Clienia Littenheid AG Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie CH-9573 Littenheid Tel. +41 (0)71 929 60 60 Fax +41 (0)71 929 60 30 [email protected] www.clienia.ch Das Psychotrauma und seine Folgen 1) Was ist ein Trauma? Unterschiedliche Konzepte Unterscheidung Typ I und Typ II 2) Unterscheidung der Traumatisierungen 3) Bindung und Trauma 4) Auswirkungen frühkindlicher Traumatisierungen auf die Gehirnentwicklung Komplexe Beeinträchtigung von Struktur und Funktion 5) Kurzer Abriss Neurobiologie der komplexen Traumafolgestörungen 6) Welche komplexen Traumafolgestörungen werden unterschieden Symptomatische Unterscheidung Komorbiditäten/PTSD-Verlaufstypen Transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 1) Was ist ein Trauma Emotionaler Missbrauch: Entwerten, isolieren, ausbeuten, etc. „Traumatische Zange“ es gibt keine Möglichkeit der traumatischen Situation zu entrinnen, diese Ausweglosigkeit wird als „traumatische Zange“ bezeichnet. Es können auch in der kindlichen Entwicklung sogenannte „Parentifizierungsphänomene“ auftreten, dass heisst ein Kind wird in eine Elternrolle gedrückt oder muss eine Elternrolle übernehmen, anstatt sich auf seine eigene Entwicklung verlassen zu können. Psychisches Trauma (seelische Verletzung) Ein psychisches Trauma ist zunächst eine seelische Verletzung. Eine traumatische Erfahrung ist ein Erlebnis von solcher Intensität und Bedrohlichkeit für die psychische Integrität, dass es seelisch zunächst nicht verarbeitet werden kann. Ein Trauma entsteht, wenn ein Mensch durch ein Naturereignis oder eine Handlung anderer Menschen hilflos gemacht wird und vollkommen überwältigt wird, wenn alle bisherigen Sicherheiten verloren gehen, wenn das Netz zerreist, das diesem Menschen bisher das Gefühl von Halt, Sicherheit und Kontrolle über sein Leben, Zugehörigkeit und Sinn gab. Eine traumatische Erfahrung ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von absoluter Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbstverständnis und Weltverständnis bewirkt. „Ein Trauma ist die am meisten vermiedene, ignorierte, verleugnete, missverstandene und unbehandelte Ursache menschlichen Leidens“ (P. Levine). 2) Unterscheidung der Traumatisierungen Schocktraumata Unfälle Naturkatastrophen (Tsunami, etc.) Überfälle Kriegshandlungen (aktives und passives Erleben) Beziehungstraumata Vernachlässigung (neglect) Sexueller/Physischer Missbrauch (abuse) Emotionaler Missbrauch Bindungstraumata Unsichere Bindung → Desorganisierte Bindung (Typ-D) Deprivation Differenzierung zwischen kurzen und einmaligen Traumatisierungen (Typ I) und länger anhaltenden und wiederholten Traumatisierungen (Typ II). 3) Bindung und Trauma Entwicklungspsychologische Bemerkungen Bindungsforschung und Entwicklungspsychologie haben die Grundlagen für die moderne Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen sowie Traumafolgestörungen gelegt. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass der Verfügbarkeit, Responsivität und Feinfühligkeit früherer Bezugspersonen eine grosse Bedeutung für die Ausbildung sicherer Bindungen zu kommen. Es konnte überzeugend gezeigt werden, dass eine optimale Entwicklung und eine lebenslange Widerstandskraft gegen Belastungen ihre Wurzeln in den dyadischen Prozessen der frühen Kindheit haben. Der Bindungsstatus eines Menschen ist der ausschlaggebende Faktor für dessen Beziehungen – dass spiegelt sich in der Art und Weise wieder, wie er über sich und andere denkt. Komplexe posttraumatische Belastungsstörungen sind immer auch Bindungsstörungen, denn anhaltende personale Traumatisierungen treffen die Bindung zu den wichtigsten Bezugspersonen zentral. Von daher haben die Befunde der neueren Bindungsforschung für das Verständnis der Persönlichkeitsproblematik