der Publikation - Hanns-Seidel

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Berichte & Studien
Berichte & Studien
Die Außenpolitik der USA
Die Außenpolitik der USA
89
Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.)
89
Präsident Obamas neuer Kurs und die Zukunft
der transatlantischen Beziehungen
www.hss.de
Berichte & Studien_Nr 89_Umschlag-RZ.indd 1
29.04.2009 14:09:10 Uhr
Berichte & Studien 89
Die Außenpolitik
der USA
Präsident Obamas neuer Kurs
und die Zukunft der
transatlantischen Beziehungen
Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.)
ISBN 978-3-88795-344-7
©2009 Hanns-Seidel-Stiftung, München
www.hss.de
Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D.
Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf
Redaktion:
Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur, v.i.S.d.P.)
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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziert
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verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Inhaltsverzeichnis
Hans Zehetmair
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Reinhard C. Meier-Walser
Kurskorrekturen US-amerikanischer Außenpolitik nach dem Wechsel
von George Bush zu Barack Obama – Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . 10
I. Kontinuität und Wandel US-amerikanischer Außenpolitik
Stefan Fröhlich
Whither USA – Taumelt der „sanfte Hegemon“? . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Georg Schild
Ready to Lead Once More? Die Zukunft des amerikanischen
Führungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Klaus Dieter Schwarz
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA nach dem Ende
der Bush-Ära? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Werner Link
Amerikanische Außenpolitik im Konzert der Mächte statt
hegemonial-imperialer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Christian Hacke
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume für die
Außenpolitik von Präsident Obama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Johannes Urban
Leader of a New America – Außenpolitik im Wahlkampf
von Barack Obama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Patrick Keller
Hegemonialstrategie: Zur Kontinuität amerikanischer Außenpolitik
seit Ende des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Martin Reichinger
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration – eine Bilanz im Zeichen des allianzinternen Sicherheitsdilemmas . 121
Ulf Gartzke
Die Obama-Administration: Ouvertüre zu einem neuen Amerika? . . . 138
4
Inhaltsverzeichnis
II. Neue internationale Herausforderungen
für die USA und Europa
James W. Davis
Washingtons Krieg gegen den Terror – Lehren aus den Fehlern
der Bush-Administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Johannes Varwick
USA, Mulilateralismus und internationale Organisationen –
Das Spannungsfeld der Mandatierung internationaler Zwangsgewalt . 161
Svenja Sinjen
Raketenabwehr für die NATO – Warum die Europäer Obama
ermuntern sollten, Bushs Weg zu Ende zu gehen . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Carlo Masala
No change at all – Die NATO-Politik der Obama-Administration . . . . 186
Klaus Naumann
Sicherheit ohne die USA? Die NATO in der Perzeption Europas . . . . 197
Lothar Rühl
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen
Beziehungsgefüges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Gottfried-Karl Kindermann
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
im ostasiatisch-pazifischen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Alexander Wolf
US-Militärinterventionen im Ausland – Renaissance der PowellDoktrin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Jens van Scherpenberg
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems . . . . . . . . . 262
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
Die USA und Europa angesichts der neuen globalen Sicherheitsrisiken und der Notwendigkeit einer Grand Strategy . . . . . . . . . . . . . 282
Inhaltsverzeichnis
5
III. Perspektiven transatlantischer Beziehungen
Tilman Mayer
Die Rolle von Ideen, Normen und Interessen in der
transatlantischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Helga Haftendorn
Strukturelle Probleme im transatlantischen Beziehungsgefüge . . . . . 308
Thomas Jäger
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen eurotransatlantischen Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Christian Schmidt
Die deutsch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft . . . . . . . . . . . . . 334
Alice Neuhäuser
Wie „special“ ist die „special relationship“ zwischen Washington
und London? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Frankreichs neue NATO-Politik: Hebel für eine Neuausrichtung
des Bündnisses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Reinhard Wolf
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen . . . 375
Beate Neuss
Asymmetrische Interdependenz: Warum brauchen Europa und
die USA einander? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
Andreas Falke
Klimaschutz- und Handelspolitik – neue transatlantische
Konstellationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
Edwina S. Campbell
Obama‘s „Eisenhower Moment“: American Strategic Choices
and the Transatlantic Defense Relationship . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
Stephan Bierling
Europa und die USA – die strategische Partnerschaft des
21. Jahrhundert? Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
Autorenverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
Vorwort
Barack Obama, der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,
sieht sich seit seinem Amtsantritt im Januar 2009 mit einer ganzen Fülle gewaltiger Herausforderungen konfrontiert: Während im Inneren der
drastische Abschwung der amerikanischen Wirtschaft mit weitreichenden Folgen für das gesamte sozio-ökonomische System gewaltiger Anstrengungen bedarf, um erfolgreich und nachhaltig bewältigt werden zu
können, sehen sich die USA auch im internationalen Umfeld einer Situation gegenüber, die alles andere als komfortabel ist. Neben den aktuellen Problemen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise stehen
hier vor allem die längerfristigen sicherheitspolitischen Fragestellungen
im Vordergrund: Die USA führen gleichzeitig Krieg im Irak und in Afghanistan und sie sind ein Primärziel des weltweiten fundamentalistischen
Terrorismus. Daneben sind sie mit der drohenden „Talibanisierung“ des
Atomwaffenstaates Pakistan konfrontiert. Der Iran steht möglicherweise
kurz davor, die nukleare Schwelle zu überschreiten. Die Beziehungen zu
Moskau sind in einem kritischen Zustand. Die Krisenherde der Weltpolitik werden immer zahlreicher und die USA als Noch-Weltmacht Nr. 1
sehen sich mehr und mehr von aufstrebenden Mächten der sog. „zweiten
Welt“ (Parag Khanna), wie etwa China, Indien, Brasilien, Mexiko, Indonesien und andere Schwellenländer genannt werden, herausgefordert.
Wie reagieren die USA auf diese Veränderungen, Herausforderungen
und Risiken? Welche außenpolitischen Kurskorrekturen nimmt der neue
US-Präsident vor, der im Wahlkampf einen grundlegenden politischen
Wandel („Change“) in allen Feldern, also auch den Außenbeziehungen,
verheißen hatte? Aus europäischer Perspektive und insbesondere aus der
Sicht der Bundesrepublik Deutschland, für die die Schutzmacht USA seit
jeher der wichtigste internationale Sicherheitspartner war, sind die außenpolitische Strategie und Richtung Washingtons von primärer Bedeutung.
Vor diesem Hintergrund hat die Akademie der Hanns-Seidel-Stiftung,
die die amerikanische Außenpolitik und die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen traditionell als einen der Schwerpunkte ihrer Projektarbeit kontinuierlich verfolgt und analysiert, führende Vertreter der
sogenannten „Strategic Community“ eingeladen, um die Frage des neuen außenpolitischen Kurses Washingtons seit dem Amtsantritt Präsident
Obamas aus verschiedenen Perspektiven und unter Berücksichtigung des
breiten Spektrums damit zusammenhängender relevanter Aspekte für die
transatlantischen Beziehungen zu untersuchen.
Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair
Staatsminister a.D.
Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung
Geleitwort
Die historisch erwachsene freundschaftliche Beziehung zwischen
Deutschland und den USA sind, wie in jeder Partnerschaft, nicht immer
frei gewesen von Divergenzen und Dissonanzen. Dennoch war und ist
die Grundlage unserer engen Zusammenarbeit nie entfallen, da diese auf
gemeinsamen Werten und Interessen in zahllosen Bereichen politischen
Handelns wurzelt. Es liegt nun gleichermaßen an Amerikanern wie auch
an uns Europäern, das transatlantische Verhältnis mit neuem Schwung
auszugestalten.
Nach der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten
wird wohl zur Begegnung der zahlreichen Herausforderungen mehr Verlässlichkeit, Kontinuität und „commitment“ von Nöten sein, als ein Versprechen vom „change“ vermuten lässt. Zweifelsohne kann man schon
heute einige inhaltliche wie atmosphärische Veränderungen beobachten.
Obama hat wiederkehrend sein Bekenntnis zu den transatlantischen Beziehungen sowie zum Multilateralismus betont. Dies bedeutet in der Konsequenz aber auch, dass der Wunsch nach mehr gemeinsamen Handeln
auch mehr Mitarbeit der einzelnen Partner erfordern kann, also auch von
uns Deutschen.
Welche Zielsetzungen und Richtlinien sollen demzufolge das transatlantische Verhältnis bestimmen und leiten? Birgt Obamas außenpolitischer
Kurs die Absicht in sich, Außenpolitik unter einer anderen Prämisse zu
betreiben und wieder verstärkt auf diplomatische Bemühungen und multilaterale Kooperation zu setzen?
Die Herausforderungen und außenpolitischen Probleme im ersten Jahr
von Obamas Präsidentschaft sind riesig. Ein multilaterales Staatensystem mit unübersichtlichen transnationalen Akteursstrukturen generiert
zahlreiche sicherheitspolitische Herausforderungen. Asymmetrische Konflikte durch den transnationalen Terrorismus, der globale Klimawandel,
Ressourcenfragen oder die Proliferation von Massenvernichtungswaffen
bedrohen alle freien Völker.
Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise und die Auswirkungen der
ökonomischen Globalisierung erfordern eine ordnungspolitische Antwort, die nur im Rahmen multilateraler Organisationen gegeben werden
kann, in denen die transatlantische Gemeinschaft ihr besonderes Gewicht
und Verantwortung einbringen muss. Gerade vor diesem Hintergrund
setzt sich der Eindruck durch, dass die USA stärker auf die internationale
Zusammenarbeit angewiesen sind, als das bisher der Fall gewesen ist.
8
Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg
So ist es nur folgerichtig, wenn man die Bedeutung internationaler Regime und der reformbedürftigen Vereinten Nationen hervorhebt. Gleichwohl bleibt eine der Kooperation verpflichtete transatlantische Allianz als
unbedingter Stabilitätsanker bestehen, die weit über ihre geographische
Lage hinaus positiv auf die internationale Sicherheitsarchitektur wirken
kann.
Nur um solches bewirken zu können, muss auf beiden Seiten des Atlantiks
die Stärkung der bewährten Gemeinschaft betrieben werden. Barack Obama teilt offenbar diese Einsicht und legte bereits während seiner Kampagne ein klares Bekenntnis ab, die starke Partnerschaft der USA mit Europa
wiederherzustellen. In sicherheitspolitischer Hinsicht wird man dazu sicherlich der NATO entsprechende Perspektiven geben müssen, aber auch
die Vereinten Nationen müssten unter diesem Aspekt durch konstruktive
Initiative und Unterstützung der USA reformiert werden. Manches dabei
erscheint nur realistisch unter einer starken Position der USA. Erfolg ist
jedoch nur bei Einbeziehung aller verantwortungsbewussten und maßgeblichen Akteure zu erwarten, hier sind v.a. die rasant aufstrebenden
Schwellenländer Indien und China zu nennen, die vorrangig bei den
weltweiten finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen eine gewichtige Rolle spielen.
Man muss sich unbedingt vor Augen führen, dass es ein Irrweg wäre, bewährte Formen westlicher Zusammenarbeit aufzugeben. Vor dem Hintergrund gemeinsamer Interessen beim Klimaschutz, der Energiesicherheit
und Ressourcenversorgung, bei der Frage, wie man das iranische Atomprogramm am effektivsten eindämmen kann, oder schließlich beim Afghanistaneinsatz ist das Formulieren gemeinsamer Ziele essenziell.
Neben aller Euphorie und Sympathie für Präsident Obama scheint es
mithin angebracht, Amerikas außenpolitische Ziele genauer zu analysieren. Die Obama-Administration wird nicht müde, die Welt von der
Gegensätzlichkeit der konfrontativen und härtestilisierenden Politik des
Amtsvorgängers George W. Bush zu überzeugen. Die in Aussicht gestellte Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo, die Dialogbereitschaft
gegenüber sog. „Schurken“-Staaten oder die klimapolitischen Ziele werden als Aspekte des vielbemühten Wandels ausgegeben.
Das nach dem verheerenden Irak-Krieg bemühte multilaterale Vorgehen
scheint ein Vorgehen der amerikanischen Außenpolitik darzustellen, das
vorrangig auf Dialog und Kommunikation setzt und viele Akteure im
Handeln einbezieht. Der wiederentdeckte Multilaterlismus der USA macht
sich aber auch unweigerlich im transatlantischen Verhältnis bemerkbar.
Es ist absehbar, dass die Rolle der europäischen Verbündeten und somit
auch Deutschlands eine größere und damit lastenreichere wird.
Zum Geleit
9
In Europa sollte man sich darüber im Klaren sein, dass auch ein Präsident
Obama an die erste Stelle seines außenpolitischen Handelns die amerikanischen Interessen stellt. Inwieweit eine erste Kostprobe dieser Einschätzung die neue Afghanistanstrategie der Obama-Administration gelten
kann, die wohl auch die Europäer stärker in die Pflicht nehmen wird,
wird sich zeigen.
Die „Obamania“ ist bisher in der breiten Wahrnehmung nicht verflogen.
Präsident Obamas bisherigen Erlasse zeigen, dass der vielfach betonte
Bruch mit der Politik der Vorgängerregierung sehr viel stärker in der Innenpolitik wirkt als in der Außenpolitik. Diese noch aus dem Wahlkampf
herwirkende Abgrenzung ist von großem symbolischem Wert: einerseits
natürlich für viele Amerikaner, die auf eine rasche Überwindung der tiefen Spaltung des Landes hoffen, daneben aber auch für den Rest der Welt,
insbesondere für muslimische Staaten. Bekanntlich besteht Politik auch
zu einem nicht unerheblichen Teil aus Zeichen und Symbolik. Eine entsprechende größere symbolische Distanzierung von George W. Bush ist in
Teilen auch zu konstatieren.
Ohne jede Frage ist es aus dringlichen sicherheitspolitischen, wirtschaftsund finanzpolitischen Gründen erforderlich, sich intensiv, freundschaftlich und in gegenseitigem Respekt der Erneuerung des transatlantischen
Projekts zu widmen. Für die deutsche Regierung ergibt sich daraus die
Verantwortung, durch entschiedenes und verantwortungsvolles Handeln
die neue transatlantische Partnerschaft entscheidend mitzugestalten.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, MdB
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Kurskorrekturen
US-amerikanischer Außenpolitik
nach dem Wechsel von
George Bush zu Barack Obama
Eine Einleitung
Reinhard C. Meier-Walser
„Starker Rückhalt für Obama“, titelte die „Neue Zürcher Zeitung“ am 29.
April 2009, dem 100. Tag des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten im
Amt. Obwohl damit in erster Linie die Zustimmung zu Barack Obamas
wirtschaftspolitischem Reformkurs in breiten Kreisen der US-amerikanischen Bevölkerung gemeint war, kann diese Schlagzeile pauschal auch
für die Position der europäischen Bündnispartner der USA gelten, die
insbesondere die ersten außenpolitischen Weichenstellungen der neuen
politischen Führung in Washington sehr aufmerksam und in der hoffnungsvollen Erwartung einer substanziellen Verbesserung transatlantischer Beziehungen verfolgt hatten.
Das auf gemeinsamen Interessen und Werten basierende Partnerschaftsund Freundschaftsverhältnis zwischen den USA und Europa, institutionell
verankert vor allem in der 1949 gegründeten Nordatlantischen Allianz, in
deren Kernartikel 5 sich die Mitgliedsstaaten gegenseitigen Beistand im Falle
eines Angriffes von außen zusichern, hatte im Laufe der Irakkrise der Jahre
2002/2003 eine schwere Phase der Belastung zu durchstehen. Obwohl sich
nach dem Abtreten von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs
Präsident Jacques Chirac – der beiden europäischen Hauptantagonisten
George Bushs in der Irakkrise – von der politischen Bühne die transatlantischen Beziehungen atmosphärisch wieder spürbar verbesserten, konnten
die tiefen Risse, die damals entstanden waren, auch während der letzten
Amtsjahre von Präsident Bush nicht mehr vollständig gekittet werden.
Nicht zuletzt aus diesem Grunde wurde der Präsidentschaftswahlkampf
in den USA während des Jahres 2008 in Europa mit außergewöhnlich großem Interesse verfolgt, wobei in der breiten Berichterstattung der Medien ab dem Zeitpunkt der Nominierung sowohl des Republikanischen als
auch des Demokratischen Präsidentschaftskandidaten vor allem die Frage
im Vordergrund stand, mit welchen außen- und bündnispolitischen Konsequenzen die Europäer im Falle eines Wahlsieges Barack Obamas bzw.
John McCains zu rechnen hätten.
Kurskorrekturen US-amerikanischer Außenpolitik
11
Im Laufe der zweiten Jahreshälfte 2008, insbesondere nach der Wahlentscheidung am 4. November und der überraschend zügig darauf folgenden Zusammenstellung des außen- und sicherheitspolitischen Teams der
neuen Administration, formten sich die Perzeptionen, Perspektiven und
Szenarien, die seriöse europäische Experten amerikanischer Außenpolitik
entwickelten, allmählich zu einem Vorstellungsbild der Außenpolitik der
USA unter dem neuen Präsidenten Obama, der am 20. Januar 2009 den
Amtseid leisten würde. Dieses Bild lässt sich in einer Kombination folgender sechs Punkte zumindest vage zusammenfassen:
1. Aufgrund der schwersten wirtschaftlichen Krise seit der Großen Depression, in der die USA sich um die Jahreswende 2008/2009 befänden, gelte
das politische Hauptaugenmerk des neuen US-Präsidenten in erster Linie
einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel, zumal dies auch vom amerikanischen Volk, das Obama mit großer Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen hatte, erwartet werde.
2. Ungeachtet dieser generellen Priorität zur Lösung der gewaltigen Wirtschaftskrise und zur Lösung der damit zusammenhängenden sozialen
Probleme im Inneren erfordere die prekäre internationale Situation auch
rasche außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen der neuen politischen Elite in Washington. Die USA, so der Tenor der Analysen, führten nicht nur im Irak und in Afghanistan gleichzeitig zwei zermürbende
Kriege; sie seien daneben mit der drohenden „Talibanisierung“ des bereits
nuklear bewaffneten Pakistans, mit der als Bedrohung der internationalen
Sicherheit empfundenen Perspektive des bevorstehenden Überschreitens
der nuklearen Schwelle Irans sowie mit einer im Zuge der Georgien-Krise
einhergegangenen Verschärfung des ohnehin gespannten Verhältnisses
zu Moskau konfrontiert. Neben diesen konkreten und aktuellen internationalen Herausforderungen Washingtons befänden sich die USA ferner in einem seit dem 11. September 2001 andauernden globalen Kampf
gegen den fundamentalistischen Terrorismus. Von grundlegender und
längerfristiger Natur sei insbesondere der Transformationsprozess globaler Machtpotenziale und -kategorien, in dessen Zuge Staaten der sogenannten „Zweiten Welt“, wie Parag Khanna und andere Analytiker weltpolitischer Entwicklungen aufstrebende Schwellenländer mit wertvollen
Bodenschätzen und hohen Wachstumsraten bezeichnen, die „Noch-Weltmacht-Nr.1“ in den Aktionsfeldern der Weltpolitik und Weltwirtschaft
herausforderten.
3. Das außenpolitische Team Barack Obamas – darunter Vizepräsident Joe
Biden, der langjährige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des USSenates, Außenministerin Hillary Clinton, der bereits in der Bush-Administration amtierende Verteidigungsminister Robert Gates, der Nationale
Sicherheitsberater General James Jones und die mit Kabinettsrang ausge-
12
Reinhard C. Meier-Walser
stattete UNO-Botschafterin Susan Rice – verkörpere eine kluge Kombination unterschiedlicher außen- und sicherheitspolitischer Mittel, Stile und
Formen der Zielverfolgung, ganz im Sinne der von Obama verfochtenen
„Smart Power-Strategie“, die alle verschiedenen Instrumente amerikanischer Macht nutze und ins Gleichgewicht bringe: Militär und Diplomatie,
Geheimdienste und Rechtsstaatlichkeit, ökonomische Kosten-Nutzen-Relationen und moralische Werte.
4. Da außen- und sicherheitspolitische Grundsatzentscheidungen Washingtons in der Regel von einem breiten Konsens der politischen Eliten
getragen würden, sei eine 180-Grad-Kehrtwendung in zentralen internationalen Fragen der USA nach dem Ende der Ära Bush nicht generell zu erwarten. Eine solide, von der Mehrheit der Bevölkerung wie des Kongresses
gestützte Verankerung seiner Außen- und Sicherheitspolitik werde Barack
Obama auch deshalb anstreben, weil sein primäres außenpolitisches Ziel,
die Erneuerung bzw. Wiederherstellung der amerikanischen Führungsrolle in der Welt, gerade angesichts der gegenwärtigen Kumulation der
schweren inneren Krise der USA und der diversen internationalen Herausforderungen der Vereinigten Staaten äußerst ambitioniert sei.
5. Ein deutlicher Unterschied zur Außenpolitik der Bush-Regierung sei
von Obama allerdings in einer tendenziellen Abkehr vom Unilateralismus und Hinwendung zu Multilateralismus zu erwarten. Dies werde zum
einen Washingtons Haltung gegenüber internationalen Einrichtungen
(z.B. UNO) und Regimen (z.B. Kyoto-Protokoll), zum anderen die Haltung
der USA gegenüber ihren internationalen Partnern (z.B. den europäischen
NATO-Staaten) prägen. Der zu erwartende neue „instrumentelle“, nicht
„prinzipielle“, Multilateralismus der Obama-Regierung1 bedeute für die
europäischen Partner der USA einerseits mehr Mitsprache, Einbindung
und Konsultation, gleichzeitig aber auch, dass Obama die Europäer stärker als bisher in die Verantwortung zur Bewältigung gemeinsamer weltpolitischer Herausforderungen nehmen werde.2
6. Im Sinne einer konsequenten Umsetzung der erwähnten „Smart Power-Strategie“ zur effektiveren Verfolgung außen- und sicherheitspolitischer Ziele der USA sei auch zu erwarten, dass Barack Obama systematisch versuchen werde, Schwachstellen und Defizite des außenpolitischen
Kurses seines Amtsvorgängers systematisch zu beseitigen. Dazu gehöre,
wie James Davis detailliert zeigt, vor allem Washingtons „Krieg gegen den
1
2
Vgl. dazu insbesondere die Beiträge von Klaus-Dieter Schwarz und Johannes
Varwick in diesem Band.
Auf diese mögliche Ambivalenz der transatlantischen Beziehungen unter dem
Vorzeichen eines neuen Multilateralismus Washingtons unter Präsident Obama hat insbesondere Peter Rudolf in Schriftenreihen der Stiftung Wissenschaft und Politik frühzeitig hingewiesen.
Kurskorrekturen US-amerikanischer Außenpolitik
13
Terror – Lehren aus den Fehlern der Bush-Administration“, nicht zuletzt
die Lösung des rechtlichen Problems des Gefangenenlagers Guantanamo.
Das vage Bild der neuen US-amerikanischen Außenpolitik unter Präsident
Barack Obama, das die synoptische Zusammenschau dieser sechs Punkte ergibt, entstand – wie erwähnt – im Vorfeld der Vereidigung des 44.
Präsidenten am 20. Januar 2009. Seither sind 100 Tage vergangen, die es
ermöglichen, dieses vor Monaten entwickelte, vage und zwangsläufig spekulative Bild durch eine erste vorläufige Bilanz zu ersetzen. Gleichzeitig
soll aber wieder ein diesmal durch die Beobachtung und Analyse der von
Präsident Obama bereits in den ersten drei Monaten seines Wirkens im
Weißen Haus vorgenommenen wichtigen außenpolitischen Weichenstellungen genährter Blick in die Zukunft US-amerikanischer Außenpolitik
und der transatlantischen Beziehungen geworfen werden, zumal die perspektivische Betrachtung und Auseinandersetzung mit US-amerikanischer
Außenpolitik für die Konzeption und Gestaltung sowohl der einzelstaatlichen Außenpolitiken innerhalb Europas als auch für die Gemeinsame
Europäische Außen- und Sicherheitspolitik selbst von enormer Bedeutung
ist – dies zumal in Zeiten gewaltiger internationaler (sicherheitspolitischer, wirtschaftspolitischer, energieversorgungspolitischer etc.) Herausforderungen, die eine gemeinsame Strategie der USA und Europas erfordern, um erfolgreich bewältigt werden zu können.
In diesem Sinne hat die Hanns-Seidel-Stiftung einschlägig ausgewiesene
Vertreter der transatlantischen „Strategic Community“ eingeladen, an
diesem perspektivisch angelegten Band mitzuwirken. Zu den Autorinnen
und Autoren gehören sowohl arrivierte Forscherpersönlichkeiten, die
die Außenpolitik der USA und die transatlantischen Beziehungen bereits
zum Teil seit Jahrzehnten verfolgen, als auch junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die durch neue Forschungsstrategien
und -ansätze sowie durch spezifische Analysen und Interpretationen von
Teilaspekten des hier im Mittelpunkt stehenden Sujets die diesbezügliche Diskussion wertvoll bereichern. Stimmen der Politik (Bundesminister
Karl-Theodor zu Guttenberg, Staatssekretär Christian Schmidt, Staatssekretär a.D. Lothar Rühl) sind ebenso vertreten wie Expertisen militärischer Fachleute (General Klaus Naumann, Edwina Campbell), wodurch
eine multiperspektivische, mehrdimensionale und interdisziplinäre Betrachtung gewährleistet werden soll, die dem komplexen Gegenstand der
amerikanischen Außenpolitik und der transatlantischen Beziehungen angemessen ist.
Die meisten der im vorliegenden Sammelband vertretenen Autorinnen
und Autoren trafen sich nach dem Sieg Barack Obamas in den jüngsten
Präsidentschaftswahlen in verschiedenen einschlägigen Expertenveranstaltungen der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth, München und
14
Reinhard C. Meier-Walser
Berlin mit dem Herausgeber des Bandes und der Leiterin des Lektorates
der Akademie, um die thematische Fokussierung der Beiträge zu erörtern,
die Schwerpunkte der Analysen abzustimmen und Redundanzen zu vermeiden. Im Rahmen dieser wertvollen und nützlichen Vorbesprechungen
wurde auch vereinbart, dass die Manuskripte Ende Januar 2009, also kurz
nach der Übernahme der Amtsgeschäfte durch die Regierung Obama, eingereicht werden sollten.
Whither USA – Taumelt der
„sanfte Hegemon“?
Stefan Fröhlich
Der 44. Präsident der USA übernimmt das wohl wichtigste politische Amt
in der Welt in einer Phase, da die USA wie eine Weltmacht im Niedergang
wirken. Politisch und militärisch, aber auch moralisch sind die USA im
Begriff, ihre Führungsrolle zu verspielen. In Europa und weiten Teilen der
Welt sehen viele angesichts der andauernden Finanz- und Wirtschaftskrise und des enormen Haushaltsdefizits, zweier erdrückender Kriege im Irak
und Afghanistan, vor allem aber aufgrund des weltweiten Imageverlusts
in Folge der Anti-Terror-Politik George Bushs das Land im Abstieg begriffen. VN-Generalsekretär Ban Ki Moon sprach von der „neuen Wirklichkeit“ und neuen Zentren der Macht und der Führung wie China, Russland, Brasilien und Indien, oder auch Regionalblöcken wie der EU, die
an politischem und wirtschaftlichem Einfluss hinzugewinnen und so die
Führungsposition der Supermacht USA in Frage stellen.
1. Die Debatte um die Zukunft der amerikanischen Supermacht
Selbst in Washington mehren sich die Stimmen der Skeptiker, die nicht
nur das nahezu zwei Jahrzehnte dominierende amerikanische Kapitalismusmodell mit seinem Dreisatz aus billigem Geld, freien Märkten und
gigantischen Gewinnmargen am Ende sehen, sondern generell auf die
Machtverschiebungen in den internationalen Beziehungen und das Ende
des „unipolaren Momentes“ (Charles Krauthammer) verweisen. Fareed
Zakaria, Chefredakteur von Newsweek, sieht die Welt auf ein – mit Ausnahme der militärischen Dimension – „postamerikanisches Zeitalter“
zusteuern, in dem sich der politische, finanzielle, soziale wie kulturelle
Einfluss auf verschiedene Zentren und Akteure verteile.1
Ähnlich argumentieren Pharag Khanna, Leiter der Global Governance Initiative der New American Foundation, dessen Buch „The Second World“
ein Bild von der künftigen Weltpolitik zeichnet, in dem es drei Supermächte oder Imperien geben wird – neben den schwächer werdenden USA
das unaufhaltsam aufsteigende China und, man höre und staune, die Europäische Union –, und Charles Kupchan, Azar Gat oder John Ikenberry
und Thomas Wright von der Princeton University, die Amerikas künftige
1
Zakaria, Fareed: The Future of American Power: How America can survive the
Rise of the Rest, in: Foreign Affairs 3/2008, S.18-43.
16
Stefan Fröhlich
Stärke und Weltrolle allenfalls in einem gleichberechtigten Konzert mit
Europa und Japan gegenüber den aufstrebenden BRIC-Staaten (Brasilien,
Russland, Indien und China) garantiert sehen.2 Der Tenor aller Bände
ungeachtet von Finanz- und Wirtschaftskrise lautet übersetzt in etwa so:
Die reale Schwäche der Weltmacht offenbart sich bereits seit längerem.
Je mehr die USA sich verschulden und dafür anlegen müssen, das eigene Wirtschaftssystem zu stabilisieren, desto schwerer fällt es Washington,
die selbst gewählte Rolle der Weltordnungsmacht auszuüben. Die Aushöhlung von Amerikas Vormachtstellung durch die genannten Aufsteiger
beschleunigt sich vor allem in den Bereichen Politik und Wirtschaft, aber
auch in der Kultur.
Alles in allem wird eingeräumt, dass die USA zwar eine bedeutende, ja
vielleicht die wichtigste Macht im Weltgefüge bleiben werden, die amerikanische Vorherrschaft aber vorbei sei. Multipolarität oder Nicht-Polarität
(„non-polarity“) lauten die Stichworte, gleichgültig wie sich Washington
auch verhält. Durch eine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik in der Vergangenheit, die Kriege in Afghanistan und im Irak, die die amerikanischen
Truppen an die Grenzen der Belastbarkeit geführt haben, sei nicht nur
der Ruf der USA in der Welt nachhaltig beschädigt, sondern seien auch
immense humanitäre, finanzielle und diplomatische Kosten verursacht
worden.3 Neben den USA werden daher die zuvor genannten Machtzentren künftig um geopolitischen Einfluss ringen, dabei werden insbesondere China und die EU dank ihrer politischen wie ökonomischen Anziehungskraft sukzessive Nachbarstaaten in ihren Einflussbereich ziehen. Für
die USA hingegen bedeutet künftig jeder Vorstoß in diese Einflusssphären
eine Schwächung ihrer Position, da ihre traditionelle Rolle als Ordnungsmacht dort nicht länger akzeptiert wird. Vielmehr muss Washington sich
im wertfreien Wettbewerb der globalen Ordnungsmodelle neu positionieren und dabei vor allem auf strategische Allianzen mit den neuen einflussreichen Mächten setzen.4
Solchen Untergangsprophezeiungen stehen Analysen gegenüber, die darin ein Wiederholungsmuster gerade in Krisenjahren des Landes sehen
2
3
4
Parag, Khanna: The Second World. World Empires and Influence in the new
Global World Order, New York 2008; Ders.: Waving Goodbye to Hegemony,
in: The New York Times, 27.1.2008, www.newamerica.net/publications/articles/2008/waving_goodbye_hegemony_6604; Kupchan, Charles: The end
of the American era, New York 2003; Gat, Azar: The Return of Authoritarian Great Powers, in: Foreign Affairs 4/2008, S.59-69; Ikenberry, John/Wright,
Thomas: Rising Powers and Global Institutions, New York: The Century Foundation, 2.6.2008, www.tcf.org/publications/internationalaffairs/ikenberry.pdf
Haas, Richard: The Age of Nonpolarity. What will follow U.S. Dominance, in:
Foreign Affairs 3/2008, S.44-56.
So auch Hachigian, Nina/Sutphen, Mona: Strategic Collaboration: How the
United States can Thrive as other powers rise, in: The Washington Quarterly
4/2008, S.43-57.
Whither USA – Taumelt der „sanfte Hegemon“?
17
und darauf verweisen, dass solche Szenarien sich bislang nie bewahrheitet
hätten – zuletzt war dies Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts der Fall, als Paul Kennedy in seinem Buch über den „Aufstieg
und Fall großer Mächte“ vor dem Hintergrund des „Zwillingsdefizits“ in
der Reagan-Ära und dem wirtschaftlichen Aufschwung Japans das Ende
der US-Vorherrschaft prophezeite. Die Abgesänge beruhen demnach allzu
sehr auf einem singulären Ereignis, dem Irakkrieg, der Ablehnung der Politik George Bushs und einem tiefen Missverständnis der Grundlagen, auf
denen die unverändert robuste Machtposition der USA beruht.5
Tatsächlich verkennt die Euphorie über den im Zuge von Obamas Amtsantritt erwarteten außenpolitischen Wandel bzw. die geforderte Abkehr
von der Politik Bushs vier entscheidende Punkte: Erstens unterscheidet
sich Obamas politische Agenda in vielerlei Hinsicht weit weniger stark
von der seines Vorgängers, als man in Europa bisweilen wahrhaben will.
Zweitens sind die stereotypen Vorwürfe vom amerikanischen Unilateralismus und den fundamentalen außenpolitischen Differenzen im transatlantischen Verhältnis insofern überzogen, als beides sich bereits für die
Clinton-Jahre nachweisen lässt;6 wenn überhaupt, ist es zutreffender, von
einer Verschärfung des unilateralen Reflexes unter der Regierung Bush zu
sprechen, welcher mit der Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, insbesondere mit dem Präemptivschlag im Irak, sicherlich
seinen vorläufigen Höhepunkt erfuhr. Drittens nahm Washington schon
zu Beginn der zweiten Amtszeit Bushs den Dialog mit der Union wieder auf; immerhin besuchte Bush als erster Präsident die EU-Kommission
in Brüssel.7 Viertens sind die Europäer seither zunehmend stärker in das
internationale Krisenmanagement einbezogen worden: Mit dem Iran
verhandelt die EU-Troika Frankreich, Großbritannien und Deutschland
auch im Namen der USA. Während der Georgien-Krise war es zuletzt die
französische Präsidentschaft, die mit Russland ein Abkommen zur Beendigung des Krieges schloss, während Washington auffällig im Hintergrund
blieb. Beim EU-US-Gipfel in Washington 2007 verständigten sich beide
Seiten auf einen Prozess der Vertiefung des transatlantischen Wirtschaftsraumes. Und als die Finanzkrise ausbrach, war nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa entscheidend, sondern auch die EU
gewissermaßen der Schrittmacher, als auf beiden Seiten die finanziellen
Rettungspakte geschnürt wurden. Am Ende folgte Washington Großbritannien und der Union, als man sich gar zu einer notwendigen Teilverstaatlichung der Kreditwirtschaft entschloss.
5
6
7
Lieber, Robert: Falling Upwards: Declinism. The Box set, in: World Affairs
2008, www.worldaffairsjournal.org/2008%20-%20Summer/full-Lieber.html
Leffler, Melvyn: Bush’s Foreign Policy, in: Foreign Policy H 5/2004, S.22-28.
Gordon, Philipp: The End of the Bush Revolution, in: Foreign Affairs 4/2006,
S.75-86.
18
Stefan Fröhlich
Ist Europas Wiederaufstieg das Ergebnis des gewachsenen Führungs- bzw.
Mitgestaltungsanspruchs der EU oder die Konsequenz aus dem relativen Machtniedergang der USA? Ist der weltweit empfundene Niedergang real oder lediglich Ausdruck einer vorübergehenden Bescheidenheit
in Washington angesichts der europäischen und neuen autokratischen
Herausforderer sowie des weltweiten Imageverlustes des Landes? Wo
stehen die USA zu Beginn der Amtszeit Obamas tatsächlich?
Es ist unbestritten, dass das krisenbelastete Amerika aus Kapazitäts- wie
Legitimationsgründen noch lange brauchen wird, um nach Irak zu seiner
alten Führungsstärke zurückzufinden; schon deshalb wird es unter dem
neuen Präsidenten zwangsläufig zu einer Zurücknahme des eigenen globalen Engagements kommen, was für Europäer wiederum bedeutet, dass
die Forderungen nach einer „gerechteren“ Lastenteilung (höhere Verteidigungsausgaben) und mehr Einsatz seitens der EU (Irak und Afghanistan)
lauter werden, als diesen lieb sein dürfte – daran lassen die Äußerungen
Obamas jedenfalls keinen Zweifel.8 Es sind im Wesentlichen wiederum
vier Entwicklungen, die zu diesem Punkt geführt haben: Erstens haben
die Kriege im Irak und in Afghanistan unterstrichen, dass die militärische
Suprematie der USA sich nicht automatisch in politische Erfolge übersetzen lässt. Zweitens suggeriert insbesondere der Aufstieg Chinas ein absehbares Ende Amerikas als führende Wirtschaftsmacht. Drittens nährt
die globale Finanz- und Wirtschaftskrise die These von der mangelnden
Nachhaltigkeit des amerikanischen Modells. Viertens schließlich erfordern die Realitäten der neuen Machtverhältnisse und die Zwänge der globalen Vernetzung auch von Amerika eine größere Anpassungsfähigkeit
und eine Rückkehr zum Programm des „liberalen Internationalismus“ –
jener traditionellen Verbindung von Diplomatie und militärischer Stärke,
wie sie kennzeichnend war für die Außenpolitik in der Clinton-Ära.9
Dennoch wird Washington sich unter Obama nicht aus der Weltpolitik
verabschieden. Auch zu seinem Selbstverständnis wird gehören, dass
amerikanische Präsidenten zugleich die „Führer der freien Welt“ sind; dies
zeigte sich bereits in seinen Wahlkampfäußerungen, wonach die USA der
Garant der internationalen Stabilität und die unentbehrliche Ordnungsmacht seien. Abgesehen von diesem Selbstverständnis sind es zwei Dinge,
die die USA wohl auch in Zukunft ihre Führungsrolle in einer sicherlich
multipolarer werdenden Welt werden ausüben lassen: Amerikas eben aus
diesem Selbstverständnis erwachsender Führungs- und Gestaltungswille,
gepaart mit dem unerschütterlichen Glauben an die Selbstheilungskräfte
8
9
Fröhlich, Stefan: Außenpolitik unter Obama – pragmatischer Multilateralismus und transatlantische Annäherungen, in: Integration 1/2009, S.353-366.
Deudney, Daniel/Ikenberry, John: The Myth of the Autocratic Revival. Why
Liberal Democracy will prevail, in: Foreign Affairs 1/2009, www.foreignaffairs.
org/current/
Whither USA – Taumelt der „sanfte Hegemon“?
