 
                                Psychotraumatologie Neue Forschungsergebnisse und therapeutische Perspektiven Prof. Dr. U. Schnyder Psychiatrische Poliklinik USZ [email protected] Epidemiologie posttraumatischer Störungen    Lebenszeit-Prävalenz für traumatische Ereignisse: 50-90% Posttraumatische Belastungsstörungen nach traumatischen Ereignissen: ~10% Lebenszeit-Prävalenz für posttraumatische Belastungsstörungen: Männer: Frauen: 9% 6% 12% Diagnostik posttraumatischer Störungen  Spezifische Störungen: – Akute Belastungsreaktion – Posttraumatische Belastungsstörung – Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung  Unspezifische Störungen, z.B.: – Depressive Störungen – Angststörungen – Somatoforme Störungen Posttraumatische Belastungsstörung im DSM-IV A) Stressorkriterium: • Ereignis: Bedrohung des Lebens /der körperl. Integrität • Reaktion: Intensive Angst, Hilflosigkeit oder Grauen B) Ständiges Wiedererleben des traumatischen Ereignisses C) Anhaltendes Vermeiden spezifischer Stimuli, die an das Trauma erinnern D) Angst bzw. erhöhtes Erregungsniveau E) Dauer mindestens 1 Monat F) Erhebliches Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen Posttraumatische Belastungsstörung im DSM-IV Besonderes:  Akute PTBS: Dauer < 3 Monate  Chronische PTBS: Dauer > 3 Monate  PTBS mit verzögertem Beginn: > 6 Monate nach dem Trauma Akute Belastungsstörung im DSM-IV A) Stressorkriterium: • Ereignis: Bedrohung des Lebens / der körperl. Integrität • Reaktion: Intensive Angst, Hilflosigkeit oder Grauen B) Dissoziative Symptome während oder nach dem Ereignis C) Ständiges Wiedererleben des traumatischen Ereignisses D) Anhaltendes Vermeiden spezifischer Stimuli E) Angst bzw. erhöhtes Erregungsniveau F) Erhebliches Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen G) Dauer 2 Tage bis 4 Wochen, Beginn innerhalb von 4 Wo. Neurobiologie menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse …umfasst Mechanismen im Zusammenhang mit  körperlichen Überlebens-Strategien  Konditionierungsprozessen  der Abspeicherung von Gedächtnis-Inhalten  komplexen, sozial modulierten Anpassungsvorgängen Shalev AY, Ursano RJ (2003) Neurobiologie menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse …wird stark beeinflusst durch  Subjektive Einschätzungen (Bedrohung, verfügbare Ressourcen)  Kontrollierbarkeit  Bedeutungs-Zuschreibungen  Bewältigungs-Strategien (Überleben, Lernprozesse)  Frühere Erfahrungen  Glaubenssätze auf individueller und Gruppen-Ebene Shalev AY, Ursano RJ (2003) Neurobiologie menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse Sekundenbruchteile  Abwehrreflexe (Schreckreaktionen) Sekunden  Sympathikus-Aktivierung (Adrenalin) Minuten  Aktivierung der HypothalamusHypophysen-NebennierenrindenAchse (Cortisol) Stunden  frühe Gen-Expression Tage  Konsolidierung von Gedächtnis Monate  permanente ZNS-Veränderungen Shalev AY, Ursano RJ (2003) Resting heart rate in PTSD and controls Shalev et al. (1998) Arch Gen Psychiatry 55: 553-559 100 95 PTSD 90 No PTSD 85 80 75 70 65 60 ER 1 week 1 month 4 months Heart rate in patients who later delevop PTSD, depression and anxiety Shalev et al. (1998) Arch Gen Psychiatry 55: 553-559 100 95 PTSD Depression Anxiety Neither 90 85 80 75 Heart rate Mitchell‘s Critical Incidence Stress Debriefing* Einführung: Klärung des Settings 2. Fact phase: Ablauf der Ereignisse 3. Thought phase: Mitteilung von ersten Gedanken 1. 