Vorlesung Anpassungs-Belastungsstörungen PO - Uni

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Vorlesung Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie
Anpassungs- und Belastungsstörungen /
Krankheitsverarbeitung / Psychoonkologie
Prof. Dr. med. Christoph Herrmann-Lingen
Dr. med. Christina Kleiber
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Reaktionen auf Belastungen
und Anpassungsstörungen
Unterscheidung
• ICD-10 F43.0: Akute Belastungsreaktion
• ICD-10 F43.2: Anpassungsstörung
• ICD-10 F43.1: Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Akute Belastungsreaktion
Symptomatik
Zeitlicher Verlauf
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•
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•
•
• Auftreten Minuten bis
Tage nach Belastung
• Rascher
Symptomwechsel
• Rasches spontanes
Abklingen
• Selten Übergang in
PTBS
Gefühl der Betäubung
Bewusstseinseinengung
Aufmerksamkeitsstörung
Desorientiertheit
Soz. Rückzug
Veg. Angstäquivalente
(Schwitzen, Erröten,
Tachykardie)
Akute Belastungsreaktion
Therapieprinzipien
• Vor allem kurze Krisenintervention
(Abklärung von Suizidalität und schwerer
Angst, u.U. pharmakologische Therapie,
Organisation sozialer Unterstützung)
• Wegen Tendenz zur Spontanremission
meist keine längere Therapie erforderlich
Anpassungsstörungen
• Auftreten nach entscheidenden, meist
belastenden Lebensveränderungen
(z.B. Verlust durch Trennung, Tod, Emigration;
berufliche Zurücksetzung;
schwere körperliche Erkrankungen!)
• Zeitliches Kriterium
– Beginn innerhalb eines Monats
– Dauer nicht länger als 6 Monate bzw. 2 Jahre
Anpassungsstörungen
Einteilung nach Symptomatik
• Kurze (F43.20) oder längere (F43.21) depressive
Reaktion
• Angst und depressive Reaktion gemischt (F43.22)
• Vorwiegende Beeinträchtigung anderer Gefühle wie
z.B. Sorgen, Anspannung Ärger (F43.23)
•
Vorwiegende Störung des Sozialverhaltens (F43.28)
Anpassungsstörungen
Therapieprinzipien
• Oft Indikation zur Kurzzeit-Psychotherapie
• Ziel:
Erarbeitung von Bewältigungsstrategien
• Nutzung vorhandener persönlicher
Ressourcen
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Gravierende psychische Störung
• nach belastendem Erlebnis
– von außergewöhnlicher Schwere
– mit potenzieller oder realer Bedrohung der
körperlichen Unversehrtheit
– für sich selbst oder andere.
• Auftreten mit einer Latenz von mehreren
Wochen, selten mehr als 6 Monate
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Hauptsymptome
• Intrusionen
– Flash backs / Albträume
• Konstriktion:
Vermeidung traumaassoziierter Stimuli
– Sozialer Rückzug
– Numbing (Emotionale Taubheit)
• Hyperarousal
– Schreckhaftigkeit / Hypervigilanz / Schlafstörungen /
Reizbarkeit
Traumatisierende Ereignisse:
ein ubiquitäres Problem
• 7 Millionen Tote zwischen 1961 und 1991 durch
Naturkatastrophen
• Jährlich 117 Millionen Menschen von kriegerischen
Auseinandersetzungen betroffen; seit 1945 zwischen
21 und 40 Millionen Tote in 127 Kriegen
• 17% der deutschen Jugendlichen zwischen 14 und
24 Jahren haben körperliche Gewalt, Unfall,
sexuellen Mißbrauch oder Vergewaltigung erlebt
• Im Lauf des Lebens erleiden fast alle Menschen
traumatische Erlebnisse!
