3 Diagnostische Klassifikation von Traumafolgestörungen Typ I – Einfache Traumafolgestörung ohne Komorbidität mit einer anderen psychischen Erkrankung Diese Störung entspricht der Posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 (Dilling u. Freyberger 2006) als Folgereaktion auf ein oder mehrere potenziell traumatische Ereignisse, die an der eigenen Person, aber auch an fremden Personen erlebt werden können. In vielen Fällen kommt es zum Gefühl von Hilflosigkeit und durch das traumatische Erleben zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses (Flatten et al. 2011). Diese Störung ist gekennzeichnet durch folgende Merkmale: • Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Form unkontrollierter Gedanken und Bilder, aufdringlicher Nachhallerinnerungen und Träume, sogenannte Intrusionen oder »Flashbacks« • Vermeiden von traumanahen Reizen im Handeln und im Denken; dieses Vermeidungsverhalten neigt zu Generalisierung und Ausbreitung auf Reize, die bisher noch nicht mit dem Trauma verknüpft waren • Gefühl des Betäubseins (Numbing), Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern • Übererregung wie Schlafstörungen, Reizbarkeit, Hypervigilanz, Konzentrationsschwierigkeiten; körperliche Symptome von Übererregung (Zittern, Schwitzen, Herzrasen) Komorbidität mit einer weiteren psychischen Erkrankung besteht hier nicht. Bei einer Dauer von mindestens einem Monat kann die Störung direkt nach dem Ereignis oder in der verzögerten Reaktion auch erst nach sechs Monaten auftreten. 51 Fallbeispiel Robert 32 Jahre, Bankmitarbeiter. Er fährt vormittags wie immer mit seinem Auto zur Arbeit. In einer unübersichtlichen Kurve rutscht ihm ein Motorradfahrer frontal ins Auto. Robert hat keinerlei Reaktionsmöglichkeit und trägt keine juristische Mitschuld am Unfallgeschehen. Diagnostik: Es entwickelt sich das Vollbild der Posttraumatischen Belastungsstörung und es droht eine Generalisierung von Vermeidungsverhalten (Weg zur Arbeit, Autofahren). Behandlungskonzeption: Eine Sitzung mit Informationen zur Posttraumatischen Belastungsstörung und zur geplanten Therapie, eine Sitzung mit Ressourcenanamnese, zwei DoppelSitzungen EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), eine Sitzung im Abstand von zwei Wochen. Behandlungsergebnis: Beschwerdefreiheit. Katamnese nach sechs Monaten: Restitutio ad integrum. Typ II – Traumafolgestörung (inkl. partielle) »plus« traumakompen­ satorischer Symptomatik Komorbide Diagnosen der oben genannten Posttraumatischen Belastungsstörung finden sich bei 85–88 % der Männer und 78–80 % der Frauen (Kessler et al. 1995). Bei 87,5 % wird zusätzlich zur Posttraumatischen Belastungsstörung mindestens eine weitere psychische Störung diagnostiziert (Perkonigg et al. 2000). Die wichtigsten komorbiden Krankheitsbilder sind Angststörungen, depressive Störungen, Agoraphobie, somatoforme Störungen, dissoziative Störungen und Suchterkrankungen. Dabei kann die Posttraumatische Belastungsstörung sowohl primär (vor allem bei Depressionen und Substanzmissbrauch) als auch sekundär (z. B. bei Angststörungen) auftreten (Flatten et al. 2011; Zlotnik et al. 2008). Einige Autoren gehen davon aus, 52 I Diagnostik dass bei etwa einem Drittel der Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung eine psychopathologische Prädisposition zur Entwicklung der Posttraumatischen Belastungsstörung durch eine bereits bestehende psychische Störung (vor allem Depression) vorliegt (Perkonigg et al. 2000). Wir schlagen hier vor, die spezielle zusätzliche psychische Symptomatik auch zusätzlich zu kodieren, zum Beispiel: • Angst (F40.x) • Depression (F32.x oder F33.x) • Somatisierung (F45.x) • Sucht, Abhängigkeitserkrankungen (F1x.x) • Depersonalisation, Derealisation (F48.1) • sonstige kompensatorische Symptome Fallbeispiel Marion 43 Jahre, Verkäuferin, arbeitsunfähig seit vier Monaten, lebt in zweiter Ehe, drei Kinder. Sehr strenge, aber weitgehend stabile Verhältnisse in der Primärfamilie. Sie leidet unter starken Ängsten, Panikattacken, Albträumen sowie Bildern aus der Vergangenheit, Bluthochdruck und zahlreichen hypochondrischen Ängsten. Es besteht abhängiges Interaktionsverhalten mit sozialem Rückzug sowie eine depressive Symptomatik mit Appetitminderung und Grübelzwang. Sie war als Kassiererin in einem Lebensmittelgroßmarkt bereits das zweite Mal überfallen worden. Seit einem Jahr Anstieg der Beschwerden. Sie selbst kam durch Internetrecherchen auf die Idee, dass die Symptomatik mit den Überfällen zu tun haben könnte. Diagnostik: SKID I (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV, Achse I) – F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung, F32.1 Depressives Syndrom, F40.0- Angststörung mit Agoraphobie. Behandlungskonzeption: Zunächst Behandlung der Depression mit antidepressiver Medikation, dann Angstkonfrontationsbehandlung, zunehmend verschränkt mit traumakonfrontativer Behandlung. Behandlungsergebnis: Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess, Katamnese nach sechs Monaten: beschwerdefrei. Typ III – Traumafolgestörung »plus« persönlichkeitsprägende Symptomatik Diese Kategorie wird überwiegend