vorschriften des SGB VIII, SGB IX, Schwangerschaftskonfliktgesetz Befugnisnorm im Bundeskinderschutzgesetz (§ 4 KKG) Abgestuftes Vorgehen im Rahmen der Güterabwägung Bei Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung: Stufe 3 IseF Stufe 2 Stufe 1 Prüfung der eigenen fachlichen Mittel zur Gefährdungsabschätzung und Gefährdungsabwehr Hinwirken auf die aktive Inanspruchnahme von Hilfen durch die Personensorgeberechtigten Mitteilung an das Jugendamt (Befugnis) wenn: Tätigwerden dringend erforderlich ist Personensorgeberechtigte nicht bereit oder nicht in der Lage sind, an Gefährdungseinschätzung oder Abwendung der Gefährdung mitzuwirken Wenn Tätigwerden des JA zur Gefahrenabwendung erforderlich •IseF = Insofern erfahrene Fachkraft Jährliche gesamtwirtschaftliche Traumafolgekosten • Tangible Kosten der Traumatisierung: Gesundheitskosten, Kosten der Kinder- und Jugendhilfe, Ausbildungsförderung, Wertschöpfungsverlust etc.: 335.421€ • Bei 1,6 Mio. Betroffenen: 6.708€ Traumafolgekosten pro Fall und Jahr Jährliche Kosten für die deutsche Gesellschaft durch Folgen von Kindesmisshandlung/missbrauch und Vernachlässigung 11 Mrd. € oder 134,54€ trägt jeder Bundesbürger jährlich. Interventionen Grundsätze der Psychotherapie traumatisierter Patienten (nach Butollo 1998) INTEGRATION Annahme des Traumas, der Veränderung KONFRONTATION Erlebnisaktivierung: kognitive Verarbeitung und emotionale Bewältigung SICHERHEIT, STABILISIERUNG Symptomerkennung, Ressourcenaktivierung, Stressbewältigung, Vermeidungsverhalten reduzieren Primat des Kinderschutzes Eine Retraumatisierung muss ausgeschlossen werden! • anhaltende Misshandlung, Vernachlässigung oder sex. Missbrauch • vermeidbare Exposition mit Schlüsselreizen (z.B. Bedrohungen durch den Täter) Problembereiche: Loyalitätskonflikt & Umgangsrecht ⇒ Sicherheit vor Psychotherapie! Primat der Stabilität Umfeld und Lebenssituation müssen stabil sein • Keine andauernden Beziehungswechsel, keine Unsicherheiten in grundlegender Lebensgestaltung (Wohnen,..), • Erst nach erfolgtem Bindungsaufbau, Eingewöhnung an Lebenssituation und Umgangsbesuche,.. (nicht „schnell noch zur Vorbereitung..“) Kind oder Jugendlicher muss ausreichend stabil sein • Keine akute Suizidalität, kein ausgeprägter Substanzkonsum,.. ⇒ Stabilität vor Psychotherapie! Implikation für die Behandlung von PTSD Patienten 49 ?!Stabilisierung, Stabilisierung, Stabilisierung… 1. Aktivierung des Furchtnetzwerks & wiederholtes Durchleben 2. Habituation der Angstreaktion durch erneute Konfrontation mit angstbesetzten Stimuli in sicherer Umgebung 3. Verankerung der traumatischen Erinnerung im autobiografischen Gedächtnis (Integration) Alternative Behandlungsansätze 50 – Kognitiv-behaviorale Therapie TF-KVT – EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) – Narrative Expositionstherapie – Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) – Körperarbeit (Somatic Experiencing ®) TF-KVT: Komponenten Wöchentlich eine Doppelstunde unter Einbezug einer nicht misshandelnden, vertrauensvollen Bezugsperson Komponenten: 1. Psychoedukation & Elternfertigkeiten 2. Entspannung 3. Ausdruck und Modulation von Affekten 4. Kognitive Verarbeitung und Bewältigung 5. Trauma Narrativ 6. Kognitive Verarbeitung und Bewältigung II 7. In vivo Bewältigung von