AG 4: Trauma- Sensibilität und Handlungskompetenz in der Gemeindepsychiatrie Psychiatrie-Jahrestagung des BeB e.V. 05./06.Mai.2009 in Erkner Claudia Ehlert: einführende Grundlagen Stefanie Thielke: Praxis der TWG BORA e.V. Trauma (-Therapie), Geschichte und Gesellschaft Gesellschaftliche Ereignisse: - 1. und 2. Weltkrieg, Vietnamkrieg - Frauenbewegung: Enttabuisierung von (sexueller) Gewalt in der Familie Entwicklung der Trauma-Therapie: - Pierre Janet und Sigmund Freud (Hysterie-Forschung) - Feministische Forschung und Praxis - Entwicklung Trauma-spezifischer Konzepte in der Psychotherapie - „Paradigmenwechsel“ in der Psychiatrie: borderline, PTBS, DIS / Einrichtung spezifischer Traumastationen - Neurobiologische Forschung Definitionen „Psychische Traumatisierung lässt sich definieren als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ Fischer und Riedesser „Die Person war selbst Opfer oder Zeuge eines Ereignisses, bei dem das eigene Leben oder das anderer Personen bedroht war oder das eine ernste Verletzung zur Folge hatte. Die Rektion des Betroffenen beinhaltet Gefühle von intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen.“ Reddemann / Dehner-Rau „Maximale Hilflosigkeit bei gleichzeitig minimalen Handlungsoptionen“ Diagnosebezeichnungen im ICD-10 unter F43 (Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen), F44 (Dissoziative Störungen) und F62 (Andauernde Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastung) PTBS = posttraumatische Belastungsstörung PTSD = Posttraumatic Stress Disorder Komplexe PTBS DESNOS = Disorder of Extreme Stress, Not Otherwise Specified NNBDS = nicht näher bezeichnete dissoziative Störung oder DSNNS = dissoziative Störung, nicht näher spezifiziert DDNOS = Dissociative Disorder Not Otherwise Specified DIS = dissoziative Identitätsstörung (früher: multiple Identitätsstörung) DID = Dissociative Identity Disorder Was ist ein Trauma? Neurophysiologisches Verständnis: Aufbau des menschlichen Gehirns in „Stockwerken“ (Hüther) Reaktionen auf „handhabbare“ Herausforderung / Bedrohung: Präfrontalen Kortex - Bewusstsein über Raum-Zeit-Kausalität, differenzierte Reaktionen auf Grundlage bisheriger Erfahrungen. Reaktionen auf überfordernde (existenzielle) Bedrohung, schneller und entsprechend undifferenzierter („Notfallprogramm“): limbisches System / Amygdala - Gefühle, Angstreaktionen Kampf oder Flucht. Wenn beides nicht möglich ist: Stammhirn – Sympathikus und Parasympathikus, Starre Was passiert in der Trauma-Situation im Gehirn? • Angst verhindert Zusammenarbeit von präfrontalem Cortex und Hippocampus mit Amygdala. Die Stress- und Angstreaktionen werden abgekoppelt vom ursprünglichen Auslösereiz gespeichert: Kein bewusstes (explizites) Erinnern ist möglich, unverbundene Erinnerungsfragmente kennzeichnen das posttraumatische Erleben. • „Notfallprogramme“ verfestigen sich, je öfter sie ablaufen und werden in Folge bei immer geringeren Auslösereizen aktiviert. • „Traumatische Erinnerung“ nimmt die Form aktuellen Erlebens an. • VERGANGENHEIT = GEGENWART Dissoziation • peritraumatische Dissoziation = Schutz, körperl.-seelische Qualen wahrzunehmen; Speicherung von Ereignis und Reaktion darauf im dissoziativen Zustand, d.h. dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich • posttraumatische Dissoziation: auch lange nach traumat. Situation wieder auslösbar durch Trigger: Blick ins Leere; Gefühl, neben sich zu stehen; Erinnerungslücken; Zeitverlust; Schmerzwahrnehmung bzw. Schmerzunempfindlichkeit ; Lähmungserscheinungen; Seh-, Hör-, Geruchs- oder Geschmacksveränderungen . Systemisches Verständnis und soziale Perspektive Trauma-Auslöser: außer- oder innerfamiliär, man-made oder a-personal, Grundthemen Trauma-Kontext: vor, während und nach Trauma Trauma-Dosis: Mono-, Multi- bzw. komplexes Trauma; frequentielles , kumulatives Trauma Traumafokus: Individuum, Subsystem, Gesamtsystem Traumabeziehungsmuster: interaktionelle, transgenerationale, fragmentierte (nach Hanswille und Kissenbeck 2008) Becker (2006): „Es gibt Trauma nicht ohne den sozialen Kontext.“ Trauma-Reaktionen und Trauma-Prozess Traumatische Situation kann zu traumatischen Reaktionen führen, die nicht behandlungsbedürftig sind. Phasenhafte Bewältigung von Trauma: 1. Konstriktion im Wechsel mit Intrusion. 