19
des Landes, und sein überragendes Machtpotenzial. Zusätzlich gestärkt
wird diese Stellung durch die vergleichsweise günstige demographische
Entwicklung des Landes sowie seine großen Rohstoffvorkommen und
landwirtschaftlich nutzbaren Flächen; aufgrund der Migration, deren
undokumentierter Teil zwar mittlerweile erhebliche Probleme bereitet,
und wegen der hohen Geburtenrate verfügen die USA im Vergleich zu
den meisten potenziellen Konkurrenten über eine junge Bevölkerung.10
2. Amerikas Führungs- und Gestaltungswille
Auch unter der neuen Administration wird Amerika an der Grundüberzeugung festhalten, wonach das Land aufgrund seiner überragenden Machtposition die internationale Ordnung gestalten kann und wonach die Gestaltung der inneren wie äußeren Ordnung im Sinne von Karl Deutsch
zentrale Aufgabe aller Staatlichkeit ist. Und da dieser Gestaltungswille
wesentlich von den religiösen Fundamenten und Werten (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Toleranz, Respekt, Solidarität, Ziel- und Ergebnisorientiertheit) seiner Gesellschaft mitgetragen wird und weil diese
Werte wiederum als quasi natürlicher Wunsch aller Zivilgesellschaften vorausgesetzt werden, werden die USA sich auch künftig mit Nachdruck für
deren Bewahrung und Strahlkraft einsetzen. Bei allem „missionarischem
Internationalismus“11 wird die neue Administration diesen Einsatz jedoch
nicht zu einem generellen normativen Konflikt zwischen dem demokratischen Amerika auf der einen und undemokratischen Regimen, die die
Sicherheit des Landes bedrohen, auf der anderen Seite hochstilisieren. Der
Aufstieg des transnationalen radikalen Islamismus hat zwar das Paradigma säkularer internationaler Beziehungen erschüttert und stellt eine zentrale Herausforderung für den Westen insgesamt dar. Ebenso ist deutlich,
dass der Universalitätsanspruch liberaler Demokratie durch die Betonung
fremder kultureller Eigenheiten und vor allem Russlands und Chinas
Autoritarismus zunehmend in Frage gestellt wird und Washington sich
daher auch aus diesem Grund von der Idee der Erzwingung westlicher
Ordnungsmodelle verabschieden muss.
Andererseits wird sich Amerika gegen die vor allem in Asien erhobenen
Vorwürfe wehren, wonach die zwölf Prozent der im Westen lebenden
Weltbevölkerung unter der Führung Washingtons über die Zukunft der
restlichen 88 Prozent entscheiden dürften. In den USA geht das Gespenst
10
11
Kreft, Heinrich: Die USA im Abstieg? It’s Still the Indispensable Nation, Stupid!,
in: Die Politische Meinung 1/2009, S.23-27; Givens, Terry: Immigration and
Immigrant Integration: Context and Comparison, in: Changing Identities and
Evolving Values. Is there still a Transatlantic Community?, hrsg. von Esther
Brimmer, Center for Transatlantic Relations, Washington D.C, 2006, S.65-72.
Keller, Patrick: Die Smart-Power-Präsidentschaft. Missionarischer Internationalismus oder kraftloser Moralismus?, in: Internationale Politik 1/2009, S.98-101.
20
Stefan Fröhlich
eines neuen Systemkampfs zwar schon seit geraumer Zeit um. Bei diesem
Kampf, so kein Geringerer als der neokonservative Politikwissenschaftler
Robert Kagan, ging es weniger um die machtpolitische Herausforderung
Washingtons (und des Westens im Allgemeinen) durch die neuen Aufsteiger, sondern vielmehr um einen Kampf der Ideen. Länder wie Russland und China seien danach nicht einfach nur autoritär, sie glaubten
vielmehr, dass dieser Autoritarismus zusammen mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg zunehmend zu einem Modell werde, von dem zumal vor dem
Hintergrund der globalen Finanzkrise bereits eine beträchtliche Sogwirkung in der Welt ausgeht. Washington aber wird auch künftig, bei allem
Reformbedarf des amerikanischen Kapitalismus-Modell im Detail, an die
Überlegenheit dieses Systems glauben und Linksliberale wie Liberal-Konservative sind sich einig in der Forderung, dass die Außenpolitik des Landes letztlich weiterhin auf der Annahme basieren müsse, dass eben nur
der Liberalismus den Weg in die Moderne weist.
Ganz unabhängig vom wirtschaftlichen Erfolg der Aufsteiger in den vergangenen Jahren wird bei der Systemdiskussion tatsächlich verkannt,
dass dieser vor allem jener Offenheit des globalen Systems (Freihandel)
geschuldet ist, für die Washington steht. Die Hilfen, der Schutz und die
Entscheidungen der vom Westen geschaffenen Institutionen, westliche
Technologie und die durch die Verlegung der Industrieproduktion entstandenen Arbeitsplätze waren es, von denen Asien profitierte – zunächst
Japan, dann die Tigerstaaten und nun auch China und Indien. Darüber
hinaus ist der Westen der größte Abnehmer der dort hergestellten Waren.
Was aber langfristig vor allem zählt: Wirtschaftlich erfolgreich wird in Zukunft nur derjenige sein, der über Rohstoffe oder über gute Ideen verfügt
und nicht nur über billige Arbeitskräfte oder angelerntes Knowhow. In
beiden Bereichen aber gehören China und Indien noch nicht zur Weltspitze, vielmehr halten Europa und vor allem Amerika bei Forschung und
Entwicklung als Voraussetzung für kreative Wissensgesellschaften den
entscheidenden Vorsprung – nicht zuletzt eine Frage des Systems.
Der unerschütterliche Glaube Washingtons an das eigene System zeigt
sich auch mit Blick auf die (außen)politische Dimension der Debatte.
Isolationistische Reflexe sind auch künftig nicht zu erwarten, ebenso
wenig werden die USA unter der neuen Administration zu einer „Status
quo“-Macht. Neben der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus
und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als zentralem Thema (Obama hat im Wahlkampf deutlich gemacht, dass die innere wie
äußere Sicherheit für ihn unverändert hoch auf der politischen Agenda
rangieren) räumt Washington den Herausforderungen durch schwache
und scheiternde Staaten als Ursache von Instabilität, extreme Armut, Klimawandel und Energieknappheit den gleichen Stellenwert ein und sieht
deshalb amerikanische Sicherheit und Wohlstand untrennbar mit der Si-
Whither USA – Taumelt der „sanfte Hegemon“?
21
cherheit und dem Wohlergehen in anderen Staaten verbunden.12 Aus dieser Verbundenheit heraus ergibt sich für die USA die Notwendigkeit der
Partnerschaft und der Führung durch das eigene Beispiel im Sinne der Jeffersonschen Tradition in der amerikanischen Außenpolitik. Mit anderen
Worten: Obama wird sich der Welt vorerst weit weniger moralistisch und
idealistisch präsentieren als sein Vorgänger. In den vergangenen Monaten
hat er wiederholt betont, dass er einen „außenpolitischen Realismus“ jeder „ideologisierten Außenpolitik“ vorziehe.13
Dennoch steht auch die neue Administration in einer außenpolitischen
Tradition, in der Idealismus und Realismus, Moral und Macht bzw. Interessen miteinander verschmelzen. Obama wird die USA daher in die Rolle
des liberalen und „wohlwollenden Hegemons“ zurückführen wollen, wie
sie den Entwurf amerikanischer Weltpolitik nach 1945 prägte. Danach
können die USA aufgrund ihrer Ressourcen zwar die eigenen Interessen
unilateral verfolgen, sind sich aber andererseits ihrer besonderen globalen
Verantwortung für die Stabilität des internationalen Systems bewusst und
beschränken daher den Einsatz ihrer militärischen Macht nicht auf den
Schutz der amerikanischen Bevölkerung und vitaler Interessen in Fällen
tatsächlich oder unmittelbar bevorstehender Angriffe. Dementsprechend
will Obama bis 2012 die amerikanische Auslandshilfe pro Jahr auf 50 Mrd.
US-Dollar verdoppeln, gleichzeitig aber auch die Verteidigungsausgaben
und die Personalstärke der Streitkräfte (um 90.000) erhöhen – nicht zuletzt zur effektiveren Bekämpfung von Aufständen bzw. Umsturzversuchen in „schwachen“, „scheiternden“ oder „gescheiterten“ Staaten sowie
zur Unterstützung bzw. zum Wiederaufbau von Streitkräften in den betroffenen Ländern („post-conflict-management“).14 Insofern könnte die
Idee des Einsatzes militärischer Macht auch im Falle humanitärer Katastrophen und im Dienste „gemeinsamer Sicherheit“, möglichst im Rahmen internationaler Institutionen, aber auch mit Unterstützung anderer
Staaten in flexiblen „Koalitionen von Handlungswilligen“, wenn der VNSicherheitsrat sich als handlungsunfähig erweist, zum zentralen Eckpunkt
einer künftigen Obama-Doktrin werden.15 In der Überzeugung, dass Demokratie die einzig legitime Regierungsform darstellt, wird Washington
auch künftig demokratische Entwicklungen in aller Welt unterstützen
– weniger im Sinne einer Politik des regime change mit vorwiegend militärischen Mitteln, aber eben doch im Sinne dessen, was die neue Außenministerin Hillary Clinton als „smart power“ bezeichnet: der flexiblen
12
13
14
15
Rudolf, Peter: Amerikas neuer globaler Führungsanspruch, in: SWP-Aktuell,
Berlin 2008.
Zakaria, Farred: Obama Abroad, in: Newsweek 28.7.2008, S.22-25.
Obama, Barack: The American Moment; Defense. BarackObama.com.August
2008, http://www.barackobama.com/issues/defense/; Ders.: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs, July/August 2007, S.7.
Fullilove, Michael: Hope or Glory? The Presidential Election and US Foreign
Policy, Brooking Institution: Policy Paper, 9.10.2008, Washington D.C., S.6f.
22
Stefan Fröhlich
Kombination aus militärischer Macht, ökonomischem Druck, Diplomatie und moralischer Autorität. Ist die nationale Sicherheit Amerikas aber
bedroht, so sind Unilateralismus und selbst Präemptivschläge möglich,
sollte die internationale Staatengemeinschaft zu geschlossenem Handeln
nicht in der Lage sein.16
3. Amerikas Machtressourcen
Entscheidend genährt wird Amerikas Gestaltungswille, sieht man einmal
von den hier nicht weiter thematisierten historischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen ab, von seinen überragenden Machtressourcen.
Dass diese relativ in der Welt abnehmen, ist unstrittig; ähnliche Phasen
durchlief Washington allerdings auch Anfang der siebziger und Ende der
achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Anteil der US-Volkswirtschaft
mit einem Volumen von knapp 14 Billionen Dollar beträgt aber ungeachtet dessen noch immer knapp 28 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes – ein Wert, den in etwa die EU als Ganzes aufweist, aufgrund
der nach wie vor fehlenden politischen Einigung aber nicht annähernd
in ein vergleichbares globales Gewicht übersetzen kann.17 Eine höhere
Beschäftigungsquote wie durchschnittliche Produktivität haben in den
vergangenen zehn Jahren dazu beigetragen, dass die US-Wirtschaft mit
durchschnittlich über drei Prozent ein um etwa ein Prozent höheres
Wachstum erzielte als die Europäer oder Japaner und dass sich die Kluft
zwischen beiden Seiten auch hinsichtlich der durchschnittlichen Kaufkraft weiter zugunsten der USA vergrößert hat – nicht zuletzt auch das
Ergebnis einer weit flexibleren Wirtschaftspolitik, bestehend aus einem
moderaten Keynesianismus, einer undogmatischen Geldpolitik, geringerer Regulierung der Arbeitsmärkte und niedrigeren Steuersätzen. Im gleichen Zeitraum wies die US-Wirtschaft mit einer Arbeitslosenquote von
knapp fünf Prozent im Durchschnitt deutlich bessere Kennzahlen aus als
die EU. Knapp ein Drittel der weltweiten Direktinvestitionen fließt in die
USA, nicht zuletzt weil die Rahmenbedingungen im Land in den Augen
von Investoren noch immer als die weltweit günstigsten bewertet werden
und weil man seine Wirtschaft für anpassungsfähiger und innovativer als
jede andere hält. Finanzdisponenten verschieben ihr Kapital selbst in der
momentanen Krise nach wie vor eher in die USA, in der Erwartung, dass
es dort höher oder sicherer verzinst wird als im Euroraum – ein Beweis
dafür, dass das internationale Währungs- und Finanzsystem noch immer
maßgeblich von Washington bestimmt wird und der Dollar unverändert von seiner traditionellen Rolle als Leitwährung profitiert. Schließlich bewirkten die Wirtschaftskraft und die augenscheinliche Überlegen16
17
Obama: The Audacity of Hope, S.308f.
Zakaria, Fareed: The Future of American Power. How American can survive the
rise of the rest, in: Foreign Affairs 3/2008, S.18-43, S.27f.
Whither USA – Taumelt der „sanfte Hegemon“?
23
heit des amerikanischen Wirtschaftsmodells in den vergangenen Jahren
auch, dass Washington mit seinen ordnungspolitischen Vorstellungen die
Agenda der zentralen internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen WTO und IWF dominierte. Dass diese Dominanz vor dem Hintergrund der aktuellen Krise künftig weniger durchschlagend sein wird, ist
zwar unbestritten. Dennoch kann man davon ausgehen, dass Washington
die Weltwirtschaft weiterhin entscheidend prägt; seine fragile Hegemonialposition besteht ja gerade darin, dass es zwar von Kapitalimporten
abhängig ist, der Rest der Welt im Gegenzug aber darauf angewiesen ist,
dass Amerika ausländisches Kapital attrahiert und zu weltwirtschaftlicher
Nachfrage verarbeitet.
Viel entscheidender aber dürfte auch künftig ein anderer Faktor sein: Um
seine Zukunfts- und Innovationsfähigkeit zu sichern, geben die Amerikaner mehr für Forschung und Entwicklung aus als jedes andere Land
der Welt und sichern sich so ihren weltweiten Wettbewerbsvorsprung.
Die USA investieren knapp 2,6 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in die
Hochschulbildung im Vergleich zu 1,2 Prozent in Europa und 1,1 in Japan.
Der Grund für Wachstum, Innovation und Produktivitätsfortschritt liegt
vor allem in den Investitionen in Schlüsselbereiche wie der Nano- oder
Biotechnologie, wie sie durch die enge Verzahnung von Wissenschaft, Privatwirtschaft und Politik ermöglicht werden. Je nach Studie finden sich
sieben bis acht von zehn bzw. 70 Prozent der besten 50 Universitäten in
der Welt in den USA.18 Mehr als drei Viertel der vorderen Ränge unter den
weltweit führenden Forschungsinstituten werden schließlich von amerikanischen eingenommen. Auch wenn also die aktuelle Rezession für die
USA tiefer ausfallen sollte als für Europa und die anderen Herausforderer,
so dürfte Amerika am Ende auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen.
Vor allem aber wäre es voreilig, damit das Ende der amerikanischen Vorherrschaft zu prophezeien.
Dies zeigt vor allem ein direkter Vergleich mit den Herausforderern. Richtig ist, dass es sich heute auch die USA nicht mehr leisten können, Chinas ökonomischen Aufstieg bzw. die eigene Abhängigkeit gegenüber dem
mittlerweile größten Gläubiger (Pekings Anteil an US-Staatsanleihen beträgt knapp 600 Milliarden Dollar) zu unterschätzen; das amerikanische
Zahlungsbilanzdefizit steuert auf fast eine Billion Dollar zu, wofür vor allem die Schieflage im Handel mit China verantwortlich ist. Nicht nur beeindrucken die Wachstumsgeschwindigkeit von jährlich durchschnittlich
acht bis zehn Prozent und die zunehmenden Verlagerungstendenzen. Die
mit einem nominalen Bruttoinlandsprodukt von ca. 3,3 Billionen Dollar
mittlerweile drittgrößte Volkswirtschaft der Welt (gemessen nach Kaufkraftparitäten liegt China gar an zweiter Stelle) verfügt außerdem über
Devisenreserven von rund einer Billion Dollar und zieht neben den USA
18
Ebd., S.31f.
24
Stefan Fröhlich
mit etwa 60 Milliarden Dollar weltweit die mit Abstand höchsten ausländischen Direktinvestitionen an.19 Auch handelt es sich im Falle Chinas
heute durchaus um eine vergleichsweise geschlossene Volkswirtschaft mit
einem relativ geordneten Finanz- und Devisensystem, welches den Kapazitätsausbau der Industrie und der Infrastruktur (insbesondere in den
Küstengebieten), begünstigt durch niedrige Produktionskosten und hohe
Flexibilität des „Humankapitals“, über die vergangenen Jahre mit atemberaubender Geschwindigkeit vorangetrieben hat. Insofern deutet vieles
darauf hin, dass Chinaoptimisten mit Blick auf die weitere positive Entwicklung des Landes Recht behalten könnten; dies bestätigt nicht zuletzt
die dynamische Entwicklung der Privatwirtschaft.
Auf der anderen Seite aber trübt die Globalisierungsangst im Westen zum
Teil den nüchternen Blick auf die tatsächlichen Kräfteverhältnisse. Während die USA mit fünf Prozent der Weltbevölkerung für etwa 28 Prozent des
Weltbruttoinlandsprodukts stehen, kommt China mit einem Fünftel der
Weltbevölkerung auf gerade einmal fünf Prozent (Indien mit einem ähnlichen Bevölkerungsanteil auf zwei Prozent).20 Mit anderen Worten: China
zählt heute zweifelsohne zu den Handelsriesen, muss aus wirtschaftlicher
Sicht aber nach wie vor als Entwicklungsland eingestuft werden. Hinzu
kommt, dass das Land vor einer Reihe von gravierenden Problemen steht
– so u.a. der ständigen Gefahr einer Überhitzung der Wirtschaft, dem zunehmenden Haushaltsdefizit, der disparaten Entwicklung seiner Regionen, einem großen sozialen und Einkommensgefälle (fast jeder Zweite der
1,3 Milliarden Chinesen erwirtschaftet weniger als zwei Dollar täglich,
weshalb das Land gemessen am Pro-Kopf-Einkommen im weltweiten Vergleich lediglich auf Platz 132 liegt),21 der mangelnden Ausbildung seiner
Landbevölkerung, die noch immer 45 Prozent der arbeitenden Chinesen
ausmacht, gigantischen Umweltproblemen, faulen Bankkrediten in Höhe
von weit mehr als 30 Prozent des BIP, deren Bewältigung China noch auf
lange Sicht davon abhalten wird, in Bezug auf seine Wirtschaftsleistung zu
den USA und der EU aufzuschließen. Als mittlerweile zweitgrößter Energiekonsument nach den USA ist es zudem trotz seiner großen Kohle-, Öl- und
Gasvorkommen dringend auf Importe angewiesen, weshalb es weltweit Exklusivabkommen mit Paria-Staaten abschließt und dabei auch keine Konflikte mit Nachbarländern scheut.
19
20
21
UNCTAD: World Investment Report 2008. Country Fact Sheet China, http://
www.unctad.org/sections/dite_dir/docs/wir08_fs_cn_en.pdf; Joseph Quinlan:
The Rise of China: A brief review of the implications on the transatlantic
partnership. German Marshall Fund of the United States, GMF Paper Series,
Washington 2006, http://www.gmfus.org/publications/index.cfm
Vgl. Weltbank: Quick References Tables, http://web.worldbank.org/WEBSITE/
EXTERNAL/DATASTATISTICS/O”contentMDK:20399244~menu~pagePK:641
33150~piPK:64133175~theSitePK:239419,00.html
Gross National Income per Capita 2007. Atlas method and PPP, http://www.
siteresources.worldbank.org/DATASTATISTICS/Resources/GNIPC.pdf
Whither USA – Taumelt der „sanfte Hegemon“?
25
Nicht zuletzt aus diesem Grund ist China vor allem an innerer und äußerer Stabilität interessiert. In der Außenpolitik spricht das Land immer
häufiger von dem neuen außenpolitischen Konzept der „harmonischen
Welt“. In ihr stellt China zwar der Macht der USA und dem Ideal von
Demokratie und universellen Menschenrechten das Konzept einer vielfältigen, multipolaren Welt gegenüber, in der jeder Staat seinen eigenen Entwicklungspfad beschreitet und in der es keine Einmischung in innere Angelegenheiten gibt, in der man jedoch vorerst die globale Führungsrolle
der USA auch nicht durch einen ordnungspolitischen Konkurrenzkampf
heraufordern will; ein solcher würde das Land auch aus Sicht Pekings materiell überfordern und den ökonomischen Aufstieg gefährden.
Eben diesen politischen Willen hat zweifellos Moskau und stützt sich dabei natürlich nach wie vor auf seinen Rang als neben den USA stärkste
Nuklearmacht. Russland ist jedoch aufgrund der weit schwächeren ökonomischen Ausgangslage schlicht überfordert, die USA ernsthaft herauszufordern. Zwar meldet das Land seit längerem den Anspruch einer
globalen (Ordnungs)macht an; die Fähigkeit hierzu bemisst sich jedoch
allenfalls an seinem Störpotenzial in seiner Peripherie, der Vetomacht
im UN-Sicherheitsrat (Nahost, Iran, Nordkorea) und seinen Energiereserven, die zunehmend zu einem politischen Hebel im Umgang mit seinen
Nachbarn und gegenüber der EU geworden sind. Ökonomisch jedoch ist
die Basis des Landes, vor allem aufgrund der geringen Diversifizierung
seiner Industriestrukturen, selbst nach Einschätzung russischer Experten
gerade einmal auf dem Stand eines Schwellenlandes mit mittelmäßigem
Entwicklungsniveau, dessen Ressourcen zwar enorm sind, dessen Mittel
zu deren Förderung und Vermarktung jedoch begrenzt sind.22 Nimmt
man die dramatische demographische Entwicklung hinzu und bedenkt
man, dass eine politische Reimperialisierung Russlands angesichts der Abwendung der nunmehr unabhängigen Staaten unrealistisch erscheint, so
ist eine globale Führungsrolle, die Washington ernsthaft herausfordern
könnte, mittel- bis langfristig kaum vorstellbar.
Dies gilt noch viel stärker mit Blick auf die unverändert überragende
militärische Überlegenheit der USA. Ganz unabhängig davon, dass die
Grenzen dieser Dominanz auch den USA in den vergangenen Jahren
schmerzlich vor Augen geführt wurden, sollte der Abschreckungs- wie
der psychologische Effekt dieser Dominanz dennoch nicht unterschätzt
werden. Zunächst gilt, dass kein anderes Land auch nur annähernd an
die militärischen Fähigkeiten der USA heranreicht. Kein anderes Land
ist in der Lage, seine militärische Macht global einzusetzen; mit einem
weltumspannenden Netz an Militärbasen und ihrer auf allen Weltmeeren
präsenten Flugzeugträgerflotte können die USA ohne Zeitverlust rasch auf
22
Fröhlich, Stefan: Die EU als globaler Akteur, Wiesbaden 2008, S.199-216.
26
Stefan Fröhlich
etwaige Krisen in der Welt reagieren und militärische Macht projizieren.23
Die amerikanischen Streitkräfte sind die am besten ausgebildeten und
ausgerüsteten in der Welt; für ihre technologische Überlegenheit prägte
das Pentagon bereits zur Millenniumswende den Begriff von der „fullspectrum-dominance“.24 Schließlich entspricht der Verteidigungshaushalt der USA mit über einer halben Billion US-Dollar rund der Hälfte der
weltweiten Verteidigungsausgaben.25
Damit sind die amerikanischen Ausgaben in etwa doppelt so hoch wie
die der EU-27 und sechsmal größer als die Chinas, des derzeit einzigen
potenziellen Rivalen neben der EU – legt man die geschätzten Zahlen des
chinesischen Verteidigungshaushalts zugrunde, die die offiziellen in etwa
um das Dreifache überschreiten; nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts gibt Peking derzeit gerade ein Zehntel dessen für
die Verteidigung aus, was die USA ausgeben. Zwar hat die EU den Ausbau
der GASP/ESVP in den letzten Jahren institutionell vorangetrieben, bezüglich ihrer Fähigkeiten aber klafft weiterhin eine große Lücke zu den
USA. Chinas Militärpotenzial wiederum hat mittlerweile zwar für die Region ein derart bedrohliches Ausmaß angenommen, dass einzig die Präsenz der amerikanischen Streitkräfte, gestützt auf die Verbündeten Japan,
Südkorea und Taiwan, einer künftigen Machtausdehnung des Landes in
Asien vorzubeugen vermag. Andererseits legt es Peking nicht darauf an,
etwa durch die Entwicklung eines eigenen Flugzeugträgerverbandes die
militärstrategische Dominanz der USA in der asiatisch-pazifischen Region
herauszufordern und damit gar eine Konfrontation mit der globalen Militärmacht der USA zu provozieren. Ähnliches gilt bei allen Provokationen
im Übrigen für Moskau. So bleibt die überragende Militärmacht der USA
wohl auch weiterhin „nicht die Ursache amerikanischer Stärke, aber ihre
Konsequenz“.26 Und wo immer diese in die Waagschale geworfen wird,
ob in regionalen Konflikten oder in Friedensverhandlungsprozessen wie
im Nahen Osten, lässt deren politisch-psychologische Wirkung als Drohund Rückversicherungspotenzial die Konfliktparteien die Führungsrolle
Washingtons letztlich akzeptieren.
Gestützt auf diese Ressourcen wird Washington wohl auch künftig seine
überragende Militärpräsenz vor allem zur Sicherung der freien Ölzufuhr und
stabiler Verhältnisse insbesondere im Greater Middle East, aber auch in der
23
24
25
26
Fröhlich, Stefan: Die USA – die einzig verbliebene Supermacht?, in: Macht
und Mächte in einer multipolaren Welt, hrsg. von Michael Piazolo, Wiesbaden
2006, S.53-78.
US Department of Defense: Joint Vision 2020 Emphasizes full-spectrum dominance, http://www.dfefenselink.mil/news/newsarticle.aspx?id=45289
Stockholm International Peace Research Institute: Military Expenditure Database: http://www.milexdata.sipri.org, 2008
Kreft: Die USA im Abstieg?, S.24.
Whither USA – Taumelt der „sanfte Hegemon“?
27
pazifischen Region nicht aufgeben; allein die neuen Verteilungskämpfe um
die weltweit verfügbaren Energieressourcen werden zur Sicherung der Netzwerke und Transportwege internationale Überwachungssysteme, womöglich
auch in Form multinationaler schneller Eingreiftruppen, dringend notwendig
machen. Washington wird aber dabei versuchen, sich erstens diesen Regionen mit seinen ordnungspolitischen Vorstellungen nicht weiter als nötig aufzudrängen, und es wird zweitens alles unternehmen, um die sich daraus ergebenden enormen finanziellen Belastungen durch Lastenteilung zu senken.
Das Instrument für diese Strategie sieht man beispielsweise im Greater Middle
East in der Schaffung einer regionalen kollektiven Sicherheitsarchitektur, in
der neben den Staaten der Region und den Europäern auch China, Indien und
evtl. Russland einen Teil der Kosten übernehmen und wenn möglich auch
militärisch präsent sein sollen. Mit anderen Worten: „Entamerikanisierung“
bei gleichzeitiger Regionalisierung lauten die Mittel, mit denen Washington
seine Militärpräsenz sukzessive auf ein Mindestmaß reduzieren und seine Akzeptanz als „wohlwollender Hegemon“ wiederherstellen will; dabei sollen alle
Staaten der Region, Syrien und Iran inbegriffen, einbezogen werden.
4. Ausblick
An Amerikas Grundüberzeugung, wonach es aufgrund seiner überragenden Machtposition und seines Selbstverständnisses die internationale Ordnung gestalten kann, wird sich auch künftig nichts ändern. Die USA werden auch künftig selektiv und unter Abwägung ihrer ordnungspolitischen
Ziele und Interessen über den Einsatz ihrer überragenden Mittel in der
Welt und mögliche Bündnispartner im Sinne „flexibler Koalitionen“ entscheiden. Trotz Wirtschafts- und Finanzkrise und enormer politischer Herausforderungen haben sie dazu unverändert die besten Voraussetzungen,
wenn sie sich vor allem auf die strukturellen Elemente und Vorteile ihrer
„soft power“ besinnen: Von ihrer Größe und den materiellen Ressourcen
über das Humankapital und die Dominanz in den Bereichen der Spitzentechnologien bis hin zur amerikanischen Massenkultur, der ungebrochenen Anziehungskraft ihrer Universitäten und Forschungseinrichtungen
sowie der liberalen politischen und ökonomischen Traditionen sind die
Vereinigten Staaten prädestiniert, eine weltweite Führungsrolle einzunehmen – nicht im Sinne der Bush-Administration, sondern orientiert am Bild
des „wohlwollenden Hegemon“, der sich auf die traditionell liberale und
multilaterale Konzeption amerikanischer Außenpolitik besinnt, erkennt,
dass die Sicherheit des Landes untrennbar mit dem Wohlergehen anderer
Staaten verbunden ist, und die neuen Aufsteiger in enger Abstimmung mit
den europäischen Bündnispartnern stärker einbindet. So oder so aber gilt:
Der Hegemon ist angeschlagen und hat relativ an Führungskraft eingebüßt, taumeln aber tut er deshalb noch nicht. Amerika wird das künftige
Weltgeschehen weiterhin entscheidend (mit)bestimmen.
Ready to Lead Once More?
Die Zukunft des amerikanischen
Führungsanspruchs
Georg Schild
„What is required of us now is a new era of responsibility – a recognition
... that we have duties to ourselves, our nation and the world, duties that
we do not grudgingly accept but rather seize gladly.“ Barack Obama
In seiner Rede zur Amtsübernahme am 20. Januar 2009 hat der amerikanische Präsident Barack Obama noch einmal einen amerikanischen Führungsanspruch in der internationalen Politik bekräftigt: „We are ready to
lead once more.“ Dieser Anspruch fügt sich nahtlos in die außenpolitische
Tradition der Vereinigten Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
ein. Doch während dieser amerikanische Anspruch in den Jahren des Kalten Krieges in Westeuropa auf grundlegende Zustimmung stieß, wurde
er seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zunehmend kritisch hinterfragt.
Während des Irakkrieges von 2003 kam es sogar zu einer offenen Kritik europäischer Regierungen an einem primär militärisch verstandenen
und unilateral durchgesetzten amerikanischen Vormachtanspruch. Der
Obama-Administration wird es nur gelingen, einen Führungsanspruch
durchzusetzen, wenn sie Lösungen internationaler Krisen jenseits von
reiner Militärmacht (hard power) entwickelt. Frühere Vorstellungen einer kulturellen Attraktivität des Landes (soft power) müssen wieder belebt
und die Ausrichtung der Politik in der Armutsbekämpfungs-, Menschenrechts- und Umweltschutzfrage geändert werden. Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton hat für eine solche Politik, die inhaltlich
jedoch noch nicht genau definiert ist, bereits den Begriff „smart power“
geprägt. Ein Erfolg dieser Bemühungen erscheint zu Beginn der Amtszeit
Obamas angesichts der Größe und Komplexität der internationalen Probleme und der Schwierigkeiten der heimischen Wirtschaft keineswegs garantiert. Erste Maßnahmen der Administration machen jedoch deutlich,
dass eine grundlegende Richtungsänderung gegenüber der Außenpolitik
der Bush-Administration geplant ist – manche Beobachter sprechen von
einem „Epochenwandel“ und einer „Erneuerung der transatlantischen
Partnerschaft“ –, so dass der Präsident zumindest in Europa zunächst mit
breiter Zustimmung wird rechnen können.1
1
Lobe, Jim: Clinton Stresses „Cooperative Engagement“, „Smart Power“, in: IPS
News Agency, ipsnews.net, 20.1.2009; Rüb, Matthias in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 14.1.2009, S.5; Frankenberger, Klaus-Dieter: Neuanfang über
den Atlantik hinweg, in: FAZ, 9.2.2009, S.1.
Ready to Lead Once More?
29
1. Der amerikanische Führungsanspruch im Kalten Krieg
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erklärte der amerikanische
Präsident John F. Kennedy in seiner Ansprache zur Amtseinführung am
20. Januar 1961, dass die Vereinigten Staaten alle Lasten tragen würden, die zur Unterstützung der Verbündeten und zur Durchsetzung der
Freiheit notwendig seien: „We shall pay any price, bear any burden, meet
any hardship, support any friend, oppose any foe to assure the survival
and the success of liberty.“ Dieses öffentlich vorgetragene Verteidigungsversprechen bildete den Kern des US-amerikanischen Führungsanspruchs
über die westlich-demokratische Staatengemeinschaft in den Jahren des
Kalten Krieges. Ohne die glaubwürdige Zusage einer amerikanischen Unterstützung im Falle einer sowjetischen Aggression wäre Westeuropa der
übermächtigen Roten Armee weitgehend schutzlos ausgeliefert gewesen. Doch bereits während des Kalten Krieges kamen Zweifel daran auf,
ob die USA die Lasten dieses Beistandsversprechens dauerhaft würden tragen können. Seit Mitte der sechziger Jahre waren die USA in einen langwierigen Krieg in Indochina verstrickt, bei dem es um die Durchsetzung
eines amerikanischen Beistandsversprechens für die Regierung Süd Vietnams ging. Als deutlich wurde, welch enorme Ressourcen der Vietnamkrieg verschlang, versuchte Präsident Richard Nixon den Krieg zu beenden
und finanzielle Lasten der Rüstungsanstrengungen auch auf europäische,
besonders deutsche Schultern zu verlagern. Nach dem Zweiten Weltkrieg
habe Amerika die Staaten Westeuropas wirtschaftlich wieder aufgebaut,
so Nixon in einer Fernsehansprache am 15. August 1971, „now that
the other nations are economically strong, the time has come for them
to bear their share of the burden of defending freedom around the
world.”2 Präsident Ronald Reagan beschwor in den achtziger Jahren wieder einen amerikanischen Führungsanspruch, indem er noch einmal
deutlich auf die ideologische Konfrontation mit der UdSSR als dem Reich
des Bösen („the focus of evil in the modern world”) hinwies. Dieser Führungsanspruch wurde von den Europäern jedoch als weniger überzeugend angesehen als Kennedys zwanzig Jahre zuvor. Insbesondere die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Westeuropa und die Pläne zur
Errichtung eines Raketenschirms zur Abwehr von Interkontinentalraketen hätten die Sicherheit Amerikas von der Europas in bedenklichem
Maße abgekoppelt.
Ein Führungsanspruch der USA erschien den Europäern in den Jahren
nach dem Ende des Kalten Krieges aus einer Reihe von Gründen obsolet. Die rasch wachsende Europäische Union wollte selbst politische und
wirtschaftliche Ordnungsaufgaben übernehmen. Darüber hinaus untergruben die USA ihren eigenen Führungsanspruch in den neunziger
2
Zit. nach Perlstein, Rick: Nixonland: The Rise of a President and the Fracturing
of America, New York 2008, S.602f.
30
Georg Schild
Jahren durch eine schnelle Abfolge unterschiedlicher Sicherheitskonzeptionen. Unter Präsident George H.W. Bush vertrat Washington einen
multilateralen Ansatz. Das Konzept einer „neuen Weltordnung” wurde
jedoch jenseits des ersten Irakkrieges, der als Koalitionskrieg geführt wurde, nie exakt definiert. Bushs Nachfolger Bill Clinton wollte sich nach
Jahrzehnten der vermeintlichen Dominanz der Außen- und Sicherheitspolitik wieder der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Schaffung eines
Krankenversicherungssystems und der Verbesserung der maroden Infrastruktur des Landes widmen. Außenpolitische Kontroversen lenkten seiner Meinung nach nur von seinen eigentlichen Interessen ab. Im Konflikt auf dem Balkan wollte sich Clinton lange Zeit nicht engagieren; den
Völkermord in Ruanda ignorierte er bewusst, um keine Interventionszwänge zu schaffen.
Im Wahlkampf des Jahres 2000 kritisierten republikanische Politiker,
dass es Clinton nicht gelungen sei, eine Außenpolitik zu formulieren, die
den Interessen Amerikas angemessen war. Clintons Nachfolger Präsident
George W. Bush fand nach dem 11. September 2001 im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus ein neues außen- und sicherheitspolitisches
Ziel. Gestützt auf sein überlegenes militärisches Arsenal würde das Land
keine Bedrohungen durch andere Staaten oder terroristische Vereinigungen hinnehmen. Potenziellen Aggressoren, die sich um den Besitz von
Massenvernichtungswaffen bemühen, werde gemäß der Bush-Doktrin
des „preemptiven” Vorgehens bereits entgegengetreten werden, bevor es
zu einer konkreten Gefährdung Amerikas komme. Im Vorwort des National Security Strategy Berichts vom September 2002 erklärte Bush die
Verteidigung der Nation gegen äußere Feinde zur wichtigsten Pflicht der
Bundesregierung: „In an age where the enemies of civilization openly and
actively seek the world’s most destructive technologies, the United States
cannot remain idle while dangers gather.” Und weiter: „History will judge
harshly those who saw this coming danger but failed to act. In the new
world we have entered, the only path to peace and security is the path of
action.” Das Instrumentarium, dessen sich der Präsident dabei bedienen
wollte, schloss den Einsatz von militärischen Mitteln bewusst ein: „To
defeat this threat we must make use of every tool in our arsenal – military
power, better homeland defenses, law enforcement, intelligence, and vigorous efforts to cut off terrorist financing.” Präsident Bush und seine ideologischen Mitstreiter proklamierten eine Identität von amerikanischer
Sicherheit und internationaler Freiheit und einen unbedingten amerikanischen Führungsanspruch im Kampf gegen die Feinde der Freiheit.3
Der Irakkrieg von 2003 war die Umsetzung dieses amerikanischen Anspruchs, Gefahren unilateral zu definieren und alleine zu ihrer Beseitigung
einschreiten zu dürfen. Gleichzeitig beruhte der Irakkrieg auf der Vorstel3
The National Security Strategy of the United States, Washington D.C. 2002.
Ready to Lead Once More?
31
lung einer absoluten militärischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten,
für die der Publizist Charles Krauthammer den Begriff der „unipolar power“ geprägt hat.4 Das Vermächtnis des Irakkrieges wird die zukünftige
Außenpolitik Präsident Obamas in mehrfacher Hinsicht belasten:
–
Der Irakkrieg und zunehmend auch die Besatzung Afghanistans werden auf absehbare Zeit amerikanische Kräfte im Mittleren Osten binden. Die Obama-Administration hat gar keine andere Wahl, als den
Konflikt weiter zu führen. Ein Zusammenbrechen der politischen
Strukturen in Afghanistan und im Irak und ein weiteres Erstarken
dortiger radikal-fundamentalistischer Kräfte nach einem amerikanischen Abzug hätten unabsehbare negative Auswirkungen. Die Opfer,
die Amerika bisher im Irak gebracht hat, wären vergebens gewesen.
Ein internationaler Führungsanspruch der USA könnte nach einem
Verlust des Irak nicht länger aufrecht erhalten werden, weil die Glaubwürdigkeit Washingtons grundsätzlich infrage gestellt wäre. Der amerikanische Verteidigungsminister Robert M. Gates wies zu Beginn des
Jahres 2009 in der außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs auf diesen außenpolitischen Zwang hin: „To be blunt, to fail – or to be seen
to fail – in either Iraq or Afghanistan would be a disastrous blow to
U.S. credibility, both among friends and allies and among potenzial
adversaries.”5 Diese Begründung für den Verbleib im Irak ähnelt der
für die Weiterführung des Vietnamkrieges nach 1968.