traumatischen Erinnerungen 8. Gemeinsame Eltern-Kind Sitzungen 9. Förderung künftiger Sicherheit und Entwicklung TF-KVT: Ziele der Therapie Der Trauma-Verhaltenstherapeut hilft dem Patienten dabei • traumatische Erinnerungen mit weniger Angst zu erleben, • irrtümliche und belastende Gedanken zu verändern (wie z.B. die Überschätzung aktueller oder künftiger Gefahren, Schuld), • Stress zu bewältigen. Narrative Expostionstherapie (NET) 53 Therapeutische Wirkstoffe von NET 1. Aktive & chronologische Rekonstruktion des kalten Gedächtnisses 2. Verlängerte Exposition und dadurch Veränderung des emotionalen Netzwerkes 3. Verankerung von emotionalen und physiologischen Reaktionen von Raum und Zeit 4. Kognitive Neubewertung von vergangenem Verhalten und Anerkennung der Auswirkungen der traumatischen Erlebnisse auf das weitere Leben 5. Anerkennung der Verletzung von Menschen- und Kinderrechten, Wiedererlangung von Würde Narrative Expostionstherapie (NET) Schauer, Neuner, Elbert, 2005 54 1. Lifeline als Traumalandkarte Seil als Symbol für das Leben Blumen als Symbole für gute Ereignisse Steine als Symbole für schlechte Ereignisse Narrative Expostionstherapie (NET) 55 2. Lebensgeschichte als Rahmen-Narration 3. Durchprozessieren der „hot spots“ – Habituation durch Entschleunigung – Verbindung des heißen und kalten Gedächtnisses 4. Wiederholtes Vorlesen der Narration und Einfügen von Details – 5. Habituation durch wiederholte Exposition Lifeline als Gesamtnarration – Integration 6. Zukunftsblumen für Hoffnungen und Wünsche 7. Übergabe der Narration Trauma Narrativ erstellen I Sollte aus vier verschiedenen Teile bestehen und in den therapeutischen Sitzungen entwickelt werden – nicht zu Hause!: – 1. Teil: unverfängliche Informationen über das Kind wie z.B. Name, Alter, Schulform, Hobbies etc. – 2. Teil: „Das Vorher“, z.B. welche Beziehung hatte das Kind zum Vater vor dem sexuellen Missbrauch, oder welche Leben hat das Kidn geführt vor dem Tsunami… – 3. Teil: „Das Trauma“ sollte möglichst detailliert beschrieben werden. – 4. Teil: „Das Jetzt“ beinhaltet Fragestellungen wie: was hast Du gelernt? Was würdest Du anderen Kindern raten? Wie geht es dir inzwischen nach der bisherigen Therapie? Beispiel eines Narrativs - erste Version Ich heiße Jason und bin 12 Jahre alt. An dem Morgen stand ich auf und frühstückte. Mein Lehrer wollte gerade mit dem Unterricht beginnen, als jemand in den Klassenraum kam. Wir mussten warten bis unsere Eltern uns abholen kamen. Es dauerte lange bis wir zu Hause waren. Heute mag ich das Geräusch von Flugzeugen nicht mehr. des Trauma-Narrativs In folgenden Sitzungen die Erzählung des Kindes erneut durchgehen und schrittweise ergänzen: Details anreichern, konkretisieren traumabezogene Gedanken und Gefühle integrieren das Kind desensibilisieren über das Geschehene zu reden „hot spots“ oder „schlimmste Momente“ identifizieren Belastung vor, während und nachher einschätzen Trauma Narrativ Möglichst frei erzählen lassen, gibt es Pausen, dann möglichst offene Fragen stellen: – Was hast Du gedacht? – Wie hast Du dich gefühlt? – Was ist als nächstes passiert? – Erzähl mir noch mehr über … – Ich war nicht dabei, erzähl doch noch mal von… – Ich würde gerne alles was dir einfällt wissen über … – Kannst Du noch einmal genau beschreiben… Trauma