von Bindungsstörungen geprägt, wie sie bei Borderline-Persönlichkeitsorganisation häufig anzutreffen sind (Ball u. Links 2009). Selbstverständlich wäre hier die bisher angewandte Strategie von Borderline-Persönlichkeitsstörung »plus« Posttraumatischer Belastungsstörung gut beheimatet. Eingeschlossen sollen jedoch auch diejenigen Störungsbilder sein, die durch die Kriterien einer BorderlinePersönlichkeitsstörung nicht ausreichend beschrieben sind, aber gleichwohl Affektregulationsstörungen, Bindungsstörungen und eine Selbstwertproblematik als Folge von Vernachlässigung und Misshandlungen in der Kindheit oder durch andere sequenzielle und chronische Traumatisierung zeigen. Es handelt sich hier um ein Störungsbild, das in Anlehnung an das Konzept von Externalisierung/Internalisierung (Miller u. Resick 2007; Miller et al. 2004; Wolf et al. 2012) entweder stärker durch negativ gefärbte Affekte wie Wut, Aggression, Impulsivität und Enthemmung geprägt ist oder sich durch vermeidende Persönlichkeitszüge wie hochgradige Angst, depressive oder schizoide Symptomatik auszeichnet. Auch im Dissoziationskonzept von Janet (Janet 1889), aufgegriffen von Ellert Nijenhuis als strukturelle Dissoziation mit »positiver« oder »negativer dissoziativer Symptomatik« (Nijenhuis 2006), finden sich ähnliche Ansätze. Wir zählen hierzu Syndrome von Traumafolgestörungen mit zusätzlicher schwerer emotionaler Instabilität, dissoziativer Symptomatik, Bindungs- und Beziehungsstö- 3 Diagnostische Klassifikation von Traumafolgestörungen rungen, verändertem Selbst- und Weltbild mit ausgeprägten Scham- und Schuldkognitionen, häufig gepaart mit Selbstverletzung und chronischer Suizidalität. Hier stehen die Behandlung der Bindungsstörung, die Förderung der Beziehungsfähigkeit sowie der interpersonellen Kompetenz lange Zeit im Vordergrund. Eine zusätzliche Berücksichtigung der entweder mehr externalisierenden oder internalisierenden Verhaltensauffälligkeit erleichtert es, Strategien für Krisensituationen zu entwickeln. Der Aufbau selbstfürsorglicher Verhaltensweisen und die Förderung von Alltagsressourcen sind letztendlich Grundlage der Bearbeitung traumaassoziierter Emotionen und dysfunktionaler Kognitionen. Fallbeispiel Sylvia 35 Jahre, Werkzeugmechanikerin, abgebrochenes Maschinenbaustudium, kinderlos, lebt in einer Partnerschaft. In die Behandlung kommt sie wegen starker Gefühlsausbrüche, Verlustund Trennungsängsten, unkontrollierten Traurigkeitsanfällen mit hoher Unzufriedenheit, Impulsdurchbrüchen ihrem Partner gegenüber, Antriebsschwäche und Durchschlafstörungen. Sie leide unter Selbstmordgedanken. In ihrem sechsten Lebensjahr war sie durch einen Fremden zu sexuellen Handlungen gezwungen worden. Eine Anzeige war erfolgt, aber die Eltern hatten nie mehr mit ihr darüber gesprochen. Gelegentlich gab es Streit zwischen den Eltern. Vor fünf Jahren war sie in eine gewalttätige Partnerschaft geraten. In der Trennungssituation war der Expartner in die Wohnung eingedrungen, hatte sie gewürgt und ihr schwere Verletzungen am Hals zugefügt. Über Letzteres sprach die Patientin nur beiläufig. Diagnostik: SKID I – F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung, F33.2 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome; IPDE (Internatio- 53 nal Personality Disorder Examination) – Kriterien erfüllt, F60.31 Emotional instabile Persönlichkeit, Borderline-Typ. Behandlungskonzeption: Absprachen bezüglich Suizidalität, Ernstnehmen gefährlicher bzw. gefährdender Situationen, um zunächst mithilfe von Skills-Training, Mentalisierungsförderung und Beziehungsklärung Ressourcen zu aktivieren und dann erst dosiert traumakonfrontative Behandlungselemente einflechten zu können. Behandlungsergebnis nach drei Jahren Therapie, Katamnese nach sechs Monaten: Beschwerdefrei, Kriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht mehr erfüllt. Fallbeispiel Andreas 34 Jahre, Bauzeichner, verheiratet, drei Kinder. Durch Alkohol geprägte Verhältnisse in der Kindheit. Seit vielen Jahren leidet er unter ausgeprägten Schlafstörungen und massiven Ängsten mit Zitteranfällen. Er ziehe sich seit drei Jahren zunehmend von der Umwelt zurück. Mehrere Suizidversuche und selbstverletzendes Verhalten durch Schneiden am Unterarm, Zwangssymptomatik. Den Haushalt versorge er noch. In dem von Alkoholkonsum geprägten Elternhaus sei Gewalt an der Tagesordnung gewesen. Mit zwölf Jahren sei sexuelle Gewalt hinzugetreten, in der Familie und durch Fremde. Dennoch habe er einen Beruf gelernt und mehrere Jahre darin gearbeitet. Die Dekompensation fällt zeitlich mit dem Eintreten der Tochter in die Pubertät und damit mit Auseinandersetzungen mit ihr zusammen. Diagnostik: SKID I – F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung, F33.2 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome. Behandlungskonzeption: Stationäre Behandlung von vier Monaten; Behandlungsbündnis erarbeiten, Absprachen bezüglich Suizidalität, Skills-Training bei selbstverletzendem Verhalten, Aufbau selbstfürsorglicher Verhaltensweisen, ressourcenorientierte Förderung der Alltagskompetenz. Beziehungsklärung inklusive Förderung