–
Die unzutreffende Begründung des Irakkrieges und die Folgen des
Krieges, die Schaffung eines Gefängnisses auf Kuba mit dem erklärten
Ziel, den Inhaftierten die Schutzbestimmungen der amerikanischen
Verfassung vorzuenthalten, sowie Übergriffe auf Gefangene im Abu
Ghraib-Gefängnis in Bagdad haben den moralischen Führungsanspruch Amerikas nachhaltig infrage gestellt. Besonders in den arabischen Ländern galten die USA zuletzt nicht mehr als ehrlicher Makler
zwischen verfeindeten Parteien, sondern als Gegner der Moslems.
–
Der Irakkrieg hat die amerikanische Politik in den letzten Jahren so
sehr dominiert, dass die Bush-Administration kein einziges anderes
außenpolitisches (oder innenpolitisches) Problem gelöst hat. Noch
immer stehen sich die Staaten Indien und Pakistan sowie Nord- und
Süd-Korea hoch gerüstet gegenüber. Der Nahostkonflikt ist ebenso ungelöst wie die Frage, wie auf die Entwicklung einer iranischen Atombombe zu reagieren sei. Auf den russischen Einmarsch in Georgien
während der Olympischen Sommerspiele im Jahre 2008 und den Start
4
Krauthammer, Charles: ABM, Kyoto, and the New American Unilateralism, in:
The Weekly Standard Magazine, 4.6.2001.
Gates, Robert M.: A Balanced Strategy: Reprogramming the Pentagon for a
New Age, in: Foreign Affairs 1/2009, S.28.
5
32
Georg Schild
einer nord-koreanischen Langstreckenrakete im April 2009 haben die
USA nur mit zurückhaltenden Verlautbarungen reagiert. Die Vereinigten Staaten sind nicht länger die „unipolare Macht”, als die sie sich
vor 2003 gefühlt haben: „America’s military and ideological commitments grew and grew, far beyond its capacity to carry them out,” so
der Publizist Peter Beinart, „and now the bubble has popped.”6
–
Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Herbst 2008 erkennbar geworden ist, wurde zu Beginn des Jahres 2009 auch als Bedrohung
der internationalen Sicherheit wahrgenommen. Der amerikanische
Vizepräsident Joseph Biden erklärte am 7. Februar 2009 vor der
Münchener Sicherheitskonferenz: „We are all confronting a serious threat to our economic security that could spread instability
and erode the progress we‘ve made in improving the lives of our
citizens.”7 Amerika wurde in einem Ausmaß von der Krise betroffen,
dass von einer wirtschaftlichen Führungsrolle des Landes nicht mehr
gesprochen werden konnte. Mehr noch: Die Wirtschaftskrise ging
von den USA aus. Die Obama-Administration wird der Realität ins
Auge sehen müssen, dass Amerika nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um die Krise selbst zu bewältigen. Die USA sind
auf Unterstützung von reichen Staaten wie China und den ölexportierenden Ländern angewiesen. Das wird dauerhafte Auswirkungen
haben. Amerika wird sich bei diesen Ländern in einem in Friedenszeiten einmaligen Ausmaß verschulden. Der Zusammenbruch der
Finanzmärkte stellt schließlich all das infrage, wofür Amerika in
der Vergangenheit stand: die Freiheit, die sich aus uneingeschränkter wirtschaftlicher Entfaltung ergibt. Der ehemalige amerikanische
Finanzminister Roger Altman schrieb in der Zeitschrift Foreign Affairs, dass in der Krise 2008/9 das amerikanische Modell der freien
Marktwirtschaft selbst in Mitleidenschaft gezogen worden sei. „The
United States‘ global power, as well as the appeal of U.S.-style democracy, is eroding.”8
2. Smart Power
Wenn die Obama-Administration in dieser schwierigen Situation wieder
eine amerikanische Führungsrolle proklamiert, so muss sie in allen oben
genannten Punkten neue Antworten vorlegen. Neben dieser inhaltlichen
6
7
8
Beinart, Peter: The Solvency Doctrine: To Restore American Power, Obama
Needs a Foreign Policy That Recognizes Its Limits, in: Time, 2.2.2009, S.30.
Biden, Joseph: Speech at 45th Munich Security Conference, 7.2.2009, www.
securityconference.de
Altman, Roger: The Great Crash, 2008: A Geopolitical Setback for the West, in:
Foreign Affairs 1/2009, S.3.
Ready to Lead Once More?
33
Neubestimmung der Politik wird es von Bedeutung sein, wie Obama die
politischen Beziehungen zwischen seinem Land und den Verbündeten
grundsätzlich gestalten will.
In einem ersten Schritt wird er sich von den offensichtlichen Schwachstellen der Politik Bushs befreien müssen: Das Gefangenenlager Guantánamo
wird geschlossen werden müssen und folterähnliche Verhörmethoden
wie das simulierte Ertränken (waterboarding) werden verboten.9
Die amerikanische Diplomatie muss sich von der Androhung militärischer Gewalt als Mittel der Politik in Richtung Vermittlung unterschiedlicher Vorstellungen entwickeln. In ihrer Nominierungsanhörung erklärte
Außenministerin Hillary Clinton: „Diplomacy will be the vanguard of
[the new administration‘s] foreign policy.” Militärmacht solle nur als letztes Mittel eingesetzt werden. „One need only look to North Korea, Iran,
the Middle East, and the Balkans to appreciate the absolute necessity of
toughminded intelligent diplomacy – and the failures that result when
that kind of diplomatic effort is absent.”10
Zu erwarten, dass Obama schnell die außenpolitischen Probleme Amerikas lösen werde, hieße den Gestaltungsspielraum der Politik zu überschätzen. Die Vereinigten Staaten können den Irak nicht kurzfristig
verlassen und das Land seinem Schicksal überlassen. In ihrer Anhörung
vor dem Senat erklärte Hillary Clinton, dass die USA den Irakkrieg „verantwortlich” beenden werden. Sie wiederholte nicht das Wahlkampfversprechen, die Truppen innerhalb von 16 Monaten vollständig abzuziehen. Verteidigungsminister Gates geht davon aus, dass es auf Jahre
hinaus („for years to come”) amerikanische Militärberater im Irak geben
wird. In Afghanistan soll das US-Truppenkontigent, das gegen Ende des
Jahres 2008 etwa 34.000 Mann umfasste, im Verlauf des Jahres 2009
um mindestens zwei Brigaden (7.000 Mann) – evtl. sogar um weitere
30.000 Mann – erhöht werden.11
Auch andere Konfliktherde werden nicht kurzfristig befriedet werden
können. Mit der Ernennung George Mitchells, eines ehemaligen Senators und erfolgreichen Vermittlers im Nordirland-Konflikt, zum Sondergesandten für den Nahen Osten sowie des früheren UN-Botschafters Richard
Holbrooke zum Gesandten für Afghanistan und Pakistan hat der Präsident
deutlich gemacht, wie wichtig ihm Lösungen dieser Konflikte sind. Die
erste Aufgabe beider Unterhändler wird es sein, die Konfliktregionen zu
bereisen und für Vertrauen in Amerika als Konfliktschlichter zu werben.
9
10
11
FAZ, 23.1.2009.
Lobe: Clinton Stresses „Cooperative Engagement“.
Ebd.; Gates: A Balanced Strategy, S.29; Cooper, Helene: Fearing Another Quagmire in Afghanistan, in: New York Times, 25.1.2009.
34
Georg Schild
Ähnliches gilt für Obamas Bereitschaft zum Meinungsaustausch mit dem
Iran. Washington erklärt sich zu Gesprächen ohne Vorbedingungen bereit. Gleichzeitig ist die Obama-Administration jedoch der Überzeugung,
dass Nuklearwaffen in den Händen Irans nicht zu tolerieren sind. Wie der
Iran von seinen Nuklearplänen abgebracht werden kann, ist derzeit noch
völlig unklar.12
Am wenigsten Spielraum hat Obama im Bereich der Wirtschafts- und Finanzkrise. Es wäre ein Fehler, die Krise nur als kurzfristiges Ereignis aufzufassen. Sie hat das strukturelle Problem der amerikanischen Verschuldung, die sich gegenwärtig auf etwa sechs Billionen Dollar beläuft und
pro Jahr um eine weitere Billion Dollar zunimmt, deutlich gemacht. Zum
regulären Verteidigungshaushalt in Höhe von etwa 500 Mrd. Dollar pro
Jahr kommen derzeit jährliche Ausgaben für die Kriege im Irak und Afghanistan in Höhe von 100 Mrd. Dollar. Die USA führen im Irak einen
Krieg, den sie sich nicht leisten können. Unbekannt sind derzeit noch die
Kosten, die durch das Bankenrettungs- und Wirtschaftsstimulationsprogramm auf die USA zukommen werden. Es wird aber mit weiteren 1.000
Milliarden Dollar zu rechnen sein. Das Land ist zur Deckung der Staatsschulden und zum Ausgleich der negativen Handelsbilanz in Höhe von
geschätzten 700 Mrd. Dollar allein für das Jahr 2008 auf einen stetigen
Kapitalimport angewiesen, der auf Dauer die amerikanische außenpolitische Handlungsfähigkeit lähmen wird.13
3. Ein neues Verhältnis zu den Verbündeten
Wenn Präsident Kennedys Amtszeit der Höhepunkt des amerikanischen
Führungsanspruchs in den Jahren des Kalten Krieges war, so lohnt ein
Hinweis auf das Strukturprinzip dieses Anspruchs. Es war kein Führungsanspruch per se, sondern ihm lag die Schaffung einer liberalen internationalen Ordnung zugrunde, in der die USA besondere Aufgaben übernahmen und damit die Rolle des primus inter pares ausübten. „In the postwar
era the United States did not just fight a global war against Soviet Communism. It also built a liberal international order. This order was not just
the by-product of the pursuit of containment. It sprang from ideas and a
12
13
„We are willing to talk to Iran, and offer a very clear choice”, so US Vizepräsident Biden auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2009. „Continue down your current course and there will be pressure and isolation; abandon your illicit nuclear program and support for terrorism and there will be
meaningful incentives.”
Goodman, Peter S.: Printing Money – and Its Price, in: New York Times,
28.12.2008; Der Spiegel 7/2009, S.77.
Ready to Lead Once More?
35
logic of order that are deeply rooted in the American experience”, so der
Politikwissenschaftler G. John Ikenberry.14
In einer Zeit, in der Bedrohungen nicht primär militärischer Art sind und
Amerika wirtschaftlich und finanziell bedrängt erscheint, kann die zukünftige Führungsrolle Amerikas nur diplomatischer Art sein. „Amerika
kann die dringendsten Probleme der Welt nicht alleine lösen, und die
Welt kann sie nicht ohne Amerika lösen”, so Hillary Clinton im Januar 2009 bei ihrer Anhörung vor dem US-Senat. Vizepräsident Biden beschrieb Anfang Februar drei Prinzipien für die zukünftige Gestaltung der
amerikanischen Beziehungen zu den Verbündeten: Erstens, „we will work
in partnership whenever we can, alone only when we must.” Kein einzelner Staat, gleichgültig wie mächtig er sei, könne Bedrohungen dauerhaft
alleine widerstehen, so Biden. Die USA glauben, dass internationale Allianzen und Organisationen Amerikas Macht nicht verringerten, sondern
helfen würden, kollektive Sicherheit durchzusetzen. Aber die Abkommen,
die Amerika unterzeichnet, müssen glaubwürdig und effektiv sein. Das
bedeutet, dass die Regeln, die sich eine Gemeinschaft gibt, (notfalls mit
Waffengewalt!) durchgesetzt werden müssen. Die USA werden auf die
Verbündeten zugehen, aber nicht nur, um ihnen Angebote zu machen,
sondern auch, um sie zu fragen, was sie zur Lösung eines konkreten Konfliktes beitragen können. Bidens zweites Prinzip für die zukünftige Zusammenarbeit mit anderen Staaten lautete, dass sich die USA vom Prinzip
des „preemptiven” Vorgehens verabschieden werden. Drittens werde sich
Amerika keinen Gesprächen verschließen, die ohne Vorbedingungen geführt werden („America will extend a hand to those who unclench their
fists.”).
In einer Reihe wichtiger Ansprachen hat auch Präsident Obama deutlich
gemacht, dass sich die Vereinigten Staaten an die Spitze einer Bewegung
setzen werden, die die Werte des demokratisch-freiheitlichen Westens
durchsetzen will. In seiner Rede in Berlin am 24. Juli 2008 erinnerte er
an Amerikas Unterstützung für die Freiheit West-Berlins und Europas im
Kalten Krieg. Dann wies er auf die gemeinsame Verantwortung Amerikas
und Europas für die Welt hin: „As we speak, cars in Boston and factories
in Beijing are melting the ice caps in the Artic, shrinking coastlines in the
Atlantic, and bringing drought to farms from Kansas to Kenya.” Die Welt
ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht sicherer, als sie es früher war.
Aber Amerika ist sich nun bewusst, dass Probleme nur gemeinsam mit
anderen Staaten gelöst werden können: „In this new world, such dangerous currents have swept along faster than our efforts to contain them.
That is why we cannot afford to be divided. No one nation, no matter
14
Ikenberry, G. John: Liberal Order Building, in: To Lead the World: American
Strategy After the Bush Doctrine, hrsg. von Melvyn P. Leffler und Jeffrey W.
Legro, New York 2008, S.85.
36
Georg Schild
how large or powerful, can defeat such challenges alone.” Dieser Aspekt,
dass Amerikaner und Europäer alle wichtigen Probleme nur gemeinsam
meistern können, zieht sich durch die Berliner Ansprache: „In Europe,
the view that America is part of what has gone wrong in our world, rather
than a force to help make it right, has become all too common. In America, there are voices that deride and deny the importance of Europe‘s role
in our security and our future. Both views miss the truth – that Europeans
today are bearing new burdens and taking more responsibility in critical
parts of the world, and that just as American bases built in the last century
still help to defend the security of this continent, so does our country still
sacrifice greatly for freedom around the globe.” Obama ging auf die Europäer zu, um sie in einen Konfliktlösungskontext einzubinden, in dem die
USA eine führende, aber keine hegemoniale Rolle spielen werden.
4. Die Zukunft des amerikanischen Führungsanspruchs
In den Jahren des Kalten Krieges erschien ein Führungsanspruch der USA
als der wirtschaftlich und militärisch potentesten Macht des Westens geradezu logisch. Die gegenwärtigen Probleme von der Terrorgefahr über
den Umweltschutz bis hin zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die im Herbst 2008 begonnen hat, lassen die USA hingegen nicht
als die logische Führungsmacht erscheinen. Wenn die Obama-Administration dennoch eine führende Rolle Amerikas in diesen Fragen anstrebt,
wird sie sich strikten Menschenrechts- und Umweltschutzauflagen unterwerfen müssen. Dass sich der Präsident von Gewaltanwendung, einem
Kennzeichen der Außenpolitik Bushs, abgewendet hat, ist ein guter erster
Schritt: „Power alone can not protect us“, so der neue Präsident in seiner
Rede zur Amtseinführung. Machtmittel seien viel effektiver, wenn sie nur
nach reiflicher Überlegung eingesetzt würden, „power grows through its
prudent use“. In der gleichen Rede sprach er von einer „neuen Ära der
Verantwortlichkeit” für die USA, für die das Land gerüstet sei: „What is
required of us now is a new era of responsibility – a recognition ... that we
have duties to ourselves, our nation and the world, duties that we do not
grudgingly accept but rather seize gladly.”
Präsident Bush hatte politische Führung mit Unilateralismus gleichgesetzt. Diesen Anspruch können die USA nicht länger aufrechterhalten,
weil die Europäer und andere Nationen sich Washingtons Führungsanspruch nicht dauerhaft unterwerfen würden. „[B]eing big and rich and
well-armed does not make you a leader”, so das US-Nachrichtenmagazin
Time im April 2009. „Followers make you [a leader], and the loyalty of followers has to be earned.” Unter Obama werden die USA ihre Führungsrolle neu definieren. Washington akzeptiert, dass andere Staaten wie China
und Staatengruppen wie die Europäische Union mit Amerika auf gleicher
Ready to Lead Once More?
37
Augenhöhe verhandeln wollen. Die USA sind dazu bereit, auf die Verbündeten zuzugehen. Amerika stärkt bewusst internationale Organisationen
wie die NATO, den Internationalen Währungsfonds und befürwortet den
Umbau der G-8 zur G-20 Gruppe. Damit steht der Politik ein differenziertes Instrumentarium zur Lösung unterschiedlicher Krisen zur Verfügung.15
Obamas erste Bewährungsprobe war seine Reise nach Europa Anfang April
2009 zum G-20-Gipfel in London, zu den Feierlichkeiten anlässlich des
60. Geburtstags der NATO und zum EU-Gipfel nach Prag. Während die
europäische Öffentlichkeit und die Medien Obama als Star feierten und
von „Aufbruchsstimmung“, „Seelenmassage für die Europäer“ und einem
„Fest“ sprachen, fragten amerikanische Zeitungen, ob Obama eine außenpolitische Strategie besitze und ob er sie gegen Widerstände der Verbündeten durchsetzen könne. Für den CBS-Kommentator Michael Barone ist
Obama bei seiner Europareise in der „Realität angekommen“. Für David
Sanger von der New York Times vertrat der Präsident vor allem eine „antiBush Doktrin“. Alle Themen, die die Außen- und Sicherheitspolitik Bushs
seit dem 11. September 2001 bestimmt hatten, spielten nun keine Rolle mehr. Obama sprach nicht mehr von „preemption“ – dem Anspruch
Amerikas, potenziellen Gegnern bereits frühzeitig militärisch entgegenzutreten – und nicht von der Mission, die Welt von der Tyrannei zu befreien.
Fast erscheint es, dass Obama die internationalen Beziehungen wieder auf
die Lage vor dem 11. September zurückführen wolle. Obama hörte seinen
Gesprächspartnern zu und nahm ihre Wünsche ernst. In den Londoner
Gesprächen zur Finanzkrise forderte er größere finanzielle Anstrengungen
europäischer Staaten zur Bewältigung der Krise, aber er machte auch Zugeständnisse an die deutsche und französische Regierung, die Kontrolle
von Banken und international agierenden Fondsgesellschaften zu stärken.
Auf dem NATO-Gipfel in Baden-Baden, Straßburg und Kehl erklärte der
Präsident, dass es kein altes und kein neues Europa gebe, sondern nur ein
vereintes Europa. Bevor er auf seiner letzten Station Ankara einen „neuen
Dialog“ mit dem Islam versprach und sich für eine Aufnahme der Türkei
in die EU aussprach, rief Obama beim EU-Gipfel in Prag zu einer Welt
ohne Atomwaffen auf: „Als Atommacht – als die einzige Atommacht, die
schon eine Atomwaffe eingesetzt hat – haben die Vereinigten Staaten eine
moralische Verantwortung zum Handeln.” Mit dieser Ankündigung gelang Obama nicht nur, die Vision einer Welt ohne Furcht vor nuklearer
Verwüstung zu formulieren. Der Präsident zeigte gleichzeitig einen Weg
auf, wie auf die nuklearen Ambitionen von Staaten wie Iran und Nord-Korea reagiert werden könne. Amerika nahm für sich nicht länger ein Recht
auf nuklearen Waffenbesitz in Anspruch, das es gleichzeitig anderen Staaten verweigerte. Obama setzte damit alle europäischen Regierungen unter
Zugzwang. Die Nuklearmächte England und Frankreich müssen erklären,
wie sie sich zu dieser Vision stellen. Sind auch sie bereit, ihr Nuklearpotenzial aufzugeben? Länder ohne eigene Atomwaffen wie Deutschland sind
15
Elliot, Michael: The Moment, in: Time, 13.4.2009, S.7.
38
Georg Schild
aufgefordert, in Gesprächen mit der Regierung in Teheran nachdrücklich
auf ein Ende des iranischen Atomwaffenprogramms zu drängen. Wie in
einem Brennglas zeigt sich in der Frage der vollständigen atomaren Abrüstung der neue außenpolitische Ansatz Amerikas, auch weiterhin die
Agenda zu bestimmen. Wir können mit dem Bestreben, Atomwaffen zu
eliminieren, nicht allein erfolgreich sein, so Obama, „aber wir können es
anführen”.16
16
Schwarz, Karl-Peter: Seelenmassage für die Europäer, in: FAZ, 6.4.2009; Cooper, Helene: On World Stage, Obama Issues an Overture, in: New York Times,
3.4.2009; Sanger, David E.: Hints of Obama’s Strategy in a Telling 8 Days, in:
New York Times, 8.4.2009; Rede Obamas in Prag, zitiert nach FAZ, 6.4.2009.
Obamas nukleare Abrüstungsinitiative kam nicht völlig überraschend. In einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs hatte er bereits vor zwei Jahren
angekündigt, der atomaren Bedrohung begegnen zu wollen. Siehe hierzu Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs 4/2007, S.8.
Ein neuer globaler
Multilateralismus der USA nach
dem Ende der Bush-Ära?
Klaus-Dieter Schwarz
Einleitung
Die Welt hatte ein Problem mit der Ära des George W. Bush.1 Das Problem heißt Unilateralismus. Gleich zu Anfang seiner Präsidentschaft verabschiedeten sich die USA aus einer Reihe von größtenteils selbst eingeleiteten, geplanten oder bereits gültigen internationalen Abkommen:
beispielsweise vom Statut des Internationalen Strafgerichtshofes zur Ahndung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vom
Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz, dem Verifikationsvertrag zur Biowaffenkonvention etc. bis hin zur einseitigen Kündigung des ABM-Vertrages,
des beiderseitigen Verzichts auf Raketenabwehr. Diese Befreiung der amerikanischen Supermacht von lästigen Fesseln des Multilateralismus wurde
von einem ihrer einflussreichsten journalistischen Wegbereiter, Charles
Krauthammer, als „neuer Unilateralismus” gepriesen: Endlich „haben wir
eine Regierung, die bereit und willens ist, die amerikanische Handlungsfreiheit und das Primat amerikanischer Interessen durchzusetzen.”2 Solchem Hochmut folgten das Abenteuer und Debakel des Irakkrieges, das
der stellvertretende Außenminister unter Clinton und heutige Präsident
der angesehenen Brookings Institution Strobe Talbott so kommentiert:
„Die Entscheidung der Bush-Administration für den Einmarsch in den
Irak, unter Missachtung des UN-Sicherheitsrates und gegen den Widerstand vieler US-Verbündeter, markiert den Höhepunkt des amerikanischen Unilateralismus – und den Tiefpunkt des weltweiten Ansehens der
USA.”3
Dieser Unilateralismus verschärfte den strukturellen Konflikt in den
transatlantischen Beziehungen. Die Europäer, vor allem die Regierungen
Deutschlands und Frankreichs, stellten die amerikanische Definitionsmacht über die Gestaltung der Weltordnung rundweg infrage. Sie sind auf1
2
3
Vgl. Rudolf, Peter: Imperiale Illusionen. Amerikanische Außenpolitik unter Präsident George W. Bush, Baden-Baden 2007; Müller, Harald: Amerika
schlägt zurück. Die Weltordnung nach dem 11. September, Frankfurt am Main
2003.
Krauthammer, Charles in: Washington Post, 8.6.2001, A29.
Talbott, Strobe: Amerikas neue Agenda, in: Internationale Politik, Juli/August
2008, S.50.
40
Klaus-Dieter Schwarz
grund ihrer historischen Erfahrung mit der europäischen Integration und
dem Aufbau des Friedens auf ihrem Kontinent zutiefst davon überzeugt,
dass sich internationale Ordnung nicht durch Entscheidung des mächtigsten Staates diktieren lässt, sondern nur durch Übereinkunft der Staatengemeinschaft geschaffen werden kann. Ihren Standpunkt brachten sie in
deutlicher Distanzierung von der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA
von 2002, in der die Elemente einer unverhüllten Pax Americana formuliert sind, in einer Europäischen Sicherheitsstrategie zu Papier, worin sie
sich auf Grundsätze eines prinzipiellen Multilateralismus festlegten: „In
einer Welt globaler Bedrohungen, globaler Märkte und globaler Medien
hängen unsere Sicherheit und unser Wohlstand immer mehr von einem
wirksamen multilateralen System ab. Dabei ist es unser Ziel, eine stärkere
Weltgemeinschaft, gut funktionierende internationale Institutionen und
eine geregelte Weltordnung zu schaffen.”4
Acht Jahre Bush haben allerdings gezeigt, dass der Multilateralismus der
EU wenig ausrichten kann, wenn die USA europäische Initiativen nicht
unterstützen wie im Fall des Kyoto-Protokolls und Internationalen Strafgerichtshofes oder im Dauerkonflikt in Nahost und im Nuklearstreit mit
Iran. Dies mindert jedoch nicht die Richtigkeit multilateraler Politik; ganz
im Gegenteil, denn die Misserfolge des amerikanischen Unilateralismus
geben ihr neues Gewicht. Der überzeugende Wahlsieg Obamas – ein Gegner des Irakkrieges von Anfang an – bestätigt, dass die europäische Kritik
an der Außenpolitik der Bush-Administration gerechtfertigt war.
Selten hat man so sehr das Ende einer Präsidentschaft herbeigesehnt und
so viel von einem grundlegenden Politikwechsel in Washington erwartet
– vermutlich zu viel, denn die Bedingungen, unter denen Obama sein
Amt übernommen hat, sind ausgesprochen schwierig. Vor allem dessen
erste Amtszeit dürfte geprägt sein von innenpolitischer Orientierung, vom
Primat der wirtschaftlichen Erneuerung. Dies schließt indes die Wiederbelebung des multilateralen Engagements in der Außenpolitik nicht aus,
vielmehr ein, folgt man den angekündigten Vorhaben des Präsidenten.
Was ist gemeint, wenn aus amerikanischer Sicht von multilateraler Politik
die Rede ist? Anders als die Europäer vertreten die USA bisher einen instrumentellen und selektiven Multilateralismus als Führungsmittel ihrer
Weltmachtpolitik. Für diesen Zweck haben sie internationale Institutionen gegründet, Verträge und Bündnispartnerschaften geschlossen, welche
die Zusammenarbeit regelten und die amerikanische Hegemonie durch
4
Zit. aus: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel 12/2003, S.9. Zu den Kriterien eines prinzipiellen Multilateralismus zählen des Weiteren fairer Interessenausgleich zwischen großen und
kleinen Partnern, Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen und
Skepsis gegenüber militärischer Macht bzw. Ablehnung unilateraler Gewaltanwendung.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
41
Zustimmung der Partner legitimierten. Dieses Arrangement funktionierte
gut, besonders in der Zeit des Kalten Krieges, schloss aber auch damals
unilaterales Handeln und Widerstand gegen internationale Einbindung
auf Kosten nationaler Souveränität keineswegs aus; dies erst recht nicht,
nachdem der sowjetische Weltmachtrivale als Gegenpol im internationalen System entfallen und die USA aus der Bündnisdisziplin entlassen
waren.
Die wiedergewonnene Handlungsfreiheit schlug sich nieder in dem Leitmotiv: „Together where we can, on our own where we must”, wie Präsident Clinton die Außenpolitik seiner Administration kennzeichnete. Sein
Nachfolger kehrte die Reihenfolge um: Allein wo wir können, gemeinsam
wo wir müssen. Was übrigblieb, hatte mit Multilateralismus nichts mehr
zu tun, denn der verlangt nun einmal, dass auch die Führungsmacht die
einvernehmlich vereinbarten Spielregeln des Multilateralismus befolgt.
Zwar hat sich Präsident Bush in seiner zweiten Amtszeit bemüht, den Ansehensverlust der USA durch verbindlicheren Stil und multilaterale Zugeständnisse rückgängig zu machen, doch dies ist kaum zur Kenntnis genommen worden. Zu nachhaltig war die internationale Distanz zu seiner
Politik, der Welt den amerikanischen Willen aufzuherrschen („either with
us or against us”).
Es liegt auf der Hand, dass die Debatte über amerikanische Außenpolitik
auch in der politischen Wissenschaft zu intensiver Beschäftigung mit dem
Problem des Multilateralismus geführt hat, die zu begrifflicher Klärung
beiträgt, ungeachtet unterschiedlicher praktischer Anwendung des multilateralen Ansatzes in der amerikanischen und europäischen Außenpolitik.5 Demzufolge beinhaltet der Begriff dreierlei: erstens eine „Koordination von Beziehungen zwischen drei oder mehr Staaten auf der Grundlage
von Regeln oder Prinzipien.” Damit unterscheidet sich Multilateralismus
von bilateraler Zusammenarbeit und unilateraler bzw. imperialer Politik.
Zweitens beruht multilaterales Handeln auf „verallgemeinerten Verhaltensprinzipien” im Unterschied zur Kooperation auf der Basis von Adhoc-Koalitionen oder schlichter Machtpolitik. Und drittens impliziert der
Begriff immer eine gewisse Einschränkung der politischen Handlungsfreiheit und damit auch der nationalen Souveränität durch Verträge und internationale Organisationen.6
5
6
Vgl. hierzu Van Oudenaren, John: What is „Multilateral“? An abused term in
the international relations debate, in: Policy Review 2/3/2003.
Vgl. Ikenberry, G. John: Is American Multilateralism in Decline?, in: Perspectives on Politics 9/2003, S.534; Medick-Krakau, Monika u.a.: Die Außenpolitik der USA, in: Einführung in die Internationale Politik, hrsg. von Manfred
Knapp und Gert Krell, München u.a., 4.Aufl., 2004, S.98.
42
Klaus-Dieter Schwarz
Aus dieser idealtypischen Sicht handelt es sich also um eine bestimmte
Methode und Praxis der internationalen Ordnungsgestaltung, die nicht auf
Vorherrschaft im internationalen System beruht, sondern auf gemeinsamen Werten und Interessen, gemeinsamen Rechten und Pflichten. In der
Praxis hat sich dieser Multilateralismus in der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft seit Ende des Zweiten Weltkrieges verwirklicht und bewährt.
Er ermöglichte Mitwirkung an der Regelung der regionalen und globalen
Probleme und erzeugte Konsens nicht nur zwischen den Staaten, sondern
auch in den Gesellschaften. Multilaterale Politik wurde dabei weniger idealistisch als realpolitisch begründet, denn sie diente amerikanischen Interessen, indem sie die Interessen anderer mitbediente. Und sie ist heutzutage
die angemessene Antwort auf die Kraft und Konsequenzen der Globalisierung. Deshalb betont Präsident Obama die Mission der USA, „globale Führung bereitzustellen, die in dem Verständnis verankert ist, dass die Welt
eine gemeinsame Sicherheit und eine gemeinsame Menschlichkeit teilt.”7
Dabei gibt es ein Problem: Die USA besitzen heute nicht mehr die Macht,
um die Welt nach ihren Vorstellungen zu formen, wie es ihrem moralischen Sendungsbewusstsein entspricht.8 Der Grund liegt weniger im Mangel an materiellen Ressourcen, obschon es den in der gegenwärtigen Krise
natürlich gibt, sondern in der Diffusion der Macht in den internationalen
Beziehungen, welche die Kontrollfähigkeit auch großer Mächte über das
internationale Geschehen drastisch vermindert. Dies zeigt sich beispielhaft in der Tatsache, dass die USA zwar überwältigende militärische Macht
besitzen, aber asymmetrische Kriege wie im Irak und in Afghanistan nicht
gewinnen können. Obendrein schwächt der Aufstieg neuer Mächte die
zentrale Stellung der USA in der Welt, die das Ende des Kalten Krieges
ihnen beschert hat.
Im Folgenden wird das Thema in drei Teilen behandelt, zunächst mit
Blick auf das außenpolitische Programm der Obama-Administration und
die Frage, welche Hinweise sich daraus ergeben auf das Neue im Multilateralismus der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Dies wird
näher untersucht auf zwei Handlungsfeldern, die in der aktuellen Debatte
eine zentrale Rolle spielen, nämlich wirksames Krisenmanagement im Nahen und Mittleren Osten und neue Weltordnungspolitik im Umgang mit
aufsteigenden Mächten und Machtgruppierungen. Es versteht sich von
selbst, dass es sich im zweiten und dritten Teil lediglich um Perspektiven
7
8
Siehe Barack Obamas programmatische Schrift: Renewing American Leadership,
in: Foreign Affairs 4/2007, S.2-16.
Bezeichnet als „American exceptionalism“, von den Pilgervätern überliefertes Bewusstsein der Einzigartigkeit der „Neuen Welt“ und ihrer Vorbildlichkeit für die alte
Welt der religiösen Intoleranz und autokratischen Machtpolitik. Dieser missionarische Impuls hat unmittelbaren Einfluss auf die US-Außenpolitik und wirkt sowohl
in multilaterale wie auch in unilaterale Richtung. George W. Bush begriff ihn nicht
als Verpflichtung, sondern als Vollmacht für seinen aggressiven Unilateralismus.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
43
handelt, deren Realitätsgehalt sich noch erweisen muss. Vorab lässt sich
aber die am Beginn einer neuen Präsidentschaft oft gestellte Frage nach
Kontinuität oder Wandel bereits wenige Wochen nach Amtsantritt beantworten: Die Obama-Regierung markiert einen Neuanfang in der Außenund Sicherheitspolitik wie selten ein Regierungswechsel zuvor.
1. Kreation der Obama-Ära
Die USA befinden sich gegenwärtig in einer Krise „von historischen Dimensionen“, wie Obama wenige Tage nach der Wahl erklärt hat. Ohne
Frage wird seine Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise seine Präsidentschaft von Anfang an definieren. Aber er bezog sich nicht nur auf diese Krise, denn „die Herausforderungen der nationalen Sicherheit, vor
denen wir stehen, sind genau so schwer und so dringlich wie unsere
Wirtschaftskrise.“9 Gemeint ist das außenpolitische Erbe: zwei unbeendete Kriege, politisch überforderte Streitkräfte, ein kriegsmüdes und polarisiertes Amerika, vor allem ein schwerbeschädigter Ruf Amerikas – der
Nachlass einer gescheiterten Präsidentschaft, die es darauf angelegt hatte,
die alleinige Weltmachtrolle der USA gegen den Trend der Globalisierung
und Multipolarität zu verteidigen. Der Irakkrieg, der aus Sicht der neokonservativen Ideologen diese Entwicklung aufhalten sollte,10 hat sie letzten
Endes beschleunigt. Die USA stehen somit an einem Wendepunkt, der sie
zwingt, sich auf die Realität einer post-amerikanischen Welt einzustellen.
Eine jüngst bekannt gewordene Studie des US-Geheimdienstes bestätigt
die Verminderung der amerikanischen Machtstellung in der Welt: das
Entstehen einer multipolaren Welt, in der wirtschaftliche, politische und
militärische Macht auf viele globale Akteure im internationalen System
verteilt ist, freilich nicht gleichmäßig, sondern asymmetrisch: „Das internationale System, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, wird 2025
fast nicht mehr wiederzuerkennen sein.“ Ursache dafür sei „das Wachstum der Schwellenländer, eine globalisierte Wirtschaft, ein historischer
Transfer von Reichtum von West nach Ost und der wachsende Einfluss
von nichtstaatlichen Akteuren.” Und für die USA prophezeit die Studie:
„Obwohl die Vereinigten Staaten wahrscheinlich der mächtigste einzelne
Akteur bleiben, wird ihre relative Stärke – sogar auf militärischem Gebiet
– sinken und ihr Einfluss schwächer werden.”11
9
10
11
Barack Obama zit. bei Pitzke, Marc: Außenministerin Clinton soll Amerikas
Image aufpolieren, in: Spiegel Online, 1.12.2008.
Dazu grundlegend Keller, Patrick: Neokonservatismus und amerikanische Außenpolitik. Ideen, Krieg und Strategie von Ronald Reagan bis George W. Bush,
Paderborn 2008.
Executive Summery of the US National Intelligence Council‘s, Global Trends
Report 2025, in: Internationale Politik 1/2009, Dokumentation.
44
Klaus-Dieter Schwarz
Nun ist die tektonische Verschiebung der Machtverhältnisse in der Welt
seit Ende des bipolaren Zeitalters kein Geheimnis mehr. Offen ist, wie
schnell dieser Prozess fortschreitet. Im Aufstieg der neuen Mächte, allen voran der Riesenreiche China und Indien, ist auch mit Rückschlägen zu rechnen. Sie werden von der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise
nicht weniger hart betroffen und sind dagegen schlechter gerüstet als die
USA oder Teile Europas. Zudem ist die erstaunliche Fähigkeit der USA zur
Selbsterneuerung und Kurskorrektur nicht zu unterschätzen. Dies abermals zu beweisen, ist erklärtes Programm der Obama-Regierung.
Die amerikanische Präsidialdemokratie räumt dem Präsidenten die Vorherrschaft in der Außenpolitik ein. Folglich hängt die Qualität der Außenpolitik wesentlich von der Qualität des Präsidenten ab. Gewiss gibt es
Bedingungen, die auch Präsidenten nicht ändern können, wie die Umverteilung der Macht in der Welt, die von vornherein erwarten lässt, dass
Präsident Obama die Zusammenarbeit mit Partnern suchen wird. Auch
er wird zuerst amerikanische Interessen vertreten – was denn sonst. Aber
sein bisheriges Auftreten lässt erkennen, dass er enge Partnerschaft mit
anderen für den besten Weg hält, diesen Interessen zu dienen. Eben daraus entsteht Multilateralismus. Kein anderer unter den Präsidentschaftskandidaten verkörpert diese Erwartung besser als der gewählte Präsident.
Ein Wahlsieg seines Kontrahenten wäre zweifellos im In- und Ausland als
Verlängerung der alten Politik empfunden worden.
Präsident Obama verfügt über geringe außenpolitische Erfahrung – so
wurde ihm im Wahlkampf vorgehalten. Das muss kein Nachteil sein. Dafür bringt er die Erfahrungen seiner außergewöhnlichen Lebensgeschichte mit, die beispielhaft zum Prozess der Globalisierung passen, dessen
Geschöpf er selber ist. In Hawaii von einer weißen US-Amerikanerin und
einem schwarzen Vater aus Kenia geboren, in Indonesien und Hawaii aufgewachsen und an amerikanischen Elite-Universitäten ausgebildet, hat
er gelernt, die Welt aus nicht national begrenzter Sicht zu betrachten,
Unterschiede zu verstehen und zwischen ihnen Brücken zu bauen. Als Erwachsener hat er nur ein Jahrzehnt in der geteilten Welt des Kalten Krieges und der ideologischen Gegensätze verbracht, die viel längere Zeit in
einer Welt wachsender Zusammenhänge zwischen Staaten, Völkern und
Regionen. Er spricht von „gemeinsamer Menschlichkeit”, bezeichnet sich
als „Weltbürger”12 und kann mit dem integrativen und dialogischen Stil
seiner brillanten Rhetorik die Menschen jeder Hautfarbe begeistern. Gewiss steht auch er in der Tradition des amerikanischen Idealismus, aber er
ist viel mehr Realist als sein ideologisch verblendeter Vorgänger, dennoch
einer, der die Verhältnisse nicht hinnimmt, wie sie sind, sondern Mut
macht, sie zu verändern: „Yes, we can.”