Narrativ erstellen III Nach einem ersten Entwurf: – Soll das Kind den Entwurf des aufgeschriebenen Textes/das Lied/das Interview … vortragen. Nun: – Gefühle und Gedanken ebenso wie „leere Stellen“ eingefügen – Den schlimmsten Moment benennen und eingefügt lassen – Den Text auf verzerrte Wahrnehmungen überprüfen (z.B. ich hatte Schuld) und diese durch angemessenere Gedanken ersetzen – Das Ausmaß der Belastung auf der SUD Skala vorher und hinterher einschätzen lassen – Bei hoher Anspannung ggf. Entspannungstechniken nutzen – Zuletzt sollte das Kind seine fertige Schilderung den Eltern vorstellen Beispiel eines Narrativs - korrigiert Ich heiße Jason und bin 12 Jahre alt. An dem Morgen des 11. September, 2001 stand ich auf und frühstückte. Dann fuhr ich mit der U-Bahn zur Schule. Mein Lehrer wollte gerade mit dem Unterricht beginnen, als jemand in den Klassenraum kam und schrie, dass der World Trade Center von Terroristen angegriffen worden sei. Ich hatte Angst. Ich begann zu weinen. Ich dachte daran, dass mein Vater vielleicht im World Trade Center gewesen sein könnte, weil er dort manchmal arbeitet. Wir mussten warten bis unsere Eltern uns abholen kamen. Als mein Vater in die Schule kam um mich abzuholen, war ich so erleichtert, dass ich zu zittern und weinen anfing. Es dauerte lange bis wir zu Hause waren, weil die U-Bahn nicht fuhr. Ich dachte dass die Terroristen auch noch die U-Bahn vergiftet hätten. Heute mag ich das Geräusch von Flugzeugen nicht mehr und fahre auch nicht mehr gerne U-Bahn, weil es mich immer an den 11. September erinnert und an all die Menschen die an dem Tag sterben mussten. EMDR Eye Movement Desensitization and Reprocessing (nach Francine Shapiro) „Eine EMDR-Sitzung ist vergleichbar mit einer Zugreise: Die Patientinnen und Patienten fahren noch einmal an dem Geschehen vorbei – aber aus sicherer Distanz und in Begleitung ihrer Therapeutinnen bzw. Therapeuten. Im weiteren Verlauf der Sitzung verblasst die belastende Erinnerung Stück für Stück und die Symptome des Traumas werden aufgelöst.“ (www.emdria.de) EMDR • Bei bilateraler alternierender Stimulierung: • Amygdala Aktivierung erhöht • Dorsolateraler präfrontaler Corpus Aktivierung herabgesetzt Herkt et al., 2014 Psychopharmakotherapie: Erwachsene Frühintervention – Keine gesicherte Wirksamkeit. Keine Benzodiazepine Vollbild – TCA: Amitryptilin, Imipramin – MAO Hemmer – Phenelzin, Moclobemid – SSRI – Paroxetin, Sertralin, Fluoxetin – SNRI: Venlafaxin – Mirtazapin – Stimmungsstabilisatoren: Carbamazepin, Lamotrigin Frommberger et al., 2014 AWMF LL Bei Patienten mit Traumata in der Kindheit wiederum scheinen SSRIs – anders als bei Patienten mit Traumata im Erwachsenenalter - hingegen zur einer mäßigen Symptomerleichterung zu führen und werden deshalb auch empfohlen Psychopharm. Strategien zur PTBS Behandlung: Empfehlungen first line: SSRI second line: SSNRI, Mirtazapin, Trazodon: Add on: Phasenprophylaktika. Benzodiazepine wenn überhaupt dann nur kurz Längerfristige Therapie. 6-12 Monate Kapfhammer, 2014 Integration 67 Letztendlich ist das Ziel die Überregung wieder zu reduzieren und alle Teile zusammenbringen 68 com.can • Praxisforschung • Aus-, Fort- und Weiterbildungszentrum • Prävention und Intervention bei Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch