463 Die Extraktionstherapie entsteht durch Platzmangel oder ein Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße. Die achsengerechte Einordnung aller Zähne im Knochen kann nur durch die Extraktion bleibender Zähne gewährleistet werden. Nichtanlagen von Zähnen und die Dekompensation von Anomalien können ebenfalls eine Extraktionstherapie erfordern. Die Extraktionstherapie wird mit orthodontischen Apparaturen durchgeführt. Dabei hängt es wesentlich von der jeweiligen Anomalie ab, welche Mechanik eingesetzt wird. In unserem Behandlungskonzept verwenden wir eine modifizierte Gleitbogenmechanik in den meisten Angle-Klasse-I- und -III-Patienten (Abb. 1197). In Extraktionspatienten mit ausgeprägter Angle-Klasse II oder vertikalen Abweichungen ist häufig eine Teil- oder Segmentbogentechnik einzusetzen (Abb. 1195). 1194 Behandlungsmechanik Extraktionstherapie: Modifi­ zierte Gleitbogenmechanik Die modifizierte Gleitbogenmecha­ nik verwenden wir bei leichteren Ex­ traktionsfällen und den meisten Pati­ enten mit Angle-Klasse I oder III. Der dentale Platzmangel ist in diesen Fäl­ len eher moderat und damit die Be­ wegungsstrecke geringer und die Be­ wegungsrichtung biomechanisch günstiger. Die Gleitbogenmechanik ist im klinischen Handling einfacher, da sie besser kontrolliert werden kann. 1195 Behandlungsmechanik Extraktionstherapie: Segmentbogentechnik Die Segmentbogentechnik ist bei schwierigen Extraktionsfällen und der Behandlung erwachsener Patien­ ten indiziert. Durch die Teilbögen ist eine kontrollierte Biomechanik mög­ lich. So wird ein Jiggling-Effekt ver­ mieden und Einzelzähne oder Zahn­ gruppen können mehr körperlich bewegt werden. Zusätzlich können zahngruppenspezifisch Kraft- und Momentgröße gesteuert werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Extraktionstherapie Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie ■ Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie Die Extraktionstherapie ist die Folge von bestehendem Platzmangel, der nicht durch Distalisation, Protrusion oder Expansion gelöst werden kann. Der Platzmangel kann durch primären, sekundären oder tertiären Engstand entstehen und bedeutet in seiner Konsequenz, dass nicht alle Zähne in den Zahnbogen eingeordnet werden können. Die Einordnung der Zähne in den Zahnbogen ist wichtig für die Funktion und Ästhetik. Teil der Philosophie der Straight-Wire-Therapie ist die Ausrichtung der Zähne unter der Berücksichtigung von vorhandenem Knochen und ihrer dreidimensionalen axialen Position nach den 6 Schlüsseln der Okklusion durchzuführen (Andrews 1972). Die Grenzen der Möglichkeit einer Einordnung ohne Extraktion ergeben sich aus den individuellen anatomischen, genetischen und funktionellen Gegebenheiten der Patienten (s. Kap. Grundsätzliche Problematiken in der Kieferorthopädie). Sagittaler Engstand Der sagittale Engstand entsteht durch Aufwanderungen der Seitenzähne. Er wird auch als sekundärer Engstand bezeichnet (Northway et al. 1984). 1196 Problematik Extraktions­ therapie: Unterminierende Resorption Die unterminierende Resorption führt zu einem sagittalen Platzver­ lust, da der 1. Molar eine falsche Durchbruchsrichtung aufweist und den 1. Milchmolaren unterminierend resorbiert. In den meisten unserer Patienten ist, insbesondere im Ober­ kiefer, der Ausprägungsgrad so groß, dass eine Messingligatur nicht einge­ setzt werden kann. Die Extraktion des Milchmolaren ist das Therapie­ mittel der Wahl. 1197 Problematik Extraktions­ therapie: Mesialwanderung der Oberkiefermolaren Durch unterminierende Resorption oder frühzeitigen Verlust der Milch­ molaren im Oberkiefer wandern die 1. Molaren nach mesial. Hieraus ent­ steht bei einer ursprünglichen Klas­ se-I-Verzahnung eine Klasse II. Wan­ dern die Molaren 4 mm nach mesial, ist bei ungünstigem Schädelaufbau (vertikal oder retrognather Gesichtstyp) bei vielen Patienten bereits eine Extraktionstherapie unausweichlich. 1198 Problematik Extraktions­ therapie: Milchmolaren im Unterkiefer Aus Kariesgründen kann im Unterkie­ fer eine Extraktion von Milchmolaren erforderlich werden. Auch im Unter­ kiefer wandern die 1. bleibenden Molaren aufgrund einer Mesialwan­ derungstendenz nach mesial und führen zu einem sekundären oder sa­ gittalen Engstand. Bleibt dieser bis in das späte Wechselgebiss bestehen, kann bei 4 mm und ungünstigen ske­ lettalen Bedingungen (vertikaler Schädelaufbau) eine Extraktionsthe­ rapie erforderlich werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 464 Sagittaler Engstand 465 1199 Problematik Extraktions­ therapie: Mesialwanderung der Unterkiefermolaren Durch den frühzeitigen Verlust der Milchmolaren im Unterkiefer und die Mesialwanderung der 1. bleibenden Molaren entsteht bei einer ursprüng­ lichen Klasse-I-Verzahnung eine den­ tale Klasse-III-Anomalie. Im späten Wechselgebiss und bei fortgeschrit­ tenem Durchbruch der 2. Molaren ist bei ungünstigen skelettalen Bedin­ gungen eine Extraktionstherapie angezeigt. Zeigt sich im OPT eine enge Keimla­ ge im posterioren Bereich in ausge­ prägtem Maße, sodass sich der Keim des 2. Molaren über dem 1. Molaren projiziert, besteht nach Björk (1977) posterior zu wenig Platz, um alle Zähne in den Zahnbogen einzuord­ nen. Gleiches gilt ebenfalls, wenn der Keim des Weisheitszahns um 90 ° gedreht oberhalb des 2. Molaren projiziert wird. 1201 Problematik Extraktions­ therapie: Keimlage Das OPT dieses Patienten zeigt im posterioren Bereich (im Gegensatz zu Abb. 1200) eine günstige Keimla­ ge. Bei prognostisch günstigem Wachstum (neutrales oder horizon­ tales Wachstumsmuster) und recht­ zeitigem Therapiebeginn ist eine sa­ gittale Platzbeschaffung und Einordnung aller Zähne in den Zahn­ bogen zu erwarten. 