12
Vgl. dessen Berlin-Rede vom 24.7.2008.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
45
Obamas Wahlkampfaussagen über Außenpolitik sind erstaunlich vage geblieben, abgesehen von seiner Forderung des Rückzugs aus dem Irak, den
die Bush-Regierung am Ende selber noch mit Bagdad vereinbart hat. Dieses
Problem ist somit geregelt, wird ihn aber noch beschäftigen. Ansonsten enthielt seine Botschaft kaum Konkretes über Ziele oder Konzept der Außenund Sicherheitspolitik unter seiner Führung. Er versprach, was amerikanische Selbstverständlichkeit ist, die Wiederherstellung und Erneuerung der
amerikanischen Führungsrolle in der Weltpolitik: „The American moment
is not over”. Und: „We must lead the world, by deed and by example.”13
Das kann nur bedeuten, dass er die Vereinigten Staaten als Vorreiter einer
post-hegemonialen Weltordnung betrachtet, denn nur solch eine Rolle und
Ordnung können ihnen wieder globale Legitimität verschaffen.
Klarer sind Obamas Vorstellungen über die Mittel seiner Außenpolitik.
Er will die internationale Zusammenarbeit stärken und Institutionen reformieren. Er benutzt selten das Wort Multilateralismus, da der Begriff in
der amerikanischen Debatte ideologisch belastet ist; er spricht von Partnerschaft. Aber ihm ist bewusst, dass die USA ihre Sonderstellung („Exzeptionalität”) in der Welt verloren haben: „Niemand profitiert mehr als
wir von der Beachtung der internationalen ‚rules of the road‘.”14 Dem widerspricht nicht Amerikas Recht zur Selbstverteidigung: „Ich werde nicht
zögern, Streitkräfte einzusetzen, unilateral falls notwendig, um die Amerikaner zu schützen oder vitale Interessen, wenn wir angegriffen oder unmittelbar bedroht werden.”15 Auch nimmt er die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft ernst, im Fall von humanitären Katastrophen
und Völkermord mit militärischer Gewalt einzuschreiten („responsibility
to protect”). Ansonsten will er die Überbetonung militärischer Macht im
Repertoire der Außenpolitik seines Vorgängers zurückstufen. In der IrakDebatte gab er zu verstehen: „Ich will nicht nur den Krieg beenden, sondern das Denken, das uns in diesen Krieg hineingeführt hat.”16 Er ist auch
bereit, sich mit Führern nicht wohlgesinnter Regierungen ohne Vorbedingungen zu treffen, wenn es der Sache und dem Frieden dient. „Wiederbelebung der Diplomatie” ist ihm wichtiger als militärische Stärke.17 Sie
ist ihm auch wichtiger als das Leitmotiv wilsonischer Missionspolitik als
Handlungsanweisung für die Verbreitung der Demokratie.
13
14
15
16
17
Zit. Obama: Renewing American Leadership.
Fortsetzung des Zitats: „We can‘t win converts to those rules if we act as if
they apply to everyone but us. When the World‘s sole superpower willingly
restrains its power and abides by internationally agreed-upon standards of
conduct, it sends a message that these are rules worth following.“ Zit. aus Obama, Barack: The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming The American
Dream, New York 2006, Vintage Book Edition 2008, S.365f.
Zit. Obama: Renewing American Leadership.
Zit. aus Fullilove, Michael: Hope or Glory? The Presidential Election and U.S.
Foreign Policy, Brookings Policy Paper 9/2008, S.8f.
Zit. Obama: Renewing American Leadership.
46
Klaus-Dieter Schwarz
Weiteren Aufschluss über Stil und Richtung seiner Außenpolitik gibt die
Regierungsbildung, die Obama in Rekordzeit und mit viel Überlegung
vorgenommen hat. Mit Joe Biden stellte er sich einen Senator als Vizepräsidenten an die Seite, der sich in der internationalen Politik auskennt.
Auch sein Sicherheitsberater James Jones bringt als ehemaliger NatoOberbefehlshaber und Kommandeur der Isaf-Truppe in Afghanistan umfassende internationale Erfahrung mit ins Amt. Er soll dafür sorgen, dass
künftig ein ganzheitlicher Ansatz in der Sicherheitspolitik zur Geltung
kommt, auch dafür, dass die in Washington berüchtigten bürokratischen
Rivalitäten eingedämmt und die interministerielle Zusammenarbeit verbessert werden.18 Denn künftig, wie Obama bei der Vorstellung seines
Sicherheitskabinetts betonte, müssten die USA „eine neue Strategie verfolgen, die gekonnt alle Instrumente amerikanischer Macht nutzt und
ins Gleichgewicht bringt: Militär und Diplomatie, Geheimdienste und
Rechtsstaatlichkeit, Wirtschaft und moralisches Vorbild.” Sein Team repräsentiere „all diese Elemente der Macht Amerikas”19 – ein Gesamtkonzept also, das auf ressortübergreifender Sicherheitspolitik und „kluger/
schlauer Machtausübung” („smart power”) beruht.20
Organisation und Besetzung der Regierung entsprechen dem neuen Konzept. So sollen die Haushaltsmittel für das State Department deutlich erhöht, die Ressourcen für Krisenprävention und Wiederaufbau dort gebündelt und erweitert werden. Auch die Streitkräfte werden mehr Personal
erhalten und dafür Rüstungsprogramme gekürzt. Neben der einstigen
Rivalin Hillary Clinton, die Obama – typisch für ihn – nicht etwa außer Acht lässt, sondern als Außenministerin gewinnt, erhält seine engste
Weggefährtin und außenpolitische Beraterin, Susan Rice, als neue UNBotschafterin Kabinettsrang. Sie soll amerikanische Außenpolitik wieder
stärker über die Weltorganisation zur Wirkung bringen, beispielsweise in
der Iranfrage, Darfur etc.; sie ist Expertin für Afrika und gilt als Befürworterin von humanitären Interventionen. Mit der Bestätigung von Robert
Gates als Verteidigungsminister erfüllt Obama sein Versprechen parteiübergreifender Zusammenarbeit, womit er zugleich ein Zeichen für Kontinuität in der Militärführung setzt. Insgesamt ein hochkarätiges Team
18
19
20
Jones bereitet eine Weisung für den NSC vor, die seine Kompetenzen über
die klassischen Themen der Außen- und Sicherheitspolitik ausdehnt auf die
Finanzen, Wirtschaft, Energiesicherheit und Umwelt. Der neue NSC soll den
Präsidenten konzeptionell und strategisch beraten und nicht in das operative
Tagesgeschäft eingreifen.
Barack Obama zit. aus: Süddeutsche Zeitung, 2.12.2008, S.1.
Hillary Clinton in: Statement of Senator Hillary Rodham Clinton Nominee
for Secretary of State, Senate Foreign Relations Committee, 13.1.2009, S.4. Der
Begriff ist offensichtlich übernommen aus der jüngsten Veröffentlichung des
renommierten Politologen Nye, Joseph S.: The Powers to lead, Oxford 2008.
Darin definiert er „smart power“ als Verbindung aus „hard and soft power“,
die auf einen effektiveren Einsatz verfügbarer Machtressourcen zur Steigerung
des nationalen Einflusses zielt.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
47
aus im Washingtoner Politikbetrieb erfahrenen Führungskräften, pragmatisch, zentristisch und unideologisch – so das allgemeine Urteil der
Fachkundigen. Nur die Parteilinke der Demokraten war von der Personalauswahl weniger angetan.
Die Benennungen und Ankündigungen signalisieren einen klaren Bruch
mit der Außenpolitik unter George W. Bush – nicht weniger als den Beginn einer neuen Ära. Sie beginnt dort, wo die alte den größten Schaden hinterlassen hat und ein strategischer Scherbenhaufen aufzuarbeiten
ist: im Nahen und Mittleren Osten. Darauf weisen sowohl die Berufung
des Sicherheitsberaters hin, der in seiner Militärkarriere die Probleme in
„Greater Middle East” gründlich kennengelernt hat und mit Nachdruck
für eine umfassende Strategie eintritt, als auch die Erweiterung der außenpolitischen Mannschaft durch erfahrene Krisenexperten als Sondergesandte.21 Hier soll der Schwerpunkt liegen der „Wiederbelebung der amerikanischen Diplomatie”.22
2. Multilaterales Krisenmanagement
Der israelisch-palästinensische Konflikt befand sich in den letzten Amtstagen von George W. Bush wieder einmal im Kriegszustand. Israels Regierung war nach Kündigung des Waffenstillstandes durch die Hamas
entschlossen, die Raketenbedrohung aus Gaza mit Gewalt zu beenden.
Solche Politik hat bisher nur die Zahl der Toten, Verletzten und Vertriebenen erhöht, die Aussicht auf Frieden jedoch nicht verbessert. Statt den
Gazastreifen komplett abzuriegeln, die Hamas zu isolieren und in die
Arme Irans zu treiben, hätte Israel diese Gruppe, die immerhin in einer
international anerkannten Parlamentswahl die absolute Mehrheit der
Stimmen errang, in den Dialog mit der palästinensischen Autonomiebehörde ebenso einbinden sollen, wie sie es mit dem militanten Flügel der
Fatah getan und dadurch deren Terroraktivitäten überflüssig gemacht hat.
Einen Vermittler zwischen beiden Seiten gab es nicht; jedenfalls wollte
die Bush-Regierung während ihrer gesamten Amtszeit diese Rolle nicht
übernehmen. Sie stand ohne Wenn und Aber auf Israels Seite. Auch das
gehört neben dem zeitgleich stattfindenden Wahlkampf in Israel zur Vorgeschichte des Gazakrieges.
21
22
George J. Mitchell für Nahost, Ex-Senator und erfolgreicher Vermittler im
nordirischen Friedensprozess; Dennis Ross für Iran, unter Clinton und Bush
Nahost-Gesandter; Richard Holbrooke für Afghanistan, Pakistan und Indien,
ehem. Botschafter in Deutschland und Balkanvermittler.
Vgl. hierzu Haass, Richard N./Indyk, Martin: A New U.S. Strategy for the Middle
East, in: Foreign Affairs 1/2009, S.41-58.
48
Klaus-Dieter Schwarz
Israel ist es nicht gelungen, Hamas entscheidend zu schwächen. Beide
Seiten haben einen einseitigen, jederzeit brüchigen Waffenstillstand erklärt. Ihn dauerhaft zu befestigen, wird die erste Aufgabe des „Sondergesandten für den Nahost-Frieden“ George Mitchell sein. Mehr wird er zunächst nicht ausrichten können. Denn klar ist, dass dieser Konflikt nicht
isoliert zu lösen ist, sondern von allen wichtigen Akteuren in der Region
bearbeitet werden muss. Deshalb sollen die Friedensgespräche zwischen
Syrien und Israel fortgesetzt und in direkte Verhandlungen überführt werden, die bisher via türkischer Vermittlung informell stattgefunden haben.
Auch eine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Syrien ist
beabsichtigt. Selbst ein Dialog mit der Hamas ist denkbar. Sie kann jedenfalls aus den Friedensbemühungen nicht ausgeschlossen werden. Ob
eine Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas zustande kommt, um eine
legitime palästinensische Führung zu bilden, die den Friedensprozess mit
Israel wieder aufnehmen und mittelfristig die angestrebte Zweistaatenlösung verwirklichen kann, bleibt abzuwarten.
Vor allem muss Israel mit Nachdruck von der Notwendigkeit glaubwürdiger Verhandlungen mit den Palästinensern überzeugt werden, einschließlich der Beendigung des Ausbaus jüdischer Siedlungen in Westjordanland.
Dies dürfte nach dem Wahlsieg der rechten Kräfte in Israel schwieriger
geworden sein, denn auf der Agenda einer Regierungskoalition aus Likud,
Rechtspopulisten und Ultra-Orthodoxen unter Premierminister Netanjahu hat die Zweistaatenlösung keinen Platz. Daran ändert auch der Beitritt
der heftig geschrumpften Arbeitspartei von Verteidigungsminister Barak
zum Rechts-Bündnis wenig, die sich weiter dafür einsetzt. Andererseits
kann es sich keine Regierung Israels leisten, sich einem energischen amerikanischen Engagement für den Friedensprozess zu widersetzen. Präsident
Obama ist, unterstützt von einer merklich kritischeren Haltung seiner
Wähler gegenüber Israel nach dem Gazakrieg,23 dazu entschlossen, allerdings nicht direkt, sondern auf dem Umweg über die Normalisierung der
Beziehungen zu Syrien und die Entspannung des Konflikts mit Iran. Das
wird Zeit brauchen, doch gelingt dieser Ansatz, könnte es sogar leichter
sein, einer rechten Regierung mit linkem Juniorpartner die notwendigen
schwierigen Kompromisse einer Zweistaatenlösung abzuringen als einer
ohne Gegengewicht zu den Ultra-Rechten. Es gibt dazu außer Fortsetzung
des Dauerkonflikts keine Alternative. Deshalb muss sich auch Europa mit
einer aktiven Nahost-Politik stärker engagieren.
Iran, der große Unsicherheitsfaktor und Gegenspieler der USA in der Region, ist die größte außenpolitische Herausforderung für die Obama-Regierung. Das Land ist der einflussreichste Nachbar des Irak. Mischt es sich in
dessen innere Angelegenheiten ein, sind alle Abzugspläne infrage gestellt.
23
Vgl. Pew Research Center for the People & the Press. Modest Backing For Israel
in Gaza Crisis vom 13.1.2009.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
49
Diese Gefahr, die der Grund für die amerikanische Truppenaufstockung
Anfang 2007 gewesen war, hat sich verringert, da die Provinzwahlen Ende
Januar 2009 die Machtverhältnisse im Land von den konfessionellen Parteien deutlich zu den nationalistischen und zentralstaatlich orientierten
Kräften verschoben haben. Bestätigt sich dieser Trend in den Parlamentswahlen Ende des Jahres und gelingt es, die Spannungen zwischen Zentralisten und Föderalisten, vor allem die Auseinandersetzungen mit den
Kurden unter Kontrolle zu halten, dann dürften der von Obama angeordnete Abzug der meisten Kampftruppen bis August 2010 und der Verbleib
einer beträchtlichen Militärpräsenz bis Ende 2011 zu verantworten sein.
Dies verschafft Zeit, um mit den Nachbarstaaten ein Abkommen über die
territoriale Integrität des Irak zu erreichen, und verbessert die Ausgangsposition Obamas für den Versuch, mit Iran ins Gespräch zu kommen.
Die bisherige Konfrontationspolitik Washingtons im Umgang mit Iran
war erfolglos. Sanktionen, militärische Drohungen und Vermittlungen der
EU im Atomstreit haben Teheran nicht zum Einlenken bewegen können.
Vielmehr wurde das Anreicherungsprogramm beschleunigt und der iranische Widerstand gegen den Friedensprozess in Nahost verstärkt. Obama
will einen diplomatischen Neuanfang, der auf die Vorbedingung einer
Aussetzung der Urananreicherung verzichtet und das Atomprogramm einzuhegen versucht: Iran im Besitz der Atomwaffe sei „nicht akzeptabel”.24
Die Frage stellt sich, wie Teheran zur Aufgabe dieser Option oder gar dieses Ziels bewegt werden könnte oder was zu tun wäre, sollte das scheitern.
Man wird es probieren müssen – einerseits mit wirtschaftlichen Kooperationsangeboten und Einbindung in eine regionale Sicherheitsarchitektur
und andererseits mit verschärften internationalen Sanktionen. Obamas
Neujahrsbotschaft an „das Volk und die Führer der Islamischen Republik
Iran” ist ein erster mutiger Versuch, die seit drei Jahrzehnten andauernde gegenseitige Dämonisierung zu überwinden und Verhandlungsbereitschaft über „die gesamte Bandbreite der vor uns liegenden Fragen” anzubieten.25 So eine Offerte und solch ein Sinneswandel der amerikanischen
Iranpolitik war vor wenigen Monaten noch undenkbar.
Schließlich Afghanistan und Pakistan: Die neue Administration betrachtet beide Länder als „zentrale Front im Kampf gegen den Terrorismus”.26
Der Präsident ist überzeugt, man habe sich vom Krieg im Irak von der Bekämpfung des radikalen Islamismus ablenken lassen und auch die Rückkehr und neue Schlagkraft der Taliban und Al Qaida weitgehend ignoriert. „Wir haben ein klares und fokussiertes Ziel: Al Qaida in Pakistan
24
25
26
So Außenministerin Hillary Clinton bei ihrer Anhörung im Senat am
13.1.2009, zit. aus: Süddeutsche Zeitung, 15.1.2009, S.7.
Zit. aus: Videotaped Remarks by The President in Celebration of Nowruz,
March 20, 2009, www.Whitehouse.gov
Zit. Hillary Clinton bei ihrer Anhörung im Senat am 13.1.2009, ebd.
50
Klaus-Dieter Schwarz
und Afghanisten zu zerschlagen, aufzulösen und zu besiegen.”27 Das soll
erreicht werden mit einer neuen „umfassenden Strategie”, in der „hard
and soft power” gleichermaßen zum Einsatz kommen. Zusätzlich zu der
bereits im Februar angeordneten Verstärkung der 38.000 in Afghanistan
stationierten US-Soldaten um 17.000 werden weitere 4.000 Ausbilder der
Eliteeinheit Airborn Division entsandt, um das Training afghanischer Sicherheitskräfte, das bisher von dafür meist unerfahrenen Nationalgardisten durchgeführt wurde, zu beschleunigen und so die Voraussetzung für
einen künftigen Abzug der US-Truppen zu schaffen. Einen Zeitplan für die
Beendigung des Militäreinsatzes gibt es jedoch nicht. Der Sondergesandte
für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke, rechnet damit, dass der
Krieg in Afghanistan der längste sein werde, den die USA jemals hätten führen müssen – länger noch als in Vietnam, der 14 Jahre lang gedauert hat.28
Militärische Stärke allein kann den Krieg in Afghanistan nicht beenden.
Deshalb will sich die Regierung Obama nach dem Vorbild der im Irak
erfolgreich angewandten Taktik im Umgang mit Militanten verstärkt um
eine Verständigung mit den Taliban bemühen. Nach Einschätzung des
US-Geheimdienstes beteiligen sich zwei Drittel der Aufständischen nicht
aus ideologischen Gründen am Kampf gegen die Besatzung, sondern wegen örtlicher Missstände und wirtschaftlicher Not.29 Folglich sollen Stammesführer und jene Taliban, die nicht zum harten Kern der Al Qaida gehören, durch Verbesserung ihrer Lebensumstände dazu gebracht werden,
sich von den Extremisten zu trennen. Auch die Regierung in Kabul hat
sich um Gespräche mit der Taliban-Führung bemüht, bisher ohne Erfolg
trotz Angebot einer Regierungsbeteiligung. Die Aussicht auf sinnvolle
Verhandlungen mit den Aufständischen dürfte sich daher vorerst auf die
lokale Ebene beschränken.
Ebenfalls neu ist der übergreifende regionale Ansatz. Afghanistan und Pakistan werden nicht mehr gesondert betrachtet, sondern als ein Kriegsschauplatz. Westliche Bodentruppen sollen jedoch nicht in Pakistan eingreifen, um die von dort geführten Angriffe der Taliban zu bekämpfen.
Dies bleibt Aufgabe der pakistanischen Streitkräfte und Regierung, die in
den nächsten fünf Jahren eine US-Finanzhilfe von 7,5 Milliarden Dollar
– eine Verdreifachung der bisherigen Mittel – zur Stabilisierung der Grenzgebiete zu Afghanistan erhalten soll. Nicht nur sie hat ein massives Problem mit vermehrten Terroranschlägen im eigenen Land, auch Iran mit
den Drogen, die aus Afghanistan ins Land kommen. Die übrigen Nach27
28
29
Text of President Barack Obama´s remarks in: International Herald Tribune,
27.3.2009.
Vgl. Holbrooke, Richard: The Next President. Mastering a Daunting Agenda,
in: Foreign Affairs 5/2008, S.2-24.
Diese Aussage ist mit Vorsicht zu betrachten, da die Geheimdienste wenig
über die Machtstrukturen in Afghanistan wissen.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
51
barn teilen das Interesse an Stabilität in der Region. Um dieses zu befördern und die neue Afghanistan-Strategie zu testen, hat auf Anregung der
USA unter Schirmherrschaft der UN eine Afghanistan-Konferenz in Den
Haag Ende März 2009 stattgefunden, an der sämtliche Anrainer, Truppensteller, die Großmächte und wichtigsten internationalen Organisationen
teilnahmen, auch ein Vertreter Teherans. Der Test gilt als gelungen.
Wie man sieht: Alle Konflikte im Krisenbogen zwischen Kairo und Kabul
hängen eng miteinander zusammen. Sie können daher auch nur unter
Behandlung ihrer Verwobenheit geregelt werden. Dazu bedarf es nachdrücklicher diplomatischer Anstrengungen, integrierter Strategien und
multilateraler Zusammenarbeit, um Synergien zum Beispiel aus dem Truppenrückzug im Irak und einer Entspannung der Beziehungen mit Iran zu
erzeugen und im israelisch-arabischen Friedensprozess zu nutzen. Dazu
gehört auch, die Friedensbemühungen mit regionalen Sicherheitsabkommen zu untermauern. Eine solche Politik der Krisenbewältigung unterscheidet sich grundlegend von der Sicherheitspolitik der Bush-Administration, die sämtliche Konflikte im Nahen und Mittleren Osten unter den
intellektuell und politisch fragwürdigen Gesichtspunkt der TerrorismusBekämpfung gestellt und dabei die Hauptquelle des islamistischen Terrorismus aus den Augen verloren hat. Denn diese würde versiegen, wenn
der Nahostkonflikt endlich gelöst und eine haltbare regionale Sicherheitsstruktur geschaffen wird. Obama scheint diesen Konflikt als gefährlich
und daher vordringliche Aufgabe zu begreifen. Eine schnelle Lösung ist
allerdings nicht zu erwarten. Aber vielleicht schafft er es als begnadeter
Kommunikator, die Konfliktparteien zum Reden und zu ernsthaften Verhandeln zu bringen.
3. Multilaterale Multipolarität
Die Machtverschiebungen im internationalen System schwächen zwangsläufig die relative Weltmacht der USA und damit die westliche Dominanz
insgesamt. Präsident Obama kommt nicht umhin, sich mit den Konsequenzen dieser säkularen Entwicklung intensiv zu beschäftigen – nicht etwa,
weil er Konkurrenz zur amerikanischen Führungsrolle zu befürchten hätte.
Denn keine der neuen Großmächte verfügt gegenwärtig über die Machtfülle und vor allem den politischen Willen zur Gestaltung der internationalen
Beziehungen wie die USA, geschweige denn zur Gegenmachtbildung im
Sinne der Mechanik der Balance of Power. Solche Ambitionen gab es nicht
einmal, als der unbeliebte George W. Bush die Vereinigten Staaten regierte,
allenfalls Bestrebungen, den Unilateralismus seiner Politik in die Schranken
zu weisen. Allerdings bringt die Machtverschiebung das Verlangen der neuen Mächte und Machtgruppierungen nach mehr Mitbestimmung mit sich.
Unumgänglich wird daher eine Multilateralisierung der Multipolarität.
52
Klaus-Dieter Schwarz
China wird zweifellos die neue Weltmacht des 21. Jahrhunderts und die
USA als die Nummer eins ablösen. Schon heute hat Washington keine
Wahl, das Reich der Mitte als Schwergewicht im Konzert der Großmächte
zu akzeptieren, ist es doch bereits größter Gläubiger der USA und wichtigster Importlieferant des US-Marktes. Die Bush-Administration verfolgte
in der Chinapolitik einen Mittelweg zwischen „enlargement“ und „containment“, der einerseits China in das bestehende internationale System
integrieren und andererseits durch Gleichgewichtspolitik im pazifischen
Raum ausbalancieren sollte. Obama wird den Akzent mehr auf „engagement“ setzen in der Erwartung, dass China durch stärkere Einbindung in
multilaterale Strukturen vermehrt den Ausgleich sucht und auch die Widersprüche zwischen rapider wirtschaftlicher Entwicklung und beharrlicher Parteiherrschaft mildert: „Wir werden mit China wetteifern auf einigen Gebieten und auf anderen zusammenarbeiten.“30 Die wirtschaftliche
Konkurrenz wird angesichts der chinesischen Exportoffensive und des
hohen Leistungsbilanzdefizits deutlich als Herausforderung empfunden.
Andererseits macht Chinas Premier sich „Sorgen” um seine in US-Dollar
geparkten Währungsreserven.
China ist ebenso wie Russland seit Ende des Ost-West-Konflikts für eine
multipolare Weltordnung eingetreten. Gleichwohl toleriert es die stabilisierende US-Präsenz in der Region, weil es zur Weiterentwicklung von
Wirtschaft und Gesellschaft eine stabile internationale Umwelt benötigt.
Die chinesische Führung weiß, dass Konfrontation den eigenen Interessen nicht dient. Sie unterstützt daher die USA im Kampf gegen den Terrorismus und bei der Eindämmung des Atomprogramms Nordkoreas. Der
Konflikt mit Taiwan ist entspannt, die Beziehungen mit Russland und Indien haben sich deutlich verbessert. China hat auch seine Vorbehalte gegenüber multilateralen Formen regionaler Zusammenarbeit überwunden
(Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, ASEAN Regional Forum).
Pekings außenpolitisches Konzept einer „Harmonischen Welt” unterstreicht, dass sich in der chinesischen Diplomatie eine Hinwendung zum
Multilateralismus vollzogen hat.31 Dies trifft sich mit der Absicht Obamas,
einen „effektiveren Rahmen in Asien” zu schaffen, der über bilaterale Verträge und die Sechs-Parteien-Gespräche über Nordkorea hinausgeht.32 Bereits Präsident Clinton ist für eine stärker institutionalisierte Pazifische
Gemeinschaft nach europäischem Vorbild eingetreten, aber damals noch
auf höfliche Zurückhaltung gestoßen. Man wird sehen, ob die Zeit reif
dafür ist.
30
31
32
Zit. Obama: Renewing American Leadership.
Vgl. Bräuner, Oliver/Wacker, Gudrun/Zhon, Jiajing: Die „Harmonische Welt“
und Chinas Rolle im internationalen System, in: SWP-Zeitschriftenschau
2008/ZS 02, 2008.
Zit. Obama: Renewing American Leadership.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
53
Auch Russland hat seinen Platz in der Weltordnung noch nicht gefunden. Es erhebt den Anspruch, eine Rolle als Großmacht auf Augenhöhe
mit den USA und der EU zu spielen, der zwar dem wirtschaftlichen Gewicht des Landes nicht entspricht, doch ernst zu nehmen ist, wenn man
mit Moskau ein verträgliches Verhältnis haben will. Obama betrachtet
Russland weder als Gegner noch als engen Partner, aber er sieht die Bedeutung Russlands in all den Fragen, die sich seiner Außenpolitik stellen:
Iran und das Nuklearprogramm, Stabilität im Irak, Erfolg in Afghanistan,
Sicherheit Europas etc. Vor allem hat er sich vorgenommen, die von seinem Vorgänger für überflüssig gehaltene Rüstungskontrollpolitik wieder
zu beleben. Dies stößt auf Moskaus Interesse.
Obama hat angekündigt, den Ende 2009 auslaufenden Vertrag über die
Begrenzung strategischer Atomwaffen (START I) zu verlängern und damit
das mit der Sowjetunion vereinbarte Inspektionsregime fortzusetzen. Er
will im Senat die Ratifizierung des Teststoppvertrages durchbringen, die
Entwicklung neuer Atomsprengköpfe einstellen, ein weltweites Verbot
der Produktion von Spaltmaterial für Atomwaffen erreichen und die Zahl
der Atomsprengköpfe um 80 Prozent auf beiden Seiten abrüsten – das
ist nicht weniger als eine radikale Wende in der amerikanischen Nuklearpolitik, die sich seit Ende des Kalten Krieges kaum verändert hat.33 In
diesem Kontext sollen auch die umstrittenen Pläne zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Polen und in Tschechien überprüft und vom Verhalten Irans zum amerikanischen Gesprächsangebot abhängig gemacht
werden.34 Dies gibt Russland Anreiz, schärfere Sanktionen mitzutragen,
falls Teheran nicht einlenkt. Der Kreml hat bereits die angedrohte Stationierung von Kurzstreckenraketen in Kaliningrad ausgesetzt. Es kommt
also neuer Schwung in das durch fragwürdige Rüstungsprojekte und fortgesetzte Osterweiterung der NATO belastete amerikanisch-russische Verhältnis. Dies stärkt auch die Sicherheit Europas, denn diese beruht auf
Sicherheit mit und nicht gegen Russland.
„Amerika hat keinen besseren Partner als Europa”, bekannte Obama in
seiner Berlin-Rede. Die EU-Außenminister begrüßten seine Wahl mit einem umfassenden Kooperationsangebot: „Die Weltordnung hat sich verändert. Die Europäer wollen darin ihre Rolle an der Seite der Amerikaner
spielen.”35 Folglich geht es um eine veränderte transatlantische Beziehung – eine, die nicht vom Wunsch nach Wiederherstellung, sondern
von dem der Neugestaltung bestimmt ist, die sowohl den neuen globa33
34
35
Vgl. Arms Control Today 2008 Presidential Q&A: President-elect Barack Obama, Arms Control Association, 2008.
Vgl. ebd. Obamas Aussage, dass er das Abwehrsystem nicht ohne Zustimmung
der Bündnispartner und erwiesene Einsatzreife stationieren werde.
EU will eng mit Obama zusammenarbeiten, zit. aus: Spiegel Online, 15.11.2008.
54
Klaus-Dieter Schwarz
len Ordnungsproblemen als auch der schleichenden Machtverschiebung
vom Atlantik zum Pazifik Rechnung trägt.
Inzwischen hat sich die EU zu einem selbstständigen Akteur in der entstehenden multipolaren Welt entwickelt und in der Debatte über Weltfinanzreform, Klimaschutz, vernetzte Sicherheitspolitik sowie durch entschlossenes Handeln im Georgienkonflikt gezeigt, dass sie zur Gestaltung
der Weltordnung eine Menge beitragen kann. Gleichwohl bleiben die
USA für Europa wichtig, denn nur in Partnerschaft mit der amerikanischen Außenpolitik kann die europäische Außenpolitik globale Bedeutung gewinnen. Umgekehrt ist der europäische Beitrag notwendig, damit
die USA eine konstruktive Rolle in der Welt spielen können. „Amerikaner und Europäer müssen und können sich wechselseitig ergänzen und
gemeinsam Verantwortung tragen”, heißt es in dem Strategiepapier der
EU-Außenminister. Dies verlangt allerdings substanzielle und regelmäßige Konsultationen, gemeinsame Entscheidungsfindung und gerechte Lastenteilung: „no taxation without representation”.
Kann die NATO wieder der Ort werden, an dem die transatlantischen Partner ihre strategischen Vorstellungen konsultieren und koordinieren? An
diesem Verständnis der Allianz als politisches Bündnis hat es in den vergangenen Jahren beiderseits gefehlt. Die USA nutzten sie zur Mitsprache
in Angelegenheiten europäischer Sicherheit und als „Werkzeugkasten” für
ihre Globalpolitik. Die Europäer konzentrierten sich auf den Ausbau der
EU und Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
die zivile und militärische Mittel miteinander verknüpft. Die NATO hat
dagegen als Anbieter von Sicherheit nur militärische Stärke und organisatorische Fähigkeiten aufzuweisen. Dennoch kann sie wieder eine lebendige Organisation der transatlantischen Bündnispartnerschaft werden.
In diese Richtung zielt ein gemeinsames Papier der Bundeskanzlerin Merkel und des französischen Präsidenten Sarkozy.36 Sie fordern für den bevorstehenden NATO-Gipfel, der im April 2009 von beiden Ländern gemeinsam ausgerichtet wird, eine Grundsatzdebatte über Sinn und Zweck
des Bündnisses. Der politische Charakter der NATO müsse wieder in den
Vordergrund treten. „Dies bedeutet: gemeinsames Analysieren, Entscheiden und Umsetzen. Einseitige Schritte würden dem Geist dieser Partnerschaft widersprechen.” Das sind klare Worte gegen amerikanische Alleingänge, offenkundig bezogen auf die Bush-Ära. Beide Politiker sind nicht
der Meinung, die NATO benötige eine neue Strategie, sondern schlagen
vor, das strategische Konzept der Allianz von 1999 „zu überarbeiten”. Die
Beistandsverpflichtung sei der „Wesenskern” des Bündnisses, womit sie
Bestrebungen, die NATO in eine globale Sicherheitsagentur zu verwan36
Merkel, Angela/Sarkozy, Nicolas: Wir Europäer müssen mit einer Stimme sprechen, in: Süddeutsche Zeitung, 4.2.2009.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
55
deln, eine Absage erteilen. Vielmehr komme es darauf an, die Kombination von zivilen und militärischen Mitteln stärker zu betonen – sie sei das
„Markenzeichen der europäischen Sicherheitspolitik”. Folglich müssen
NATO und EU enger zusammenwirken, doch dies ist das bisher ungelöste
Problem. Vor allem muss zunächst der EU-Reformvertrag von Lissabon in
Kraft treten, der u.a. die institutionellen Voraussetzungen schafft für eine
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die endlich ihren Namen verdient.
Obama misst Konsultationen sowohl zu Hause als auch mit engen Verbündeten große Bedeutung bei. Seine Regierung wird daher die NATO wieder
als Ort der politischen Debatte nutzen. Auch ihr „smart power“-Konzept
kommt der vernetzten Sicherheitspolitik der Europäer entgegen. Die europäische Fokussierung der Allianz auf den „Wesenskern“ der Abschreckung
und kollektiven Verteidigung dürfte ihr allerdings als zu eng erscheinen,
weil zu reaktiv, statisch und stationär. In diesem Punkt zeichnen sich Differenzen ab, die bei der Beratung über das künftige strategische Konzept
der NATO zur Diskussion stehen werden. Es geht einmal mehr um die
umstrittene Frage „Globalisierung“ des Bündnisses durch Ausweitung von
NATO-Partnerschaften unterhalb der Mitgliedschaft, die es bereits gibt
zum Beispiel mit Australien, Japan etc., und durch proaktives Handeln
zwecks Eindämmung von Bedrohungen jenseits des Bündnisgebietes.37
Damit ist die Debatte über den künftigen Zuschnitt des Bündnisses eröffnet. Die USA werden in dieser Frage von den Europäern mehr Anpassung
an die neuen Herausforderungen und mehr Effizienz erwarten. Und so
leicht wie in der Ära Bush werden sie sich dem nicht entziehen können.
Schließlich: Multilateralismus im Zeitalter beschleunigter Interdependenz und entstehender Multipolarität funktioniert schlecht ohne wirksame Institutionen. Die wichtigsten wurden vor sechzig Jahren von den
USA geschaffen. Sie sind überholt und ineffektiv: Der UN-Sicherheitsrat
mit seinen fünf Vetomächten bildet das Kräftegewicht nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges ab, erfüllt seine Zuständigkeit – „Wahrung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit” – nur unzulänglich und
ist reformresistent; der Internationale Währungsfonds (IWF) konnte das
Entstehen der Weltfinanzkrise zwar frühzeitig erkennen, aber nichts dagegen unternehmen; die Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO)
befindet sich im achten Verhandlungsjahr und tritt ergebnislos auf der
Stelle, weil sie sich nicht auf den Abbau von Agrarsubventionen und Industriezöllen einigen kann. Solche Ineffizienz der globalen Organisationen untergräbt die Legitimität internationaler Ordnung.
37
In diese Richtung zielen Aussagen des Sicherheitsberaters Jones auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2009, vgl. Süddeutsche Zeitung, 9.2.2009, S.6.
56
Klaus-Dieter Schwarz
Obama hat Reformen der internationalen Organisationen und deren
Anpassung an die heutigen Machtverhältnisse angekündigt. Das bedeutet für die westlichen Staaten, dass ihre Überrepräsentierung in vielen
Institutionen nicht mehr vertretbar ist. Es sei notwendig, „aufstrebenden
Mächten wie Brasilien, Indien, Nigeria und Südafrika einen Anteil bei der
Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung zu geben. Dafür benötigen die Vereinten Nationen weitreichende Reformen.”38 Diese Absicht ist
zwar recht und billig, aber die Folge mangelnder Bereitschaft zum Interessenausgleich zwischen etablierten und aufsteigenden Mächten wird eher
sein, dass die Regionen mit zunehmendem Selbstbewusstsein ihre eigenen
Sicherheitsinstitutionen aufbauen wie in der Shanghaier Organisation für
Zusammenarbeit oder der Afrikanischen Union bzw. dort, wo sie fehlen,
wie in der Golfregion. Selbst ein reformierter UN-Sicherheitsrat könnte
die Krisen- und Konfliktpotenziale im Nahen und Mittleren Osten nicht
wirksam behandeln. Für solche Probleme sind flexible Koalitionen besser
geeignet: Kontaktgruppen, Quartetts, die EU-3, P5 plus 139 etc. Auch für
die neue Mächtekonzertierung im multipolaren System gibt es bereits ein
Forum, das gute Dienste in Wirtschaftsfragen geleistet hat: die Gruppe
der führenden Industrieländer (G 7 plus Russland), die indes wie der UNSicherheitsrat die politische Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr
widerspiegelt. Die Zusammenkunft der G 20 im November 2008 war aus
der Not der globalen Finanzkrise geboren, könnte aber Ausgangspunkt
für regelmäßige Treffen der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer
in erweiterten Formaten (G 13 plus x) werden, um den zunehmenden
Regulierungsbedarf in der Weltpolitik untereinander abzustimmen. Kurz:
Weltordnungspolitik (Global Governance) in der interdependenten und
multipolaren Welt findet offenkundig in einer Kombination aus globalem, interregionalem und modularem Multilateralismus statt.
Obamas Administration steht somit vor dem Problem, die Rolle der USA
an eine Weltordnung anpassen zu müssen, die Washington nicht mehr
kontrollieren kann. Das ist neu für Amerika, denn bisher war es gewohnt,
sich entweder anderthalb Jahrhunderte zu isolieren oder die Welt zu dominieren. Das künftige internationale System wird komplexer sein als
alle anderen, mit denen sich die amerikanische Diplomatie bisher auseinanderzusetzen hatte. Es erinnert an eine vergleichbare europäische
Konstellation im 18. und 19. Jahrhundert, an das europäische System des
Gleichgewichts, das funktionierte, solange die fünf Mächte Konsens untereinander finden konnten. Als sie keinen mehr fanden, nämlich 1914
und 1939, führte es zur Katastrophe, in die sie zweimal die USA hineinzogen. Deshalb hat Amerikanern die Vorstellung, eine Weltordnung auf einer Art Gleichgewicht aufzubauen, nie sonderlich gefallen. Doch damals
38
39
Zit. Obama: Renewing American Leadership.
Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates plus Deutschland, die
mit Iran über dessen Atomprogramm verhandeln.