2. Zusammenfügen, Betrauern, Integration in eigene Biografie. Können die traumatischen (Ab-) Reaktionen nicht vollendet werden, entsteht ein traumatischer Prozess. Die Trauma-Folge-Störungen könne dabei auch lange nach der Trauma-Situation auftreten und führen zu zunehmender Konstriktion bzw. Intrusion, zu selbst-schädigendem Verhalten, Dissoziation ec. Charakteristische Traumafolgestörungen Intrusionen: sich aufdrängende Erinnerungen, Erinnerungsfragmente (flash-backs ec., Trauma-Situation der Vergangenheit wird wie Gegenwart erlebt) Konstriktion: Vermeidungsverhalten, emotionales Abschalten Anhaltende Übererregung: Unruhe, Schreckhaftigkeit, übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz), Schlafstörung, geringe Stressverarbeitungsfähigkeit, Erschöpfung = PTBS-Kriterien + Störung der Affektregulation: starke Stimmungsschwankungen, Impulsivität, Selbstverletzendes Verhalten Störungen der Wahrnehmung und des Bewusstseins: Amnesie, dissoziatives Verhalten Somatisierung: z.B. Schmerz- bzw. Taubheitsgefühl Veränderung der Persönlichkeit und des Bedeutungssystems: chronische Gefühle von Schuld, Ohnmacht, Hilf- und Hoffnungslosigkeit = Kriterien der komplexen PTBS Begleiterscheinungen / Komorbidität: starkes Kontrollbedürfnis, Angst und Panikzustände, depressive Störungen, Essstörungen, Sucht/Abhängigkeit, dissoziative und borderline-Störungen Essentials von Traumatherapie Beziehung: auf Basis größtmöglicher Selbstbestimmung und Kontrolle seitens der KlientInnen Berücksichtigung des Phasenverlaufes (Arbeitsbündnis herstellen – Stabilisierung Bearbeitung - Integration) Förderung von Sicherheit: Beziehung? Äußere Sicherheit? Innere Sicherheit? Multiplizität als Arbeitsprinzip: - Persönlichkeit als Zusammenspiel unterschiedlicher Instanzen und Anteile - gesund = stabile, aber durchlässige innere Grenzen. Traumatisiert = Ich-Zustände (ego-states, innere Anteile) sind rigide und oft anamnestisch voneinander getrennt - Bipolarer Blick: Schwierigkeiten und Ressourcen STRESSREDUKTION !!! RESSOURCENSTÄRKUNG!!! ANP, EP, Täterintrojekte ANP („anscheinend normale Persönlichkeit“): gewährleistet nach dem Trauma gutes Funktionieren im Alltag EP („emotionale Persönlichkeit“): reagiert mit heftigen Gefühlsreaktionen auf spezifische Außenreize „Täterintrojekt“, Täter-loyale Anteile: dienen der Abwehr von Ohnmacht/Scham sowie dem Erhalt von Bindung (zum Täter), verursachen Autoaggression / Selbstbestrafung / eigene Täterschaft Aufspaltung = Erklärung f. starke Ambivalenzen gegenüber Stabilisierung, Therapie und aufdeckender Arbeit. Ursprüngliche Funktion der verschiedenen Anteile muss gesehen und gewürdigt werden, damit sie sich wandeln können und auch in der Gegenwart wieder (psych.) Schutzfunktion einnehmen können. Stabilisierung Ziel: Aufbau neuronaler Ressourcen- vs. neuronaler Trauma-Netzwerke Vorgehen und Mittel: - Kohärenz=Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit /Bedeutsamkeit - Beratungskontakt im „Ressourcenzustand“, Stressreduktion! - Schutzfunktion aller Symptome verstehen und würdigen, Psychoedukation - Zustimmung zum Vorgehen von allen inneren Teilen einholen bzw. erarbeiten - Vermittlung von Techniken, Imaginations- und Achtsamkeitsübungen • zur Ressourcenförderung • zur Selbstberuhigung und Distanzierung Was nützt, was schadet? Wenig hilfreich und deshalb zu vermeiden sind: a. Unsichere Arbeitsbeziehung, unklare Rahmenbedingungen, unspezifische Gespräche b. Raum für Übertragung und Gegenübertragung c. Rettungs- und Allmachts-Phantasien, Verantwortung abnehmen wollen d. unklare Grenzsetzung; Missachtung eigener Grenzen Hilfreich sind: a. störungsspezifisches Verständnis / Psychoedukation / gute eigene Bindungsund Reflexionsfähigkeit – klare Kommunikation b. Bewusstheit über Übertragungsprozesse / Arbeit auf „innerer Bühne“ c. Vertrauen auf Ressourcen der Klienten, Vermitteln von Erfahrungen der Kompetenz und Selbstwirksamkeit d. Akzeptanz und ggf. respektvolle, haltgebende, (re-) orientierende Grenzsetzung e. Teamarbeit und eigene Psychohygiene! f. Fokus auf soziale Integration Literatur Becker, D. 2006: Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Freiburg, edition freitag Eidmann, F. 2009: Trauma im Kontext. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht Fischer G., Riedesser P. 2003: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München, Ernst Reinhardt Verlag Hanswille R., Kisseneck A. 2008: Systemische Traumatherapie. Konzepte und Methoden für die Praxis. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Van der Hart, O. e.a. 2008: Das verfolgte Selbst – strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn, Junfermann Herman J, 2003: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Paderborn, Junfermann Verlag Hüther, G., Sachsse, U. 2006: Trauma und Traumabehandlung – neurobiologische Grundlagen und therapeutische Ansätze. DVD. Müllheim/Baden: Auditorium Netzwerk Hüther, G. 2001: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen Vanderhoeck und Ruprecht Reddemann L. und Dehner-Rau C., 2004: Trauma – Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen. Ein Übungsbuch für Körper und Seele, Stuttgart, Trias Danke fürs Zuhören und auf Wiedersehen! Claudia Ehlert Soziologin M.A. und Supervisorin DGSv 030/61202080 [email protected] www.dgsv-berlin-brandenburg.de