1202 Problematik Extraktions­ therapie: Distalisations­ abschätzung FH NL × mm ML Zur Abschätzung eines möglichen Platzgewinns durch Distalisation ist die sagittale Messung am FRS von der posterioren Begrenzung des Mo­ laren bis zur Pterygoidsenkrechten hilfreich. Der Sollwert wird durch das Alter des Patienten ± 3 mm ermittelt und mit dem gemessenen Ist-Wert verglichen. Die Differenz stellt das posteriore Platzangebot dar (nach Ricketts et al. 1982). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 1200 Problematik Extraktions­ therapie: Keimlage Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie Der sekundäre Engstand wird durch unterminierende Resorption der 1. Milchmolaren durch die 1. bleibenden Molaren oder durch frühzeitigen Verlust der 2. Milchmolaren aus Kariesgründen verursacht (Abb. 1196 –Abb. 1199). Als weitere Kausa kann ein sagittaler Engstand entstehen, wenn die 2. Milchmolaren aufgrund einer Nichtanlage in eine starke Infraposition gelangen und der Milchzahn keine sagittale Abstützung für den 1. bleibenden Molar darstellt. Der sagittale Engstand kann ein- oder beidseitig und im Ober- oder Unterkiefer vorkommen und führt zu einer verkleinerten Stützzone mit einer Veränderung des Okklusionsbefunds. Eine ursprüngliche Klasse-I-Verzahnung wird dann bei Kausa im Oberkiefer zu einer Klasse II (Abb. 1196 u. Abb. 1197) und bei Kausa im Unterkiefer zu einer Klasse-III-Anomalie (Abb. 1198 u. Abb. 1199). Eine Klasse-II-Anomalie kann bei Kausa im Oberkiefer verstärkt oder durch Aufwanderungen im Unterkiefer abgeschwächt werden. Klasse-III-Anomalien werden durch Aufwanderungen der Molaren im Oberkiefer abgeschwächt oder zu einer Klasse I und bei Molarenaufwanderungen im Unterkiefer verstärkt. Differenzialdiagnostisch ist für die Extraktionstherapie der retromolare Raum entscheidend (Abb. 1200–Abb. 1202). Ist nicht genügend Platz vorhanden, kann der Engstand nur durch Extraktion von bleibenden Zähnen ausgeglichen werden. 1203 Problematik Extraktions­ therapie: Transversaler Engstand, primärer Engstand Bei der Patientin besteht neben dem transversalen Engstand auch ein Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße (primärer Engstand). Die transversale Expansion im Oberkiefer alleine kann das Platzproblem der Patientin nicht lösen. 1204 Problematik Extraktions­ therapie: Transversale Expansion, GNE Der transversale Engstand der Pati­ entin ergibt sich aufgrund der knö­ chernen Situation und der daraus re­ sultierenden transversalen Achsenposition (nach Schwarz 1961) im Ober- und Unterkiefer (links). Un­ abhängig von der Extraktionsent­ scheidung ist eine GNE erforderlich (rechts). 1205 Problematik Extraktions­ therapie: Nach GNE Nach durchgeführter GNE wird deut­ lich, dass durch transversale Expansi­ on eine Extraktionstherapie nicht vermieden werden kann. Gleiches gilt für Expansionen durch orthodon­ tische Bögen. Die Extraktionsent­ scheidung ergibt sich aus dem pri­ mären Engstand und der Achsenposition der Inzisivi. Der Schä­ delaufbau der Patientin ist vertikal. 1206 Problematik Extraktionsthe­ rapie: Prämolarenextraktion Für die Korrektur des Missverhältnis­ ses zwischen Zahn- und Kiefergröße ist die Extraktion der 1. Prämolaren das Mittel der Wahl, da die Fronten aufgerichtet und therapeutisch eine modifizierte Gleitbogenmechanik angewendet werden kann. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 466 Transversaler Engstand Der transversale Engstand ist meist durch knöcherne Verhältnisse verursacht. Insbesondere bei Klasse-II-Anomalien, Patienten mit vertikalem Schädelaufbau und offenem Biss kann ein transversaler Engstand oder Schmalkiefer auftreten. Als Folge des transversal geringen Knochenangebots kippen die Seitenzähne im Oberkiefer nach vestibulär (Abb. 1203 u. Abb. 1204). Ist der Oberkiefer als Schmalkiefer betroffen, kompensiert der Unterkiefer häufig mit einer Lingualkippung der Seitenzähne. Ein distaler Zwangsbiss oder Kreuzbiss ist bei vielen Patienten die Folge, da die Zähne nicht mehr suffizient okkludieren können. Bei KlasseIII-Anomalien kann eine Lingualkippung der Unterkiefermolaren aufgrund eines zu großen Unterkiefers bestehen. Das Ausmaß der GNE richtet sich demnach nach der axialen Position, dem transversalen Engstand im Oberkiefer und dem Ausmaß der erforderlichen vestibulären Aufrichtung im Unterkiefer oder einer Kombination aus beidem (Abb. 1209). Die WALA-Ridge, WilsonKurve und Achsenposition der Seitenzähne im Oberkiefer können zur Bestimmung des transversalen Engstands eingesetzt werden (Andrews u. Andrews 2000, Wilson 1911, Bocquet-Moreau et al. 2005) (Abb. 1207). Die Korrektur des transversalen Engstands erreicht jedoch nur bedingt sagittalen Platzgewinn und ersetzt nicht die Extraktionsentscheidung (Abb. 1203– Abb. 1206). Die intercanine Distanz im Unterkiefer sollte in der orthodontischen Phase nicht durch Expansion verändert werden (Abb. 1208) (Stöckli 1994, Moorrees 1959). 1207 Problematik Extraktions­ therapie: WALA­Ridge Die WALA-Ridge ist ein gutes klini­ sches diagnostisches Mittel für die Beurteilung des transversalen Kno­ chenangebots (Andrews u. Andrews 2000). Bei Aufsicht auf den Kiefer ist bei guten knöchernen Verhältnissen die WALA-Ridge sichtbar und die Sei­ tenzähne können aufgerichtet wer­ den. Ist die WALA-Ridge nicht sicht­ bar, sollte auf eine posteriore Expansion verzichtet werden. 1208 Problematik Extraktions­ therapie: Intercanine Distanz im Unterkiefer Die intercanine Distanz im Unterkie­ fer darf nur in Ausnahmefällen bei Patienten mit Deckbiss verändert werden (Mitte). Eine anteriore trans­ versale Dehnung im Unterkiefer rezi­ diviert und ist daher kontraindiziert (Stöckli 1976, Moorrees 1959). In der orthodontischen Therapie sind deshalb individualisierte Bögen ein­ zusetzen. Eine anteriore Dehnung im Unterkiefer kann nur durch eine Dis­ traktion erfolgen. 1209 Problematik Extraktions­ therapie: Wilson­Kurve Anhand der Achsenposition im Ober­ kiefer (Schwarz 1961) und der Dar­ stellung der Wilson-Kurve (Wilson 1911) wird das Ausmaß der erforder­ lichen transversalen Dehnung im Oberkiefer deutlich. Für den Oberkie­ fer ist eine bukkale Wurzel- und im Unterkiefer eine vestibuläre Kronen­ bewegung erforderlich. Auch in Ex­ traktionsfällen setzen wir bei diesen Patienten immer eine GNE ein. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Transversaler Engstand 467 Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie Primärer Engstand Der primäre Engstand ergibt sich aus einer Persistenz des Knospenzustands der Keimanlagen (Howe et al. 1983). Ursächlich hierfür ist ein Missverhältnis von Zahn- und Kiefergröße. Ein wichtiger diagnostischer Hinweis ist in der Modellanalyse der SIOK (Summe der mesiodentalen Breite der Inzisivi im Oberkiefer). Ist der SIOK ≥ 34 mm, kann von einem Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße ausgegangen werden. Besteht eine solche Zahnbreitendiskrepanz bzw. sind die mesiodistalen Breiten der Zähne im Zahnbogen zu groß, ist eine Extraktionstherapie indiziert (Abb. 1203–Abb. 1206). Eine Kompensation ist limitiert durch die Achsenposition der Frontzähne. Eine Einordnung aller Zähne in den Zahnbogen hätte eine Protrusionsstellung der Inzisivi zur Folge. Bei kleiner apikaler Basis transversal und sagittal kann dies zu Gingivadehiszenzen führen und ist daher nicht indiziert (Abb. 1212). Insbesondere im Unterkiefer ist die vestibuläre Knochenlamelle sehr dünn (Abb. 1210 u. Abb. 1211). Zusätzlich ist zu beachten, dass bei orthodontischen Bewegungen von mehr als 3° eine instabile Zahnposition eingestellt wird (Alexander 2008, Elms et al. 1996 a, b, Glenn et al. 1987). Der Kontrolle der Inzisivi im Unterkiefer kommt in der orthdontischen Therapie eine besondere Bedeutung zu (Alexander 2008). Neben den knöchernen Parametern, die die Achsenposition der Frontzähne vorgeben, sind funktionelle Gegebenheiten wie Lippenschluss, Wangen- und Zungenfunktion zu berücksichtigen (Alexander 2011). 1210 Problematik Extraktions­ therapie: Kompensation, primärer Engstand Bei Patienten mit Engständen ent­ steht besonders während der Nivel­ lierung ein proklinierender Effekt. Im ungünstigen Fall kann, wie bei dieser Patientin, der Zahn vestibulär aus dem Knochen bewegt werden. Die Kompensation eines Extraktionsfalls durch Protrusion eines achsenge­ recht oder bereits protrudierten Zah­ nes ist nicht indiziert. 1211 Problematik Extraktions­ therapie: Kompensation, primärer Engstand Bei dem erwachsenen Patienten er­ folgte eine Korrektur des Engstands durch Slicen mit einer Lingualappara­ tur. Trotzdem entstand durch die zu­ sätzliche Anwendung von Klasse-IIZügen ein proklinierender Effekt, der zu einer Gingivarezession führte. In Grenzfällen zur Extraktion sollte da­ her auf reine Gleitbogenmechaniken verzichtet werden. 1212 Problematik Extraktions­ therapie: Kompensation, transversaler Engstand Wird ein transversaler oder primärer Engstand durch eine unkontrollierte Kippung nach bukkal mit orthodonti­ schen Bögen und nicht über eine GNE durchgeführt, können Dehiszen­ zen auch bukkal entstehen, wenn die apikale Basis klein und das transver­ sale Knochenangebot gering ist. Die Kompensation eines Extraktionsfalls durch Dehnung ist daher nicht indi­ ziert. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 468 Tertiärer Engstand Der tertiäre Engstand ist eine Anomalie bei erwachsenen Patienten und bezieht sich auf den Frontengstand, insbesondere im Unterkiefer. Die Ursachen hierfür sind multifaktoriell und bis heute nicht eindeutig geklärt. Der tertiäre Engstand kann sowohl bei orthodontischen Patienten mit Extraktion als auch bei Nonextraktionspatienten auftreten, wenngleich prozentual der tertiäre Engstand in den Extraktionspatienten etwas seltener vorkam (Dausch-Neumann 1988, Forsberg 1988, Dreyer u. Klink-Heckmann 1988, Lindqvist u. Thilander 1982). Aber auch nicht orthodontisch behandelte Patienten können im Erwachsenenalter einen Engstand entwickeln (Abb. 1213) (Meng et al. 1985). Die Extraktionstherapie kann einen tertiären Engstand nicht vermeiden. Der tertiäre Engstand ist damit eine neue Anomalie im Erwachsenenalter. Einflussfaktoren wie die fehlenden Attrition, noch ablaufende Wachstumsprozesse und eine zunehmende Verwindung des Unterkiefers durch Zunahme der Masseterfunktion werden diskutiert (Koeck u. Sander 1978). Der Weisheitszahn hat dagegen keinen wesentlichen Einfluss, (Gouvianakis u. Drescher 1987, Kahl-Nieke 1996, Little 1999). Die Extraktionstherapie der Prämolaren nur im Oberkiefer ist nur in Ausnahmefällen indiziert, da die meisten Patienten sekundär im Follow up einen tertiären Engstand aufweisen (Abb. 1214). Auch die Extraktion eines Frontzahns zur Engstandkorrektur bei jugendlichen Patienten ist kontraindiziert, da trotzdem ein tertiärer Engstand entstehen kann (Abb. 1215). 1213 Problematik Extraktions­ therapie: Tertiärer Engstand, ohne Extraktion Auch bei Patienten, bei denen keine kieferorthopädische Therapie durch­ geführt wurde, kann ein tertiärer Engstand entstehen. Daher sollte im jugendlichen Alter ein Engstand nicht durch umfangreiches Slicen therapiert werden, damit im Erwach­ senenalter eine biologisch günstige, konservative und wenig invasive The­ rapie durchgeführt werden kann. 1214 Problematik Extraktions­ therapie: Tertiärer Engstand, Extraktion 14, 24 Bei alleiniger Extraktion im Oberkie­ fer zeigen die meisten unserer Pati­ enten im Follow up einen tertiären Engstand oder bei festsitzenden Re­ tainern einen Kopf- oder Kreuzbiss der Front. Die Prämolarenextraktion nur im Oberkiefer sollte nur mit ein­ geschränkter Indikation angewendet werden, wenn weder Protrusion noch Engstand im Unterkiefer vorlie­ gen. 1215 Problematik Extraktions­ therapie: Tertiärer Engstand, Extraktion 14, 24, 31 Die Extraktionstherapie sollte am Schluss der Behandlung möglichst eine harmonische Breitenrelation zwischen Ober- und Unterkiefer auf­ weisen, andernfalls ist ein Wieder­ auftreten des Engstands wahrschein­ lich. Frontzahnextraktionen sollten aufgrund eines möglichen tertiären Engstands nicht vor dem 45. Lebens­ jahr durchgeführt werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Tertiärer Engstand 469 Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie Extraktionskriterien Extraktionsentscheidung • • • • • • • • • • Die Extraktionskriterien ergeben sich aus dem Platzmangel an sich, der durch ein Missverhältnis von Kiefer- und Zahngröße, Mesialwanderung der Seitenzähne und Einengung der Stützzone, Protrusion der Front, Platzbedarf zur Nivellierung der Spee-Kurve und Platzbedarf bei dentalen Mittenabweichungen entstehen kann. Aber auch der Schädelaufbau oder das Wachstumsmuster und das vorhandene Knochenangebot fließen mit ein. Platzbeschaffende Maßnahmen bei vertikalem Wachstumstyp sind für die Therapie häufig aufgrund des bissöffnenden Effekts nur eingeschränkt indiziert. 1216 Extraktionskriterien Neben den Engständen sind für die Extraktionsentscheidung der Eng­ stand im Stützonenbereich (mesiale Aufwanderungen) und die sagittale und axiale Position der Frontzähne zu berücksichtigen. Der Fronteng­ stand im Oberkiefer ohne Protrusion kann, bei geringerem Ausprägungs­ grad, durch die GNE in vielen Fällen gelöst werden. Engstand und Protru­ sion im Oberkiefer können in der Angle-Klasse II, bei dentaler Klasse II und moderater skelettaler Klasse II durch Distalisation therapiert wer­ den. Ist der Schädelaufbau jedoch vertikal, ist eine größere Distalisati­ on, aufgrund des bissöffnenden Effektes, nicht möglich. ln der AngleKlasse I oder III besteht die Möglichkeit der alleinigen Distalisation im Oberkiefer nicht. Bei bialveolär pro­ trudierten Fronten mit Engstand ist unabhängig von der Angle-Klasse und Wachstumstyp eine Extraktions­ therapie indiziert. Extraktionskriterium Diagnose Extraktion Nonextraktion Stützzoneneinengung im Oberkiefer • Distalisation bringt Bissöff­ nung bei vertikalem Schä­ delaufbau • Distalisation der Molaren bei neut­ ralem oder horizontalem Schädelaufbau, auch über größere Stre­ cken (8 mm) möglich Stützzoneneinengung im Oberkiefer Unterkiefer 1NB ≤ 25° und 1NB ≤ 4 mm • Distalisation öffnet den Biss • Oberkiefer Distalisation • Unterkiefer Protrusion Frontengstand im Unterkiefer 1NB > 25° und 1NB > 4 mm • Platzbeschaffung durch Protrusion nicht möglich • keine Nonextraktionstherapie, da Platzbeschaffung im Unterkiefer nicht möglich Stützzoneneinengung im Ober- und Unterkiefer 1NB > 25°; 1NB > 4 mm • Distalisation öffnet den Biss • keine Protrusion möglich • keine Nonextraktionstherapie möglich durch Unterkieferprotrusi­ on Frontengstand im Oberkiefer mit Schmalkiefer • bei größerem Platzbedarf Dehnen nicht ausreichend • bei geringerem Platzbedarf kann durch Dehnung Engstand korrigiert werden Angle-Klasse I, Zahnbogenengstand der Ober- und Unterkieferfront, retrudierte Fronten 1NA < 22°, 1NA < 4 mm, 1NB < 25°, 1NB < 4 mm • unerwünschte Bissöffnung durch Protrusion • Protrusion und transversale Erwei­ terung ergeben Platz ausgeprägte Bolton-Diskrepanz • ab 2. Standardabweichung Extraktion • kann bis 4 mm durch Slicen kom­ pensiert werden Angle-Klasse II, protrudierte Fronten 1NA > 22°, 1NA > 4 mm, 1NB > 25°, 1NB > 4 mm • bei sagittal kleiner apikaler Basis Extraktion • keine Nonextraktionstherapie möglich, da bialveoläre Protrusion 1217 Extraktionskriterien: Achsenposition der Fronten Die Achsenposition der Inzisivi ist ne­ ben dem Engstand ein wichtiges Kri­ terium für die Extraktionsentschei­ dung. Bei stark abweichenden Kieferbasen (NL-NSL und ML-NSL) kann dies jedoch verfälscht sein und 1NL und 1ML sind dann die diagnos­ tischen Winkel, die die korrekte Ach­ se zur Kieferbasis widerspiegeln. Mesialwanderung der Seitenzähne Protrusion der Frontzähne verstärkte Spee-Kurve und ungünstige Achsenposition der Frontzähne dentale Mittenabweichung Missverhältnis Zahn-, Kiefergröße ausgeprägte Engstände ausgeprägte Bolton-Diskrepanz dentale Kompensation offener Biss, Angle-Klasse II Karies Ausgleichsextraktion bei Nichtanlage N S N S NL NL ML ML Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 470 Extraktionskriterien gen Zusammenhang mit dem noch stattfindenden Wachstum, insbesondere im Unterkiefer, bei dem jugendlichen oder jungen erwachsenen Patienten (Björk 1969). Die Möglichkeiten der Platzgewinnung durch Protrusion sind daher auch individuell eingeschränkt. Therapeutische Maßnahmen zur Platzgewinnung sind funktionell, anatomisch und biomechanisch nach dem Schädelaufbau der Patienten zu selektieren (Tab. 1218). Platzbeschaffende Maßnahmen bei vertikalem Schädelaufbau führen entweder zu einer unerwünschten Bisshebung oder sind weniger effektiv. Auch die therapeutischen Maßnahmen unterscheiden sich in ihrer Effizienz bei vertikalem oder horizontalem Schädelaufbau. therapeutische Maßnahme neutraler/horizontaler Schädelaufbau vertikaler Schädelaufbau transversale Dehnung • mit aktiven Platten oder GNE möglich • Bissöffnung erwünscht • GNE • Dehnung mit aktiven Platten öffnet den Biss Protrusion der Frontzähne • sagittal häufig ausreichend apikale Basis • Bissöffnung erwünscht • sagittale kleine apikale Basis • Bissöffnung muss kontrolliert werden Distalisation • retromolar häufig genügend Platz, Distali­ sation 1 Pb unproblematisch • Distalisationsmechaniken können einge­ setzt werden • retromolar wenig Platz, nur geringe Dista­ lisation möglich (2 bis maximal 4 mm). • Eingeschränkte orthodontische Mechani­ ken Funktionskiefer­ orthopädie • Alle funktionskieferorthopädischen Appa­ raturen können eingesetzt werden. • skelettale Anomalien Sander-II- oder -III-Ap­ paratur • Sander-II-Apparatur • Sander-III-Apparatur • Federaktivator Extraktionstherapie • bei frühem Behandlungsbeginn und 2-Pha­ sen-Therapie in 80–90% der Patienten Nonextraktionstherapie möglich • aufgrund der eingeschränkten Mechani­ ken zur Platzbeschaffung häufiger Extrakti­ on 40%–50% Straight-WireMechanik • Andrews-Technik • Benett-McLaughlin-Trevesi-Technik (Gleit­ bogenmechanik) • Benett-McLaughlin-Trevesi-Technik (modifi­ zierte Gleitbogenmechanik/Teilbogentech­ nik • High-Torque-Brackets Setzen der Brackets • 0,5 mm weiter inzisal zur Korrektur des Overbites • 0,5 mm weiter apikal zur Korrektur des Overbites • bei Extraktionspatienten Mitte klinische Krone 1218 Einfluss des Schädelaufbaus oder Wachstumsmusters auf die Therapie­ und Extrakti­ onsentscheidung Das Wachstumsmuster oder der Schädelaufbau der Patienten haben einen Einfluss auf die Extraktionsent­ scheidung. Therapeutische Maßnah­ men zur Platzbeschaffung wie trans­ versale Dehnung, Protrusion der Front und Distalisation der Molaren sind bei einem vertikalen Schädelauf­ bau nur eingeschränkt indiziert. Dies steht in einem engen Zusammen­ hang mit der knöchernen Situation dieser Patienten. Bei Patienten mit einem horizontalen Schädelaufbau ist das Knochenangebot meist trans­ versal und sagittal ausreichend für die Durchführung von Zahnbewe­ gungen in allen 3 Ebenen des Rau­ mes. Bei vertikalem Schädelaufbau findet sich bei ausgeprägten Patien­ ten eine kleine knöcherne Basis transversal und sagittal. Dies schränkt neben der Tendenz zum of­ fenen Biss die therapeutischen Bewe­ gungsmöglichkeiten erheblich ein. Zusätzlich kommt hinzu, dass kon­ servative Mechaniken bei Patienten mit vertikalem Schädelaufbau zur Platzbeschaffung weniger effektiv sind. Aus diesen Gründen ist die Möglichkeit, Patienten mit vertika­ lem Schädelaufbau per Nonextrakti­ on zu behandeln, eingeschränkt und die Indikation zur Extraktion wird bei bestehendem Platzmangel eher ge­ stellt. Bei ausgeprägtem Platzmangel ist die Extraktionstherapie auch bei horizontalem Schädelaufbau erfor­ derlich. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die einfachste Möglichkeit, Platz in der orthodontischen Therapie zu gewinnen, ist die Protrusion oder Proklination der Frontzähne im Ober- und Unterkiefer. Gleichzeitig ist jedoch die anatomisch vorgegebene Position der Zähne im Knochen zu gewährleisten. Daher kommt der Betrachtung der Frontzahnachsen eine besondere Bedeutung zu (Tab. 1216). Nicht jede bestehende Frontzahnprotrusion führt dabei zu Extraktionsentscheidung. Zusätzliche Parameter wie Engstand und oder die Funktion der Muskulatur und der Schädelaufbau der Patientin fließen mit ein. Langzeituntersuchungen von orthodontisch behandelteten Patienten zeigen, dass sich die Frontzahnachsen tendenziell in die Ausgangsposition oder darüber hinaus aufrichten (Little et al. 1981, Lombardi 1972, Siatkowski 1974). Dies steht in einem en- 471 Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie VTO schem Bewegungsplan der Einzelzähne und Zahnsegmente (McLaughlin und Bennett 1999). Insbesondere in Klasse-II-Anomalien ist bei größeren Platzdefiziten eine zusätzliche Distalisation der Oberkiefer-Molaren erforderlich (Abb. 1220 –Abb. 1223). Während der orthodontischen Extraktionstherapie ist ein visualisierter Bewegungsplan ein wichtiges Hilfsmittel (Abb. 1219). Für die Extraktionsentscheidung ist eine genaue Platzanalyse erforderlich. Dabei muss entschieden werden, wie das Verhältnis von Platzbedarf und Platzangebot ist und ob der Platzbedarf durch therapeutische Maßnahmen Distalisation, Protrusion, Expansion und Slicen ausgeglichen werden kann oder ob eine Extraktionstherapie erforderlich ist. Das VTO (Visual Treatment Objectives) (Abb. 1219) ist die Visualisierung des bestehenden Platzmangels, die sich aus der Diagnostik der Modellanalyse und Kephalometrie ergibt, und der Therapieplan mit orthodonti- Vorteile VTO • Platzangebot/Platzbedarfsanalyse • Einbezug der Molaren zur Einstellung einer Angle-Klasse I • Bewegungsplan für orthodontische Therapie 1219 VTO Bei Anwendung des VTO (McLaugh­ lin u. Bennett 1999) wird primär der Anfangsbefund der Okklusion festge­ halten und die Molarenposition in ei­ nem dem Zahnarztschema vergleich­ baren Schaubild eingetragen. Mittenabweichungen der Front wer­ den ebenfalls notiert. So kann später die Molarenposition bei der Platzbe­ darfsanalyse und dem orthodonti­ schen Bewegungsplan bei Extrakti­ onspatienten berücksichtigt werden. In einem weiteren Schritt werden Platzangebot (+) und Platzbedarf (-) eingetragen. Das Platzdefizit ergibt sich durch gemessene Engstände in der Front (3–3) und im Seitenzahn­ bereich (6–6), dental der Mittenab­ weichung (Frontmittenverschie­ bung), Protrusion der Front und Nivellierung der Spee-Kurve. Das Platzangebot ergibt sich durch Lee­ way Space, Mittenabweichung und Retrusion der Front. Anfangsbefund Okklusion 1 mm 1/2 Pb Molarenposition Platzanalyse Platzangebot (+) Platzbedarf (–) 1. Korrektur der Mittenabweichung (Frontmitte), Ober- und Unterkiefer 2. Platzbedarf für UK-Eckzähne 3–3 (Beispiel 10 mm) 3. Bewegung des 1. UnterkieferMolaren für den Lückenschluss (Dif­ ferenz aus Platzangebot durch Ex­ traktion [7 mm] und Bewegung des 3ers [5 mm]; 7 mm – 5 mm = 2 mm) 5. Bewegung des OK-Eckzahns (Ex­ traktionslücke [7 mm] + Distalisation OK-Molar [2 mm] = 9 mm) Beispiel: Die Analyse zeigt visualisiert, dass vor der orthodontischen Therapie eine Distalisation der Molaren erfor­ derlich ist und die Molaren im Ober­ kiefer maximal verankert werden müssen. Molarenposition Frontmitte (UK 1 mm rechts) Der orthodontische Bewegungsplan wird anhand eines Schaubilds festge­ halten. Folgende Parameter werden eingetragen: 4. Bewegung des OK-Molaren (Diffe­ renz Angle-Klasse II und Mesialisie­ rung UK-Molar, bei Klasse II ½ Pb [Prämolarenbreite] 4 mm – 2 mm = 2 mm) 1/2 Pb Bewegungsplan Eckzahn Molar 2 –3 –1 –3 –1 –2 –2 –1 –1 +1 –1 –5 –5 –5 –5 3×3 Engstand UK 6×6 Protrosion/ Retrusion Nivellierung Spee-Kurve Mittellinie 3×3 total UK 6×6 Mitte 9 Eckzahn Molar 2 9 (7) (7) (7) (7) 1 5 2 5 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 472 VTO 473 1220 Problematik Extraktions­ therapie: Zusätzliche Distalisation im Oberkiefer Trotz Extraktionstherapie kann es bei Angle-Klasse-II-Patienten und Protru­ sion und Engstand der Unterkiefer­ front zu einem zusätzlichen Distalisa­ tionsbedarf im Oberkiefer kommen. Der Platz, der durch Extraktion der Prämolaren gewonnen wird, wird durch die Retrusion der Unterkiefer­ front aufgebraucht. Dies macht bei Angle-Klasse II eine zusätzliche Dista­ lisation im Oberkiefer erforderlich. Die zusätzlich erforderliche Distalisa­ tion kann in diesen schwierigen Extraktionspatienten vor der ortho­ dontischen Therapie mit Distalisationsapparaturen oder wäh­ rend der Führungsphase der ortho­ dontischen Behandlung mit NiTiDruckfedern erfolgen. Aufgrund der Distalrotation und Nebeneffekte der Front (Protrusion) ist jedoch das Aus­ maß der Distalisation in der Füh­ rungsphase auf 2–3 mm begrenzt. Die Oberkieferfront wird über KlasseII-Züge verankert. 1222 Problematik Extraktions­ therapie: Distalisation Ober­ kiefer, NiTi­Druckfeder, Mikroschraube und TPA Wird die NiTi-Druckfeder mit einer Mikroschraube kombiniert, kann zu­ sätzlich ein TPA eingesetzt werden. Die Front muss nicht über Klasse-IIZüge verankert werden. Dies ist bei vertikalem Schädelaufbau oder, wie bei dieser Patientin, bei parodonta­ len Problemen in der Front von Vor­ teil. Eine Distalisation des 1. und 2. Molaren kann bei Angle-Klasse II und Extraktion bis 4 mm erfolgen. 