Ein neuer globaler Multilateralismus der USA
57
war die Interdependenz in den Beziehungen der großen Mächte untereinander noch zu schwach für einen Zusammenhalt und Krisenmanagement
bietenden Multilateralismus. Heute ist dieser in integrierten Staatenverbindungen, internationalen Organisationen und Verträgen, aber auch in
locker gefügten Institutionen, flexiblen Gruppen und NichtregierungsOrganisationen (NGOs) verfügbar. Auch andere Großmächte, teilweise
mit extrem unterschiedlichen Kulturen wie Indien und China, stehen vor
dem gleichen Problem, sich in eine neue Weltordnung einzufügen und
dafür das Instrumentarium des Multilateralismus zu nutzen. Dies erfordert von den USA eine Abkehr von hegemonialen Tendenzen bisheriger
Weltmachtpolitik und von ihren Partnern Übernahme von mehr internationaler Verantwortung. Die Schlussfolgerung hat die Qualität einer Binsenwahrheit und Aussicht, als gängige Floskel Karriere zu machen: „Amerika kann die Probleme nicht ohne die Welt lösen, und die Welt kann die
Probleme nicht ohne die USA lösen.”40
Ausblick
„Wir müssen Amerika erneuern“, hat Präsident Barack Obama seiner Nation
in der Antrittsrede am 20. Januar zugerufen. Und weil Umwälzungen in den
Vereinigten Staaten stets globale Folgen haben, gilt dieser Aufruf der ganzen
Welt: „Wir sind bereit, die Führung einmal mehr zu übernehmen“ – diesmal
nicht mehr als Hegemon, sondern als primus inter pares. Die wichtigsten
Bausteine einer erneuerten Weltordnung sind die Staaten Nordamerikas
und Europas, weil sie sich in den entscheidenden Fragen als kooperativer
erwiesen haben als andere Regionen. Daraus folgt zweierlei. Zum einen liegen ihre wesentlichen Interessen im Nahen und Mittleren Osten so eng beieinander, dass ihre Zusammenarbeit bei der Stabilisierung und Entwicklung
dieses Teils der Welt sich nahezu von selbst versteht. Die Region ist für die
Sicherheit beider Kontinente so zentral, dass dort nicht nur gemeinsames
Krisenmanagement vonnöten ist, sondern sich auch neue Formen eines
innovativen Multilateralismus zur Reform der Region empfehlen. Zum anderen ist ihre Partnerschaft gefordert bei der Aufgabe, die aufstrebenden
Mächte in eine Weltordnung zu integrieren, die sie nur dann unterstützen,
wenn sie an der Regelung der regionalen und globalen Probleme dieser Welt
auch gleichberechtigt teilhaben. Das bedeutet aber, dass der Westen sich
allmählich von seiner 500-jährigen Dominanz der Welt verabschieden und
anderen Zivilisationen mehr Einfluss gewähren muss.
Präsident Obama wird eine neue und globale multilaterale Außen- und
Sicherheitspolitik betreiben. Nicht nur, weil es seiner persönlichen Über40
Hillary Clinton bei ihrer Vorstellung als Außenministerin, zit. in: Süddeutsche
Zeitung, 2.12.2008, S.1; dieselbe Aussage in ihrem Statement im Auswärtigen
Ausschuss des Senats, 13.1.2009.
58
Klaus-Dieter Schwarz
zeugung entspricht, sondern weil die USA unilateral nur noch wenig
(wenn überhaupt) erreichen können. Deshalb wird sich die amerikanische
Haltung zum Multilateralismus der europäischen angleichen, das heißt:
Multilateralismus wird nicht mehr verstanden nur als Mittel, sondern als
Ziel der Außenpolitik. Dabei handelt es sich aber um einen fordernden
Multilateralismus, der auf Resultate größeren Wert legt als auf Prozesse
und Kompromisse auf kleinem gemeinsamen Nenner, die für die europäische Art des Multilateralismus charakteristisch sind. Daraus können sich
transatlantische Frustrationen ergeben, wenn die Europäer auf das neue
Arrangement – mehr amerikanische Kooperation und mehr europäisches
Engagement im Gegenzug – so vielstimmig reagieren wie üblich, anstatt
auf die Herausforderungen der Globalisierung kraftvolle Antworten zu geben, die nur die Union liefern kann.
Dem steht auf amerikanischer Seite ein Problem gegenüber, das die Europäer im integrierten Staatenverbund aufgelöst und geregelt haben: die
Spannung zwischen demokratischer Kontrolle der Außenpolitik und Einschränkung nationaler Souveränität durch Einbindung in multilaterale
Strukturen. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass die USA diese Erfahrung dichter und vertiefter internationaler Kooperation bisher kaum
kennen, sondern ergibt sich aus ihrem politischen System der verschränkten Gewalten, in dem der Kongress Teil der Regierung („the other brunch of
government“) ist und in der Außenpolitik eine eigenständige Rolle spielt.
Der Kongress begreift Einbindung in multilaterale Politik und Verfahren als
Stärkung der Exekutive und Schwächung seiner Kontrollfunktion, weshalb
er quasi automatisch gegensteuert und befugt ist, die Administration zur
Korrektur ihrer Außenpolitik zu bewegen. Der Präsident wird also an zwei
Fronten für die Unterstützung seiner neuen Außenpolitik werben müssen:
bei den internationalen Partnern und im Kongress, vor allem im Senat,
der internationalen Vereinbarungen mit Zweidrittelmehrheit zustimmen
muss und daher ein kohärentes, multilateral ausgerichtetes Regierungshandeln in der Weltpolitik erschwert. Zwar verfügen dort die Demokraten
über eine starke Mehrheit, aber darauf kann er sich nicht verlassen, vielmehr auf seine Überzeugungskraft und den überparteilichen Ansatz.
Schließlich kommt es in Krisenzeiten auf politische Führerschaft an, auf
eine Leitfigur wie Präsident Barack Obama, der in Amerika und weltweit
bei Abermillionen Zustimmung sammelt für eine „neue Ära der Verantwortlichkeit“. Er verspricht Wandel und fordert Engagement und Mitverantwortung: Das ist sein Führungskonzept, mit dem er in der Innen- und
Außenpolitik ans Werk geht. Er setzt als Charismatiker und Pragmatiker
neue Standards für gutes Regieren und effektives multilaterales Handeln
im Zeichen einer relativen Schwächung amerikanischer Macht in der
Welt. Er begreift die Krise als Chance, sein Versprechen einzulösen. Man
darf gespannt sein auf die Resultate.
Amerikanische Außenpolitik
im Konzert der Mächte statt
hegemonial-imperialer Politik
Werner Link
1. Vorbemerkungen
Die Einschätzung, ob Kontinuität oder Wandel die Außenpolitik des neuen
amerikanischen Präsidenten Obama charakterisieren wird, ist schwierig,
weil einer Prognose zu Beginn seiner Amtszeit zwar viele aussagekräftige
Worte, aber wenige politische Entscheidungen und Taten zugrunde gelegt
werden können und weil die enorme emotionale Euphorie, die sich mit
der spektakulären Amtseinführung des begnadeten Charismatikers in den
USA und weltweit ausgebreitet hat, einer rationalen Analyse tendenziell
entgegensteht. Unbestreitbar war im Wahlkampf Obamas Schlüsselwort
„change“. Es bezog sich auch auf die Außenpolitik, obwohl sie nur eine
marginale Rolle spielte. In der Schlussphase wurden die Finanzkrise und
deren Auswirkungen zum alles dominierenden Thema. Nach dem Wahlsieg und in der Übergangsphase, als Obama sein außenpolitisches Team
präsentierte, mehrten sich die Stimmen, die – erleichtert oder besorgt –
für die Außenpolitik eher Kontinuität als Wandel prognostizierten. Dass
der gewählte Präsident entschied, Bushs Verteidigungsminister im Amt
zu belassen und den ehemaligen Mitarbeiter von Außenministerin Rice,
General James Jones, zu seinem Sicherheitsberater zu machen, wurde
als Kontinuitätssignal interpretiert. Es war dann Robert Gates selbst, der
alsbald öffentlich eine „message of continuity“ verkündigte und zur Begründung ausführte, „that a change in administration does not alter our
fundamental interests“.1 Bedingen also – allgemein formuliert – gleichbleibende fundamentale Interessen die Kontinuität der Außenpolitik, und
zwar auch dann, wenn sich die Machtrelationen im internationalen System und im Staat ändern? Und wird demzufolge – ungeachtet der internationalen machtpolitischen Veränderungen, die in jüngster Zeit manifest
geworden sind – in der amerikanischen Außenpolitik unter Obama mehr
„continuity“ als „change“ obwalten? Oder deutet vielmehr Obamas Inaugurationsrede, die ein großes Programm der Erneuerung enthält und sich
deutlich von der Politik der Administration Bush abkehrt (siehe unten),
darauf hin, dass Wandel statt Kontinuität zu erwarten ist?
1
Rede auf der Sicherheitskonferenz in Bahrein am 13.12.2008, zitiert nach International Herald Tribune (IHT), 13.12.2008.
60
Werner Link
Bevor man vorschnell auf diese Frage bejahend oder verneinend antwortet, sollte man bedenken, dass vielleicht beide Begriffe fälschlich als dichotomisches Gegensatzpaar verstanden werden und dass sie ganz gewiss
ohne eine Operationalisierung für die empirische Analyse unbrauchbar
sind. Der große österreichisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler
und Harvard-Professor Alexander Gerschenkron hat in seinem wegweisenden Aufsatz „On the Concept of Continuity in History“2 in diesem
Sinne argumentiert und dabei im Rekurs auf Kant und Schopenhauer
verdeutlicht, dass Kontinuität „gradueller Wandel” ist und umgekehrt. Er
hat daran anschließend verschiedene begriffliche Varianten von Kontinuität unterschieden, die sich zur Beschreibung der empirischen Realität
eignen. Die erste Variante ist m.E. die wichtigste. Sie begreift Kontinuität
als „Richtungskonstanz”. Umgekehrt ist dann Wandel als Richtungsänderung zu definieren. Mit Hilfe dieser begrifflichen Unterscheidung wird im
Folgenden diskutiert, ob sich die amerikanische Außenpolitik unter Obama – ungeachtet einiger Modifikationen im Einzelnen – in die Richtung
bewegen wird, in die sie von Bush sen. bis Bush jun. entwickelt worden ist
(siehe die Skizze unter Punkt 2), oder ob und gegebenenfalls warum eine
Richtungsänderung zu erwarten ist und welche alternativen Richtungen
unter den neuen machtpolitischen Bedingungen als realistisch und realisierbar gelten können (siehe dazu die Punkte 3 bis 5). Abschließend wird
skizzenhaft eine grundsätzliche Richtungsalternative zur hegemonialen
und imperialen Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik vorgestellt, und es wird erörtert, ob es für diese Alternative im außenpolitischen
Programm Obamas Ansätze gibt.3
2. Die hegemonial-imperiale Richtung der amerikanischen
Außenpolitik
In welche Hauptrichtung orientierte sich die amerikanische Außenpolitik nach der Bipolarität bis heute? Nach dem Wegfall der Sowjetunion
wurde die neue internationale Machtverteilung in den USA als unipolar
wahrgenommen („the unipolar moment“), obwohl, objektiv betrachtet,
eher eine Kombination aus militärischer Quasi-Unipolarität und politi-
2
3
Siehe Gerschenkron, Alexander: On the Concept of Continuity in History, in:
Proceedings of the American Philosophical Society 3/1962, S.195-209.
Die Begriffe Hegemonie und Imperium werden gemäß dem empirisch gesättigten Standardwerk von Heinrich Triepel (Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, 2. Neudruck der Ausgabe von 1943, Aalen 1974) verwendet.
Hegemonie liegt demnach „in der Mitte zwischen der untersten und der obersten Stufe der Machtskala“, „zwischen der Stufe des bloßen Einflusses und der
der Herrschaft“. Führung ist „bestimmender Einfluss“, keine Herrschaft. „Führung ist der ‚Gegenpol‘ zur Herrschaft“ und bedarf der Anerkennung/Akzeptanz der Geführten. Sie ist „leadership, not dictation“ (S.40f.).
Amerikanische Außenpolitik im Konzert der Mächte
61
scher Multipolarität zu konstatieren war.4 Dass die USA die herausragende
globale Macht in der Spitzengruppe der großen Mächte waren, war jedoch
unbestreitbar. Daraus resultierte ihr weltweiter Führungsanspruch. So feierte Präsident Bush sen. in seinem Bericht zur Lage der Nation vom 28.
Januar 1992 die Veränderungen in der Welt mit folgenden Worten: Der
Kommunismus sei gestorben; Amerika habe durch die Gnade Gottes den
Kalten Krieg gewonnen. „Eine einstmals in zwei bewaffnete Lager geteilte
Welt erkenne heute eine einzige und überragende Macht an – die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Die USA seien von der „Führungsmacht des
Westens“ zur „Führungsmacht der Welt“ geworden; sie seien die „unbestrittene Führungsmacht dieses Zeitalters“.
Bushs Nachfolger hat dieses Selbstverständnis wiederholt und mit gewissen Abwandlungen zum Ausdruck gebracht. Die USA seien, so Präsident
Clinton, „die herausragende Weltmacht“ (National Security Strategy of
Engagement and Enlargement, Juli 1994); die „amerikanische Führungsrolle“ sei „unerlässlich“, „weil zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand außer uns dasselbe für die Förderung von Frieden, Freiheit und Demokratie
leisten“ könne (Rede vom 5. August 1996); eine „weltweite Führungsrolle“ müsse von dieser „unerlässlichen Nation“ ausgeübt werden (Bericht
zur Lage der Nation, 4. Februar 1997). Daraus ergab sich – wohl gemerkt
schon unter Präsident Clinton – für die Außenpolitik der USA folgende
Maxime:
„Unilateral (zu handeln), wenn unsere direkten nationalen Interessen am
stärksten betroffen sind; in Allianz und Partnerschaft, wenn unsere Interessen von anderen geteilt werden; und multilateral, wenn unsere Interessen allgemeiner Art sind und die Probleme am besten von der internationalen Gemeinschaft angegangen werden“ (National Security Strategy,
1994).
Die skizzierte hegemoniale Ausrichtung, die – wie an anderer Stelle gezeigt wurde5 – auch die praktische Außenpolitik der USA in den neunziger Jahren bestimmte, wurde nach dem 11. September 2001 von
Präsident Bush jun. mit der National Security Strategy von 2002 in imperiale Richtung übersteigert, zu einem „Hegemonialismus mit imperialen
Implikationen“6. Die USA machten sich unter dem Einfluss der Neo-Konservativen auf den „Weg zum Imperium“ (James Kurth), und dieser Weg
war – wie bei ähnlichen historischen Entwicklungen – „mit hegemonialen Steinen gepflastert“ (Heinrich Triepel). Unter diesem Aspekt betrach4
5
6
Siehe dazu und zum Folgenden ausführlicher Link, Werner: Die Neuordnung
der Weltpolitik, München, 3. erw. Aufl., 2001, S.127-135.
Unter anderem in dem „Jahrbuch Internationale Politik“, zweijährlich herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Rudolf, Peter: Imperiale Illusionen, Baden-Baden 2007, S.188.
62
Werner Link
tet, handelte es sich also nicht um eine Richtungsänderung, sondern um
ein Weiterschreiten. Indes, indem die Bush-Doktrin das seit dem Westfälischen Frieden gültige Ordnungsprinzip der Souveränität zur Disposition
der Großmacht USA stellte und somit „the end of Westphalia“7 signalisierte, entstand eine grundsätzlich neue Ordnungsperspektive, die alles
andere als Richtungskontinuität beinhaltete. John G. Ikenberry hat die
entsprechende „neoimperial grand strategy“ als eine Kombination aus
sieben Elementen beschrieben:8
–
–
–
–
–
–
–
fundamentale Verpflichtung und Entschlossenheit, die Unipolarität
zu erhalten und den Aufstieg von Rivalen zu verhindern,
statt Abschreckung Eliminierung transnationaler Terroristen und
„outlaw states“-,
präventive Offensive statt Verteidigung,
unilaterale Entscheidung darüber, wer die Souveränität verwirkt hat,
und entsprechendes Handeln,
Abwertung internationaler Regeln, Verträge und Sicherheitspartnerschaften,
„Coalitions of the willing“ und nur selektive Nutzung von Allianzen,
Bereitschaft, Risiken der Destabilisierung als Preis für eine Neuordnung in Kauf zu nehmen.
Als weiteres Element ist meines Erachtens noch die Anwendung des
Prinzips „divide et impera“ hinzuzufügen.
Diese neoimperiale Strategie unterscheidet sich – wie Ikenberry gezeigt
hat – grundsätzlich von den beiden traditionellen konkurrierenden Strategien der USA, von der „realistischen“ und der „liberalen“, obwohl sie
einige ihrer Elemente in sich aufnimmt. Im „imperialen Syndrom“9 erlangen die Traditionen des amerikanischen Exzeptionalismus und des
Missionarismus eine neue Bedeutung. James Kurth sieht in historischer
Perspektive die neoimperiale Politik Bushs sogar als vierten und vorerst
letzten Akt in dem imperialen Drama der USA, „in the long march of the
American Empire, from its origins on the eastern shore of the North American continent to the outer reaches of the great globe itself“.10 Wird es
nun unter Obama zu einer Richtungsänderung kommen? Wie sehen die
Voraussetzungen dafür aus?
7
8
9
10
Kissinger, Henry: Preemption and the end of Westphalia, in: New Perspectives
Quarterly 4/2002, S.31-36.
Ikenberry, G. John: America‘s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs 5/2002,
S.44-62.
Maier, Charles S.: America Among Empires?, in: German Historical Institute
Bulletin 41/ 2007, S.21-31.
Kurth, James: Confronting the Unipolar Moment: The American Empire and
Islamic Terrorism, in: Current History 659/2002, S.403-408, hier S.408.
Amerikanische Außenpolitik im Konzert der Mächte
63
3. Machtpolitische Veränderungen und Entmythologisierung
Die Anwendung der neoimperialen Strategie durch die Regierung Bush
hat in der internationalen Politik die von den Neo-Realisten vorausgesagte Gegentendenz zur „Zähmung“ und Balancierung der amerikanischen
Macht gestärkt. In den USA sind unter dem Eindruck des Irak-Desasters
im Wahljahr die „myths of empire“11 zunehmend erodiert. Mit dieser
„Entmythologisierung“, die von Obama kräftig unterstützt wurde und
wird, ist der Boden für eine außenpolitische Richtungsänderung bereitet
worden. Vor allem aber haben die dramatische Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Auswirkungen die Einsicht in die objektiven machtpolitischen Veränderungen gefördert, die der Fortsetzung der neoimperialen Politik ihre Basis entziehen. Der demokratische Kongressabgeordnete
Barney Frank, Vorsitzender des Financial Services Committee, konstatiert
bereits im September 2008 in einem Hintergrundgespräch (was später Finanzminister Paulson und Notenbankchef Bernanke in den Hearings öffentlich erläuterten): „... let‘s be realistic: We‘re no longer the dominant
world power.“12 Zwei Monate später, im November 2008, hieß es in dem
Bericht des National Intelligence Council „Global Trends 2025: A Transformed World“, dass die USA zwar der wichtigste globale Akteur bleiben,
aber ihr Einfluss auf politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet in der multipolaren Welt abnehmen werde. (In der Studie von 2004
war noch vorausgesagt worden, dass die USA ihre Vormachtstellung weiter ausbauen würden.)13 Und Anfang 2009 veröffentlichte der U.S. Joint
Forces Command seine geopolitische Einschätzung „Joint Operating Environment 2008“, in der die Herausforderung für die USA darin gesehen
wird, dass sie „more like other nations“ würden – „first among equals“.
Andere Großmächte würden zwar die USA nicht besiegen können, aber
häufiger willens sein, „to say no to Washington“14.
In der wissenschaftlichen Literatur ist ebenfalls die Meinung vorherrschend, dass in der neuen Welt „America is only one of several great
powers“15. Die Gegenstimmen stammen verständlicher Weise meistens
aus dem neo-konservativen Lager.16 Aber sicherlich ist die Einschätzung
richtig, dass es – wie Jens van Scherpenberg in diesem Band urteilt – nach
der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise eine Rückkehr zum status quo
11
12
13
14
15
16
Snyder, Jack: Imperial Temptations, in: The National Interest 71/2003, S.29ff.
Siehe Cohen, Roger: The fleecing of America, in: IHT, 21.9.2008.
Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 22.11.2008.
Siehe Bandow, Doug: First Among Equals, in: The National Interest, 12.1.2009.
Gray, John: A shattering moment in America‘s fall from power, in: Observer,
28.9.2008.
Vgl. u.a. Kagan, Robert: Still No.1, in: Washington Post, 30.10.2008. Eine einfühlsame Darstellung des Neokonservatismus bietet Keller, Patrick: Neokonservatismus und Amerikanische Außenpolitik, Paderborn 2008. Auch andere
Autoren – wie z.B. William Wohlforth – halten an ihrer Dominanzthese fest.
64
Werner Link
ante, zu den alten Kräfteverhältnissen und zu der ihnen entsprechenden
Politik, nicht geben wird. Mit guten Gründen lässt sich argumentieren,
dass schon vor der Krise neue Machtzentren entstanden sind und die
Weltordnung multipolar geworden ist – vor allem im geo-ökonomischen
Bereich.17 Die Krise hat die Machtverschiebungen nur manifest werden
lassen. Mehr noch: Die Illusion von der Unipolarität und die daraus resultierenden „imperial temptations“ (Jack Snyder) haben jene Politik von
„Kanonen und Butter“ der Regierung Bush und der Federal Reserve Bank
begründet, die das Ausmaß der Finanzkrise verursacht hat (siehe van
Scherpenberg). Die neoimperiale Politik ist nicht nur militärisch, sondern
auch ökonomisch und mithin gesamtpolitisch gescheitert. Das ist die
Ausgangssituation bei Obamas Regierungsantritt.
4. Rückkehr zur gemäßigten Hegemonialpolitik?
Obamas Wahlkampfversprechen, die Nation „in eine neue Richtung zu
lenken“18, bezog sich auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik, auf die Überwindung der ökonomischen Krise. Aber bekanntlich hängen Wirtschaftsund Außenpolitik eng miteinander zusammen – im Zeitalter der Globalisierung noch enger als auch schon früher. Wenn man den wiederholt
vorgenommenen Vergleich mit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise
von 1929 und die Jahre danach sowie den Wechsel von dem Republikaner
Hoover zu dem Demokraten Roosevelt betrachtet, so wird oft übersehen,
dass Präsident Roosevelt gleichzeitig mit dem New Deal eine außenpolitische Richtungsänderung vornahm (Anerkennung der Sowjetunion und
Einschwenken auf die Status-quo-Politik als Antwort auf die Expansionspolitik Japans und auf die revisionistische Politik des Dritten Reiches).
Eine Kombination von wirtschaftspolitischer und geopolitischer Richtungsänderung unter Obama wäre also keineswegs ohne Beispiel.
Nimmt man Ikenberrys Begriffsoperationalisierung als eine Art „checklist“, so sprechen die bisherigen Erklärungen und ersten Amtshandlungen
Obamas19 nicht für eine Fortsetzung der neoimperialen Politik Bushs. Einige der von Ikenberry aufgelisteten Elemente finden sich zwar auch in
Obamas Programm: die „Revitalisation“ des Militärs (u.a. durch weitere
65.000 Armeesoldaten und 27.000 Marines) und die Zusicherung: „I will
17
18
19
Siehe Subacchi, Paola: New power centres and new power brokers, in: International Affairs 3/2008, S.485-498. Schon 2002 schrieb Emmanuel Todd einen
„Nachruf“ auf die „Weltmacht USA“; vgl. auch Kupchan, Charles: The End of
the American Era, New York 2002.
Zitiert nach FASZ, 18.1.2009.
Die folgenden Zitate sind dem Grundsatz-Artikel „Renewing American
Leadership“entnommen, in: Foreign Affairs 4/2007, und der Inauguralrede
vom 20.1.2009 (zitiert nach dem Abdruck in: IHT, 20.1.2009 und der Übersetzung in: FAZ, 22.1.2009).
Amerikanische Außenpolitik im Konzert der Mächte
65
not hesitate to use force, unilaterally if necessary, to protect the American people or our vital interests whenever we are attacked or imminently
threatened.“ Indes, beide Elemente waren auch in Präsident Clintons
National Security Strategy enthalten als Elemente hegemonialer Politik
(siehe oben). Auf einen Nenner gebracht, kann das außenpolitische Programm Obamas als Versuch charakterisiert werden, die imperiale Übersteigerung der Bush Ära zu beenden und zu der traditionellen hegemonialen Politik (wie sie oben beschrieben wurde) zurückzukehren und sie in
abgewandelter Form fortzusetzen:
„To renew American leadership in the world“, „ready to lead once more“:
Der Führungsanspruch ist verbunden mit der Bereitschaft zur Kooperation („We need effective collaboration on pressing global issues among all
the major powers.“), Stärkung bestehender Allianzen (wie der NATO), Bildung neuer Allianzen und Partnerschaften in anderen vitalen Regionen
sowie in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik, aktiven Kooperation mit
Russland (einschließlich der nuklearen Rüstungsbeschränkungen) und
kompetitiven Kooperation mit China („a relationship that broadens cooperation while strengthening our ability to compete“).
Obama erklärte, „a new vision of leadership in the twenty-first century (...) draws from the past but is not bound by outdated thinking. The
Bush administration responded to the unconventional attacks of 9/11
with conventional thinking of the past, largely viewing problems as statebased and principally amenable to military solutions“. Trotz dieser klaren
Abgrenzung behält Obama Bushs Definition vom „Krieg“ gegen die Terroristen bei: „Our nation is at war, against a far-reaching network of violence and hatred“, und sie werde in diesem Krieg siegen – in Kooperation
mit ihren Partnern.
Obamas Führungskonzeption ist – insgesamt betrachtet – mit der Bereitschaft verbunden, auf andere Staaten, auf deren Interessen und Meinungen einzugehen, den offenen Dialog mit den Verbündeten und sogar mit
den Gegnern zu führen. Obama zeigt auch Bemühungen, regionale Konflikte zu regulieren (siehe dazu unten) und mit der muslimischen Welt
partnerschaftliche Beziehungen zu entwickeln. Gemeinsame oder wechselseitige Interessen und gegenseitiger Respekt! „America cannot meet the
threats of this century alone, and the world cannot meet them without
America. We can neither retreat from the world nor try to bully it into submission. We must lead the world, by deed and example.“ Dazu gehört die
Wiederbeachtung des Folterverbots und der rechtstaatlichen Grundsätze.
Mit der Entscheidung über die Schließung des Guantanamo-Gefängnisses
und die Neuordnung der Gerichtsverfahren wurde, die Ernsthaftigkeit
des Wandels signalisierend, die Amtsarbeit eröffnet. Kluge Macht ist das
Schlagwort der neuen Strategie, das die Verbindung harter und weicher
66
Werner Link
Macht anzeigen und unilaterale militärische Machtausübung als unklug
erscheinen lassen soll. „Our power alone cannot protect us, nor does it
entitle us to do as we please.“ Aber natürlich ist auch die Diplomatie, die
Obama bevorzugt, eine machtgestützte Diplomatie, eine „tough-minded
diplomacy, backed by the whole range of instruments of American power
– political, economic and military“.
Zur Begründung des amerikanischen Führungsanspruchs greift Obama –
auch hier ganz in der hegemonialen Tradition – auf die liberale Variante
des Exzeptionalismus und universellen Missionarismus der USA zurück.
Wie ein roter Faden zieht sich diese Begründung durch Obamas außenpolitische Statements. In dem Grundsatz-Aufsatz von 2007 hieß es, dass
„the security and well-being of each and every American depends on the
security and well-being of those who live beyond our borders. The mission of the United States is to provide global leadership grounded in the
understanding that the world shares a common security and a common
humanity.“ Und in der Inaugurationsrede vom 20. Januar 2009 werden
die erhabenen Ideen der amerikanischen Gründungsväter und die „gottgegebenen Versprechen“ (Gleichheit, Freiheit und Glücksstreben) beschworen. „Diese Ideale erhellen noch immer die Welt.“ Alle Völker und
Regierungen sollten wissen, „dass Amerika ein Freund jeder Nation und
jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes ist, die eine friedliche und würdevolle Zukunft suchen, und dass wir wieder zur Führung bereit stehen.“
So geht die Entmythologisierung der neoimperialen Politik einher mit der
Wiederbelebung des ur-amerikanischen Mythos von der Stadt auf dem
Berge, die in die Welt leuchtet, die Menschheit beglückt und die Völker
zu Demokratie und Frieden führt – der amerikanische Mythos als ideologische Begründung des globalen Führungsanspruchs.
Kritiker wie Ted Galen Carpenter (Vizepräsident des konservativen CatoInstituts und Autor des Buches „Smart Power“) haben die Befürchtung
geäußert, dass ein derartiger Missionarismus, wenn er in operationale Politik umgesetzt würde, „exzessive und potenziell gefährliche humanitäre
Kreuzzüge“ zur Folge hätte. Das sei nicht die Art außenpolitischen Wandels, die das amerikanische Volk wünsche oder nötig habe. Mehr noch:
Obamas Behauptung von der Unteilbarkeit der Schicksale aller Völker
und Menschen und dem humanitären Sendungsauftrag der USA ähnele
im Kern der These Bushs, der in seiner zweiten Inaugurationsrede sagte:
„The survival of liberty in our land increasingly depends on the success of
liberty in other lands.“ Carpenters rhetorische Frage zu Obamas kosmopolitischem Konzept, das logischer Weise zu ausufernden Interventionen
treibe, lautet: „Worse than Bush?“20
20
Das ist auch die Überschrift seines Artikels in: The National Interest, 7.11.2008.
Amerikanische Außenpolitik im Konzert der Mächte
67
Sieht man von solchen ideologiebezogenen provokanten Einwänden ab,
so stützt die Interpretation der außenpolitischen Statements des neuen
Präsidenten die obige These, dass die Richtungsänderung weg von der
neoimperialen Politik Bush und zurück zu einer gemäßigten hegemonialen Politik (ähnlich wie in den neunziger Jahren) intendiert ist – wofür
auch die Tatsache spricht, dass Hillary Clinton Obamas Außenministerin
geworden ist und viele Clinton-Leute in wichtige Positionen gelangt sind.
Und das heißt, dass die Richtungsänderung zugleich den Versuch darstellt,
an die ältere Richtung anzuknüpfen – „ready to lead once more“, also eine
neuerliche Hegemonialpolitik, verbunden mit einer (für eine gemäßigte
Hegemonie erforderlichen) Selbstbändigung der Macht („restraint“).
Ist dieser Versuch erfolgversprechend?
Der neuerliche globale Führungsanspruch dürfte in der Praxis auf mehrere neue einschränkende Bedingungen stoßen – auf das Fehlen der notwendigen Mittel und auf den Mangel an Akzeptanz. Beides hängt mit
der Veränderung der internationalen Machtverteilung zusammen. In der
multipolaren globalisierten Welt sind die Einflussmöglichkeiten jedes Akteurs wechselseitig beschränkt. Ein bestimmender Einfluss eines Einzelnen
(= Hegemonie) ist damit praktisch ausgeschlossen. Für die USA gilt dies
umso mehr, als sie als größter Schuldnerstaat auf den Kapitalzufluss aus
anderen Staaten angewiesen sind. Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise wird sich diese Abhängigkeit noch erhöhen. In einer hegemonialen Beziehung muss aber die Führungsmacht in der Lage sein, Gegenleistungen
für Gefolgschaft zu erbringen. Dass die USA nach 1948 Westeuropa und
der westlichen Welt günstige Bedingungen für Wohlstand und Sicherheit
(u.a. durch Marshall-Plan und NATO sowie insgesamt durch das internationale ökonomische und politische Regelwerk, das von den USA initiiert
und getragen wurde) boten, war die Grundlage der westlichen US-Hegemonie in dieser Ära. Diese hegemonialen Mittel sind heute, über die pure
militärische Macht hinaus, nicht mehr verfügbar (das System von Bretton
Woods ist schon längst – nämlich 1971 – zusammengebrochen). Die kollektiven Güter können von dem ehemaligen Hegemon nicht mehr zur
Verfügung gestellt werden; sie können nur noch im Zusammenwirken der
großen Mächte erzeugt werden – unter Einbeziehung aufsteigender Mächte. Falls „remaking America“ praktisch „remaking American hegemony“
bedeuten sollte, ist diese Absicht angesichts der angedeuteten Machtverschiebungen eine Illusion. Denn Hegemonie setzt – wie Heinrich Triepel
überzeugend gezeigt hat – die Akzeptanz der Führung voraus, und diese
Bedingung ist nicht mehr gegeben. Der Irak-Krieg war der Wendepunkt.
Jetzt, vor und nach Obamas Inaugurationsrede, haben so gut wie alle
Staaten der Spitzengruppe zu verstehen gegeben, dass die USA einsehen
68
Werner Link
müssten, dass sie nicht mehr die dominante Supermacht sind.21 Und wie
oben gezeigt wurde, ist diese Einsicht bei den amerikanischen politischen
Eliten und auch bei Obama selbst inzwischen vorhanden. Als Präsident
Bush sen. Anfang der neunziger Jahre meinte, nun würden die USA als
einzige Führungsmacht der Welt anerkannt, war diese Akzeptanzbehauptung bereits fraglich. Inzwischen ist sie nachweisbar falsch.
5. Amerika im Konzert der Mächte
Im Vergleich zur neoimperialen Politik der Regierung Bush ist also die Politik zur Erneuerung der amerikanischen Hegemonie (renewing American
leadership) eine Richtungsänderung, die allerdings aus den genannten
Gründen nur ein geringe Realisierungschance hat. Folglich stellt sich die
zweiteilige Frage, (1) ob eine grundsätzlich neue Richtungsorientierung
denkbar ist und wie sie begrifflich beschrieben werden kann, und (2) ob
entsprechende Ansätze in Obamas außenpolitischem Programm erkennbar sind.
(1) In einer multipolaren Welt ist zwar globale Führung durch eine einzige Großmacht systemwidrig, nicht jedoch eine gemeinsame Führung
durch die Staaten der Spitzengruppe.22 Sie beschränken und balancieren
sich gegenseitig und sie kooperieren ad hoc im Falle gemeinsamer oder
ähnlicher Interessen – kooperative Balance und selektive Kollektivhegemonie. Dieser typische Zusammenhang wird mit dem Begriff „Konzert
der Mächte“ erfasst. Typisch ist, dass je nach aktuellem Problemfall – wie
bei musikalischen Konzerten – eine variierende Orchestrierung bzw. unterschiedliche Besetzung gewählt wird. Ein herausragendes Beispiel ist die
informelle Führungsgruppe der Sieben (G 7), die dann zur Gruppe der
Acht (G 8) erweitert wurde und der inzwischen durch die Einbeziehung
der aufsteigenden Mächte und Schwellenländer die Gruppe der Zwanzig
(G 20) zur Seite gestellt wurde. Weitere Beispiele informeller Führungsgruppen sind die sogenannten Kontaktgruppen für die Behandlung spezieller Probleme (Bosnien- und Kosovo-Kontaktgruppe), das Nahost-Quartett und die Fünfer Gruppe zur Regelung des Nordkorea-Konflikts.
Das UN-System bietet sogar einen formalisierten Rahmen für eine konzertierte Politik der großen Mächte: Die ursprünglich vorgesehene Führungsgruppe der „four policemen“ wurde in der UN-Charta schließlich zu einer
herausgehobenen Gruppe der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (P 5), denen sieben und später zehn nicht-ständige Mitglieder als
21
22
Vgl. Burns, John F.: Obama promises the world a renewed America, in: IHT,
21.1.2009.
Siehe Triepel: Die Hegemonie, S.213.
Amerikanische Außenpolitik im Konzert der Mächte
69
Vertreter der anderen Staaten beigegeben wurden. Die Kerngruppe nimmt
informell von Fall zu Fall eine Erweiterung vor (wie zum Beispiel bei der
Behandlung des Iran-Konflikts, als durch die Hinzuziehung Deutschlands die Gruppe P 5 + 1 entstand). Die P 5 können kollektive Führung
(= Kollektivhegemonie) ausüben, wenn sie übereinstimmen und die hinreichende Akzeptanz der nicht-ständigen Mitglieder (mindestens vier
Staaten müssen zustimmen) vorhanden ist. Die Ratio des Veto-Rechts der
P 5 besteht darin, dass auf diese Weise die balance of power zwischen den
Großmächten erhalten und die Legalisierung der Hegemonie einer Großmacht verhindert werden soll. Diese Bestimmungen begünstigen also ein
Konzert der Mächte, ohne es freilich zu schaffen oder zu garantieren. Die
notwendige Voraussetzung ist, dass kein antagonistischer Konflikt (wie
der Ost-West-Konflikt) zwischen den Großmächten besteht, was gegenwärtig der Fall ist. Die hinreichende Bedingung ist, dass die Großmächte
aufgrund ihrer Interessenlage den UN-Rahmen nutzen wollen.
Selbstverständlich sind auch in einem Mächte-Konzert Konkurrenz und
Machtkampf nicht eliminiert. Charakteristisch ist jedoch die Tendenz,
eine Regulierung der machtpolitischen und ökonomischen Konkurrenz
zu erreichen – im Sinne eines kooperativen Wettbewerbs. Und was die Regelung und Lösung der Konflikte anbelangt, so ist eine „integrative Konfliktregulierung“ (statt einer regressiven oder konfrontativen)23 in einem
Konzert der Mächte systemadäquat und förderlich für den Systemerhalt.
Die Orientierung an der kooperativen balance of power hemmt die Tendenz einer Großmacht, die Regulierung regionaler oder lokaler Konflikte
dazu zu benutzen, ihre Macht in Relation zu anderen Großmächten auszubauen. Die Selbstbeschränkung ist auf diese Weise systemisch induziert
und nicht bloß eine Frage des guten Willens.
(2) In dem außenpolitischen Programm Obamas gibt es – trotz des rhetorischen Anspruchs der Erneuerung der amerikanischen globalen Führung
– Ansätze, die einen „allmählichen Wandel“ hin zur Einfügung Amerikas
in das Konzert der Mächte einleiten könnten, um es pro-aktiv mitzugestalten. Die oben zitierten Kooperationsaussagen („effektive Zusammenarbeit mit allen Hauptmächten“ u.a.m.) geben unter den obwaltenden
Bedingungen der Gegenwart und nahen Zukunft ja nur dann einen vernünftigen Sinn, wenn „renewing global American leadership“ Mitführung im Konzert der Mächte meint, wenn diese Formel keinen alleinigen Führungsanspruch enthält und mithin die Abkehr von dem früheren
amerikanischen Selbstverständnis, die „einzige und überragende Macht“
zu sein, impliziert. Das wird freilich – mit Rücksicht auf den zitierten ur23
Zu diesen Begriffen und der Konflikttheorie, die ich im Anschluss an Kurt Singer entwickelt habe, siehe Roloff, Ralf: Die Konflikttheorie des Neorealismus,
in: Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, hrsg. von Thorsten Bonacker,
Opladen 2002, S.99-119.