4. Reaction phase: Mitteilung von emotionalen Reaktionen 5. Symptom phase: Ansprechen spezifischer Stresssymptome 6. Teaching phase: Information über Stressreaktionen 7. Relating phase: Planung weiterer Massnahmen ________________________________________________________________________ * Mitchell J (1983) When disaster strikes: the critical incident stress debriefing process. Journal of Emergency Medical Services 8: 36-39 Critical Incidence Stress Debriefing  Debriefing wird von allen Beteiligten in aller Regel sehr geschätzt  Debriefing kann negative Effekte haben  Ein präventiver Effekt von Debriefings und ähnlichen „one-off“ Interventionen bei unselektierten Populationen konnte bis heute nicht nachgewiesen werden Rettungshelfer in Lincoln, UK (N=217)  Nachbesprechung mit Kollegen bevorzugt: Nachbesprechung mit Angehörigen bevorzugt:  Routinemässiger Einsatz professioneller psychosozialer Helfer ist immer indiziert: 9.2% „Debriefings“ sollten sich an ein vorgegebenes Protokoll halten: 6.0% „Debriefings“ sollten obligatorisch sein: 2.3%   71.2% 72.4% Ørner R (2003) Reconstructing early intervention after trauma* Frühe Interventionen nach traumatischen Ereignissen müssen nicht unbedingt „so früh wie möglich“ einsetzen, … sollten von einer zuversichtlichen Erwartungshaltung getragen sein, ... sollten nicht zu sehr auf Emotionen ausgerichtet sein, sondern eher die Entspannung und Reduktion der psychophysiologischen Stress-Symptomatik fördern, ... sollten die Rahmenbedingungen optimieren, die eine rasche Erholung ermöglichen, _______________________________________________________________________ * Ørner RJ, Schnyder U (eds.) (2003) Reconstructing early intervention after trauma. Innovations in the care of survivors. Oxford University Press, Oxford Reconstructing early intervention after trauma* Frühe Interventionen nach traumatischen Ereignissen können bei Vorliegen psychischer Störungen zur Prävention längerdauernder psychischer Morbidität beitragen, ...sollten sich vermehrt an den momentanen individuellen und kollektiven Bedürfnissen der Betroffenen orientieren, ...sollten respektieren, wenn Betroffene nicht mit professionellen Helfern sprechen möchten, …sollten phasengerecht und entsprechend den Prinzipien der Psychologischen Ersten Hilfe eingesetzt werden. _______________________________________________________________________ * Ørner RJ, Schnyder U (eds.) (2003) Reconstructing early intervention after trauma. Innovations in the care of survivors. Oxford University Press, Oxford Meta-analysis of PTSD treatments van Etten & Taylor, 1998 1.6 1.4 1.2 1 0.8 0.6 0.4 0.2 0 Self-report PTSD Drug Therapy Observer-rated PTSD Psychotherapy Control Psychotherapie für PTSD *  Kognitive Verhaltenstherapie (CBT):  Exposition, z.B. „Prolonged Exposure“ nach E. Foa  Kognitive Restrukturierung  Image Habituation Training  Stress Inoculation Training  Psychodynamische Therapieansätze:  Arbeit an der Beziehung, Aufbau von Vertrauen  Integration in die Biographie, Sinnsuche ________________________________________________________________ * Foa EB, Keane TM, Friedman MJ (2000) Effective treatments for PTSD: Practice guidelines from the International Society for Traumatic Stress Studies. Guilford Press, New York Psychotherapie für PTSD  „Brief Eclectic Psychotherapy“ (BEP) nach Gersons*:  Psychoedukation  Exposition  Arbeit mit Erinnerungsstücken, Schreibaufgaben  Integration in die persönliche Biographie, Sinnsuche  Abschiedsritual __________________________________________________________________ * Gersons BPR, Carlier IVE, Lamberts RD, van der Kolk BA (2000) Randomized clinical trial of brief eclectic psychotherapy for police officers with posttraumatic stress disorder. Journal of Traumatic Stress 13: 333-348 Psychotherapie für PTSD  Die sogenannten „Power Therapies“:  Eye Movement Desensitization and Reprocessing EMDR  Emotional Freedom Technique EFT  Thought Field Therapy TFT  Visual/Kinesthetic Disassociation V/KD  Traumatic Incident Reduction TIR  ... Effect Size Estimates for EMDR (from Chemtob et al., 2000) -0.2 0.8 1.8 2.8 Rothbaum 1997 2.68 Wilson 1995 1.32 Jensen 1994 0.97 Marcus 1997 0.92 Scheck 1998 0.75 Vaughn 1994 0.7 Vaughn 1994 0.62 0.47 Carlson 1998 0.41 Carlson 1998 0.03 Devilly 1998 0.31 Pitman 1996 -0.03 Devilly 1998 Comparison Group Key Aqua = waitlist control Red = nonspecific control Yellow = component control Psychopharmakotherapie bei PTSD  SSRI:  Medikamente erster Wahl!  