1223 Problematik Extraktions­ therapie: Distalisation Oberkiefer, Gleitbogen Mit einem zusätzlich gebogenen Teil­ bogen aus einem runden Laborstahl­ draht kann ebenfalls über eine Klas­ se-II-Zug-Mechanik ein geringer Distalisationseffekt von 2 mm erzielt werden. Die Limitation bei Extrakti­ onspatienten ergibt sich aus der Kon­ traindikation von Klasse-II-Zügen bei vertikalem Schädelaufbau und der zeitlich zu begrenzenden Anwen­ dung von Klasse-II-Zügen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 1221 Problematik Extraktions­ therapie: Distalisation Ober­ kiefer, NiTi­Druckfeder Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie Restlücken Nach Extraktionstherapie können Restlücken zurückbleiben. Die Ursachen hierfür können unterschiedlich sein. In der Anfangsdiagnostik oder spätestens vor dem Lückenschluss sollte bei Extraktionspatienten eine Bolton-Analyse durchgeführt werden, um etwaige Adhäsivaufbauten mit einzuplanen. Restlücken können auch entstehen, wenn trotz Extraktionstherapie im Unterkiefer noch eine Protrusion der Front besteht. Für den Lückenschluss müsste die Oberkieferfront ebenfalls übertorquet werden. Obwohl die Ätiologie der Gingivaduplikatur kontrovers diskutiert wird (Reichert et al. 2012, Wehrbein et al. 1993, 1995), konnten wir bei unseren Patienten beobachten, dass zu schnelle Bewe- gungen von Zähnen durch Ketten oder Klasse-II-Züge zu Gingivaduplikaturen und einer Öffnung der Extraktionslücke führen können (Abb. 1224–Abb. 1226). Restlücken nach Extraktionstherapie • Bolton-Diskrepanz (zu schmale Schneidezähne im Oberkiefer) • Protrusion der Unterkieferfront (kein Lückenschluss im Oberkiefer mög­ lich) • Gingivaduplikaturen • zu schnelle Bewegung der Zähne 1224 Problematik Extraktions­ therapie: Restlücken Bei dem Patienten wurde im Ober­ kiefer ein Frontengstand durch Ex­ traktion von 2 Prämolaren durchge­ führt und mit einer orthodontischen Straight-Wire-Apparatur die Lücken geschlossen. Bei dem Patienten lag eine Bolton-Diskrepanz vor, die so­ wohl die anteriore als auch posterio­ re Ratio betrifft. Die Prämolaren im Oberkiefer sind schmal. 1225 Problematik Extraktions­ therapie: Restlücken Bei dem Patienten zeigt sich im Ver­ lauf der Retention eine Öffnung der Extraktionslücke posterior des Eck­ zahns. Ober- und Unterkieferfront sind über einen festsitzenden Retai­ ner stabilisiert. Da die Okklusion kor­ rekt ist, kann die Lücke nur durch ei­ nen Aufbau am Prämolaren und Eckzahn geschlossen werden. Die Re­ tention kann dann bis zum Prämola­ ren expandiert werden. 1226 Problematik Extraktionsthe­ rapie: Gingivaduplikaturen Als Nebeneffekt des Lückenschlusses bei Extraktionspatienten können Gin­ givaduplikaturen auftreten. Diese führen nach Entfernung der ortho­ dontischen Apparatur zu einer Öff­ nung der Extraktionslücke und sind daher zu vermeiden. Bei Auftreten müssen sie chirurgisch entfernt und die Lücke dann geschlossen werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 474 Resorptionen Bei der Extraktionstherapie werden die Zähne, insbesondere bei der Klasse-II-Anomalie, im Oberkiefer über größere Strecken bewegt. Dies ist ein Risikofaktor für Resorptionen (Taner et al. 1999). Die Kompensation von Klasse-II-Anomalien im permanenten Gebiss durch Extraktionstherapie wird daher in unserem Behandlungskonzept auf einen Overjet von 3–4 mm begrenzt. Auch der Tiefbiss kann in einem Extraktionspatienten das Ausmaß oder die Strecke der Wurzelbewegung erhöhen. Zur Reduktion der auftretenden Spannungen an der Wurzelspitze gehen wir in unserem Behandlungskonzept zweiphasig vor. Im ersten Schritt wird die Front vor der Kontraktionsphase intrudiert. In der zweiten Phase wird dann die Front retrahiert. Dies ist nur möglich, wenn die Front nicht protrudiert steht, da protrudierte Inzisivi nur unzureichend intrudiert werden können (s. Kap. Behandlung des Tiefbisses). Gleichzeitig werden durch initiale Intrusion vor der Retraktion Frühkontakte und Jiggling der Inzisivi während der Retraktion vermieden (Abb. 1227–Abb. 1229). Orthodontische Resorptionsrisiken: Extraktionstherapie • Overjet ≥ 3–4 mm, zu schmale Schneidezähne im Oberkiefer • Tiefbiss • Bewegungsstrecke der Wurzeln im Oberkiefer • allgemeine, nicht extraktionsspezifische Gründe (s. Kap. Grundsätzliche Problematiken in der Kieferorthopädie) 1227 Problematik Extraktions­ therapie: Orthodontische Resorptionsrisiken Bei der Patientin zeigt sich eine Angle-Klasse II/1 mit stark vergrößer­ tem Overjet. Sagittal besteht eine kleine apikale Basis. Zur Kompensation der Klasse-II-Anomalie wurden im Oberkiefer 2 Prämolaren extra­ hiert und die Front retrahiert. Bei ei­ nem Overjet von ≥ 3–4 mm besteht ein erhöhtes Risiko für Resorptionen. 1228 Problematik Extraktions­ therapie: Röntgenbilder vor und nach der orthodonti­ schen Extraktionstherapie Die Einzelaufnahmen vor (links) und nach der Korrektur der Klasse-II-Ano­ malie (rechts) zeigen bei der Patien­ tin im Bereich der Oberkieferfront Resorptionen. Neben allgemeinen Faktoren ist die große Bewegungs­ strecke sagittal und vertikal ein zusätzlicher Faktor. Bei achsenge­ rechten Inzisivi und skelettaler Kom­ ponente ist bei Klasse-II-Anomalien die orthognathe Chirurgie zu bevor­ zugen. 