70
Werner Link
amerikanischen Mythos – nicht direkt ausgesprochen. Umso mehr müsste es durch die praktische Politik unter Beweis gestellt werden – mit Russland bei der Rüstungskontrollpolitik, bei der NATO-Osterweiterung, bei
dem Raketenabwehrsystem, mit China durch konkrete Schritte des Engagements (statt Eindämmung). Auch die Anerkennung der eigenständigen
und gleichberechtigten Rolle der Europäischen Union durch Taten (nicht
nur durch Worte) und die Transformation der Atlantischen Allianz in eine
balancierte europäisch-nordamerikanische Beziehung gehören dazu. Der
wichtigste Test wird sein, wie die USA bei der Regulierung der aktuellen
und künftigen Großmächtekonflikte operieren werden.
Was die Regulierung regionaler und lokaler Konflikte anbelangt, so sind
die Ankündigungen und ersten Schritte einer Richtungsänderung gegenüber den lateinamerikanischen Staaten (in der Kuba- und in der BolivienPolitik), im Mittleren und Nahen Osten und in der Afghanistan-Region
bisher ein Konglomerat von alter und neuer Politik. Das ist am deutlichsten bei der projektierten Politik gegenüber Afghanistan und Pakistan
sichtbar: Die Verstärkung der amerikanischen Truppen im Kampf gegen
Al Qaida und die Taliban und die Erhöhung des Drucks auf Pakistan gehen einher mit Überlegungen, eine Regelung im regionalen Kontext unter Einbeziehung aller Nachbarstaaten Afghanistans und aller politischen
Kräfte in Afghanistan (einschließlich der gemäßigten Teile der Taliban)
im Sinne einer integrativen Konfliktregulierung anzustreben. Bezüglich
des Iran-Konflikts wären direkte Verhandlungen, wenn sie – wie angekündigt – den Iran als bedeutende regionale Macht anerkennen würden und
wenn sie mit Verhandlungen über eine stabile regionale Ordnung verbunden wären, ein bemerkenswerter Richtungswechsel. Das gilt analog
für die Mitwirkung bei der Regulierung des Israel-Palästina-Konflikts im
regionalen Rahmen (einschließlich der Beteiligung Syriens und des Iran),
wenn nicht, wie bisher, nur die Sicherheitsinteressen Israels als legitim
anerkannt werden und das Problem des regionalen atomaren Monopols
Israels nicht weiterhin ausgeklammert bleibt. In der Vergangenheit, insbesondere in der bipolaren Ära des Ost-West-Konflikts, war es evident, dass
regionale Konflikte die Beziehungen zwischen den Großmächten beeinflussen und umgekehrt. Falls die USA sich wirklich als Mitführungsmacht
im Konzert der Mächte verstehen, wäre eine unilaterale regionale Ordnungspolitik, wie sie unter Präsident Bush versucht wurde und gescheitert
ist, inadäquat. Sie wäre konfliktträchtig und destabilisierend nicht nur für
die jeweilige Region, sondern auch für das Gesamtsystem. Die regionalen Konfliktregulierungen müssen in das Konzert der Mächte eingebettet
werden, um erfolgreich zu sein, und umgekehrt dürfte ein funktionierendes Mächte-Konzert die integrative Regulierung regionaler Konflikte
begünstigen. Wenn das „neue Denken“ in praktische Politik umgesetzt
wird, wird sich auch an Hand der Regionalpolitik zeigen, ob die neue
amerikanische Regierung zur hegemonialen Politik zurückkehrt und sie
Amerikanische Außenpolitik im Konzert der Mächte
71
weiter verfolgt oder ob sie sich an dem Konzept der Mitführung im Konzert der Mächte orientiert.
Die grundsätzliche Richtungsalternative wird in der inneramerikanischen
Diskussion vornehmlich von neo-realistischen Politikwissenschaftlern
unterstützt. Sie firmiert unter dem Stichwort „off-shore balancing“24.
Auch alt-konservative Autoren – wie beispielsweise Doug Bandow (ehemals Special Assistent bei Präsident Reagan) – plädieren:25 „Washington
should act as an offshore balancer to prevent domination of Eurasia by a
hostile hegemon. But the United States should not attempt to coercively
manage regional relations.“
Das Konzept des Mächte-Konzerts erfährt in der ordnungspolitischen Diskussion, teils explizit, teils implizit, verschiedene Ausprägungen26 – als
Konzert der „Großen Drei“ (den Machtzentren USA, EU und China), als
das Mächte-Konzert aus USA, China, Russland, EU und Japan oder als das
Zusammenspiel der P 5, der G 8 und/oder der G 20.
Meistens folgt die Befürwortung des Konzepts des Mächte-Konzerts aus
der Einsicht in die multipolare Struktur des internationalen Systems der
Gegenwart und der näheren Zukunft. Aber auch wenn man – wie Richard
N. Haass (der in der neuen Administration eine nicht unwichtige Funktion übernehmen wird) – nicht eine multipolare, sondern eine „nonpolare“
Welt diagnostiziert oder prognostiziert, in der „multilateralism a la carte“
herrscht, kommt man zu dem Schluss, dass sich jetzt, nach dem Ende
der amerikanischen Dominanz und der Unipolarität, eine „core group of
governments and others committed to cooperative multilateralism“ bilden wird oder bilden sollte, was Haass „concerted nonpolarity“ nennt.27
Bei dieser konzeptionellen Konstruktion würde sich also die neue amerikanische Außenpolitik ebenfalls in Richtung auf Mitwirkung und Mitführung in einem internationalen Konzert entwickeln.
24
25
26
27
Layne, Christopher: The Peace of Illusions, Ithaca 2006; Ders.: From Preponderance to Off-shore Balancing, in: International Security 22/1997, S.86-124;
Ders.: It‘s Over, Over There, in: International Politics 45/2008, S.325-347;
Walt, Stephen M.: Taming American Power, New York u.a. 2005. Offshore balancing heißt soviel wie kontrollierender Einfluss aus der Ferne, Nutzung regionaler Allianzen und Sicherheitspartnerschaften (mit reduzierter Militärpräsenz), direktes militärisches Eingreifen nur dann, wenn vitale amerikanische
Interessen bedroht und regionale Mächte nicht in der Lage sind, die regionale
balance of power zu gewährleisten.
Siehe Bandow: First Among Equals.
Vgl. Buechel, Anne/Rytz, Henriette: Die USA und der Aufstieg neuer Mächte,
SWP-Zeitschriftenschau, 3.10.2008.
Haass, Richard N.: The Age of Nonpolarity: What will follow U.S.Dominance,
in: Foreign Affairs 3/2008, S.44-56.
72
Werner Link
Ob diese oder eine ähnliche Richtungsänderung von der neuen Regierung
tatsächlich gewollt, praktisch (gegen inneramerikanische Widerstände)
tatkräftig verfolgt und trotz zu erwartender internationaler Beschränkungen erfolgreich sein wird, kann nur die Zukunft erweisen – im Prozess des
„graduellen Wandels“. Man wird also abwarten müssen, welche realen
Konsequenzen Obamas Feststellung und Aufforderung haben werden:
„The world has changed – and we must change with it.“
Determinanten,
Antriebsfaktoren und
Spielräume für die Außenpolitik
von Präsident Obama
Christian Hacke
1. Die Determinanten
Präsident Obama hat eine Fülle von Problemen von Präsident Bush geerbt, die weitaus schwieriger sind als die meisten, die seine Vorgänger bewältigen mussten.
Der Krieg gegen den Terror, insbesondere die beiden Kriege im Irak und
in Afghanistan, und die Weltwirtschaftskrise, die im Zuge der amerikanischen Banken- und Finanzkrise immer weiter um sich greift, verlangen
ein komplexes Management und kluge Kriegsführung. Doch die Rolle der
USA als Weltordnungsmacht ist nun auch unter ökonomisch-finanziellen
Vorzeichen in Frage gestellt. Weder können die USA die Welt stabilisieren
noch könnte der derzeitige innen- und wirtschaftspolitische Zustand als
vorbildlich bezeichnet werden. Nein, derzeit erscheinen die USA weniger
als Hoffnung, sondern vielmehr als Belastung für Welt, Wirtschaft und
Weltwirtschaft. Was kann und was wird Präsident Obama tun?
Wird er die USA außen- und innenpolitisch rundum erneuern können?
Sind die Fehler und Versäumnisse der Regierung Bush reparabel?
War die Ära Bush lediglich ein Ausrutscher in der Erfolgsgeschichte der
USA oder hat Bush die Struktur der USA derart negativ verändert, so dass
Niedergang unvermeidlich ist? Salopp ausgedrückt: Hinterlässt Präsident
Bush lediglich einige Dellen am amerikanischen Straßenkreuzer auf den
Pfaden der Weltpolitik oder ist der Lack ab? Hat Bush einen Totalschaden
verursacht oder ist noch Reparatur möglich? Können andere Mächte von
Amerikas Schwäche profitieren oder wächst das Gefühl weltweit, dass die
neuen Krisen nur gemeinsam bewältigt werden können?
Doch eine zentrale Veränderung fällt ins Auge: Waren die USA bis zur Präsidentschaft von G.W. Bush der zentrale Problemlöser der internationalen
Politik, so mutierten sie im Zuge des Irak-Krieges und der Weltwirtschaftskrise zum Problemfall Nr.1.
74
Christian Hacke
Diese völlige Umkehrung bekannter und verlässlicher innen- und außenpolitischer Determinanten ist ein schweres Erbe, denn es begrenzt auf ungewohnte Weise die Handlungsspielräume für Obamas politische Ambitionen.
Oder erscheint diese Sicht einseitig? Schon vor Barack Obama waren amerikanische Präsidenten mit schier überwältigenden Problemen konfrontiert: Unter Abraham Lincoln zerbrach die Einheit der Union in einem
fürchterlichen Bürgerkrieg, den es zu gewinnen und die Einheit wiederherzustellen galt. F. D. Roosevelt war mit einer schweren wirtschaftlichen
Depression konfrontiert und Präsident H.S. Truman mit den Folgen des
Zweiten Weltkrieges sowie der weltweiten Bedrohung des Kommunismus.
So ist es kein Zufall, dass gerade diese Präsidenten Barack Obama zum
Vorbild dienen, denn sie meisterten diese Herausforderungen mit Pragmatismus, Willenstärke, Optimismus und mit typisch angelsächsischer
Einstellung – mit „grace under pressure“.
2. Die Antriebsfaktoren
Schon im Wahlkampf wurde deutlich, dass Barack Obama entsprechende
Führungsqualitäten entwickeln könnte. Nicht zuletzt deshalb wurde er
zum Präsidenten gewählt, weil die Amerikaner gerade ihm Charakterstärke, Entschlossenheit, Besonnenheit und Klugheit zutrauen, um das Land
rundum zu erneuern.
Dabei ist unübersehbar, dass er sich vor allem an Präsident Abraham Lincoln orientiert. Nicht nur die Aufgaben, auch die Lebenswege verweisen
auf Parallelen: Beide stammen aus Illinois aus einfachen Verhältnissen,
kümmerten sich schon vor ihrer politischen Karriere als Anwalt um die
sozial Benachteiligten, wirkten in der Landespolitik und gingen dann als
Senatoren nach Washington.
Kein Wunder, dass Obama im Winter 2007 in Springfield, dem Geburtsort
von Lincoln, seine Kandidatur für das Präsidentenamt erklärte. Obama
ehrt Lincoln nicht nur, weil dieser erste Schritte auf dem langen Weg der
Afroamerikaner zur vollen Gleichberechtigung suchte, die ihren krönenden Ausdruck in Barack Obamas Inauguration als dem ersten schwarzen
Präsidenten gefunden hat, sondern Obama sieht in Abraham Lincoln vor
allem die Verkörperung von Einheit und Stärke der Nation. Hätte Lincoln
die Sezession der Südstaaten zugelassen, wären die USA nicht zur Weltmacht aufgestiegen. Heute muss Obama den ökonomischen Niedergang
stoppen und Amerikas Ansehen als Weltordungsmacht wiederherstellen.
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
75
Doch bewundert Obama in Lincoln auch den gewieften Taktiker. Wie
Obama, so erschien auch Lincoln als politischer Neuling in Washington.
Aber geschickt band er seinen ärgsten Konkurrenten William H. Seward
in die Kabinettsdisziplin ein und ernannte ihn zum Außenminister. Genauso geschickt taktiert Barack Obama mit Hillary Clinton. Doch ob es
Obama ebenso wie Lincoln gelingen wird, dass aus Widersachern Freunde
werden, werden erst die kommenden Jahre zeigen.
Obama und Clinton sind beide disziplinierte Politiker, wissen um die
Sach- und Koalitionszwänge und teilen einen nüchternen analytischen
Blick auf die Weltprobleme. Aber ob daraus eine Außenpolitik aus einem
Guss entstehen wird, bleibt abzuwarten. Personalpolitisch zeichnet sich
jedoch schon ab, dass viel Personal aus der Präsidentschaft von Bill Clinton erneut außenpolitische Schaltstellen besetzt hat. Vermutlich hätte
Clinton als Präsidentin eine ähnlich liberal-konservative Mannschaft zusammengestellt, wie es Obama getan hat.
Die außenpolitischen Differenzen über den Irakkrieg, den Clinton befürwortete und Obama von Anfang an ablehnte, sind beigelegt. Beide plädieren heute für einen geordneten Abzug amerikanischer Soldaten aus dem
Irak, für direkte Regierungsgespräche mit Iran, für einen neuen Anlauf im
Kampf gegen den Terror, insbesondere in Afghanistan und in Pakistan,
sowie für neue Friedensinitiativen im Nahen Osten. Beide messen dem
Klimaschutz und der Energiesicherheit großes Gewicht bei und der Auftakt von Hillary Clintons Reisediplomatie nach Asien verweist auf neue
Akzentuierungen: Nicht mehr der Blick über den Atlantik nach Europa,
sondern der Blick über den Pazifik nach Asien, nach Japan, China und
Indonesien erscheint beiden als vorrangig. Dazu teilen sie das Gespür für
die neuen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Abrüstung und
Terrorbekämpfung.
Wo liegen nun die Hauptantriebsfaktoren für Obamas Außenpolitik?
Zunächst will er Amerikas Stärke wiederherstellen. Präsident Obama sieht
die USA alles andere als im Niedergang. Im Gegenteil, er ist vielmehr vom
dem Glauben beseelt, dass ein „postamerikanisches“ Zeitalter verhindert
werden muss – nicht nur weil ein amerikanisches Zeitalter dem Eigeninteresse angemessen erscheint, sondern weil Obama glaubt, dass der
größte Teil der Welt sich nach amerikanischer Führung sehnt. Denn nur
die Wiederherstellung von Amerika als stärkster Demokratie kann verhindern, dass andere, insbesondere demokratiefeindliche autokratische
Großmächte in Regionen und Machthohlräume eindringen, die mangels
amerikanischer Stärke nun anti-demokratisch aufgefüllt würden. Nicht
nur interessen-, sondern auch werteorientiert würde sich die weltpoliti-
76
Christian Hacke
sche Machtbalance bei fortgesetzter Schwäche der USA zum Nachteil der
Demokratien auf der Welt verschieben.
Es geht für Obama also nicht nur um nüchterne Machtkalkulationen,
sondern Amerikas Führung in der Welt soll Freiheit und Wertepluralismus sichern.
Im Gegensatz zum manichäischen Weltbild und des religiös aufgeladenen Sendungsbewusstseins seines Vorgängers betont Präsident Obama bei
seinen ersten außenpolitischen Schritten Verständnis für andere Länder,
Kulturen und Interessen und den Willen zu politischem Neubeginn – vor
allem gegenüber Gegnern und Rivalen. Diese neue außenpolitische Bescheidenheit zeigte Obama, als er sich an die muslimische Welt wandte: „Meine Aufgabe ist es zu unterstreichen, dass die Vereinigten Staaten
ein essenzielles Interesse am Wohlergehen der islamischen Welt haben
… Ich habe Muslime in meiner Familie. Ich habe in einem muslimischen
Land gelebt und wir dürfen nicht eine Religion vergröbern, weil in ihrem Namen Gewalt verübt worden ist.“ Obama sprach sogar von notwendigen Opfern für eine dauerhafte Lösung zwischen Israel und Palästina,
was im Klartext bedeutet, dass auch Verbündete wie Israel zu einer entsprechenden Mäßigung ihrer Außenpolitik aufgefordert werden. Barack
Obama deutet damit auch Rückkehr zu einer objektiveren Makler- und
Vermittlerrolle für die USA im Nahostkonflikt an: „Ich glaube, dass die
Israelis zu Opfern bereit sein werden, wenn die Zeit gekommen ist und die
andere Seite ernsthafte Partnerschaft zeigt.“
Doch nicht nur Appelle an die Friedensfähigkeit der Freunde, sondern ein
neuer Ton gegenüber den Gegnern freiheitlicher Lebensweise werden erkennbar, wenn Obama z.B. Unterschiede zwischen den Terrororganisationen Al Qaida und Taliban betont: Ersteren sagt er einen kompromisslosen
Kampf an, den Taliban dagegen signalisiert er Verhandlungsbereitschaft
und setzt auf ihre gemäßigten Kräfte.
Barack Obama entwickelt also ein weitaus differenzierteres Weltbild als
sein Vorgänger, greift zu unorthodoxen Methoden und scheut auch nicht
die Risiken einer erstaunlich öffentlichen Diplomatie, wie seine Initiativen gegenüber Russland und Iran andeuten.
Statt auf simplifizierender Freund-Feind-Kategorisierung setzt Obama
auf Gemeinsamkeit, national und international, postuliert ein kreatives
Miteinander und setzt dabei neue Akzente: In Afghanistan und Pakistan
weitet er zwar den Krieg zunächst entschlossen aus, wird aber auch diplomatisch aktiv. Im Irak sucht er dagegen den versprochenen und möglichst
schnellen Rückzug. Der iranischen Führung reicht er die Hand und sucht
einen diplomatischen Neuanfang. Seine Emissionäre und seine Außenmi-
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
77
nisterin suchen auch im Nahen Osten einen Neuanfang, vor allem eine
Wiederbelebung des Friedensprozesses zwischen Palästinensern und Israelis. Gegenüber den rivalisierenden Großmächten Russland und China
sucht Obama schwelende Konflikte einzudämmen und neue Zusammenarbeit zu initiieren.
Obamas außenpolitische Initiativen scheinen sich zu überschlagen, doch
ist vorerst nicht leicht auszumachen, wohin die Reise gehen wird. Doch
bei allen Aktionen wird ein neuer, geschmeidiger und ausgleichender Stil
sichtbar. Obama ist offensichtlich bemüht, die martialische, um nicht
zu sagen arrogante Attitüde der Außenpolitik seines Vorgängers baldmöglichst vergessen zu machen.
Doch „foreign policy begins at home”. Das bedeutet, dass als allererste
Voraussetzung für Erfolg und Leistungsfähigkeit „Nation Building“ im
eigenen Lande vonnöten ist. Das kann noch Jahre dauern, denn der Präsident muss das Verhältnis von Markt und Staat völlig neu justieren. Die
schlimmste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise ist dabei eine ungeheure Last. Ein Blick auf die ersten wirtschaftspolitischen Initiativen zeigen
Obama als einen Mann der Mitte, der den Staat zwar nicht allmächtig machen will, aber neue Aufgaben an den Staat ziehen will, damit dieser seine
Kernaufgaben besser erfüllen, die Infrastruktur verbessern und vor allem
das Bildungs- und Sozialsystem gründlich reformieren kann. Dabei ist
ihm die Opposition der Republikaner gewiss, aber Obama scheint zu einer
Wirtschaftspolitik der Mitte entschlossen: Sein Wirtschaftsberater Larry
Summers war schon für den marktliberalen Kurs von Präsident Clinton
mitverantwortlich. Paul Volcker besiegte als Notenbankpräsident in den
80er-Jahren die Inflation. Finanzminister Timothy Geithner wirkte schon
vor dem Regierungswechsel für Freihandel. Doch ist die Wirtschaftsphilosophie von Präsident Obama das eine, die ökonomische Realität das
andere.
Der Abschwung trifft die USA derzeit mit ungeheurer Wucht, die amerikanische Wirtschaft befindet sich praktisch im freien Fall. Der Absatz der Autokonzerne hat sich halbiert, jede Woche fallen Zehntausende von Arbeitsplätzen weg. Der Streit um die angemessene Wirtschaftspolitik hat also erst
begonnen, wie die Auseinandersetzung zwischen Republikanern und Demokraten zeigt. Obamas Drei-Billionen-Haushaltsplan ist umstritten. Vor
allem seine geplante Einführung eines Emissionshandels zur Bekämpfung
des Klimawandels, sein Programm zur Gesundheits- und Bildungsreform
und sein Plädoyer für mehr grüne Energie bleiben umstritten.
Ob es Obama überhaupt gelingen kann, seine Ideen zu verwirklichen,
entscheidet sich erst in den kommenden Monaten. Wenn ja, bekommt
seine Präsidentschaft, auch die Außenpolitik, die nötige Dynamik und
78
Christian Hacke
ihr angemessenes finanzielles Fundament. Sollte Obama jedoch mit seinen Plänen scheitern, könnte die Rezession sehr schnell zu einer globalen
Depression ausufern – mit katastrophalen Folgen nicht nur für Amerika,
sondern für die ganze Welt.
Doch es wird noch Jahre dauern, bis das Schlimmste überstanden ist, denn
die USA haben über ihre Verhältnisse gelebt: „Wir waren in den letzten
Jahren faul, arrogant, gleichgültig in unserem strategischen Denken. Wir
dachten, wir müssten niemanden überzeugen, da die Leute ja ohnehin keine Alternative hätten. Wir haben die Welt globalisiert, ohne gleichzeitig die
amerikanische Gesellschaft zu globalisieren. Das lässt sich an dem wachsenden Misstrauen der Amerikaner bei Themen wie Handel oder Zuwanderung
ablesen, bei ihrer Haltung zu allem Fremden. Das viel offenere Amerika hatte eine ungleich bessere Ausgangslage.”1 Kein Wunder, dass Obama keine
Wunder verspricht, sondern seine Landsleute auf harte Zeiten einschwört.
Noch nie seit 1933 musste ein Präsident sein Amt unter so schwierigen
ökonomischen Bedingungen antreten. Roosevelts New Deal wird deshalb
zu Recht als Vergleich bemüht, um das ganze Ausmaß der Misere anzudeuten. Doch ob das gewaltige Konjunkturpaket von 820 Milliarden Dollar erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Selten war der Ausspruch,
„foreign policy begins at home“, so treffend wie heute: Um außenpolitisch handlungs- und wirkungsfähig zu werden, muss Obama Staat, Gesellschaft und Wirtschaft drastisch reformieren, um nationale Einheit und
Stärke wiederzugewinnen. Ironischerweise wäre Barack Obama ohne die
katastrophale Politik von George W. Bush nie Präsident geworden. Ohne
die überwältigende Ablehnung Bushs hätte sich der Enthusiasmus für Obama nicht entfalten können. Beides bedingt sich, doch lässt sich Bushs
Versagen nicht einfach zum Vorteil für Präsident Obama umsetzen.
Was bedeutet das für Obamas Außenpolitik?
In Obamas Sicht sollen die USA wieder durch zivilisatorische Attraktivität
überzeugen. Dazu bedürfen Wirtschaft und Technologie einer forcierten
Modernisierung, während gleichzeitig die militärische Stärke beibehalten
werden soll. Obama steht nicht nur für soft power, das wäre naiv. Er will
soft und hard power neu kombinieren, beides gehört für ihn zusammen.
„Smart power“ heißt die neue Zauberformel, von Außenministerin Clinton in die Debatte eingeführt.
Was bedeutet kluge Machtpolitik nun im Einzelnen?
1
Zakaria, Fareed: Wir müssen uns mehr in der Welt umsehen, in: Süddeutsche
Zeitung, 3.11.2008.
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
79
3. Das Verhältnis zu Russland
Obamas machtpolitisches Augenmerk gilt zuerst dem Aufstieg der autoritären Mächte Russland und China, die nicht nur für die USA, sondern
auch für alle freiheitlichen Demokratien eine große Herausforderung darstellen. In Zeiten der eigenen Schwäche und gemeinsamer wirtschaftspolitischer Schwierigkeiten wird das Trennende aber weitgehend verschwiegen, so z.B. dass die aufsteigenden autoritären Mächte Russland
und China durchaus eines Tages die freiheitlichen Demokratien und allen
voran die westlich-demokratische Führungsmacht USA bedrohen könnten oder dass die energiepolitischen Abhängigkeiten gegenüber Russland
oder die energiepolitisch wenig rücksichtsvollen Vorstöße Chinas den
westlichen Handlungsspielraum gefährden könnten. Stattdessen tritt die
Regierung Obama in der Welt derzeit mit Samthandschuhen und gewinnendem Lächeln auf, durch eigene Schwäche dazu gezwungen. Natürlich
müssen die USA ihre eigenen machtpolitischen Anstrengungen verdoppeln, Platzvorteile der Rivalen vereiteln, sie vielmehr in eigene Strategien
einbinden und vor allem Koalitionen gegen die USA verhindern. Folglich
wird Präsident Obama Amerikas Koalitionsfähigkeiten, also den Fächer
seiner diplomatischen Fähigkeiten, erweitern.
Die Beziehungen zu Russland haben sich gerade im Zuge des Georgienkrieges drastisch verschlechtert. Weil die Regierung Bush den georgischen
Präsidenten nicht vor einem unverantwortlichen militärischen Angriff
abhalten konnte, eröffneten sich Russland unfreiwillig neue, langersehnte Möglichkeiten auf dem Kaukasus, die nur einen entsprechenden Anlass
benötigten. Die USA wurden durch Leichtsinn und Fehlkalkulation eines
Verbündeten in diesen Konflikt mit hineingezogen, dadurch geopolitisch
geschwächt, ja sogar gedemütigt. Kein Wunder, dass die Falken in Washington auf Wiedergutmachung, ja auf Rache sinnen. Aber nichts wäre
törichter, als der Verführung nach Konfrontation mit den Russen nachzugeben. Umgekehrt scheint die Regierung Obama stärker in Rechnung zu
stellen, dass sich Russland durch eine Vielzahl von amerikanischen Entscheidungen, durch das Drängen auf Unabhängigkeit des Kosovo, durch
Unterstützung der Ukrainischen Revolution, durch die Entscheidung für
Raketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien und durch weitgesteckte
Erweiterungsrunden der NATO bedrängt, bedroht und gedemütigt fühlt.
Jegliches Triumphgefühl gegenüber dem Kreml zu vermeiden, das war
schon die kluge Devise von Präsident Bush sen., die nach 1990 in Washington zu oft missachtet wurde. Mehr Sensibilität für die russischen
Phobien und Interessen wäre bisweilen angebracht gewesen. Aber grundsätzlich bleibt das autoritäre Russland eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für den freiheitlichen Westen, nicht zuletzt wegen seiner neuen
energiepolitischen Stärke.
80
Christian Hacke
Obama wird deshalb den Kreml daran erinnern, dass der Westen keine
Rückkehr zu imperialer Attitüde hinnehmen wird. Doch für solche Warnungen stehen die Zeichen angesichts eigener Schwäche und prekärer Abhängigkeiten schlecht. Vielmehr muss Obama weit umsichtiger und vorsichtiger als seine Vorgänger handeln. Im Übrigen sitzen im Kreml nicht
mehr die Gerontologen früherer Jahre, sondern seit Putin herrscht dort
eine machtbewusste autokratische Elite, die mit überraschender Raffinesse den nationalen Vorteil und die Wiederherstellung des Weltmachtstatus
anstrebt.
In diesem Sinne hat Obama Russland klugerweise angeboten, auf die geplante Raketenabwehr gegen den Iran in Mitteleuropa eventuell zu verzichten. Bushs Pläne der Raketenabwehr passen nicht in Obamas Diplomatie der Kooperation mit Moskau, denn er benötigt Russlands Mithilfe
auf vielen Feldern: Ohne Russlands Zustimmung wird eine Reform internationaler Organisationen wie der G8 oder der UNO kaum möglich. Das
Nichtweiterverbreitungsabkommen von Atomwaffen hat nur Zukunft,
wenn Washington und Moskau gemeinsam daran arbeiten. Abrüstung
und eine gemeinsame globale Sicherheitsarchitektur, bessere Zusammenarbeit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan
und der Verzicht auf eine weitere Osterweiterung der NATO könnten die
amerikanisch-russische Kooperation verstärken.2
Russland ist sich dabei seiner neuen Macht bewusst: Die mit Russland verbündeten GUS-Republiken stoppten den Nachschubweg nach Afghanistan, indem sie die Nutzung von Luftbasen für die USA untersagten. Nun
öffnet Russland wieder den Eisenbahnweg für nichtmilitärischen Nachschub an den Hindukusch. Russland bringt aber auch umgekehrt eigene
Interessen ins Spiel und macht Druck in Washington: Kosovo, Ukraine,
Georgien, NATO – all diese Kritikpunkte werden vor dem Hintergrund
der neuen russischen energiepolitischen Stärke selbstbewusster denn je
vorgetragen.
Daraus ergibt sich, dass für die Regierung Obama eine Politik der Eindämmung Russlands heute kontraproduktiv, unpopulär und vor allem erfolglos wäre. Wie lange der sich ankündigende Honigmond in den Beziehungen zwischen Washington und Moskau andauern wird, hängt allerdings
von der weiteren Entwicklung ab.
4. Die Beziehung der USA zu Europa und Deutschland
Gerade unter Verbündeten macht der Ton die Musik und unter Obamas
Vorgänger herrschte nicht selten ein rauer Ton. Die neo-imperiale Attitüde
2
Vgl. hierzu Rahr, Alexander: Absage an den Kalten Krieg, in: FAZ, 15.2.2009.
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
81
der Regierung Bush, die zur transatlantischen Entfremdung beitrug, gehört
dank Obamas neuem und offenem Stil der Vergangenheit an. Gerade beim
Europabesuch des amerikanischen Präsidenten im April 2009 wurde eine
bislang unbekannte und beeindruckende Bescheidenheit sichtbar. Damit
gewinnt er Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurück, die vielleicht mit einer
Währung von den Verbündeten zurückgezahlt wird, die die USA besonders
gut gebrauchen kann: Gefolgschaft, ohne die sich Führung nicht realisieren
lässt.3 Unter diesem Aspekt werden in Europa auch die amerikanisch-russischen Beziehungen mit Argusaugen beobachtet. Auch hier deutet Obama
glaubwürdig Kooperationsbereitschaft an, wohlwissend, dass der Versuch
einer Eindämmung Russlands in Deutschland und in Westeuropa mehrheitlich keine Unterstützung finden würde. Eindämmung würde jetzt nur
einen Keil zwischen die Bündnispartner treiben und Obamas Hoffnung
auf eine Wiederbelebung der atlantischen Beziehungen zunichte machen,
solange nicht Moskau die Zusammenarbeit mit dem Westen aufgibt und
kein System des Machtgleichgewichts im Stil des 19. Jahrhunderts unter
besonderer Berücksichtigung einer weit ausgreifenden russischen Interessenssphäre in Osteuropa zu etablieren sucht.
Doch das ist nicht ausgemacht. Im Gaskonflikt mit der Ukraine ging es
um mehr als angemessene Preise, es ging auch um den Versuch, den Westen zu spalten und die eigene russische Einflusssphäre auszudehnen. Im
Übrigen zeigt Russlands militärische Entschlossenheit im Georgienkonflikt, dass es den strategischen Vorteil zu nutzen und auszuweiten weiß.
Doch erst bei den anstehenden Fragen wie bei der Stabilisierung Afghanistans, bei den Überlegungen zu einem neuen START-Vertrag, bei den
Plänen zur weiteren Reduzierung nuklearer Arsenale und bei der Problematik der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen wird sich zeigen, wie
stabil das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland sich entwickeln
wird. Die Regierung Obama scheint sich darüber im Klaren zu sein, dass
eine neue Russlandstrategie vonnöten ist, die sowohl die Interessen der
Europäer berücksichtigt als auch die der Weltmacht USA. Vor diesem Hintergrund wird Obama in den transatlantischen Beziehungen neue Akzente setzen, um die Zerwürfnisse zu beseitigen, Gemeinsamkeiten wieder zu
entdecken und Amerikas Ansehen wiederherzustellen.
Die transatlantischen Gipfeltreffen in London, Straßburg/Kehl und Prag
Anfang April 2009 brachten überwiegend positive Ergebnisse: In London
einigten sich die G-20 Staaten auf Eckpunkte einer neuen Weltfinanzordnung, in Kehl auf die Ausarbeitung einer neuen NATO-Strategie, und in
Prag überraschte vor allem Präsident Obama mit seiner Vision einer nuklearfreien Welt.
3
Vgl. Kornelius, Stefan: Die neue Bescheidenheit, in: Süddeutsche Zeitung,
6.4.2009.
82
Christian Hacke
Vor allem war es das Verdienst Obamas, dass nach dem Veto der Türkei
doch noch der Däne Rassmussen zum neuen NATO-Generalsekretär gewählt werden konnte. Besonders beeindruckte aber Obamas freimütiges
Schuldeingeständnis, dass die Finanzkrise in den USA begonnen habe und
auch deshalb die USA diese Krise zu Ende führen werden. Auch Obamas
Ankündigung einer neuen Afghanistan-Strategie überzeugte: Er will nicht
nur zusätzliche 21.000 Soldaten an den Hindukusch entsenden, sondern
auch den zivilen Wiederaufbau stärken und die Nachbarstaaten bei der
Lösung miteinbeziehen.
Bundeskanzlerin Merkel interpretiert dies als Übernahme des europäischen Konzepts der vernetzten Sicherheit, kommt aber selbst unter Erwartungsdruck, denn der amerikanische Präsident hat keinen Zweifel aufkommen lassen, dass die europäischen Verbündeten gut daran täten, ihre
militärischen und zivilen Beiträge deutlich aufzustocken.
Eine neue Lastenteilung erscheint angesagt: Im Fall Afghanistan und Irak
sowie mit Blick auf die Herausforderungen in Pakistan und Iran wird Präsident Obama neue Leistungen der Verbündeten einfordern, insbesondere
stärkeres militärisches Engagement.
Sowohl die zukünftige Außenministerin Hillary Clinton wie auch der alte
und neue Verteidigungsminister Gates werden dabei keine einfachen Gesprächspartner sein. Umgekehrt erwarten die Europäer von Washington
mehr amerikanische Leistungen beim Klima- und Umweltschutz. Der Erwartungsdruck im atlantischen Verhältnis ist also wechselseitig.
Obamas Äußerungen mit Blick auf den Kampf gegen den Terrorismus,
insbesondere in Afghanistan, Pakistan und Iran, lassen darauf schließen,
dass er geschmeidiger und kooperativer als sein Vorgänger handeln wird.
Aber das Ziel bleibt das Gleiche wie unter seinem Vorgänger: Auch Obama will den Krieg gegen den Terror gewinnen, vor allem in Afghanistan, wenn auch unter stärkerer Einbeziehung der Antiterrorbekämpfung
auf dem Boden der instabilen Atommacht Pakistan. Hier deutet sich sogar eine Ausweitung des Krieges an und auch deshalb werden mehr Forderungen an die Europäer gestellt, denn die USA können die enormen
Kosten und Lasten nicht mehr allein weiter schultern. Sie fordern mehr
Leistungsbereitschaft von den Verbündeten. Jetzt wird es für die Europäer schwerer, diese Wünsche abzublocken, wie es ihnen in Zeiten der
undiplomatischen Rustikalität unter Präsident Bush gelang. Obama wird
zusammen mit Clinton und Gates nachdrücklicher und überzeugender
darlegen, dass heute im Kampf gegen den Terror die gesamte freie Welt
mehr Engagement wird zeigen müssen. Im Zuge der neuen vernetzten
Sicherheit müssen die USA sicherlich manche nicht-militärischen Fähigkeiten lernen, aber die Regierung Obama wird umgekehrt deutlich ma-
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
83
chen, dass ohne gesteigerte militärische Leistungsbereitschaft alle zivilen
Anstrengungen unsicher bleiben.
Afghanistan und die Rolle der NATO werden auch in den kommenden
Jahren zu Meinungsverschiedenheiten führen. Der Weg zurück in die alte
transatlantische Vertrautheit erscheint deshalb unwahrscheinlich. Dazu
haben sich auch die transatlantischen Machtverhältnisse zu stark verändert. Amerika ist schwächer, seine Führung ist umstrittener und Europa
ist trotz aller internen Widrigkeiten stärker geworden und wirkt vor allem
in der Welt vorbildlicher und attraktiver als die USA. Nicht Restaurierung,
sondern konstruktive Neugestaltung mit mehr Verständnis für die Interessen auf der anderen Seite des Atlantiks ist daher auf beiden Seiten gefragt, wobei die alten Europäer z.B. mit ihrer Ablehnung des Irakkrieges
sich durchaus in Übereinstimmung mit Obama befinden. Mit Blick auf
die nicht-militärischen Herausforderungen hat Europa an Gewicht und
Ansehen in den USA gewonnen, nicht zuletzt bei Obama. Hier können
die Europäer der neuen Administration auf Augenhöhe begegnen. Vielleicht wird ja ein neuer Mix in der transatlantischen Interessenverflechtung möglich: Mehr hard power muss aus Europa kommen und mehr
soft power müsste in Washington entwickelt werden. Sollte Deutschland
sein Engagement im Kampf gegen den Terror entsprechend aufstocken, so
könnte Deutschlands Einfluss in Washington weiter wachsen: Frau Merkels Gemeinschaftsdiplomatie, ihr umsichtiges und zugleich entschlossenes Vorgehen in London und Kehl im April 2009 und vor allem ihre
Schrittmacherrolle bei den neuen globalen Fragen haben Barack Obama
beeindruckt.
5. Die Beziehungen zu China
Im konfrontativen Weltbild der Bush-Administration machte die Volksrepublik China eine erstaunliche Ausnahme, denn die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und der VR China erreichten eine bislang kaum
gekannte Breite und Tiefe.
Der Antrittsbesuch von Außenministerin Clinton in der Volksrepublik
stand ganz im Zeichen dieser positiven Kontinuität, zumal umstrittene
Fragen wie Taiwan, Tibet und Menschenrechte weitgehend ausgeklammert wurden. Dementsprechend wurde die zurückhaltende Position von
Frau Clinton zur Frage der Menschenrechte von Nichtregierungsorganisationen in den USA kritisiert, hatte man doch gerade auch im linken
Flügel der Demokraten von einer Außenministerin Clinton ein stärkeres
menschenrechtliches Engagement erwartet. Schon in ihrer Funktion als
First Lady hatte sie auf dem Frauenkongress der Vereinten Nationen 1995
in Peking die Menschenrechtslage scharf kritisiert und zudem Präsident
84
Christian Hacke
Bush empfohlen, aus Protest gegen die chinesische Tibetpolitik nicht an
der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking teilzunehmen.
Doch wird die Regierung Obama das Thema Menschenrechte nicht völlig
in den Hintergrund rücken. Nach Clintons Besuch in Peking veröffentlichte das State Department den jährlichen Länderbericht zur Lage der
Menschenrechte, in dem China scharf kritisiert wurde. Auch hatte Vizepräsident Joe Biden sich in den 90er-Jahren intensiv und kritisch mit Fragen des chinesischen Waffenschmuggels und mit der Menschrechtsfrage
beschäftigt. Gerade er hatte die Einrichtung von Radio Free Asia und der
Voice of America in tibetanischer Sprache gefordert.