traumatisierter Menschen eine herausragende Bedeutung. Vier Bindungsstile werden unterschieden Sichere Bindung Unsicher-vermeidende Bindung Unsicher-ambivalente Bindung Desorganisierte/Desorientierte Bindungen (Typ-D-Bindung) Seite 2 / 8 Neurobiologie des Bindetraumas Misshandelnde Bezugspersonen lösen bei Kindern traumatische Zustände mit anhaltenden negativen Affektzuständen aus. Es finden "chaotische" biochemische Veränderungen im kindlichen Gehirn statt, insbesondere exzessive Freisetzung von Stresshormonen und Neurotransmittern. Synapsen bilden sich zurück und der programmierte Zelltod beschleunigt sich. Der präfrontale Kortex, der für die Emotionsregulierung in reifungssensiblen Phasen des Hirnwachstums wichtig ist, ist geschädigt. Neurobiologische Vorgänge bei sozialen Trennungen ähneln denjenigen bei körperlichem Schmerz. 4) Auswirkungen frühkindlicher Traumatisierungen auf die Gehirnentwicklung Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen auf Funktion und Struktur des Gehirns Beziehungstraumen in den ersten Lebensjahren behindern das Wachstum des limbischen Systems, dabei kommt es zu einer Störung der Entwicklung der Bewältigungssysteme, zu emotionaler Übererregung und zu verminderter bewusster Emotionswahrnehmung. Beziehungstraumata beeinträchtigen die Fähigkeit, sich ein Bild von dem eigenen körperlichen Zustand zu machen und beeinflusst das Körperbild. Bei anhaltender Bedrohung nicht im „window of tolerance“ → ausgeprägte Mentalisierungsdefizite Beziehungstraumen blockieren in kritischen Phasen das Wachstum der Dendriten. Sie behindern auch die Vermehrung der Astrozyten, die für die Regulation der metabolischen Aktivität und der Plastizität der Synapsen im Gehirn zuständig sind. Misshandlungen und Vernachlässigung bewirken insbesondere eine exzessive Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin. Diese Substanzen führen in hoher Konzentration zum Rückgang von Synapsen. Traumatische Einflüsse haben ihre schädlichsten Auswirkungen in denjenigen kritischen Entwicklungsphasen, in denen das Gehirn am stärksten formbar ist. Die negativen Beziehungserfahrungen werden in die neurobiologischen Strukturen eingeprägt und bewirken eine anhaltende Minderung der Fähigkeit zur Emotionsregulierung sowie auch zur Mentalisierung. 5) Kurzer Abriss Neurobiologie der komplexen Traumafolgestörungen Traumatischer Stress bewirkt Einen Zusammenbruch der Funktionen des Hippocampus und damit eine Störung der Transformation der Erinnerungseindrücke in ein integriertes semantisches Gedächtnis. Eine ungefilterte Aktivität der Amygdala mit unangemessener Meldung von Gefahrensignalen, Intrusionen und übergeneralisierter Angstreaktionen auf Auslösereize, die spezifische Elemente der traumatischen Situation enthalten. Im traumatischen Zustand, der lange anhalten kann, sind beide Komponenten des autonomen Nervensystems (ANS) aktiviert, die sympathikotone – Energie erzeugende – und die parasympathikotone – Energie bewahrende – Komponente. Das beinhaltet einen Zustand der Übererregung und der massiven Bremsung (gleichzeitig auf das Gas und die Bremse treten). Solche Zustände werden vor allem bei desorganisiert gebundenen Kindern beobachtet. Unter Extremstress kommt es zu einem Zusammenbruch der Verbindung zwischen Amygdala und Hippocampus, so dass hemmende Reize vom Hippocampus nicht mehr erfolgen. Seite 3 / 8 Dadurch wird eine korrigierende Bewertung der im Kortex gespeicherten Informationen nicht mehr möglich, was das hilflose Ausgeliefertsein an überflutende Emotionen bei Traumatisierten erklären kann. Aktivierungs-/Stresskurve Strukturelle Dissoziation TRAUMA Erfahrungen können Integriert werden Erfahrungen können nicht integriert werden durch Mangel an integrativen Kapazitäten der Persönlichkeit