1229 Problematik Extraktions­ therapie: Resorptionen, 2­Phasen­Therapie Zur Reduktion der Bewegungsstre­ cke in Extraktionsfällen wenden wir bei Klasse-II-Anomalien und im Wachstum befindlichen jugendlichen Patienten die 2-Phasen-Therapie an und versuchen, ausschließlich durch orthodontsche Maßnahmen, die Kompensation eines großen Overjets zu vermeiden. Die systematische Ex­ traktionstherapie kann dabei auch bei vertikalem Schädelaufbau mit der Sander-II-Apparatur kombiniert werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Resorptionen 475 Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie Segmentbogentechnik Die Segmentbogentechnik setzen wir bei Extraktionspatienten mit Protrusion und Engstand, Zahnbewegungen ≥ 4 mm, ausgeprägter Angle-Klasse II und Overjet von ≥ 4 mm ein (Abb. 1230– Abb. 1232). Durch die Segmentbogentechnik wird in diesen Fällen sichergestellt, dass ein Jiggling und damit eine biologisch ungünstige Zahnbewegung vermieden wird. Bei größeren Bewegungsstrecken ermöglicht der Teilbogen, die in der Gleitbogenmechanik ungünstigen Friktionskräfte zwischen Bogen und Bracket während der Führungsphase zu vermeiden. Damit ist es möglich, einen Großteil der Patienten ohne maximale Verankerung zu therapieren. Indikation Segmentbogentechnik mit Extraktionstherapie • Protrusion und Engstand der Front • Zahnbewegung ≥ 4 mm • Angle-Klasse II > ½ Prämolarenbreite (Pb) • Retraktion der Front ≥ 4 mm • ausgeprägter Tiefbiss 1230 Problematik Extraktions­ therapie: Segmentbogen­ technik, Eckzahnretraktion Teilbögen können zur Distalisation des Eckzahns in Extraktionspatienten eingesetzt werden. Die Indikation er­ gibt sich bei Protrusion und Eng­ stand der Front und großen Bewe­ gungsstrecken. Durch den Teilbogen können die Friktionskräfte zudem re­ duziert werden. Dies erleichtert in den meisten Patienten die Veranke­ rung und verbessert die Effizienz der Zahnbewegung. 1231 Problematik Extraktions­ therapie: Segmentbogen­ technik, Intrusion Insbesondere in der Extraktionsthe­ rapie ist vor der Retraktion der Front eine Intrusion der Inzisivi erforderlich oder die vertikale Relation der Front darf zumindest nicht verloren gehen, auch bei vertikalem Schädelaufbau. Dies berücksichtigen wir bereits in der Nivellierung mit NiTi-Tip-backMechaniken, wenn Teilbögen zur Dis­ talisation eingesetzt werden. Bei der Gleitbogenmechanik können NiTiOverlay-Bögen distal der seitlichen Frontzähne eingesetzt werden. 1232 Problematik Extraktionsthe­ rapie: Segmentbogentech­ nik, segmentierte Intrusion Eine segmentierte Intrusion ist in Ex­ traktionsfällen erforderlich, in denen ein ausgeprägter Tiefbiss vorliegt und durch eine Overlay-Technik nicht genügend vertikaler Effekt erzielt werden kann oder die Achsenpositi­ on der Inzisivi so ungünstig ist, dass durch konventionelle Techniken kein Intrusionseffekt zu erwarten ist. In unserem Patientengut sind dies vor­ wiegend erwachsene Patienten. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 476 Modifizierte Gleitbogenmechanik Die modifizierte Gleitbogenmechanik ist in unserem Behandlungskonzept eine Gleitbogenmechanik mit vereinfachten Teilbogenkomponenten, damit die Zähne kontrolliert und ausschließlich in eine Richtung bewegt werden (Abb. 1233 u. Abb. 1234). Die Teilbögen verhindern, dass während der Nivellierung die Zähne unkontrolliert protrudiert werden. Dies kann beim Slicen oder bei der Distalisation der Eckzähne eingesetzt werden. Die reine Gleitbogenmechanik ist nur in Patienten mit Protrusion ohne Engstand der Front, Retrusion der Front, Bewegungsstrecken am Bogen bis 3 mm und vorwiegend der AngleKlassen I und III indiziert (Abb. 1235). Indikation modifizierte Gleitbogenmechanik • Protrusion ohne Engstand der Front • Retrusion der Front • Angle-Klasse I • Angle-Klasse III • Retraktion der Front bis 3 mm 1233 Problematik Extraktionsthe­ rapie: Modifizierte Gleitbo­ genmechanik, Frontengstand Bei einem Frontengstand mit ach­ sengerechten oder protrudierten In­ zisivi ist eine modifizierte Gleitbo­ genmechanik indiziert, um die Inzisivi nicht unkontrolliert während der Nivellierung zu protrudieren. Bei der Patientin wird während der Nivel­ lierung im Unterkiefer mit Teilbögen das Platzdefizit (Bolton-Diskrepanz) durch Slicen ausgeglichen. 1234 Problematik Extraktions­ therapie: Modifizierte Gleitbogenmechanik, Frontprotrusion Die Patientin wird mit einer modifi­ zierten Teilbogenmechanik behan­ delt, da in einer früheren orthodonti­ schen Behandlung die Frontzähne, insbesondere im Unterkiefer, stark protrudiert wurden. Labial bestehen dadurch bereits Gingivadehiszenzen der Unterkiefer-Inzisivi. Während der Distalisation der Eckzähne entsteht durch die muskulären Effekte bereits eine gewisse Retrusion der Front. Dies erleichtert später die Kontrakti­ onsphase. 1235 Problematik Extraktions­ therapie: Gleitbogen­ mechanik, Frontretrusion, achsengerechte Front Die reine Gleitbogenmechanik kann bei Patienten mit achsengerechten oder retrudierten Fronten, geringer Bewegungsstrecke und geringer ver­ tikaler Abweichung eingesetzt wer­ den. In der Regel sind dies Extraktionspatienten mit Klasse-Ioder Klasse-III-Anomalien. Bei der Klasse-III-Anomalie ist, vergleichbar mit Klasse II im Unterkiefer, darauf zu achten, dass die Front nicht un­ kontrolliert retrudiert. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Modifizierte Gleitbogenmechanik 477