Im Zentrum der Beziehungen steht heute aber die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, die, so die Außenministerin, von beiden Ländern nur gemeinsam bewältigt werden kann, denn man sitze im gleichen Boot.
Ob die USA und die VR China eine tragfähige Gemeinsamkeit entwickeln
werden und sich noch intensiver in Wirtschaftsfragen austauschen, bleibt
abzuwarten. Da China Währungsreserven von annähernd zwei Billionen
US-Dollar besitzt und einen erheblichen Teil davon in Form von USStaatsanleihen angelegt hat, müssen die USA zunächst das Vertrauen der
chinesischen Regierung durch Bereitschaft zur Kooperation stärken. Die
USA sind heute stärker denn je bei der Finanzierung des enormen Haushaltsdefizits auf die Hilfe Chinas angewiesen.
Da überrascht es nicht, dass der neue Finanzminister Timothy Geithner
mit seiner Bemerkung über eine Manipulierung der Wechselkurse durch
Peking für heftige Empörung in China gesorgt hat. Vor allem liegen die
klimapolitischen Vorstellungen zwischen Peking und Washington nach
wie vor weit auseinander. Sie sollen deshalb mit Blick auf den im Dezember 2009 in Kopenhagen stattfindenden Klimagipfel der Vereinten Nationen bilateral intensiviert werden. Doch zeigt sich bislang die VR China
nicht bereit, sich auf dem Kopenhagener Gipfel zu einer quantifizierbaren
Reduktion von Klimagasen zu verpflichten. Vielmehr fordert Peking dass
die Entwicklungsländer ihre Emissionen auf einer freiwilligen Basis verringern. Außerdem fordert Peking mehr finanzielle Unterstützung sowie
verstärkten Technologietransfer von den Industrienationen zu den Entwicklungsländern. Auch hier droht Ungemach. Deshalb ermahnte Clinton China nun in neuer Bescheidenheit, nicht die gleichen Fehler wie die
USA bei der Produktion von Treibhausgasen zu begehen.
Stattdessen betonte Clinton drei zentrale Bereiche der Kooperation: Beide Staaten sollen dank ihrer herausragenden Rolle in der Weltwirtschaft
darauf hinwirken, eine Wende bei der Finanz- und Wirtschaftskrise herbeizuführen. Zum Zweiten müssen sie als Verursacher von 40% aller CO2-
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
85
Emissionen stärker zusammenarbeiten, um das Wachstum ihrer Volkswirtschaften auf eine Grundlage nachhaltiger, erneuerbarer und sauberer
Energien zu stellen. Und drittens wollen die USA mit China noch mehr
gemeinsame Sicherheitsinteressen ausloten. Clinton verwies in diesem
Zusammenhang auf die positive Rolle Pekings bei den Sechs-Parteien-Gesprächen im Atomstreit mit Nordkorea, auf Chinas UN-Blauhelmmissionen und auf die vereinbarte sicherheitspolitische Zusammenarbeit.
Diese neuen Schwerpunkte lösen ohne Zweifel den Kampf gegen den internationalen Terrorismus als wichtigstes Thema der Zusammenarbeit ab.
Das hat auch organisatorische Folgen: Jetzt werden die Beziehungen wieder unter die Federführung des State Department gestellt und nicht mehr
dem Finanzministerium und dem Schatzamt überlassen.
Was smart power im Sinne der Außenministerin mit Blick auf China in
Zukunft bedeuten wird, bleibt vorher unklar. Zunächst hat sich durch ihren Besuch die Großwetterlage im sino-amerikanischen Verhältnis weiter
verbessert, aber grundsätzliche, strukturelle Rivalitäten bleiben nach wie
vor virulent. Die enge wirtschaftliche Verflechtung und die neue finanzpolitische Abhängigkeit der USA von China erfordert viel Fingerspitzengefühl.
Weil in China und Asien wirtschaftliche Dynamik dominiert, wird sich
der weltpolitische Blick von Präsident Obama weiter nach Asien verlagern. Dass China im Rahmen der G-20 auch im Rahmen der Weltwirtschaft mehr Verantwortung übernehmen sollte, wird wohl in Washington klar erkannt. Die „Ein-China“-Politik bleibt wohl gültig, darf aber
Taiwans Eigenbestimmung nicht verletzen. Doch wird Obama Chinas
aggressive Geopolitik zur Sicherung von Energieressourcen, besonders in
Afrika, vermutlich nicht länger hinnehmen. Hier können sich neue Konflikte anbahnen, solange Peking seine Unterstützung repressiver Regime
wie in Sudan und Zimbabwe fortsetzt. Doch solange die USA innen- und
außenpolitisch schwächeln, sind sie machtpolitisch gezwungen, auf Zeit
zu spielen, die Rivalen zu beruhigen und die Bündnispartner stärker zu
umwerben
6. Die Beziehungen zu Japan
Das Beispiel Japan zeigt, dass die USA in Asien durchaus zu interessanten Neuakzentuierungen fähig sind. Dass Hillary Clinton auf ihrer ersten
Auslandsreise durch vier asiatische Staaten zuerst Japan besuchte, hat eine
nicht zu unterschätzende Bedeutung, wie auch die Tatsache, dass Präsident Obama den japanischen Premierminister als ersten ausländischen
Regierungschef empfing. Das war noch unter Präsident Bush anders. Jetzt
86
Christian Hacke
misst die Regierung Obama Japan allergrößte Bedeutung bei: „Das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und Japan ist ein Eckpfeiler unserer
Außenpolitik. Die bilaterale Zusammenarbeit bei der Lösung der zahlreichen Probleme, die nicht nur Asien, sondern die ganze Welt betreffen,
genießt innerhalb der Regierung Obama hohe Priorität.“ Japans Hilfe bei
der Überwindung der globalen Rezession, bei der Stabilisierung der Sicherheitslage im Irak und in Afghanistan, beim Umgang mit Nordkoreas
Nuklearprogramm und nicht zuletzt mit Blick auf Chinas machtpolitische Ambitionen wie auch Chinas problematischer Klimapolitik, ist für
die USA unverzichtbar.
Clinton betonte die Rolle Japans in der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise, die eine koordinierte globale Antwort der beiden größten Volkswirtschaften der Welt erfordere. Auch lobte Clinton Japans Beitrag beim Wiederaufbau in Afghanistan und betonte vor allem, dass seit einem halben
Jahrhundert Japan Washingtons engster Verbündeter in Asien gewesen sei.
Vor dem Hintergrund, dass Tokio sich immer wieder darüber beklagte,
dass die Regierung Bush Japan die kalte Schulter gezeigt habe, signalisiert
der Besuch von Außenministerin Clinton einen positiven Kurswechsel.
Sie hat schon jetzt das Bündnis mit Japan verstärkt und zugleich die japanische Führung durch besondere Bevorzugung im Rahmen von Obamas
Asienpolitik beruhigt. So soll die Stationierung amerikanischer Truppen
in Japan Gesetzeskraft erlangen. Damit wird der amerikanisch-japanische
Verteidigungspakt nicht nur symbolisch gestärkt.
Zur Zeit des Kalten Krieges waren die beiden ehemaligen Erzfeinde der
USA, Japan und Deutschland, zu den wichtigsten Bündnispartnern im
weltpolitischen Kalkül der USA aufgestiegen. Es hat nicht nur strukturelle
Gründe, wenn heute die Regierung Obama dieses Vertrauen und diesen
exklusiven Rang offensichtlich nur noch für Tokio bereit hält. Japans Politik, seine geschmeidige Diplomatie und seine Treue gegenüber den USA
auch in schwierigen Zeiten haben ein Übriges getan, um diese Rangebene
zu bekräftigen.
In London war auf dem G-20 Gipfel der japanische Premierminister Aso
von Obamas Bescheidenheit und Offenheit mit Blick auf die Rolle der USA
in der Weltwirtschaftskrise so beeindruckt, dass er als eigentlicher Gastgeber der nächsten G-20 Runde sich dem amerikanischen Wunsch sofort
anschloss, den kommenden G-20 Gipfel in den USA stattfinden zu lassen
Auch der Besuch der Außenministerin im Februar 2009 beim traditionellen Verbündeten Südkorea diente der Verbesserung der wechselvollen Beziehungen zwischen Seoul und Washington.
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
87
Im Zeichen der neuen Kooperationsbereitschaft signalisierte die Außenministerin auch dem verfeindeten Nordkorea Kooperationsbereitschaft,
– falls das kommunistische Land sein Atomprogramm aufgäbe. Nordkorea
müsse sein Atomwaffenprogramm vollständig und überprüfbar abschaffen. Dazu mahnte sie Nordkorea, es verkalkuliere sich erheblich, wenn es
glaube, durch Drohungen und Manövrieren einen Keil zwischen die USA
und Südkorea treiben zu können. Umgekehrt versprach Clinton Nordkorea im Falle einer Rückkehr an den Sechs-Mächte-Verhandlungstisch
und einer verifizierbaren nuklearen Abrüstung eine Menge Hilfe. Kluge
Machtpolitik wird also erkennbar, wenn die Regierung Obama Festigkeit
bei einem nordkoreanischen Willenstest signalisiert, sollten beispielsweise nordkoreanische Raketen abgeschossen werden, die erstmals Alaska
und Hawaii erreichen könnten.
7. Der neue Schwerpunkt Asien
Mit dem Besuch in Indonesien setzte die Außenministerin ein besonders
markantes Zeichen. Der größte muslimische Staat der Welt mit einer weit
entwickelten Demokratie wird in Washington nun als Leuchtturm gesehen, um gute Beziehungen der USA zur islamischen Welt zu verdeutlichen. Wir suchen umfassende Partnerschaft mit Indonesien, erklärte
Clinton. Entsprechende Sonderbeziehungen mit Indonesien als Vorbild
für gelungene Integration von Religion, Demokratie und Weltwirtschaft
könnten Signalwirkung entwickeln.
Asien wird unverkennbar zum neuen Schwerpunkt der amerikanischen
Außenpolitik. Asiens wirtschaftliche Dynamik, Amerikas strategische Interessen, die Suche nach demokratischen Partnern, die Rivalität mit aufsteigenden Mächten wie China, aber auch neue globale Fragen wie Umweltschutz, Energie und der Kampf gegen den Terror bilden die vitalen
Berührungspunkte zwischen den USA und dieser Weltregion.
8. Der Kampf gegen den Terror
Der Kampf gegen den Terror bleibt das zentrale Erbe der Regierung Bush.
Noch herrscht offensichtlich Ratlosigkeit in Washington. Es fehlt bislang
an einer kohärenten Anti-Terror-Strategie, besonders mit Blick auf Afghanistan und Pakistan. Bislang beschränkt sich die Regierung Obama auf
massive Aufstockung amerikanischer Truppen in Afghanistan. Im Sommer 2009 soll durch weitere 20.000 GIs die dramatische Lage vor Ort verbessert werden. Weitere 13.000 US-Soldaten sollen folgen. Obama lässt
also keine Zweifel aufkommen, dass er den Krieg gegen den Terror in Afghanistan gewinnen will, doch das Kriegsziel scheint sich zu verändern.
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Wollte G.W. Bush noch Demokratie verwirklichen, so erkennt man heute
in Washington, dass das Ziel weitaus bescheidener gesteckt werden muss.
Vereitlung von Terror und ein Minimum von Ordnung und Gerechtigkeit
erscheinen wohl ausreichend, um dann eines Tages den Rückzug anzutreten. Der Vergleich mit der amerikanischen Vietnam-Politik drängt sich
zusehends auf: Statt Vietnamisierung wird nun eine Afghanisierung der
Kriegsführung und Ordungspolitik langfristig in Washington ins Auge
gefasst. Aber das Schicksal Südvietnams erinnert auch daran, dass weder
massive Truppenaufstockung noch übereilter Rückzug zu einer befriedigenden Lösung führen.
In diesem Sinne werden sich die USA mit 55.000 Mann unter Anspannung
aller eigenen Mittel nicht mehr damit zufrieden geben, dass die Bündnispartner lediglich einige hundert Mann mehr bereitstellen wollen. Zudem hat
Obama durch Bombenangriffe auf Pakistan den Krieg ausgeweitet und weitere Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass in Pakistan die islamistischen
Terroristen weiter an Einfluss gewinnen und vielleicht eines Tages sogar in
Islamabad die Zentralgewalt übernehmen sollten. Das alles deutet nicht auf
Wandel, sondern verspricht Fortsetzung und Intensivierung des Kampfes gegen den Terror, wie er von den Europäern nicht erwartet worden ist.
Nicht mehr der Irak, der nach wie vor Amerikas Kräfte über Gebühr bindet, sondern das überraschend schnelle Vordringen der Taliban und anderer umstürzlerischer Kräfte in Afghanistan und Pakistan erfordert nun den
ganzen Einsatz, den die neue Regierung in Washington bereit zu tragen ist.
Eine islamistische Atommacht Pakistan und Afghanistan unter der Führung
der Taliban wäre nicht nur für die Region eine unannehmbare Perspektive.
Wie reagieren die Europäer? Alle wollen an ihrem Afghanistan-Engagement festhalten. Das ist die gute Nachricht. Aber sind die Europäer bereit, Obamas Ruf nach mehr Engagement zu folgen? Sein Slogan „Yes,
we can“ findet in Europa mit Blick auf ein verstärktes Engagement nur
wenig Echo: Frankreich will 500, Italien 800 und Deutschland 600 Soldaten mehr bereitstellen. Von den anderen hört man noch weniger. Berlin
will den ohnehin bei der Bevölkerung und Politikern ungeliebten Einsatz
höchstens um 1.000 Mann auf insgesamt 4.500 Mann aufstocken und am
liebsten jegliche Kriegsverwicklung vermeiden. Aber nach Obamas überzeugenden Lektionen über Partnerschaft und Bündnispflichten stehen die
Europäer unter Erwartungsdruck, sie befinden sich wider Erwarten in einer Glaubwürdigkeitsfalle und müssen überzeugend handeln.
Der Krieg gegen den Terror wird so schnell nicht auf neue Grundlagen und
effektivere Bekämpfungsmöglichkeiten umgestellt werden. Die Probleme
in Afghanistan, im Irak und in Pakistan bleiben langfristig kaum lösbar.
Zu lange wurde zu viel falsch gemacht. Weil Sinn, Zielsetzung und Stra-
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
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tegie nebulös bleiben und in keinem Verhältnis zu den laufenden Kosten
stehen, werden auch die Verbündeten störrisch und die Gegner gefährlich
bleiben. Osama bin-Laden ist nach acht Jahren Krieg noch in Freiheit. Der
Terrorismus bleibt eine Plage, mit der die Welt noch lange leben muss.
Und der Krieg in Afghanistan wird nicht durch die Entsendung weiterer
NATO-Truppen gelöst. Afghanistan wie auch der Irak brauchen eine politische Lösung. Und eine politische Lösung könnte die Mitwirkung Irans
erfordern. Das hat Präsident Obama klar erkannt. Aber Afganistan könnte
zu seinem Vietnam werden, wenn er ohne ausreichende Hilfe der Verbündeten dort scheitern würde.
9. Die Beziehungen zum Iran
Seit 1979 unterhalten Washington und Teheran keine diplomatischen Beziehungen mehr, vielmehr avancierte der Iran nach dem Sturz des Schahs
und unter dem Gottesregime der Ajatollahs zum Staatsfeind Nummer eins
in Washington. Die antiisraelischen Verbalexzesse und das iranische Nuklearprogramm haben ein Übriges getan, um die Beziehungen zu verschärfen. Auch Präsident Obama hält daran fest, dass Teheran nicht in den
Besitz von Atomwaffen kommen dürfe. Allerdings äußerte Präsident Obama grundsätzliche Dialogbereitschaft, einschließlich Gesprächen über das
iranische Atomprogramm. Deshalb erscheint eine Wiederannäherung der
beiden Staaten grundsätzlich möglich, bleibt aber schwierig.
Andererseits gibt es eine Kongruenz von beiderseitigen Interessen, die von
Präsident Obama offensichtlich stärker berücksichtigt werden soll. Beide
Staaten sind an Stabilität in Afghanistan, Pakistan sowie im Irak interessiert. Iran wie die USA schreckt die Perspektive einer Talibanisierung der
Atomwaffenmacht Pakistan.
Vor allem setzt sich in Washington unter der Führung von Präsident Obama die Erkenntnis durch, dass die Konflikte um den Irak, Afghanistan wie
auch der Nahostkonflikt nicht ohne, sondern nur mit Iran gemeinsam
gelöst werden können. Dies gilt auch für die nukleare Proliferation.
Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, dass Obama den Iran dazu auffordert, die Faust zu lösen und die amerikanische Hand anzunehmen. Doch
scheinen beide Seiten vorerst abzuwarten. Jeder erwartet vom anderen
den ersten Schritt. War ein antiamerikanischer Kurs in Teheran zur Zeit
von George W. Bush populär, so wird dieser seit dem Amtsantritt von
Obama schwieriger. Auch wird eine Annäherung von Washington und
Teheran in Israel aufmerksam und nicht unkritisch beobachtet. Auch die
sunnitischen Staaten der arabischen Welt reagieren mit Skepsis auf die
Annäherung zwischen Washington und Teheran.
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Vieles spricht dafür, dass Präsident Obama das Problem Iran nicht isoliert
behandelt, sondern im Kontext der Nahostregion: Der Iran ist dabei, die
Schwelle zur Atommacht zu überschreiten. Der israelisch-palästinensische
Friedensprozess ist völlig zusammengebrochen, in den Palästinensergebieten, vor allem im Gaza, dominieren zunehmend militante islamistische Gruppen. Bushs jahrelanges Versagen und seine Ziellosigkeit haben
die Rolle der USA insgesamt im Nahen Osten geschwächt, sodass Obama
rasch, aber umsichtig handeln muss. Selbst wenn er es wollte, kann der
amerikanische Präsident aber auch dort keine Wunder vollbringen. Deshalb bleibt die Zukunft des Nahen Ostens ein Pulverfass.
Der Iran wird über kurz oder lang Atommacht, denn es gibt keinen völkerrechtlichen Anspruch und keine nicht-militärischen Mittel, das Land daran
zu hindern. Deshalb wird eine Diplomatie der Öffnung schwer zu verwirklichen sein, solange die USA nicht im Grundsatz Irans zivile Nuklearambitionen respektieren. Obama wird deshalb vermutlich einen umfassenderen
Ansatz für Verhandlungen mit dem Iran suchen, der nicht nur das iranische
Nuklearprogramm, sondern auch Möglichkeiten für gemeinsame Interessen
mit einbeziehen wird. Die neuen energiepolitischen Prioritäten könnten auch
hier bilateral im gegenseitigen Interesse positiv wirken. Doch vorerst bleiben
die Beziehungen konfliktgeladen, denn Iran bemüht sich zunehmend darum, seinen Einfluss weltpolitisch auszudehnen, nicht zuletzt in Lateinamerika. So bezeichnete Verteidigungsminister Gates die Bemühungen Irans dort
als subversive Aktivitäten, die Amerika in Sorge versetzen. Vor allem bemühe
sich der Iran in Kuba, Bolivien, Nicaragua und Ecuador um verstärkten Einfluss. Als Türöffner für Teheran in Lateinamerika wirkt der venezuelanische
Präsident Hugo Chavez, der in den vergangenen Jahren systematisch die Beziehungen zu Iran zu einer strategischen Partnerschaft ausgebaut hat. Es ist
kein Zufall, dass Chavez und der iranische Präsident Ahmadinedschad sich
gegenseitig als geliebte Brüder bezeichnen und gemeinsam Amerikas Einfluss
in Lateinamerika zu unterminieren suchen. Teheran setzt dabei offenbar auf
Venezuela, das es als Drehscheibe für Exporte iranischer Produkte ausbaut.
Israel hatte schon 2007 gemahnt, dass Venezuela im Gegenzug Uran für Irans
Atomprogramm besorge oder gar schon geliefert habe.
Auch Brasilien, das wirtschaftlich wichtigste Land Südamerikas, wird zum
wichtigen Handelspartner des Iran, der zum größten Abnehmer brasilianischer Produkte im Mittleren Osten geworden ist.
10. Die Beziehungen zu Lateinamerika
Durch die Politik von G.W. Bush hat Washington in Lateinamerika einen
atemberaubenden Ansehensverlust erlitten. Vor diesem Hintergrund wird
verständlich, dass Präsident Obama die Beziehungen der USA zu Latein-
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
91
amerika wieder zu stärken versucht und dabei Brasilien eine entscheidende Rolle zukommen soll.
Nicht nur die Eindämmung des Einflusses autoritärer und energiepolitisch starker Regime ist im Interesse der USA, sondern andere gemeinsame Herausforderungen müssen gemeistert werden. Mit Mexiko sucht
die Regierung die wuchernde Drogenkriminalität einzudämmen und seit
dem panamerikanischen Gipfel in Trinidad im April 2009 wollen die USA
verstärkt mit ihren Partnern in Lateinamerika Waffen- und Drogenhandel
unterbinden. Die Macht der Drogengangs soll untergraben werden. Doch
dominiert im Interessengeflecht die Wirtschaft. So ist Lateinamerika nach
wie vor handelspolitisch für die USA weitaus wichtiger als China. Das Geschäftsvolumen liegt mit über 500 Milliarden Dollar um ein Mehrfaches
über jenem mit China.
Unter Krisenaspekten signalisiert Präsident Obama Neuansätze in der Kubapolitik, die vermutlich aber erst nach Ablösung der Castrobrüder Wirklichkeit wird. Die größte Herausforderung bilden jedoch die lateinamerikanischen Drogenkartelle, die zur größten Bedrohung in der organisierten
Kriminalität geworden sind. Mexikanische Gangs haben in mindestens 230
amerikanischen Städten bereits Ableger eingerichtet, weshalb die Beziehungen zu Mexiko sich dieses Problems ganz besonders widmen werden.
11. Festigung der Partnerschaften
Nach Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten bleiben die transatlantischen Beziehungen wichtig, verlieren allerdings ihre alte exklusive
Bedeutung wie zur Zeit des Kalten Krieges. Aber auf alle Partner geht Präsident Obama schneller, offensiver und geschmeidiger als sein Vorgänger
zu. Der Grund ist klar: Beim Klimawandel, bei der Terrorismusbekämpfung, aber vor allem in Afghanistan, im Irak und beim Atom-Streit mit
dem Iran sind die USA auf Partner angewiesen. Konsequenterweise wird
Obama nicht nur mehr regionale, sondern mehr globale Mitverantwortung von Freunden und Partnern einfordern. Präsident Obama entfaltet
dafür alle Varianten von Diplomatie: Mehr ökonomische Mittel sollen
bereitgestellt werden, die Auslandshilfe soll aufgestockt und die Gemeinschaftsdiplomatie soll in den entsprechenden Institutionen effektiver
werden. Auch für Obama bleiben die amerikanischen Interessen vorrangig, aber er zeigt dabei ein bemerkenswertes Gespür für die nationalen
Interessen und Sensibilitäten der anderen Völker und Nationen. Während
für seinen Vorgänger Dialogbereitschaft im Kern nur Forderungen beinhaltete, verhandelt Obama kooperativer und konsensbereiter.
92
Christian Hacke
Vor allem tut er viel, um zu vermeiden, dass sein Führungsstil nicht mit
Unilateralismus verwechselt wird, vielmehr signalisiert er: Die USA wollen künftig möglichst gemeinschaftlich Probleme lösen, aber diese nicht
mehr unilateral auslösen.
12. Auf dem Weg zu einer neuen „Obama-Dokrin“?
Mit der Formel vom „Konstruktiven Internationalismus“ könnte man
die ersten Umrisse der neuen Außenpolitik der USA umschreiben. Vielleicht entwickelt sich daraus eines Tages eine „Obama-Doktrin“? Wie seine Vorgänger Truman, Eisenhower, Nixon, Carter und Bush, so könnte
auch Präsident Obama geneigt sein, seine außenpolitischen Ideen und
Ambitionen im grand design einer Doktrin vorzustellen. Dabei fällt auf,
dass die heutigen außenpolitischen Herausforderungen durchaus mit denen von Präsident Nixon zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts verglichen werden können: Wie Obama angesichts massiver
wirtschaftspolitischer Schwäche der USA und militärischer Überdehnung
im Krieg gegen den Terror mehr Leistungen von den Verbündeten einfordert, so mahnte auch Präsident Nixon wegen der überwältigenden Kosten
des Vietnam Krieges mehr Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung
von den Partnern an, um die Kosten und Verpflichtungen der USA zu verringern. Wird Präsident Obama eine vergleichbare Doktrin entwickeln?
Es ist nicht auszuschließen, ja sie deutet sich schon an, wenn er gerade
von den Verbündeten im Rahmen der NATO mehr Engagement fordert,
denn er will Al Quaida „zersprengen, unschädlich machen und letztlich
zerstören“.
Auch mit Blick auf die weltpolitischen Vorstellungen zeigen sich Parallelen: Präsident Nixon revolutionierte die internationale Politik, weil er
die starre ideologische bipolare Konfrontation zwischen den USA und der
Sowjetunion durch eine Ära der pragmatischen und interessenorientierten Multipolarität abzulösen suchte. Im Zuge seiner Entspannungspolitik
gegenüber der Sowjetunion und der Volksrepublik China entwarf Richard
Nixon die Vision eines pentagonalen Weltsystems, in dem die USA sozusagen als primus inter pares einerseits das Bündnisdreieck mit Japan und
Westeuropa und andererseits das Rivalitätsdreieck mit der Sowjetunion
und der VR China dominieren würden. Nicht Konfrontation, sondern
eine interessenorientierte Gleichgewichtspolitik sollte dominieren. Richard Nixon wäre vermutlich zu einem der erfolgreichsten außenpolitischen Präsidenten geworden, hätte er sich nicht selbst mit der Watergate
Affäre politisch ruiniert.
Die ersten Umrisse von Obamas Außenpolitik deuten darauf hin, dass er
analog zur Nixon-Doktrin ein multipolares Gleichgewichtssystem favo-
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
93
risiert, in dem allerdings die USA die Schlüsselrolle spielen sollen. Die
USA als dominanter Balancer, als Spinne im Netz, sollen weiter die Fäden
der Weltpolitik ziehen, Allianzen schmieden und feindliche Gegenkoalitionen abwehren, um die Welt in einer amerika-freundlichen Balance
zu halten: Auch Obama schwebt wie Nixon eine pentagonale Welt vor,
die an das Gleichgewichtssystem des 19. Jahrhunderts erinnert, in dem
autoritäre Regime mit demokratisch-imperialen Mächten um Vorteil und
Ausgleich rangen.
Im 21. Jahrhundert dagegen sollen die USA unter Führung von Präsident
Obama das Kooperationsdreieck zwischen USA, Europäischer Union, Japan und befreundeten asiatischen Mächten auszubalancieren suchen,
während sie im Kräftedreieck USA-Russland-VR China stärker auf eigenen
Vorteil bedacht sind.
13. Zusammenfassung
Wie stehen die Chancen für außenpolitischen Erfolg, haben sich doch
die Kräfteverhältnisse massiv zu Ungunsten der USA verändert. Barack
Obama glaubt nach wie vor wie die Mehrheit seiner Landsleute, dass der
Anspruch auf die amerikanische Vormachtstellung gültig bleiben muss
und dass alle entsprechenden Anstrengungen notwendig bleiben.
Dabei erscheint Obamas Weltsicht nicht frei von Widersprüchen: Auf der
einen Seite erkennt er die neuen globalen Herausforderungen und den
überwältigenden Trend zur Multipolarität, der durch Amerikas Fehler und
Schwächen beschleunigt wird, an, andererseits scheint er entschlossen,
mit Unterstützung der Partner Amerikas überragende Weltmachtrolle wiederherstellen zu wollen. Bleiben also Unipolarität und imperiale Dominanz oder die Rolle des sanften Hegemons für Präsident Obama als Vorbild für die Rolle der USA erstrebenswert? Kann und soll Präsident Obama
auch wieder für den Westen sprechen und handeln? Diese Frage ist gerade
in den transatlantischen Beziehungen umstrittener denn je.
Bundeskanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy demonstrieren ein neues europäisches Selbstbewusstsein, das amerikanische
Führungsansprüche auf vielfältige Weise herausfordert: Amerikanische
Vorschläge zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, Obamas Wunsch
nach mehr militärischen Leistungen der Europäer oder nach Ausweitung
der NATO werden kühl zurückgewiesen oder diplomatisch überhört. Dazu
werden die eigenen europäischen Leistungen selbstbewusster denn je eingebracht und entsprechende Reformvorschläge à la carte Europe vorgelegt. Der alte Kontinent präsentiert sich den USA heute in vielfacher Weise auf Augenhöhe, weil er in entscheidenden Krisen nicht-militärischer
94
Christian Hacke
Art zukunftsweisend gehandelt hat, aber die USA versagt haben. Das gilt
mit Blick auf manche Aspekte im Kampf gegen den Terror, für die Finanzund Wirtschaftskrise und vor allem für die Klima- und Energieproblematik, die von den USA weitgehend verschlafen wurde.
Die Europäer sind vorbildlich bei kooperativen, ausgleichenden und zivilisatorischen Aspekten der Weltpolitik, wenn die Dinge sich aber konfrontativ entwickeln und militärische Entschlossenheit zwingend wird, dann
verblasst Europas Stärke und Einheit. Das gilt auch für die Grenzbereiche,
wo Sicherheit überwiegend kooperativ, aber im Krisenfall auch strategisch
abgestützt werden muss, wie bei Fragen der Energiesicherheit.
Könnte es dann angesichts der wachsenden Energieknappheit zur Wiederauflage von sogenannten great games des 19. Jahrhunderts kommen?
Russlands neues energiepolitisches Selbstbewusstsein und die Abhängigkeit der westlichen Industrienationen von Russlands Energiequellen bilden kein gemeinsames Ruhekissen, sondern wirken sehr beunruhigend.
Der Westen erscheint auf vielfältige Weise geschwächt, gespalten, in gewisser Weise auch ratlos angesichts der rasanten ökonomischen Talfahrt und
angesichts energiepolitischer Abhängigkeiten. Umso größer ist die Hoffnung, dass eine neue amerikanische Führung die machtpolitische Balance
der autoritären Mächte wieder zugunsten des Westens verändern wird.
Hier zeigt sich das gemeinsame Anliegen der freiheitlichen Demokratien. Nicht nur die USA, auch die Verbündeten sind gefordert. Die Überforderungskrise, von Präsident Bush ausgelöst, ist schon lange keine rein
amerikanische Krise mehr. Sie ist eine westliche und kann deshalb nicht
nur von Präsident Obama, sondern muss gemeinsam geschultert werden.
Nicht nur die USA müssen sich verändern, wenn sie andere bewegen
wollen, auch die Verbündeten, insbesondere die Europäer und nicht zuletzt die Deutschen müssen sich verändern, müssen mehr internationale
Mitverantwortung auch in risikoreichen Regionen schultern, wenn sie
Obamas berechtigte Forderung nach change mittragen und mitgestalten
wollen. Gerade die Europäer müssen endlich aufwachen und begreifen,
dass sich die Welt und die transatlantischen Beziehungen dramatisch verändert haben, und nicht nur zugunsten des Westens. Wenn sie dies nicht
tun, wird auch Obama wieder vorbehaltlos die Devise ausgeben: gemeinsam, wenn möglich, und alleine, wenn nötig. Vor allem im Zuge der sich
vertiefenden weltwirtschaftlichen Krise und angesichts der dramatischen
ökonomischen Schwäche der USA gibt es keine Alternative zu Kooperation, sonst droht allen eine Ära des Protektionismus mit dramatischen Folgen. Auch deshalb darf Obama mit seinen außenpolitischen Ambitionen
von den Partnern und Freunden nicht alleingelassen werden.
Determinanten, Antriebsfaktoren und Spielräume
95
Die Europäer müssen sich wieder stärker atlantisch ausrichten, nicht nur
Krisen wittern und auf Distanz zu den USA gehen, sondern Chancen suchen und freundschaftlich handeln. Die Europäer müssen wieder erkennen, dass es im weltpolitischen Ringen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
keine Alternative zu einem internationalen Ordnungsmodell gibt, in dem
die USA nicht nur eine gestärkte, sondern die weltpolitisch führende und
von den Partnern unterstützte Rolle spielen. Doch ist diese Sicht vielleicht
zu optimistisch, denn im Enthusiasmus für Obamas change liegt schon
der Keim für zukünftige, fast vorprogrammierte Enttäuschung, zumindest
für Ernüchterung.
Bush hat schwere Fehler begangen, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alles von ihm falsch war. Darüber hinaus hat er außenpolitische Tatsachen geschaffen, die Obama nicht negieren kann. Die
Grundlagen für den Kampf gegen den Terror bleiben größtenteils unverrückbar. Der Krieg gegen die Taliban und gegen Al Qaida wurde in Afghanistan richtig begonnen. Umgekehrt dürfen die Fehler und Versäumnisse
der Europäer der vergangenen Jahre nicht einfach unter den Tisch gekehrt
werden.
Was immer auch im Zuge des Neuanfangs der Außenpolitik von Präsident
Obama apostrophiert wird, es sind alte Probleme und neue unerwartete
Geschehnisse und Krisen selbst, die die Agenda bestimmen werden.
Der Kampf gegen den Terror umspannt die Weltpolitik noch auf unbestimmte Zeit, doch ein Unglück kommt selten allein: Gesteigerter Energieverbrauch und eine erhöhte Abhängigkeit der Industriestaaten von
Öl und Gas verstärken die schon existierende Unsicherheit. Der einstmals starke und geeinte freiheitliche Westen erscheint deshalb heute in
schlechterer Verfassung, während viele autoritäre Staaten, nicht zuletzt
wegen ihrer immensen Öl- und Gasvorkommen und ihrer neuen Wirtschaftskraft und Einflussmöglichkeiten, an Macht gewonnen haben.
Die Ziele wie auch die Probleme amerikanischer Außenpolitik bleiben,
aber die Mittel werden von der Regierung Obama klüger ausgewählt und
die Diplomatie wird geschmeidiger werden. Nach der Lösung der immensen Probleme könnte unter Präsident Obama bald mehr Kontinuität als
derzeit angenommen, aber auch mehr stilistischer Wandel erkennbar werden. Seine Führungsqualitäten könnten dann zu einer Renaissance amerikanischer Stärke und Werte in der Welt führen. Das wäre im Interesse der
freien Welt, würde autoritäre Regime zu mehr Vorsicht und Rücksichtnahme zwingen und den armen und unterdrückten Völkern Hoffnung
machen. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg mit vielen Unwägbarkeiten.
Leader of a New America –
Außenpolitik im Wahlkampf
von Barack Obama
Johannes Urban
24. Juli 2008. Massen von Menschen strömen von den Bahnhöfen Berlins
in Richtung Tiergarten. Viele haben ihre Digital-Kameras dabei, manche
auch Fahnen – deutsche, US-amerikanische oder türkische. Das Ganze hat
etwas von WM-Fanmeile. Aber: Trotz Bierausschank und Rock-Vorgruppe
bleibt die Stimmung ernst. Es geht nicht um Fußball, sondern die Zukunft
der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menge wartet geduldig auf das
Erscheinen von Barack Obama, einem US-Senator, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden will. Er ist noch nicht von seiner
Partei nominiert; trotzdem wendet er sich am Ort der großen Rede seines
Vorbilds John F. Kennedy, die legendären Worte Ernst Reuters während
der Berlin-Blockade zitierend, „als Bürger dieser Welt“ an ein weltweites
Publikum. Obamas Botschaft ist, dass in diesen Zeiten alle Menschen und
Staaten guten Willens zusammenstehen müssten. Er verspricht eine bessere Welt, partnerschaftlich geführt von einem neuen Amerika.
1. Warum Obama?
Fast genau sechs Monate nach seiner Rede an der Siegessäule bezog ein
mit deutlichem Vorsprung gewählter Präsident Obama das Weiße Haus.
Sein Wahlsieg markierte in mehrerlei Hinsicht eine historische Zäsur.1 Die
meisten Beobachter führten ihn auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise zurück, die in den USA ihren Ausgang nahm. In der Tat spricht vieles
für diese Einschätzung. Und doch sind Zweifel angebracht. Die Kampagne Barack Obamas unterschied sich in Vielem von der Bill Clintons, der
1992 mit dem Motto „It’s the economy, stupid“ die Macht errang. Wer
den Wahlsieg Obamas allein auf dessen – nicht schrecklich detailliertes –
Programm zur Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise zurückführt, greift
zu kurz. Gleiches gilt für alle, die auf eine zweifellos beeindruckende Mobilisierung neuer Wähler mit Hilfe des Internets hinweisen. Das Internet
1
Selten wurde von einem Kandidaten so viel erwartet wie von Barack Obama. In
dieser Hinsicht steht Obama schon jetzt in einer Reihe mit Franklin D. Roosevelt
und John F. Kennedy. Für eine übersichtliche Darstellung früherer Präsidentschaftswahlen siehe Gerste, Ronald D.: Duell ums Weiße Haus: Amerikanische
Präsidentschaftswahlen von George Washington bis 2008, Paderborn 2008.
Leader of a New America
97
spielte ein zentrale, aber instrumentelle Rolle. Und auch wer mit Max Weber das Charisma des Kandidaten Obama als entscheidend ansieht, bleibt
eine Analyse schuldig, woher dieses Charisma rührte.
Gerade die Frage nach den Quellen der Faszination für Barack Obama ist
jedoch hilfreich, um zu verstehen, warum sich Millionen von US-Amerikanern an dessen Online-Wahlkampf beteiligten. Es wird nicht lange dauern, bis Studien die Motive dieser Menschen detaillierter nachzeichnen
als die üblichen „exit polls“. Sie werden vermutlich auf viele Variationen
des von Obama bemühten Leitmotivs der „Hoffnung“ durch „Wandel“
zu sprechen kommen. Eine nicht geringe Rolle wird dabei einer Dimension zugeschrieben werden, die – vielleicht auch weil sie als Domäne beider Rivalen Obamas galt – gemeinhin nicht als entscheidend für dessen
Wahlsieg angesehen wird: Außen- und Sicherheitspolitik. Obamas Rede
vor der Siegessäule, die vom politischen Gegner als „celebrity event“ abgetan wurde, steht symbolisch für den in dieser Konsequenz präzedenzlosen
Versuch eines Spitzenkandidaten, seine Wahlbürger dadurch für sich zu
gewinnen, dass er für eine neue Rolle der USA in der Welt wirbt und dabei
die Hoffnungen des Auslands auf sich zieht. Nicht umsonst titulierte das
Nachrichtenmagazin „SPIEGEL“ Obama später als „Weltpräsidenten“.2
2. Wofür steht Obama?
In welchem Maße und in welcher Weise das Themenfeld Außen- und Sicherheitspolitik den Wahlkampf Barack Obamas prägte, ist dennoch nicht
das Thema dieses Beitrags. Es geht mir darum nachzuzeichnen, wie sich
die Außen- und Sicherheitspolitik Barack Obamas auf dem langen Weg zur
Macht entwickelte. Ziel des Beitrags ist es, ein außen- und sicherheitspolitisches Profil des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten zu gewinnen. Ein
solches Profil lässt im Idealfall Schlussfolgerungen für die Außen- und Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten in den kommenden vier Jahren zu.