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Epidemiologie und Verlauf
•
•
•
•
Lebenszeitprävalenz 1-10 %
Frauen zu Männer 2:1
Kinder und Jugendliche besonders vulnerabel
Durchschnittliche Beschwerdedauer 36 Monate
mit und 64 Monate ohne Behandlung
• Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung 30%
• Wahrscheinlichkeit Spontanremission 50%
Risiko der posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS)
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Allgemeine Risikofaktoren
• Ereignis besonders traumatisierend:
–
–
–
–
–
–
–
bei intensiver Bedrohung
wiederholtem Vorkommen
wenn absichtlich herbeigeführt
bei unerwartetem Eintreten
wenn keine Kontrolle möglich
wenn Hilfe ausblieb
bei irreversiblen Schäden oder Verlusten
• Schuldgefühle wegen des Ereignisses
Genesemodell zur posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS)
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Therapeutische Grundprinzipien
• Stabilisierung
• Traumabearbeitung
• Rehabilitation
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Stabilisierung
• Herstellen einer sicheren Umgebung
(Verhinderung weiterer Traumaeinwirkung)
• Organisation eines psychosozialen
Helfersystems
• Aufklärung („Psychoedukation“)
bezüglich traumatischer Symptome
• Hinzuziehung eines in der PTBS-Behandlung
erfahrenen Psychotherapeuten
• Evtl. symptomorientierte Pharmakotherapie
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Traumabearbeitung -Voraussetzungen• Nur im Rahmen eines
Gesamtbehandlungsplans
• Ohne ausreichende Stabilisierung keine
Traumabearbeitung
• Traumatisierende Ereignisse oder
Beziehungen müssen abgeschlossen sein
Therapieeffekte auf PTBS-Symptome
(Metaanalyse van Etten u. Taylor 1998)
Prä-Post- AbbrecherEffektstärke
Rate
Psychotherapie allg.
1,17
14,0
Verhaltenstherapie
1,27
15,1
EMDR
1,24
14,4
Tiefenpsych. Therapie
0,9
11,0
Pharmakotherapie
0,69
31,9
Trizyklika
0,54
26,4
SSRI
1,38
36,0
Kontrollgruppen
0,43
16,6
Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Probleme der Gegenübertragung
• Typ 1-Reaktion:
Vermeidung, Rückzug (z.B. auf therapeutische
Technik, betonte „Abstinenz“)
• Typ 2-Reaktion:
Überidentifizierung und Verstrickung
(z.B. unbedingter Wunsch zu helfen
statt geduldiger Präsenz)
Gefahren der Traumahilfe
(unerfahrene Helfer!)
• ReTraumatisierung
der Opfer
• Sekundäre
Traumatisierung
der Helfer
Fazit zur PTBS
• Traumatisierungen sind häufig
• Posttraumatische Störungen sind relativ selten
(meist „Auffangmöglichkeit“ in natürlicher sozialer
Umgebung)
• Therapeutische Interventionen nur nach sorgfältiger
Indikationsstellung
• Stabilisierung vor Traumaexposition
• Traumaexposition (d.h. gedankliche und gefühlsmäßige „Bearbeitung“ Grundprinzip der Therapie
• Selbstfürsorge der beteiligten Helfer(Therapeuten)
wichtig
57 J. Patientin mit Adeno- Ca. des
Oesophagus
Krebs – Laienätiologien:
Ursachen nach Ansicht von Betroffenen
(Riehl-Emde et al. 1989)
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•
•
Umweltverschmutzung
Täglicher Stress / Hetze
Eigene seelische Probleme
Belastungen / Sorgen
in Partnerschaft / Familie
• Berufl. Belastungen / Sorgen
• Körperl. Veranlagung / Vererbg.
79,5%
70,1%
68,2%
54,2%
53,3%
50,5%
Psychogenese als Schuldzuweisung?
(Sonntag S: Krankheit als Metapher. Fischer, Frankfurt 1981)
„Psychologische Krankheitstheorien sind
machtvolle Instrumente, um die
Schande auf die Kranken abzuwälzen.
Patienten, die darüber belehrt werden,
dass sie ihre Krankheit unwissentlich
selbst verursacht haben, lässt man
zugleich fühlen, dass sie sie verdient
haben.“
ist Krebs psychisch verursacht ?
