Ärzteforum Davos: Fallbasierte Medizin, 20.3.2017 Psychiatrie Prof. Dr. med. Ulrich Schnyder Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie USZ [email protected] Differenzialdiagnostik psychischer Reaktionen auf schwere Belastungen ! Spezifische posttraumatische Störungen: – Akute Belastungsreaktion – Posttraumatische Belastungsstörung – Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ! Unspezifische posttraumatische Störungen, z.B.: – Anpassungsstörungen – (posttraumatische) Depressive Störungen – (posttraumatische) Angststörungen – (posttraumatische) Zwangsstörungen – (posttraumatische) Somatoforme Störungen – ... 2 Reaktionen auf schwere Belastungen ! ICD-10: F 43.0 Akute Belastungsreaktion (DSM-5: Akute Belastungsstörung, englisch Acute Stress Disorder, ASD) ! ICD-10: F 43.1 Posttraumatische Belastungsstörung (DSM-5: Posttraumatische Belastungsstörung, englisch Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) ! ICD-10: F 43.2 Anpassungsstörungen ! ICD-10: F 62.0 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung 3 Akute Belastungsstörung (DSM-5) A) Stressorkriterium: − Tod, Lebensbedrohung, körperliche Verletzung, sexuelle Gewalt − Betroffener, Zeuge, Benachrichtigter, in professionellem Kontext B) Mindestens 9 Symptome aus den folgenden Kategorien: – – – – – Intrusionen (unwillkürliche Erinnerungen, Alpträume, Flashbacks) Negative Stimmung (Unfähigkeit, positive Emotionen zu erleben) Dissoziative Symptome (Derealisationen, psychogene Amnesie) Vermeidung (von Erinnerungen, Gedanken, Gefühlen, Hinweisreizen) Arousal-Symptome (Schlafstörung, Reizbarkeit, Hypervigilanz, Konzentrationsstörung, übertriebene Schreckreaktionen) C) Dauer 3 Tage bis 1 Monat D) Erhebliches Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen E) Nicht durch Substanzmissbrauch oder andere Krankheit erklärbar Posttraumatische Belastungsstörung (DSM-5) A) Stressorkriterium: − Tod, Lebensbedrohung, körperliche Verletzung, sexuelle Gewalt − Betroffener, Zeuge, Benachrichtigter, in professionellem Kontext B) Intrusive Erinnerungen an das traumatische Ereignis (5) C) Anhaltendes Vermeiden spezifischer Stimuli (2) D) Negative Veränderungen von Kognition und Stimmung (7) E) Veränderungen bezüglich Erregungsniveau und Reaktivität (6) F) Dauer mindestens 1 Monat G) Erhebliches Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen Posttraumatische Belastungsstörung (DSM-5) Besonderes: PTSD mit dissoziativen Symptomen: - Depersonalisation - Derealisation PTSD mit verzögertem Beginn: Syndromales Vollbild erst nach >6 Monaten 6 Anpassungsstörungen (ICD-10: F43.2) ! Auftreten nach entscheidenden Lebensveränderungen, nach belastenden Lebensereignissen, oder nach schwerer körperlicher Krankheit ! Beginn der Störung innerhalb 1 Monats ! Dauer in der Regel nicht länger als 6 Monate ! Keines der Symptome ist so ausgeprägt, dass es eine spezifischere Diagnose rechtfertigt 7 Anpassungsstörungen (ICD-10: F43.2) ! Kurze depressive Reaktion ! Längere depressive Reaktion ! Angst und depressive Reaktion gemischt ! Mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen ! Mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens ! Mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten ! Mit sonstigen spezifischen deutlichen Symtomen 8 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) A) Extremer Stressor B) Ausgeprägte Persönlichkeitsänderung, mindestens zwei der folgenden Symptome: 1. Feindliche oder misstrauische Grundhaltung 2. Sozialer Rückzug 3. Gefühl von Leere oder Hoffnungslosigkeit 4. Gefühl von Nervosität oder Bedrohung 5. Gefühl der Entfremdung 9 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) C) Deutliche Störung der sozialen Funktionsfähigkeit oder subjektives Leiden mit negativen Auswirkungen auf die Umgebung D) Auftreten erst nach der Extrembelastung E) Dauer mindestens 2 Jahre F) Oft PTSD vorausgehend 10 Psychotherapie für die Posttraumatische Belastungsstörung ! Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze (CBT): – Exposition, v.a. „Prolonged Exposure Therapy“ – Kognitive Therapie, „Cognitive Processing Therapy“ – Eye Movement Desensitization and Reprocessing – Narrative Exposure Therapy – Brief Eclectic Psychotherapy ! Psychodynamische Therapieansätze: – Zur Zeit keine hinreichende wissenschaftliche Evidenz 11 Psychopharmakotherapie für die Posttraumatische Belastungsstörung ! SSRI/SNRI: – Medikamente erster Wahl! – Wirksamkeit nicht nur auf (co-morbide) depressive, sondern auch PTSD-spezifische Symptome – Am besten belegt: Paroxetin und Sertralin – Ebenso wirksam: Venlafaxin (cave Hypertension!) ! Klassische (z.B. trizyklische) Antidepressiva: – Wenn SSRI/SNRI nicht genügend wirken – Bei ausgeprägten Schlafstörungen z.B. Amitriptylin, evtl. Mianserin 12 Psychopharmakotherapie für die Posttraumatische Belastungsstörung ! Benzodiazepine: – In der hausärztlichen Praxis am häufigsten verschriebene Medikamente bei PTSD! – Wirken nur auf Arousal-Symptomatik – Evtl. vorübergehend indiziert bei Schlafstörungen – Cave Abhängigkeit! ! Neuroleptika: – Bei isolierter PTSD nicht indiziert – Indikation gegeben bei komorbider psychotischer Symptomatik 13 Risikofaktoren für Suizidhandlungen Soziale Charakteristika: ! Männer ! Alter über 45 ! Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Pensionierung ! Bestimmte Berufsgruppen, z.B. Ärztinnen und Ärzte Risikofaktoren für Suizidhandlungen Klinische Risikofaktoren: ! Depression ! Substanzabhängigkeit (Alkohol, Drogen, Medikamente) ! Persönlichkeitsstörungen (Impulskontrolle: Serotonin) ! Schwere körperliche Erkrankung ! Frühere Suizidhandlungen! ! Suizidhandlungen in der Familienanamnese ! Suizide im Bekanntenkreis (Suggestivwirkung) Patienten nach Suizidversuch: Hochrisikogruppe! ! Frühere Suizidversuche sind der wichtigste Risikofaktor für Suizid und Suizidversuche ! Nach Suizidversuch: Suizidrisiko langfristig >40x erhöht! Finkelstein et al, (2015) JAMA Psychiatry. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2014.3188 ! In 50% der Suizide geht mindestens ein Suizidversuch voraus ! Suizidrisiko bleibt langfristig (lebenslang?) erhöht Einschätzung der Suizidalität 1. Eingangsfrage: „Haben Sie in letzter Zeit daran gedacht, dass Sie so nicht mehr leben wollen?“ 2. Todeswünsche: „Haben Sie daran gedacht, dass Sie sterben wollen?“ 3. Suizidideen: „Ist Ihnen der Gedanke gekommen, sich etwas anzutun?“ 4. Suizidpläne: „Haben Sie konkrete Pläne, sich etwas anzutun?“ Einschätzung der Suizidalität 5. Suizidmethode: „Wüssten Sie, wie Sie sich etwas antun würden?“ 6. Suizidversuche in der Vorgeschichte: „Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen?“ 7. Familienanamnese: „Sind in Ihrer Familie Suizide oder Suizidversuche vorgekommen?“ Wie weiter nach einem Suizidversuch? Attempted Suicide Short Intervention Program ASSIP (Gysin-Maillart et al. (2016) PloS Med 13(3): e1001968. doi:10.1371/journal.pmed.1001968) ! Kurztherapie mit 3 Konsultationen, gefolgt von Standardbriefen (3-monatlich im ersten Jahr, 6-monatlich im zweiten Jahr) ! Therapiemodell stützt sich auf ein Konzept der Handlungstheorie. Beim narrativen Interview mit Video-Playback ist der Patient der Experte seiner Geschichte, während beim Erfassen der Risikofaktoren der Arzt der Experte ist. ! Randomized Controlled Trial mit 120 Patienten (60/60), Follow-up über 2 Jahre: - ASSIP 5 Suizidversuche (5 Personen) - Kontrollgruppe 41 Suizidversuche (16 Personen) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse! Pablo Picasso: Le Bouquet Seite 21