Morphologische Plastizität in Neuronen und ihre Konkurrenz um

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Nägerl, U. Valentin et al. | Morphologische Plastizität in Neuronen und ihre Konkurrenz...
Tätigkeitsbericht 2006
Neurobiologie
Morphologische Plastizität in Neuronen und ihre Konkurrenz um
synaptische Proteine
Nägerl, U. Valentin; Bonhoeffer, Tobias
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Abteilung - Zelluläre und Systemneurobiologie (Bonhoeffer)
Korrespondierender Autor
Bonhoeffer, Tobias, E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Die Veränderbarkeit neuronaler Signalübertragung ist eine der herausragenden Eigenschaften des
Gehirns und wird von Neurobiologen als zelluläre Grundlage für das menschliche Gedächtnis angesehen. Zwei aktuelle Arbeiten aus der Abteilung Zelluläre und Systemneurobiologie haben neue, weit
reichende Facetten dieser Veränderbarkeit zu Tage gebracht. Es konnte gezeigt werden, dass die funktionelle Herunterregulierung (Langzeitdepression) von neuronalen Verbindungen oder Synapsen zur
Zurückbildung von feinsten Nervenzellausläufern, den so genannten Spines, führt. Da ein Spine (dendritischer Dorn) strukturell den postsynaptischen Teil einer erregenden Synapse bildet, liegt die Vermutung nahe, dass der Verlust von Spines ein morphologisches Korrelat der synaptischen Abschwächung
darstellt. In einer weiteren Studie wurde nachgewiesen, dass Synapsen, die umgekehrt zur Depression
gemeinsam verstärkt oder potenziert werden, in einen Wettstreit um zelluläre Ressourcen treten: Sinkt
die Verfügbarkeit von Proteinen, die für eine andauernde synaptische Verstärkung benötigt werden,
führt die Verstärkung einzelner Synapsen zur Abschwächung anderer, vormalig verstärkter Synapsen.
Abstract
A hallmark of the brain is its ability to change functional connectivity in response to experience, providing - as it is presumed - the neurobiological basis for memory storage. Two recent studies from the
Department of Cellular and Systems Neurobiology report on novel facets of the plasticity of synaptic
connections. It was shown that the functional downregulation of synaptic connections, called longterm depression, is associated with the disappearance of tiny structural protrusions, named dendritic
spines, which normally allow neurons to form excitatory synapses by attaching their presynaptic
partners. By physically disrupting a synaptic connection, the loss of spines may thus could be one way
of how a synaptic coupling between neurons becomes weakened in a long-lasting manner. In a second
study it was demonstrated that synapses which were potentiated or strengthened at about the same
time started to compete for the same set of proteins needed to maintain the elevated state of synaptic
coupling: if the available pool of proteins is limited, additional strengthening of a subset of synapses
leads to a weakening of previously potentiated synapses.
Gehirn, Nervenzellen und Dornen
Obwohl das Gehirn bei weitem nicht die Schnelligkeit eines Computers erreicht, ist es in seiner Lernfähigkeit und seinem Erinnerungsvermögen bislang unübertroffen. Grundlage dafür ist die flexible
Vernetzung der über 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns. Neurowissenschaftlern ist schon lange
bekannt, dass die Verschaltung der Nervenzellen untereinander nicht statisch ist, sondern ständig auf
© 2006 Max-Planck-Gesellschaft
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sich ändernde Umweltbedingungen reagieren kann und somit eine lebenslange Veränderbarkeit bewahrt. Im Mittel haben Nervenzellen 10 000 - 100 000 Synapsen, über die sie mit anderen Nervenzellen in Kontakt stehen. Diese können neu aufgebaut, abgebaut, in ihrer Effektivität verstärkt (z.B. beim
Lernen) oder abgeschwächt werden. Diese Flexibilität - auch Plastizität genannt - ist eine Grundeigenschaft des zentralen Nervensystems.
Neurowissenschaftler der Abteilung Zelluläre und Systemneurobiologie haben nun einige der bedeutenden neurochemischen und zellulären Mechanismen aufgeklärt, die für die lebenslange Formbarkeit
des Nervensystems verantwortlich sind. Es gelang, erstmalig zu beobachten, dass Nervenzellen unter
intensiver elektrischer Reizung, die experimentell eine erhöhte Aktivität der Nerven simuliert, dornenartige Strukturen, so genannte spines, ausbilden. Mit einiger Sicherheit wird mittlerweile vermutet,
dass diese Dornen dazu dienen, weitere Synapsen mit benachbarten Nervenzellen aufzubauen. In
neuesten Studien an Nervenzellen in Gewebekulturen, die aus der an Gedächtnisvorgängen wesentlich
beteiligten Gehirnregion des Hippokampus stammten, konnte Valentin Nägerl mit seiner Arbeitsgruppe in der Abteilung von Tobias Bonhoeffer nun auch eine Rückbildung dieser Dornen beobachten -die
Plastizität bestimmter Nervenzellen in beide Richtungen – Bildung und Rückbildung von spines - war
damit erstmalig gezeigt.