Integration: "Hier und Jetzt" versus "Dort und Damals" Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit Peritraumatische Dissoziation Während eines Traumas (massiv bedrohliche Ereignisse) ergeben sich folgende Phänomene: Tiefe Gefühle von Unwirklichkeit Out-of-body-Erfahrungen Losgelöstsein vom eigenen Körper Tunnelblick Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen (Analgesie) Bewegungsstörungen Ein Trauma löst desintegrative Effekte proportional zu seiner Schwere, seiner Intensität, seiner Dauer und seiner Wiederholungen aus. Während eines Traumas spaltet sich die integre Persönlichkeit auf in einen EP (emotionalen Persönlichkeitsanteil) und in einen ANP (anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil) – Die Unfähigkeit, ein traumatisches Ereignis zu integrieren, ruft eine strukturelle Dissoziation der prämorbiden Persönlichkeit in zwei mentale Zustände hervor! Nijenhuis und Kollegen gehen davon aus, dass ernsthafte Bedrohung zu einer strukturellen Dissoziation führt, primär zwischen dem Alltagssystem, welches in die Organisation des täglichen Lebens und dem Überleben der Art der anderen Seite. Diese beiden dissoziierten Selbst-Zustände oder Persönlichkeitsanteile werden ANP (anscheinend normale Persönlichkeitsanteile) und EP (emotionale Persönlichkeitsanteile) genannt, entsprechend einem Vorschlag von Myers (1940) auf Grund von Beobachtungen im 1. Weltkrieg. Seite 4 / 8 Neurotransmitter Dysfunktionen (Noradrenalinerg, Serotonerg, Dopaminerg) bewirken psychische Symptome wie flash-backs/Intrusionen, gestörte Impulskontrolle, Pseudohalluzinationen, etc. 6) Welche komplexen Traumafolgestörungen werden unterschieden Die diagnostischen Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 Im ICD-10 findet sich unter F.43.1 eine dem DSM-IV analoge Klassifikation für die PTSD als verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmass, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.(…) Typische Merkmale sind: Das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks, Intrusionen), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. (…) Gleichgültigkeit (…), Teilnahmslosigkeit (…), Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. (…) ein Zustand von vegetativer Übererregbarkeit mit Vigilanzsteigerung, (…) einer übermässigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen (…). Angst und Depression, (…) Suizidgedanken sind nicht selten. Seite 5 / 8 Akute Belastungsreaktionen Komplexe PTSD Komplexe Dissoziative Störungen DDNOS (Dissociative Disorder Not Otherwise Specified ) = Nicht näher bezeichnete Dissoziative Störung DIS (Dissoziative Identitätsstörung) Traumabedingte Persönlichkeitsstörungen Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung Übersicht der Belastungsstörungen und einer Auswahl der dissoziativen Störungen ICD-10 F43.0 Akute Belastungsreaktion F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung F62.0 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, nicht anderweitig bezeichnet. Diese Störung entspricht weitgehend der komplexen PTSD oder DESNOS Dissoziative Störungen F44.0 Dissoziative Amnesie F44.1 Dissoziative Fugue F44.2 Dissoziativer Stupor F44.81 Multiple Persönlichkeitsstörung F48.1 Depersonalisations-/Derealisationssyndrom (im ICD-10 unter neurotischen Strg.) Das Posttraumatische Belastungssyndrom Eine nicht verarbeitete seelische Traumatisierung äussert sich vor allem: Wiederkehrende, sich aufdrängende Bilder vom traumatischen Ereignis (Intrusionen) Nachhallerinnerungen (Flashbacks) Albträume Angst und erhöhte Schreckhaftigkeit Allgemein erhöhtes Erregungsniveau im Nervensystem Übermässige Wachsamkeit (Hyperarousal) Ein- und Durchschlafstörungen Reizbarkeit und Wutausbrüche Konzentrationsstörungen Vermeidung