Psychoonkologie initial stark an einer Psychogenese von
Krebs orientiert („Psychotherapie gegen den Krebs“)
Mythos „Krebspersönlichkeit“
„Typus carcinomatosus“ (Typ C): ausgeprägte
Freundlichkeit, übertriebene Herzlichkeit, soziale
Angepasstheit,...
Dazu gibt es keine gesicherten empirischen Belege!
Diese Bezeichnung ist obsolet
Erkenntnisstand seit ca. 20 Jahren: keine Evidenz für ein
persönlichkeitsgebundenes erhöhtes Krebsrisiko !
aktuelle Studie (n=101): großer Teil befragter
Psychotherapeuten sieht weiterhin Zusammenhang
zwischen seelischen Konflikten/Traumata + der
Krebsgenese ! (Schwarz et al. 2006)
Alltagsvorstellung zum Thema
Krebserleben
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•
•
unheilbare, unbeeinflussbare Erkrankung
qualvolles, langsames Dahinsiechen
etwas Böses frisst den Mensch von innen auf
etwas Hinterhältiges, Unheimliches
Strafe, Schuld, Sühne
Hoffnungslosigkeit, Ausgestoßensein
Konfrontation mit Tod und Sterben
Wesentliche Belastungen, die mit der
Diagnose Krebs einhergehen
(Faller, 1998)
• Todesdrohung
• Verletzung der
körperlichen
Unversehrtheit
• Autonomieverlust
• Verlust von
Aktivitäten
• Soziale Isolierung
(Hack, Dt. Ärzteblatt 2006)
• Stigmatisierungsangst
• Bedrohung der sozialen Identität und des Selbstwertgefühls
Unterschiedliche Perspektiven bei der
Diagnosemitteilung
Arztperspektive
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•
Patientenperspektive
(Schlömer-Doll U et al. 2000)
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Behandlungsziel
Behandlungsablauf
Nebenwirkungen
Spätfolgen
Nachsorgeuntersuchungen
Wie konnte das geschehen?
Muss ich sterben?
Bin ich falsch behandelt worden?
Was wird aus meiner Familie?
Was wird aus meiner Arbeit, wenn ich längere
Zeit ausfalle?
• Wie wird es weiter gehen?
• Was hat das für Folgen?
Auswirkungen der Diagnosemitteilung
• Verleugnung, Bagatellisierung
• Zurückweisung von
Behandlungsvorschlägen oder Suche
nach Behandlungsmöglichkeiten
• Fatalistische Haltung
• Wut, Angst, Depression abwechselnd
• Störung des Antriebs, Schlafs, Appetits
Diagnosemitteilung aber wie?
• Häufiger Irrtum:
die „gnädige Lüge“ reduziert Angst
• Stattdessen: Unaufgeklärte
Patienten besonders ängstlich
(Horikawa et al.1999)
Aber „wie“ eine schlechte Nachricht
überbringen?
• entscheidend: emotionale Unterstützung bei
der Verarbeitung der Information (Präsenz;
Selbstreflexion; Einfühlung etc. des Arztes)
• Aufklärungsgespräch als Prozess
(sequentiell; „es muss nicht immer alles
gleich sofort gesagt werden“)
• Vertrauen des Krebspatienten in
behandelnde Ärzte = Dreh- u. Angelpunkt in
seiner Diagnose- und Krankheitsbewältigung
Verarbeitung schwerer Krankheiten
• „Die“ ideale Krankheitsbewältigung gibt es
nicht
• Unterschiedliche Herausforderungen
brauchen unterschiedliches Coping
• Vorherrschende Modi können wechseln
• Auch scheinbar ungünstiges Coping kann
Sinn machen (Erhalt der Integrität!)
• Flexibles Coping oft günstig
Bewältigungsformen („Copingstile“)
(nach Heim 1991)
• Handlungsbezogen
z.B. Informationssuche, Aktivität, Vermeidung,
Ablenkung, Entspannung, soz. Zuwendung/Rückzug
• Kognitionsbezogen
z.B. Problemanalyse, Dissimulieren, stoisches
Akzeptieren, Haltung bewahren, Grübeln
• Emotionsbezogen
z.B. Hadern, Resignation, Schuldzuweisung,
emotionale Entlastung, Optimismus
Häufige Copingstile bei Krebspatienten
•
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•
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•
Vertrauenssetzung in Ärzte
Kampfgeist („fighting spirit“)
Informationssuche
Leugnung / Bagatellisierung
Suche nach Verbündeten
(z.B. Selbsthilfe)
• Rebellion, Resignation u.a.