Kommunikation, Neurotransmitter, Potenziale
Die Kommunikation zwischen Nervenzellen wird gemessen, indem z.B. präsynaptische Nervenfasern
durch elektrische Pulse gereizt und die Reizantworten der nachgeschalteten Nervenzellen elektrophysiologisch abgeleitet werden. Die Signalantworten werden als Spannungsänderungen in den Nervenzellen gemessen. Stimulation mit hoher Reizfrequenz kann dazu führen, dass an den beteiligten
Synapsen einerseits mehr Neurotransmitter von der präsynaptischen Zelle ausgeschüttet und andererseits postynaptische Reaktionen auf die Neurotransmitterfreisetzung hochreguliert werden. Dieses
Phänomen wird Langzeitpotenzierung (long-term potentiation, LTP) genannt. Sie kann über mehrere
Stunden und sogar Wochen bestehen bleiben und stellt somit eine Form des synaptischen Gedächtnisses dar.
Markiert man in einer Gewebekultur einzelne Nervenzellen mit fluoreszierendem Farbstoff (z.B. green
fluorescent protein, GFP) und betrachtet sie nachfolgend mit einem hoch auflösenden Zweiphotonen
Laser-Scanning Mikroskop, so kann man nun die Veränderungen in deren synaptischen Grundbausteinen, wie z.B. die Bildung oder das Verschwinden der Dornen, beobachten. Die einzelnen lebenden
Nervenzellen können so im dichten Gewirr der zigtausend anderen Nervenzellen, die nicht gefärbt
sind, unterschieden werden. Bei intensiver Reizung konnte als Erstes die bereits bekannte Entstehung
von Dornen registriert werden (Abb. 1).
Abb. 1: Intensive Stimulation (Langzeitpotenzierung, LTP) führt zur Bildung von dornenartigen Ausstülpungen
an Nervenzellen. Links ein Ausschnitt aus den Dendriten einer Nervenzelle vor der Stimulation und rechts der
gleiche Ausschnitt nach dreißigminütiger Reizung. Die Bildung der dornenartigen Strukturen ist durch rote,
gefüllte Pfeile gekennzeichnet.
Urheber: Max-Planck-Institut für Neurobiologie / Nägerl
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In weiteren Experimenten wurde nun die Reaktion von Nervenzellen auf Stimulation mit niedriger
Reizfrequenz, die normalerweise zu einer mehrere Stunden dauernden Verringerung der Reizübertragung zwischen Nervenzellen führt (Langzeitdepression; long-term depression, LTD), untersucht. Bei
dieser Stimulation zeigte sich eine Rückbildung von Dornen (Abb. 2). Da die Langzeitdepression das
Gegenstück zur Langzeitpotenzierung ist und letztere als Grundlage für Lernen und Gedächtnis angesehen wird, nimmt man an, dass umgekehrt das Vergessen von Information auf Langzeitdepression
und dem Verlust von Dornen beruht.
Abb. 2: Rückbildung von Dornen an Nervenzellen bei Langzeitdepression (LTD). Das linke Bild zeigt Dornen
an Nervenzellen sechzig Minuten vor der Stimulation mit niedriger Reizfrequenz. Im rechten Bild ist der gleiche
Ausschnitt neunzig Minuten nach der Stimulation zu sehen. Die blauen, unausgefüllten Pfeile kennzeichnen die
Stellen, an denen Dornen verschwinden.
Urheber: Max-Planck-Institut für Neurobiologie / Nägerl
Wettlauf um Plastizitätsfaktoren
Eine zweite wichtige Studie zu den Hintergründen von Lernen und Gedächtnis wurde von der portugiesischen Doktorandin Rosalina Fonseca zusammen mit Valentin Nägerl, Tobias Bonhoeffer und in
Kooperation mit Richard Morris, Centre for Neuroscience der Universität Edinburgh, durchgeführt.
Sie konnten zeigen, dass Synapsen, die durch intensive Reizung verstärkt wurden, miteinander in
einen Wettstreit um die Plastizitätsfaktoren treten, die eine Langzeitpotenzierung der Synapsen ermöglichen.
