Psychosomatik WS 05/06 – Fall 4 46-jähriger Lokführer nach erlebtem Überrollen eines Suizidanten, Behandlung durch seinen Allgemeinarzt mit späterer Überweisung an einen Neurologen. Nachdem Problematik weiterhin besteht erneute Überweisung mit Diagnose „reaktive Depression“ an psychosomatische Ambulanz. Frage 1: Welche differentialdiagnostische Überlegungen erscheinen Ihnen sinnvoll? Posttraumatische Belastungsstörung Anpassungsstörung (eines anderen Typs wie vom Neurologen diagnostiziert) Akute Belastungsreaktion Frage 2: Welche Diagnose stellen Sie anhand welcher Kriterien? Posttraumatische Belastungsstörung, da Zeitraum des Anhaltens der Symptome von akuten Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen überschritten wird und PTBS nach ICD-10 wie folgt definiert ist: Definition: Die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse ( [….] Unfälle […]), die an der eigenen Person, aber auch an fremden Personen erlebt werden können. In vielen Fällen kommt es zum Gefühl von Hilflosigkeit und durch das traumatische Erleben zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Das syndromale Störungsbild ist laut ICD-10 geprägt durch: sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnnerungen an das Trauma (Intrusionen) oder Erinnerungslücken (Bilder, Alpträume, Flashbacks, partielle Amnesie), Übererregungssymptome (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen) Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziierter Stimuli) und emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interesseverlust, innere Teilnahmslosigkeit) Die Symptomatik kann unmittelbar oder auch mit (z.T. mehrjähriger) Verzögerung nach dem traumatischen Geschehen auftreten (late-onset PTSD). Damit werden die Kriterien der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 erfüllt. Um die Diagnose weiter zu sichern und gegenüber anderen Erkrankunken abzugrenzen, werden PTBS-spezifische Fragebögen eingesetzt. Frage 3: Welche zusätzlichen Fragen halten Sie für ein vertieftes Verständnis des Patienten für notwendig? Psychogene/psychologische Vorerkrankungen Soziale Situation des Patienten („Netzwerk“, Familie, Beruf, Freunde etc.) Vorhergehende traumatische Ereignisse Hobbys? Ist der Job der einzige Mittelpunkt? Frage 4: Welche weiteren somatischen Untersuchungen halten Sie für notwendig? Prinzipiell keine, jedoch können zum Ausschluss etwaiger somatischer Komponenten in Bezug auf die vegetative Symptomatik diverse Parameter überprüft werden, z.B. Blutbild, Reflexe, Schmerzsymptomatik… Frage 5: Welche Komplikationen sind im Verlauf der Erkrankung ohne adäquate Behandlung möglich? Suizidale Handlungen Sucht Chronifizierung und daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit Frage 6: Welches therapeutische Prozedere wählen Sie und warum? Gemäß den Leitlinien: Traumaspezifische Stabilisierung E:III durch entsprechend qualifizierten ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten o o o o o o Anbindung zur engmaschigen diagnostischen und therapeutischen Betreuung Krisenintervention Ressourcenorientierte Interventionen (z.B. Distanzierungstechniken, Imaginative Verfahren) E:III Pharmakotherapie(adjuvant, symptomorientiert) E:I Antidepressiva aus der Stoffgruppe der SSRI E:I Cave! Besondere Suchtgefährdung bei PTSD (besonders Benzodiazepine) Traumabearbeitung nur durch entsprechend qualifizierten Psychotherapeuten o o o o Bei nicht-komplexer PTSD dosierte Rekonfrontation mit dem auslösenden Ereignis mit dem Ziel der Durcharbeitung und Integration unter geschützten therapeutischen Bedingungen. Voraussetzung: Ausreichende Stabilität, keine weitere Traumaeinwirkung Traumaadaptierte Verfahren im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes: Kognitiv-behaviorale Therapie E:I, Psychodynamische Therapie E:I, EMDR E:I Einbeziehung adjuvanter Verfahren (z.B. stabilisierende Körpertherapie, künstlerische Therapie) E:III o o o Setting: In Abhängigkeit von Schwere der Störung und Stabilisierungsbedarf Ambulant (Schwerpunktpraxen, Ambulanzen) Stationär (Schwerpunktstation, Tagesklinik) Bei komplexer PTSD (z.B. nach chronisch kumulativen Traumatisierungen und/oder komplexem Beschwerdebild) nur bei ausgewählten Patienten (ca. 40-50%) möglich. Psychosoziale Reintegration o o o o o Soziale Unterstützung Einbeziehung von Angehörigen Opferhilfsorganisationen Berufliche Rehabilitation Opferentschädigungsgesetz Quellen: 1. MLP Duale Reihe: Psychiatrie und Psychotherapie, Möller/Laux/Deisler 2001 Thieme 2. Praxis der Psychotherapie, Senf/Broda, 2005 Thieme 3. AWMF Online, Leitlinien Psychotherapie, erstellt 1999, überarbeitet 2004