Krankheitsverarbeitung
- klinische Relevanz
inneres
Gleichgewicht
gelingt
Persönlichkeit
Belastung
KV
Anpassung
gelingt nicht
Vorerfahrungen
akute Krisenreaktion
bei chronischer Überforderung
psycho-somatische
Störung
Was bedeutet der Begriff
„Lebensqualität“?
(Wasner M: Manual Psychoonkologie München 2005)
•
Eine individuelle Beschreibung, die abhängig ist
• vom gegenwärtigen Lebensstil
• von persönlichen Erfahrungen
• von Hoffnungen, Träumen und Wünschen
•
Lebensqualität lässt sich definieren als Zufriedenheit
mit den gegebenen Umständen
Aber auch als lernen, mit Verlusten zu leben
und den Blick dafür zu erhalten, was möglich ist
•
Lebensqualität beinhaltet
eine Vielzahl verschiedener Variablen
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•
•
•
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•
•
Erhaltene physische Möglichkeiten
NW der Therapie
Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen
Krankheitsverarbeitung und -bewältigung
Emotionales Befinden (Ängste, Depression)
Empfinden von Freiheit/Unfreiheit
Soziale und materielle Situation
Berufliche Möglichkeiten/Einschränkungen
Psychische Störungen bei Krebskranken
• 40-50% der PatientInnen leiden an
behandlungsbedürftiger Depressivität
oder Ängstlichkeit
• Zwei Drittel der PatientInnen
akzeptieren die Mitbehandlung durch
einen Psychoonkologen
Anlässe für eine psychoonkologische
Behandlung
• Bewältigung und Adhärenz-Probleme
• Entscheidungsdilemma bei mit
Funktionsverlust verbundenen Behandlungen
• Angst, Trauer, depressive Reaktionen,
aggressives Verhalten
• Störungen der Kommunikation mit
Angehörigen/Behandlungsteam
• Psychodiagnostische Fragestellungen z. B.
verändertes Verhalten als Hinweis für
psychische Störung
Ziele psychoonkologischer
Interventionen I
• Hilfestellung zur Klärung von
Fehlinformationen und Missverständnissen
• Verringerung der Gefühle von Isolierung,
Hilf- und Hoffnungslosigkeit
• Ermutigung zu mehr Selbstverantwortung
• Verbesserung der Adhärenz mit der
medizinischen Behandlung
Ziele psychoonkologischer
Interventionen II
• Verringerung von Vereinsamungsgefühlen
• Reduzierung behandlungsbezogener Angst
• Reduzierung von Verzweiflung / Depression
• Verbesserung der allgemeinen
Lebensqualität
Formen der psycho-sozialen Hilfe
bei schweren und malignen Erkrankungen
(modif. nach Rüger und Friedrich)
•
•
•
•
Supportive Therapie
Beratungsgespräch
Krisenintervention
Symptomorientierte
Interventionen
• Psychotherapie im
engeren Sinne
• Kunst- und
Bewegungstherapie
• Angehörigenarbeit
• Gruppenarbeit
• Palliativ-Versorgung
/ Sterbebegleitung
Effektstärken psychosozialer
Interventionen auf LQ bei Krebspatienten
(Metaanalyse Rehse & Pukrop, Pat Educ Counsel 2003)
Zusammenfassung
• Trotz schwacher Evidenz sehen Krebspatienten
oft einen Einfluss psychosozialer Faktoren auf
die Entstehung ihrer Krebserkrankung
• Die Erkrankung bringt diverse Belastungen und
psychosoziale Folgeprobleme mit sich
• Der Verlauf wird vermutlich psychisch
mitbeeinflusst
• Eine psychoonkologische Mitbehandlung ist zur
Verbesserung von Krankheitsbewältigung und
Lebensqualität wirksam und oft indiziert
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