Wirksamkeit nicht nur auf (co-morbide) depressive, sondern auch PTSD-spezifische Symptome  Am  besten belegt: Paroxetin und Sertralin Klassische (z.B. trizyklische) Antidepressiva:  Wenn  Bei SSRI nicht genügend wirken ausgeprägten Schlafstörungen z.B. Amitriptylin, evtl. Mianserin Psychopharmakotherapie bei PTSD  Benzodiazepine:  In der hausärztlichen Praxis am häufigsten verschriebene Medikamente bei PTSD!  Wirken  Evtl. nur auf Arousal-Symptomatik vorübergehend indiziert bei Schlafstörungen  Cave Abhängigkeit!  Neuroleptika:  Bei isolierter PTSD nicht indiziert  Indikation gegeben bei co-morbider psychotischer Symptomatik Resilienz Theoretische Konstrukte:  Sense of Coherence (Antonovsky)  Posttraumatic Growth (Tedeschi & Calhoun)  Psychological Well-Being (Ryff) Sense of Coherence (Antonovsky) „A global orientation that expresses the extent to which one has a pervasive, though dynamic feeling of confidence that 1. the stimuli deriving from one‘s internal and external environments in the course of living are structured, predictable, and explicable; 2. the resources are available to one to meet the demands posed by these stimuli; and 3. these demands are challenges, worthy of investment and engagement.“ Sense of Coherence (Antonovsky)  Comprehensibility  Manageability  Meaningfulness Posttraumatic Growth (Tedeschi & Calhoun) Tedeschi & Calhoun gehen davon aus, dass traumatische Ereignisse sowohl positive wie auch negative Auswirkungen haben können, die sich gegenseitig nicht ausschliessen müssen:  New possibilities  Relating to others  Personal strength  Spiritual change  Appreciation of life Well-Being Therapy (Ryff) Ein strukturiertes psychoedukatives Modell auf der Grundlage von Carol Ryff’s multidimensionaler, kognitiver Theorie des “psychological well-being” mit den folgenden 6 Dimensionen:  Environmental mastery  Personal growth  Purpose in life  Autonomy  Self-acceptance  Positive relations with others “The overall aim of therapy with traumatized patients is to help them move from being haunted by the past and interpreting subsequent emotionally arousing stimuli as a return of the trauma, to being present in the here and now, capable of responding to current exigencies to their fullest potential.” * __________________________________________________________________ * van der Kolk BA, McFarlane AC, Weisæth L (1996) Traumatic stress: the effects of overwhelming experience on mind, body, and society. Guilford Press, New York “In order to do that, people need to regain control over their emotional responses and place the trauma in the larger perspective of their lives - as a historical event (or series of events), that occurred at a particular time and in a particular place, and that can be expected not to recur if the traumatized individuals take charge of their lives.” * __________________________________________________________________ * van der Kolk BA, McFarlane AC, Weisæth L (1996) Traumatic stress: the effects of overwhelming experience on mind, body, and society. Guilford Press, New York “The key element in the psychotherapy of people with PTSD is the integration of the alien, the unacceptable, the terrifying, and the incomprehensible; the trauma must come to be “personalized” as an integrated aspect of one's personal history.” * __________________________________________________________________ * van der Kolk BA, McFarlane AC, Weisæth L (1996) Traumatic stress: the effects of overwhelming experience on mind, body, and society. Guilford Press, New York