von Situationen, die an das Trauma erinnern könnten Trias I. Unfreiwillige Erinnerungsbilder an das Trauma, die sich aufdrängen → Intrusionen (visuell, auditiv, olfaktorisch, etc. ) II. Verleugnung und Vermeidung von Situationen, die an das Trauma erinnern oder diesem ähneln (Konstriktive Symptomatik) III. Dauerndes erhöhtes Erregungsniveau, überhöhte Wachsamkeit, ständige Alarmbereitschaft des Nervensystem, Hyperarousel, Hypervigilanz, Nervosität Störungsbereiche der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung I. Störungen der Regulation von Affekten und Impulsen Seite 6 / 8 Starke Stimmungsschwankungen mit Unfähigkeit sich selbst zu beruhigen Verminderte Steuerungsfähigkeit von aggressiven Impulsen Autodestruktive Handlungen und Selbstverletzen Suizidalität Störungen der Sexualität Exzessives Risikoverhalten II. Störungen der Wahrnehmung oder des Bewusstseins Amnesien Dissoziative Episoden und Depersonalisation III. Störungen der Selbstwahrnehmung Unzureichende Selbstfürsorge Gefühl dauerhaft zerstört zu sein Schuldgefühle Scham Gefühl isoliert und abgeschnitten von der Umwelt zu sein Bagatellisieren von gefährlichen Situationen IV. Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen Unfähigkeit zu vertrauen Wiederholte Viktimisierungen Viktimisierung anderer Menschen V. Somatisierung Somatoforme Symptome Gastrointestinale Symptome Chronische Schmerzen Kardiopulmonale Symptome Konversionssymptome Sexuelle Symptome Hypochondrische Ängste VI. Veränderungen von Lebenseinstellungen Fehlende Zukunftsperspektive, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Verlust von früher stützenden, persönlichen Grundüberzeugungen und Werten Psychobiologische Verlaufstypen der PTSD Sucht-Verlaufstyp Gekennzeichnet durch den Versuch, traumatische Angst und intrusive Erinnerungsbilder durch Suchtmittel unter Kontrolle zu bringen. PTSD-Angsttyp Überwiegen traumabedingte Ängste – in der traditionellen Versorgung meist frühe Behandlung, jedoch unter der Diagnose einer Angststörung. PTSD-Vermeidungstyp Besteht die zentrale Verarbeitung in unterschiedlichen Formen von Vermeidungsverhalten, um Angstzuständen zu entgehen. Dissoziations-Verlaufstyp Der Verlauf ist vorrangig durch Traumaverarbeitung über verschiedene Formen der Dissoziation gekennzeichnet. Seite 7 / 8 Leistungskompensatorischer Verlaufstyp („Workaholic“) Traumaverarbeitung durch übermässige Arbeit, Vorteil: Sozial anerkannt; wird oft über Jahrzehnte beibehalten, Entwicklung von psychosomatischen Symptomen, vor allem psychogene Schmerzen und depressiven Verstimmungen. Begleiterkrankungen/Komorbidität der PTSD Traumareaktive Begleiterkrankungen finden sich bis zu 80% bei der PTSD – die „einfache“ PTSD ist eher die Ausnahme! Posttraumatische Abhängigkeitsstörungen (z. B. Alkohol, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, etc.) – das beste Mittel gegen Nachhallerinnerungen (Flashbacks) sind Alkohol und Tranquilizer! Posttraumatische Depression (ca. 50% der depressiven Menschen sind komplex traumatisiert) Posttraumatische Schmerzstörung (z. B. chronisches Schmerzsyndrom, Fibromyalgie, etc.) Posttraumatische Angststörungen (z. B. Panikstörung, undifferenzierte Angstzustände) Posttraumatische Esstörungen (z. B. Anorexie/Magersucht, Bulimie/Ess-/Brechsucht, etc.) Posttraumatische Persönlichkeitsveränderung (Wut- und Hassausbrüche bei den kleinsten psychischen Belastungen, Dissozialität, Selbst- und Fremdgefährdung) Posttraumatische dissoziative Störungen (z. B. Borderline – Persönlichkeitsstörung, DIS=dissoziative Identitätsstörung/multiple Persönlichkeit) Selbstverletzung ist das „beste“ Antidissoziativum Bernd Frank Oberarzt Stationäre Traumatherapie Fachpsychotherapeut für Traumatherapie (DIPT/SIPT) 19.10.2010 Seite 8 / 8