Rosalina Fonseca experimentierte mit Hippokampus-Hirnschnitten. Sie stimulierte zwei unabhängige
Signalwege, die zu einer gemeinsamen Zielzelle führten, sodass an beiden Wegen eine Langzeitpotenzierung aufgebaut wurde. Frau Fonseca überprüfte die Reaktion der Synapsen, wenn diesen nur in
begrenztem Maße Signalproteine zur Verfügung standen: Mit einer chemischen Substanz (Anisomycin) blockierte die Doktorandin die Proteinsynthese. Stimulierte sie die Nervenzellen erneut, stellte sie
fest, dass die Verstärkung von Synapsen desjenigen Signalweges, der bei der ersten Aktivierung eine
deutlichere Langzeitpotenzierung aufgebaut hatte, auf den zweiten, „schwächeren“ Signalweg eine
negative Auswirkung hatte: Dieser zweite Weg nahm nämlich plötzlich in seiner Übertragungsstärke
ab. Offensichtlich zog der „stärkere“ Signalweg Ressourcen vom „schwächeren“ Weg ab (Abb. 3).
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Abb. 3: a, Versuchsaufbau zur Bestimmung der Rolle von Plastizitätsfaktoren in Nervenzellen - schematisch
dargestellt: In zwei verschiedenen Regionen werden Dendriten einer Nervenzelle stimuliert („input S1“, „input
S2“; Aufzeichnung der Reaktionen: „Recording electrode“). b, Vor und nach Zugabe des ProteinsyntheseHemmers Anisomycin (gelber Balken) werden die Reaktionen aufgezeichnet. An beiden Reaktionswegen wird
zunächst Langzeitpotenzierung aufgebaut (Level auf 100% gesetzt). Vierzig Minuten nach Anisomycin-Zugabe
erhält der erneut aktivierte Reaktionsweg weitere Reizung (rot ausgefüllte Symbole) und der Testreaktionsweg
weiterhin nur Testpulse (blau ausgefüllte Symbole). Der aktive Reaktionsweg zeigt erhöhte Antwort, während die
LTP beim Testreaktionsweg deutlich abnimmt. Die Reaktion des „roten“, aktiven Weges muss also auf Kosten
des blauen „Testreaktionsweges“ aufgebaut worden sein. Die unausgefüllten Symbole stellen die Kontrollen dar,
bei denen keine Veränderung der LTP zu registrieren ist. c, Vergrößerter Ausschnitt der in b aufgezeichneten
Reaktionen.
Urheber: Max-Planck-Institut für Neurobiologie / Fonseca
Damit konnten Frau Fonseca und ihre Kollegen zeigen, dass eine apparente Konkurrenz um die
Ressourcen der Plastizitätsfaktoren besteht. Diese Annahme wurde erhärtet, weil weitere Experimente
darauf hindeuteten, dass die Plastizitätsfaktoren von einem Signalweg zum anderen hin abgezogen
worden sind. Je länger die Proteinsynthese blockiert und damit auch die Konkurrenz um Botenstoffe
erhöht wurde, desto stärker war die Auswirkung auf den zweiten Signalweg. Auch die örtliche Entfernung der Signalwege voneinander spielte eine Rolle: Je weiter der zweite Weg vom ersten entfernt
war, desto schwächer war der Einfluss der Botenstoffe des ersten Signalweges.
Ob das Verschwinden der dornenartigen Fortsätze die tatsächliche Ursache für das Vergessen von
Information ist, kann aus den Studien von Tobias Bonhoeffer und seiner Abteilung nicht endgültig
gefolgert werden. Es spricht jedoch vieles dafür, denn Bonhoeffer und Kollegen konnten einen klaren
Zusammenhang zwischen der Rückbildung der Dornen und Langzeitdepression zeigen: Letztere ist
mehrfach mit Vergessen in Zusammenhang gebracht worden. Die Konkurrenz um die Botenstoffe zwischen bestehenden Signalwegen, die von den Martinsrieder Wissenschaftlern erstmalig gezeigt wurde,
könnte eine weitere Erklärung für die Plastizität unseres Gehirns und damit auch unseres Gedächtnisses und Lernvermögens sein. Signalwege, die stärker aktiv sind, könnten sich durch die Konkurrenz
um Botenstoffe abschwächend auf nicht genutzte Signalwege auswirken und damit vielleicht nicht
mehr benötigte Information in den Hintergrund drängen oder sogar ganz auslöschen.
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