Nun mag mancher einwenden, ein solches Unterfangen sei löblich, aber
wenig aussichtsreich. In der Tat ist es mit der Prognosekraft der Politikwissenschaft nicht anders als mit der aller anderen Sozialwissenschaften:
Letztlich handelt es sich immer um – hoffentlich – möglichst faktenbasierte Spekulation. Was Prognosen in den internationalen Beziehungen
angeht, hat Helga Haftendorn mit dem Bild der Kristallkugel die Möglichkeiten und Grenzen des Prognostizierens anschaulich umschrieben.3
2
3
Der Spiegel titelte „Der Weltpräsident. Was er will – was er (nicht) kann“, Ausgabe 46/2008, S.122-138.
Haftendorn, Helga: Die Sehnsucht nach der Kristallkugel. Über Leistungsfähigkeit und Versagen der Theorie der internationalen Politik, in: Internationale Politik 8/1996, S.3-8.
98
Johannes Urban
Noch schwieriger gestaltet sich der Fall Obama. Erstens: Der Kandidat war
aufgefordert, sich zu einer äußerst umfassenden, vielschichtigen und komplexen außen- und sicherheitspolitischen Agenda zu äußern: Internationaler Terrorismus, der Krieg im Irak, Proliferation im Iran und in Nordkorea,
eine wachsende Abhängigkeit von Öl-Staaten und der neuen Wirtschaftsmacht China, Klimawandel, internationale Finanzmärkte etc. Zweitens:
Obama verstand es meisterhaft, sich in dieser Gemengelage möglichst wenig festzulegen und die Klaviatur der Interpretierbarkeit politischer Äußerungen zielgruppengewandt zu bedienen. Medien und frustrierte Gegner
sprachen nicht umsonst vom „Teflon“-Kandidaten – kein gutes Omen für
eine prägnante politikwissenschaftliche Charakterisierung.
Ein noch grundsätzlicherer Einwand könnte lauten, dass der Versuch, politische Positionen aus dem abzuleiten, was vor einer Wahl gesagt wurde,
eigentlich nur naiven Menschen in den Sinn kommen kann. Kenner des
Regierungssystems könnten überdies auf die Kontinuität außenpolitischer Doktrinen im Handeln der Vereinigten Staaten hinweisen; Kenner
der Demokratischen Partei auf die Diskrepanz zwischen dem (außen-)politischen Denken Obamas und dem Demokratischen Establishment, das
Obama – allen voran Hillary Clinton – an Schlüsselpositionen in die Regierungsbildung eingebunden hat. Und schließlich könnte, wer die Strukturen und Abläufe des diplomatischen Betriebs kennt, auf die Beharrungskräfte von Bürokratien verweisen.
Es braucht also einige methodische Vorbemerkungen: Die versuchte vorsichtige Prognose stützt sich nicht auf eine Einordnung in theoretische
Raster, sondern eine Darstellung der außenpolitischen Überzeugungen
Obamas und seiner Vertrauten, soweit sie im Wahlkampf sichtbar wurden. Um den aufgezeigten methodischen Problemen Rechnung zu tragen,
fließen in die Auswertung nicht nur die Rhetorik des Kandidaten, sondern
auch die Eigendarstellung in Wahlwerbespots sowie relevante Positionspapiere ein. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf Positionen in den
vom Kandidaten selbst als zentral definierten Themenfeldern. Welche
dieser Positionen es in die politische Praxis schaffen, könnte auf dieser
Basis in der Tat nur spekuliert werden; deshalb stellt der Beitrag der zuvor
gewonnenen Einschätzung in einer Art „Realitätstest“ relevante Entscheidungen der Obama-Administration in ihren ersten Wochen gegenüber.
3. Auf dem Weg zur Kandidatur
Die außenpolitische Verortung Obamas ist auch deshalb schwierig, weil
der für einen US-Präsidenten recht junge Mann keinen typischen Werdegang hinter sich hat, der eine klassische Einordnung (zum Beispiel als Isolationisten oder Internationalisten, Realisten oder Idealisten) nahelegen
Leader of a New America
99
würde. Unter den 44 Präsidenten der USA zählt Barack Hussein Obama zu
den eher unwahrscheinlichen Kandidaten. Das Amt wurde ihm nicht in
die Wiege gelegt. Es wurde ihm auch nicht durch führende Kreise seiner
Partei angetragen. Es war das rhetorische Talent des jungen Senators aus
Illinois, das ihm auf die nationale Bühne half.
Auf dem weiten Weg zur Präsidentschaftskandidatur spielten außen- und
sicherheitspolitische Themen dabei schon sehr früh eine große Rolle. Als
erste bedeutende Rede Obamas gilt seine beißende Kritik am Kriegskurs
von Präsident George W. Bush auf einer Anti-Kriegs-Rallye im Chicago
Federal Plaza am 2. Oktober 2002. Er sei nicht grundsätzlich gegen Krieg,
so damals Obama. Er sei gegen „dumme Kriege“ von „Armlehnenstuhlund Wochenendkriegern“, die sich keine Gedanken machen würden über
die verlorenen Leben und das durch Krieg verursachte Leid. Wenn Bush
kämpfen wolle, dann dort wo der wahre Feind stehe, in Afghanistan.4
Obama, junges Mitglied im State Senate von Illinois, war damals nicht
Hauptredner der Veranstaltung. Er stand – noch – im Schatten von Teilnehmern wie Reverend Jesse Jackson. Die Kombination deutlicher AntiKriegs-Rhetorik mit einem Bekenntnis zum Kampf gegen Terroristen in
Afghanistan stieß jedoch schon damals auf äußerst positive, wenn auch
lokal begrenzte Resonanz. Landesweite Aufmerksamkeit erhielt Obama
erst mit seiner Rede in Boston am 27. Juli 2004 auf dem NominierungsParteitag der Demokraten für die Präsidentschaftswahlen. Während der
damalige Kandidat John Kerry eher blass blieb, beeindruckte Obama mit
seiner Bewerbungsrede für den US-Senat.
Auch in dieser Rede ging es um den Irak-Krieg. Die Vereinigten Staaten
hatten seither einen schnellen Einmarsch, den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und den Beginn eines religiösen Bürgerkriegs erlebt.
Obama erzählte von der Begegnung mit einem Kriegsfreiwilligen, der sein
Land und seine Werte im Irak verteidigen wolle. Er dankte dem Freiwilligen für seinen Einsatz, stellte aber die Frage, ob die Verantwortlichen
sich umgekehrt ihrer Verantwortung bewusst seien und sich genug für die
Soldaten einsetzen würden. Wieder sprach er das Leid der betroffenen Soldaten und ihrer Familien an. Und wieder verwies er auf die „eigentlichen
Feinde“ der USA, die verfolgt und besiegt werden müssten.
Obama berührte in dieser Rede eine Vielzahl weiterer Themen, verband
das erwartete Lob für den Präsidentschaftskandidaten mit Werbung für
die eigene Person. Wie in späteren Reden diente seine Biographie als Folie für die Projektion amerikanischer Ideale. Seine Fähigkeit, diese Ideale
4
Barack Obama‘s speeches 2002 to 2006, in: The Guardian, 20.1.2009, http://
www.guardian.co.uk/world/2009/jan/20/barack-obama-inauguration-speeches-1, Stand: 3.2.2009.
100
Johannes Urban
glaubwürdig zu verkörpern und seine klare Botschaft zum Irak-Krieg wurden landesweit wahrgenommen und diskutiert. Wenig später war Obama
US-Senator für den Bundesstaat Illinois.
Seine Kandidatur für das Amt des US-Präsidenten verkündete Obama am
10. Februar 2007 in Springfield, Illinois. Noch stärker als zuvor appellierte
Obama an ein neues Wir-Gefühl und forderte eine umfassende Anstrengung auf allen Politikfeldern, um die USA wieder auf Kurs zu bringen. Das
Politikfeld, auf das Obama mit den meisten Details einging, war die Außenund Sicherheitspolitik. Er forderte seine Landsleute dazu auf, den Terroristen mit allem entgegenzutreten, was die USA aufbieten könnten. Der Sieg
gegen Amerikas Feinde werde aber nur durch den Wiederaufbau der Allianzen Amerikas und den Export der amerikanischen Ideale möglich sein.
Auch in der Begründung seiner Kandidatur sprach Obama leidenschaftlich
über den Krieg im Irak. All die außen- und sicherheitspolitischen Ziele
Amerikas seien nicht zu erreichen, wenn nicht der Krieg im Irak zu Ende
gebracht würde. Er habe von Anfang an gesagt, dass der Krieg ein tragischer
Fehler sei. Er und alle anderen trauerten mit den Familien der Gefallenen.
Nun aber sei es Zeit, die Soldaten nach Hause zu bringen. Es sei Zeit anzuerkennen, dass keine noch so große Zahl menschlicher Leben den Konflikt
lösen könne, der diesem Bürgerkrieg „eines anderen Volks“ zugrunde liege.
Deshalb müsse damit begonnen werden, die Soldaten abzuziehen und so
die Parteien im Irak unter Druck zu setzen. Die Veteranen, die nach Hause
kämen, müssten die Fürsorge erhalten, die sie bräuchten und verdienten.
Außerdem müsse das Militär wieder aufgebaut werden.
Schon am Startpunkt seiner Kampagne trat Barack Obama mit dem Anspruch an, nicht nur auf einzelnen Politikfeldern graduelle Veränderungen
durchzusetzen, sondern schlicht das politische Ruder des Landes herumzureißen. In der Außen- und Sicherheitspolitik griff Obama die amtierende
Administration aus mehreren Stoßrichtungen an. Schon in diesen frühen
Äußerungen kam ein stark idealistisches Verständnis von Außen- und Sicherheitspolitik zum Tragen, allerdings nicht die pazifistische Variante,
sondern ein muskulöser Idealismus, der moralische Ansprüche mit Entschlossenheit zur auch militärischen Durchsetzung dieser Ideale verband.
4. Vorwahlkampf
Den politisch-ideologischen Überbau seiner Außen- und Sicherheitspolitik erläuterte Obama standesgemäß in der Zeitschrift „Foreign Affairs“.5
5
Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs 4/2007,
http://www.foreignaffairs.org/20070701faessay86401/barack-obama/renewing-american-leadership.html, Stand: 4.2.2009.
Leader of a New America
101
In dem Beitrag „Renewing American Leadership“ berief sich Obama auf
die großen demokratischen Vorbilder Franklin D. Roosevelt, Harry Truman und John F. Kennedy. Sie hätten es verstanden, die Amerikaner zu
schützen und zugleich Chancen für die nachfolgende Generation zu
schaffen. Er skizzierte eine zunehmend gefährliche Welt, die eine neue
Vision und neue Führungskraft brauche. Amerika könne sich weder zurückziehen, noch versuchen den Rest zu zwingen, sich unterzuordnen.
Damit die USA wieder führen könnten, müssten sie den Krieg im Irak beenden und ihre Allianzen erneuern. Als wichtigste Handlungsfelder seiner
Außen- und Sicherheitspolitik definierte Obama (in dieser Reihenfolge)
den Friedensprozess im Nahen Osten, den Umbau der US-Streitkräfte, die
Eindämmung der Verbreitung von Nuklearwaffen (gemeinsam mit Russland), den Kampf gegen den „Globalen Terrorismus“, die Wiederherstellung partnerschaftlicher Beziehungen mit Bündnispartnern in Asien und
Europa sowie schließlich den Aufbau gerechter, sicherer und demokratischer Staaten in der Welt.
Bei einer derart breiten Themenpalette erscheint es in der Tat notwendig,
genauer hinzusehen, welche Themen Obama im Laufe des Wahlkampfs
mit welchem Gewicht versah. In der „Aufwärmphase“ des Vorwahlkampfs konnte Barack Obama noch relativ selbstbestimmt „seine“ Themen setzen – darunter oft seine Haltung zum Krieg im Irak, mit der er vor
allem junge und bisher politisch wenig aktive Wähler ansprechen konnte.
Der überraschende Erfolg Obamas in den ersten Vorwahlentscheidungen
führte jedoch rasch zu einer Kopf-an-Kopf-Auseinandersetzung mit der eigentlich gesetzten Spitzenkandidatin der Demokratischen Partei, Hillary
Clinton. Zwar hatte sie für die Kriegsresolution, die George W. Bush zur
Invasion im Irak ermächtigte, gestimmt – was Obamas Position im besten
Licht erscheinen ließ. Allerdings zählte Hillary Clinton auch zu den am
besten vorbereiteten Kandidaten mit intimer Kenntnis zahlloser Politikfelder, darunter auch der Außen- und Sicherheitspolitik.
In diesem ungleichen Zweikampf setzte Obama von Beginn an auf Emotion. Er deklinierte sein Leitmotiv „Hope“ und „Change“ durch alle Politikfelder, von der Gesundheitsvorsorge über die Macht der Lobbyisten in
Washington bis hin zur Außen- und Sicherheitspolitik. In Reden, Fernsehdebatten und Wahlwerbespots kristallisierte sich immer deutlicher der
Anspruch Obamas heraus, Führer eines „Neuen Amerika“ zu sein. Diese Botschaft bezog sich mindestens so sehr auf die Außenwahrnehmung
wie auf eine grundlegende Reform der Sozial-, Gesundheits-, Steuer- und
Wirtschaftspolitik der USA. Schon in einem der ersten Werbespots, der
im Rennen um Iowa – traditionell der erste Primary-Staat – gezeigt wurde, versprach Obama, das Ansehen und die Rolle der Vereinigten Staaten
102
Johannes Urban
in der Welt wiederherzustellen.6 Dieses Ziel stellte Obama auch ins Zentrum seiner Siegesrede, als er den Staat gewonnen und überraschend die
Drittplatzierte Hillary Clinton deklassiert hatte.7 Die großen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts – Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, der Klimawandel, Armut und Krankheit könnten nur
gemeinsam bewältigt werden. Obama versprach ein Präsident zu sein, der
den Krieg im Irak beenden und die Soldaten nach Hause bringen werde.
Dieser Botschaft blieb Obama im gesamten Vorwahlkampf treu; er modifizierte sie jedoch jeweils abgestimmt auf lokale Besonderheiten des zur
Entscheidung anstehenden Staates oder ging auf aktuelle Ereignisse ein.
Im konservativen Arizona sprach Obama ausführlich über seine Bereitschaft, militärisch gegen die Feinde der USA vorzugehen.8 Er würde nicht
zögern zuzuschlagen, wenn es notwendig sei, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Bürger zu verteidigen. Zur Sicherheit gehöre
aber auch, das US-Militär weise einzusetzen, nicht für einen unweisen
Krieg im Irak. Er werde dafür arbeiten, dass die Vereinigten Staaten das
stärkste Militär auf der Erde hätten. Dazu bräuchte es notwendige Mittel
wie geeignete Panzerungen, gutes Training und angemessene Einsatzzeiten. Obama äußerte sich auch zur – im grenznahen Arizona umstrittenen
– Einwanderungspolitik. Er legte ein klares Bekenntnis zur Einbürgerung
illegaler Einwanderer ab, von denen viele in den USA Wurzeln geschlagen
und ihre Kinder als Amerikaner aufgezogen hätten.
Nicht immer glückte Obama das zielgruppenspezifische Feinjustieren der
Botschaft. Im von Arbeitsplatzverlusten geplagten „Rust Belt“ der USA
verurteilte Obama die Konkurrenz durch Billiglöhne in den Staaten des
NAFTA-Agreements und Asiens. Er ging damit auf Konfrontationskurs
zu Hillary Clinton, die das Abkommen und die darauffolgende Intensivierung des grenzüberschreitenden Handels in den Staaten Nordamerikas als Erfolg der Wirtschaftspolitik der Clinton-Administration für sich
in Anspruch nahm. Obama setzte dagegen auf die Angst der Arbeiter in
der verarbeitenden Industrie in Staaten wie Ohio, Illinois und Michigan
– Stammland der Gewerkschaften und mit vielen Elektorenstimmen ausgestattet. Die Debatte kochte dabei so hoch, dass Obama sich offenbar
veranlasst sah, der Regierung Kanadas zu versichern, es stünde kein Politikwechsel zu befürchten. Ein Kanadischer Fernsehsender berichtete über
das Treffen des Obama-Beraters Austaan Golsbee mit Konsularbeamten in
Chicago. Wenig später tauchte ein Vermerk des zuvor seitens der Obama6
7
8
Obama for America: What if?, www.youtube.com/watch?v=TaU3fjVAFbE,
Stand: 25.2.2009.
Barack Obama auf seiner Siegesfeier in Des Miones, Iowa, http://www.youtube.com/watch?v=cNZaq-YKCnE, Stand: 25.2.2009.
Barack Obama bei einer Wahlkampfveranstaltung in Phoenix, Arizona, http://
www.youtube.com/watch?v=WGK838HRCxc, Stand: 25.2.2009.
Leader of a New America
103
Kampagne dementierten Gesprächs auf.9 Darin beruhigte der Berater, die
Anti-Handels-Rhetorik solle „im Kontext“ und eher als politische Position
denn als Ankündigung künftiger Entscheidungen gesehen werden.
Trotz solcher Pannen setzte sich Barack Obama am Ende gegen Hillary
Clinton durch. Er schlug die lange als natürliche Kandidatin der Demokraten geltende ehemalige First Lady aus dem Rennen, obwohl diese vor
allem auf wirtschaftspolitischem Gebiet als erfahren galt und auf Millionen Arbeitsplätze verwies, die in der Amtszeit ihres Mannes geschaffen
worden waren. Den Vorwurf, er sei zu jung und unerfahren, konterte Obama wieder und wieder mit dem Argument, er habe im Gegensatz zu fast
allen anderen Kandidaten das Fiasko im Irak vorhergesehen. Auch sein
staatsmännisch-entschlossenes Auftreten beeindruckte Journalisten, Multiplikatoren und Wähler. Durch alle Auftritte und Äußerungen des Kandidaten im Vorwahlkampf zog sich ein missionarischer Eifer, sein Land zu
verändern – im Inneren wie im Verhältnis nach außen. Als Obama am 3.
Juni 2008 uneinholbar vor Hillary Clinton lag und sich der Nominierung
sicher war, beschrieb er seine Vision eines „Neuen Amerika“ in eindringlichen, für europäische Ohren messianisch anmutenden Worten:
„America, this is our moment ... I am absolutely certain that, generations
from now, we will be able to look back and tell our children that this was
the moment when we began to provide care for the sick and good jobs to
the jobless ... this was the moment when the rise of the oceans began to
slow and our planet began to heal ... this was the moment when we ended a war, and secured our nation, and restored our image as the last, best
hope on Earth. This was the moment, this was the time when we came
together to remake this great nation ...“10
5. Barack Obama gegen John McCain
Mit der Nominierung Obamas durch die Democratic National Convention
in Denver am 27. August 2008 standen sich nunmehr zwei außergewöhnliche Kandidaten für das Amt des US-Präsidenten gegenüber: Auf Seiten der
Demokraten ein junger, farbiger US-Senator mit unüberhörbarem Sendungsbewusstsein; auf republikanischer Seite der ehemalige Kriegsheld und als
langjähriger Senator außen- und sicherheitspolitisch versierte John McCain.
Der Kontrast zwischen diesen Persönlichkeiten hätte kaum größer ausfallen
können. Ihre Positionen unterschieden sich ebenfalls deutlich, auch in der
9
10
Helman, Scot/Milligan, Susan: Obama faces heat over aide‘s NAFTA remarks to
Canadians, in: The Boston Globe, 4.3.2008.
Barack Obama auf seiner Siegesfeier in St. Paul, Minnesota, http://www.foxnews.com/politics/elections/2008/06/03/transcript-obama-democratic-nomination-victory-speech/, Stand: 10.2.2009.
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Johannes Urban
Außen- und Sicherheitspolitik sowie den unmittelbar mit ihr verknüpften
Feldern der internationalen Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik.11
Dabei gab zunächst McCain die Agenda vor, der bei seinen Auftritten –
zum Leidwesen seiner Berater – anfangs fast ausschließlich über die Außen- und Sicherheitspolitik sprach. Er trat vehement für eine muskulöse
Politik amerikanischer Stärke ein. Er wolle eine intensive Einbindung der
Bündnispartner Amerikas im Sinne des „Burden Sharings“, nicht aber um
jeden Preis. Ein Abzug aus dem Irak unter negativen Vorzeichen kam für
McCain nicht in Frage. Der Krieg sei ein entscheidender Schauplatz in der
Auseinandersetzung mit den „gewalttätigen islamistischen Extremisten“.
Als Ideengeber für den „Surge“ – die Aufstockung um 20.000 Soldaten im
Frühjahr 2007 –, sah McCain sich darin bestätigt, dass die USA mit einer
Kombination aus militärischer Stärke und besserer Zusammenarbeit mit
den Stämmen im Irak gewinnen könnten.
Auch Obama bezeichnete in der Auseinandersetzung mit McCain den
Kampf gegen islamistische Terroristen als wichtigste Herausforderung.
Für ihn war der Krieg im Irak jedoch eine Ablenkung vom Hauptschauplatz: Afghanistan und Pakistan. Obama forderte, jede Verlängerung des
Engagements im Irak mit einem Zeitplan für den Abzug zu verknüpfen.
Ziel müsse eine rasche „Irakisierung“ des Konflikts und eine Umschichtung von Ressourcen in die Grenzregion von Afghanistan und Pakistan
sein. Dabei erwarte er von den Verbündeten in Europa deutlich mehr Unterstützung. Ein fundamentaler Unterschied offenbarte sich in der Frage
des richtigen Umgangs mit dem Iran: Obama sprach sich für Gespräche
mit den Führern solcher Staaten aus, die von der Bush-Administration als
„Schurkenstaaten“ bezeichnet worden waren – und zwar ohne Vorbedingungen. McCain lehnte das entschieden ab.
Einig waren sich beide Kandidaten dagegen darin, dass sie Ansehen und
Handlungsfähigkeit der USA durch eine Wiederbelebung der zentralen
Bündnisse in Europa und Asien wiederherstellen wollten. Beide formulierten deutliche Erwartungen gegenüber Europa, wobei McCain sich öffentlich
zurückhaltender zeigte als Obama. Der kündigte an, mit einer Art „GoodwillTour“ um den Globus massiv um Unterstützung und bessere Beziehungen
zu werben. Sein fulminanter Auftritt vor der Siegessäule und die Gespräche
in Berlin, Paris und London wurden bestimmt nicht ohne Hintergedanken
als Auftakt dieser ersten außenpolitischen Initiative inszeniert.
11
Die Analyse fokussiert im Folgenden auf die offiziellen Wahlprogramme beider Kandidaten. McCain stellte sein Programm in Form persönlicher Stellungnahmen („John McCain believes …“) vor; Obama dagegen warb mit einem
umfassenden Regierungsprogramm („Blueprint for Change“), das als PDFDokument zum Download bereitgestellt ist, www.barackobama.com/pdf/ObamaBlueprintForChange.pdf, Stand: 14.2.2009.
Leader of a New America
105
Nur vordergründig einig zeigten sich die Kandidaten in der internationalen Energie- und Umweltpolitik. Beide betonten, die westlichen Staaten
bräuchten eine neue, gemeinsame Energiepolitik. McCain und Obama
setzten sich für die Unabhängigkeit der USA von Rohölimporten aus dem
Nahen Osten und Venezuela ein. Der Weg zum Ziel wurde indes höchst
unterschiedlich skizziert. McCain sprach sich dafür aus, bei sämtlichen
Energieträgern die heimische Produktion zu fördern. Er unterstützte die
Entwicklung alternativer Energien und Treibstoffe, setzte aber vor allem
auf die Aufhebung von Beschränkungen der Ölförderung in Naturschutzgebieten sowie den Bau von 45 neuen Atomkraftwerken bis 2030. Obama
und die Demokraten im US-Kongress wollten hingegen 150 Milliarden
Dollar in private Projekte zur Förderung erneuerbarer Energien investieren und so fünf Millionen Arbeitsplätze schaffen. 2010 sollten zehn
Prozent des Energiebedarfs der USA durch „Renewables“ gedeckt werden,
2025 bereits 25 Prozent – so der Plan Obamas.
Sein Konzept sah außerdem steuerliche Anreize für den Kauf von Elektroautos sowie eine Energie-Effizienz-Initiative vor, die durch Wärmedämmung von Gebäuden und die Einführung des Emmissionshandels zugleich
helfen sollte, ehrgeizige Klimaschutzziele zu erreichen. 80 Prozent Reduktion bis 2050 – so die Vorgabe der Obama-Kampagne, die allerdings kein
Referenzjahr angab. McCain dagegen wollte eine Reduktion um 66 Prozent
bis 2050, unterlegt mit Zwischenzielen, die sich auf verschiedene Referenzjahre bezogen. Einigkeit bestand beim internationalen Emissionshandel.
Beide Kandidaten sahen darin ein taugliches Mittel, um – erleichtert durch
Kredite und Steuervergünstigungen –, Investitionen zu stimulieren.
Mit die größten Unterschiede – neben der Frage des Krisenmanagements
im Irak und Iran – zeigten sich in der internationalen Wirtschafts- und
Finanzpolitik. McCain hatte hierzu anfangs gar keine Position. Er schien
sich der Dimension der heraufziehenden Krise nicht bewusst. So erklärte
er noch Mitte September 2008, die Grundlagen der US-Wirtschaft seien
stark und gesund. Als kurz darauf das internationale Finanzsystem zu kollabieren drohte, erklärte er seine Aussagen damit, sie seien auf die Produktivität und Kreativität der amerikanischen Arbeiter bezogen gewesen.
Und als die Verabschiedung des 700-Milliarden Dollar Rettungspakets
an republikanischen Repräsentanten zu scheitern drohte, gelang es McCain nicht, eine Einigung zu vermitteln. Anschließend prangerte McCain
umso drastischer die „Gier und Korruption der Banker“ an, forderte eine
weitere Leitzinssenkung, Steuererleichterungen für Benzin- und Nahrungsmittelkäufe, eine Reduzierung des Haushaltsdefizits durch Kürzungen bei Sozial- und Gesundheitsprogrammen, Maßnahmen zur Stützung
des Dollar-Kurses sowie direkte und indirekte Hilfen für Kleinunternehmen. Zugleich bekannte sich McCain unmissverständlich zum Freihandel
und zur Globalisierung. Sein nach einigen abfälligen Äußerungen über
106
Johannes Urban
pleitegegangene Häuslebauer vorgestellter „American Homeownership
Resurgence Plan“ sah Finanzhilfen für Hausbesitzer vor, die 200.000 bis
400.000 Familien vor dem Verlust ihres Hauses bewahren sollten. Durch
Stabilisierung der Immobilienpreise und Garantien für Hausbesitzer müsse die Krise an der Wurzel gepackt werden, so McCain.
Auch Obama stieß ins Horn der Manager-Kritik, schloss dabei aber die
politischen Verantwortlichen ausdrücklich mit ein: „Gier und Verantwortungslosigkeit in Washington und der Wall Street“ seien für die Krise verantwortlich. Zu den Schuldigen zählten gleichermaßen Lobbyisten
und die Bush-Administration wegen eines Übermaßes an Deregulierung.
Wie McCain forderte er Hilfen nicht nur für Banken, sondern auch in
Not geratene Hausbesitzer. Der größte Unterschied zeigte sich bei den Ansichten, welche Konsequenzen für die gesetzlichen Rahmenbedingungen
des Finanzmarkts gezogen werden sollten. McCain hielt primär individuelles Fehlverhalten für die Ursache der Immobilienblase. Obama sah
systemische Fehlanreize am Werk. Um die Ursachen der Finanzkrise zu
bekämpfen, kündigte Obama deshalb eine strengere Regulierung von Finanzdienstleistungen an. Die Vorschläge zielten unter anderem auf die
Kreditkartenindustrie. Und auch in der Handelspolitik deutete Obama
– nun aber vorsichtiger als während des Vorwahlkampfs – eine härtere
Gangart zum Schutz heimischer Arbeitnehmer vor Billigkonkurrenz an.
Nicht nur in der Sache, auch im politischen Stil offenbarten beide Kandidaten erhebliche Unterschiede. Obama präsentierte sich entschlossen,
aber konsensorientiert, als offen für unterschiedliche Argumente und Perspektiven. McCain pflegte den Ruf des „Maverick“, des nicht zu bändigenden und nicht zu unterschätzenden Machers. Selbst in der Abgrenzung
zum unbeliebten Amtsinhaber George W. Bush entwickelte er dadurch
Ähnlichkeiten zu dessen Führungsstil. Wieder und wieder wiederholte
McCain den Slogan, er sehe in Vladimir Putins’ Augen nicht die gute Seele eines verlässlichen Partners, sondern nur drei Buchstaben: K.G.B. Im
Ossetien-Krieg bezog McCain umgehend Position zugunsten Georgiens
und drohte Russland mit Konsequenzen. Obama äußerte sich nuancierter,
forderte ein rasches Ende der Kampfhandlungen und eine rasche Wiederherstellung der georgischen Souveränität.
Besonders deutlich wurden diese Unterschiede in den drei TV-Duellen.
Doch so sehr John McCain auch die Bereitschaft Obamas, das Land in
so schweren Zeiten zu führen, in Frage stellte: Am Ende gewann Barack
Obama den Wettkampf um die Präsidentschaft. Noch in der Siegesnacht
kündigte er an, seine Pläne für eine umfassende Reform der Vereinigten
Staaten zu verwirklichen und bat alle Amerikaner, dabei mitzuhelfen. In
seiner Inaugurationsrede am 20. Januar 2009 wandte sich Obama mit seinem Anliegen an die ganze Welt:
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„And so, to all other peoples and governments who are watching today,
from the grandest capitals to the small village where my father was born:
know that America is a friend of each nation and every man, woman and
child who seeks a future of peace and dignity, and we are ready to lead
once more.“12
6. Schlussfolgerungen für die Außenpolitik der Vereinigten
Staaten
Welche Schlüsse können nun aus Obamas Rhetorik und der Genese seiner außen- und sicherheitspolitischen Überzeugungen gezogen werden?
Umfang und Frequenz seiner Äußerungen zur Notwendigkeit einer Erneuerung der Vereinigten Staaten und ihrer Rolle in der Welt lassen nur
eine Einordnung in die Schublade des idealistischen Internationalisten
zu. Trotz aller Abgrenzung von Hillary Clinton in der Irak-Politik spricht
vieles für eine Rückbesinnung auf die Außenpolitik der Clinton-Administration. Dies gilt insbesondere für das Bemühen um funktionierende
Bündnissysteme in Asien und Europa. Hier ist – trotz Beharrungskräfte
im State Department und dem US-Kongress – eine deutlich kooperativere
Gangart als in den Bush-Jahren zu erwarten. Obamas persönliche Überzeugungen und die von ihm vorgefundenen Rahmenbedingungen legen
jedoch auch inhaltliche Neuerungen nahe:
Während Bill Clinton und seine Administration konsequent auf eine
Ausweitung des internationalen Handels und eine Beschleunigung der
Globalisierung setzten, nahm Obama in seiner Kampagne eine deutlich
kritischere Position zum Freihandel ein. Die Clinton-Administration
trieb die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte voran; Obama
dürfte – wenn er sich gegen die „Clintonistas“ in seinem Team durchzusetzen vermag – das Gegenteil versuchen, wenn auch in einer Weise,
die der Vormachtstellung angloamerikanischer Finanzinstitute keinen
Abbruch tut.
Clinton ließ dem Militär – trotz einiger Budget-Kürzungen – nach diversen Kontroversen relativ freie Hand; von Obama (der wie Clinton einen
Republikaner als Verteidigungsminister nominierte) ist ein deutliches
Umsteuern in der Sicherheits- und Rüstungspolitik zu erwarteten. Obama wird vehement auf eine Modernisierung nicht nur des strategischen
Denkens, sondern auch von Strukturen und Beschaffungsverfahren dringen. Bill Clinton ging, auch wegen Vorwürfen, er würde damit von seinen
Affären ablenken wollen, letztlich nicht konsequent mit Militärschlägen
12
Vgl. Transcript of Barack Obama’s Inaugural Address, in: New York Times
Online, 20.1.2009, http://www.nytimes.com/2009/01/20/us/politics/20textobama.html?_r=1&pagewanted=print, Stand: 25.2.2009.
108
Johannes Urban
gegen islamistische Terroristen in Afghanistan vor. Obama dagegen kündigte an, die militärischen und zivilen Bemühungen in Afghanistan zu
verstärken, um Al-Qaida in die Knie zu zwingen.
Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der internationalen Umweltpolitik. Bill Clinton verweigerte letztlich die Unterschrift unter das KyotoProtokoll. Obama scheint tatsächlich von der Notwendigkeit überzeugt,
mehr gegen die Erderwärmung zu tun. Es war eine der Überraschungen
des Präsidentschaftswahlkampfs 2008, dass Republikaner wie Demokraten für ökologische Reformen und Technologien warben. Auch wenn die
aktuelle Wirtschaftskrise allzu große Zugeständnisse verhindern dürfte: es
tut sich was.
7. Reality check – die ersten Entscheidungen im Amt
Halten diese Schlussfolgerungen dem Vergleich mit der Realität erster
Entscheidungen stand? Die Berufung vieler „Clintonistas“ auf Top-Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik spricht deutlich für die erwartete internationalistische Grundströmung. Dass dabei einige der eher
idealistischen Berater Obamas aus der Wissenschaft auf der Strecke blieben, legt jedoch eine deutlich gemäßigtere idealistische Ausrichtung des
Regierungshandelns nahe, als sie der Kandidat Obama angekündigt hat.13
Ein gemischtes Bild offenbaren auch die ersten inhaltlichen Entscheidungen. Schon am ersten Tag seiner Amtszeit kündigte Obama die Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo an. Damit setzte Obama ein
Wahlversprechen um. Mit der gewählten Frist von einem Jahr trug er
zugleich Sicherheitsbedenken der Geheimdienste sowie rechtlichen, diplomatischen und praktischen Schwierigkeiten Rechnung. Pragmatisch
zeigte sich Obama auch in der Irak-Frage. Sein Versprechen eines raschen
Abzugs der Truppen hielt er prinzipiell ein, indem er nur einen Monat
nach Amtsantritt einen Abzugsplan vorlegte – und das auf der Militärbasis, auf der George W. Bush verkündet hatte, nur nach einem absoluten
Sieg abziehen zu wollen. Der Abzug soll Obamas Plan nach aber in Stufen
und wesentlich langsamer erfolgen als ursprünglich angekündigt, nämlich bis 2011.14 Das entspricht im Wesentlichen den Vorstellungen der
alten Administration, die Obama freilich während seines Wahlkampfs vor
sich hergetrieben hatte, bis sie sich zu dieser Absichtserklärung durchgerungen hatte. Pragmatisch zeigte sich Obama schließlich auch in der Han13
14
Viele ehemalige Berater zeigen sich schon jetzt enttäuscht, vgl. Foreign Policy Magazine: „The Obama Orphans“, http://thecable.foreignpolicy.com/
posts/2009/01/12/the_obama_orphans, Stand: 1.3.2009.
Vgl. Baker, Peter: With Pledges to Troops and Iraqis, Obama Details Pullout, in:
New York Times, 28.2.2009.
Leader of a New America
109
delspolitik. Auf Druck der G8-Partner votierte Obama gegen eine „Buy
American“-Klausel im Konjunkturpaket des US-Repräsentantenhauses.
Was die Regulierung der Finanzmärkte angeht, kündigte Obama getreu
seiner im Wahlkampf geäußerten Überzeugungen deutliche Verschärfungen an, die jedoch später von Beamten der Administration zumindest
teilweise wieder in Frage gestellt wurden. Diese Ambivalenz setzte sich
im Auftreten der US-Delegation auf dem G20-Gipfel in London Anfang
April fort.
Auch die Außen- und Sicherheitspolitik der Obama-Administration
scheint um einen Ausgleich von nationalen und partikularen Interessen,
internationalen Erwartungen mit persönlichen Überzeugungen bemüht.
Wer erwartet hat, Obama werde relativ schnell zur Tagesordnung übergehen und Wahlaussagen Schnee von gestern sein lassen, hat sich getäuscht.
Obama ist offenbar durchaus von persönlichen Überzeugungen geprägt
und – das legen seine ersten Entscheidungen nahe – versucht diese auch
im Rahmen des Möglichen in die Praxis umzusetzen. Obama versteht sich
tatsächlich als Führer eines neuen Amerika und will seine Chance nutzen.
Mit seiner Grußbotschaft an das Iranische Volk und dem zu Hause stark
kritisierten „Hand Shake“ mit dem venezolanischen Potentanten Chavez
hat Obama deutliche Zeichen gesetzt. Welchen Nutzen solche Signale für
die außen- und sicherheitspolitischen Positionen der USA bringen, ist bis
dato jedoch noch nicht abzusehen.
Unabhängig von Erfolg oder Misserfolg von Obamas neuer Außenpolitik
bestätigt sich: Selbst im Kontext komplexester Rahmenbedingungen und
schrumpfender Handlungsspielräume hängt der Kurs, den Staaten und
Gesellschaften einschlagen, maßgeblich von den sie anführenden Persönlichkeiten ab. Außenpolitik ist nicht determiniert, auch nicht in einer
globalisierten Welt. Oder wie es Daniel Byman und Kenneth Pollack im
Frühling des Jahres 2001 in einem bemerkenswerten Aufsatz formulierten:
„Giants still walk the earth“15. Welche Statur Barack Obama am Ende dieser Präsidentschaft einnehmen wird, bleibt freilich abzuwarten.
15
Byman, Daniel L./Pollack, Kenneth: Let Us Now Praise Great Men. Bringing the Statesman Back In, in: International Security 1/2001, S.107-146,
hier S.145.
Hegemonialstrategie:
Zur Kontinuität amerikanischer
Außenpolitik seit Ende des
Kalten Krieges
Patrick Keller
1. Einleitung
Nicht nur in Amerika, sondern weltweit verbinden sich mit der Präsidentschaft Obamas große Hoffnungen auf einen Politikwechsel.1 Die Schlüsselbegriffe des Wahlkampfs, Hope und Change, mögen als unbestimmte Phrasen belächelt worden sein, aber sie haben einen Nerv getroffen,
indem sie eine grundsätzliche Abkehr von der Politik des zuletzt wenig
geachteten Präsidenten George W. Bush suggerierten. Gerade in Fragen
der Außenpolitik ist die Erwartungshaltung der Anhänger Obamas recht
eindeutig definiert: Er soll Amerika aus der Rolle des einsamen, gewalttätigen Riesen befreien, sein Ansehen in der Welt wiederherstellen. Dazu soll
er die Kriege im Irak und in Afghanistan beenden, das Gefangenenlager
auf Guantánamo schließen und amerikanisches Entgegenkommen bei
der Suche nach einer internationalen Lösung zur Bekämpfung des globalen Klimawandels beweisen. Im Kern geht es darum, von einer Politik
des Unilateralismus zu einer Politik des Multilateralismus zurückzukehren – Amerika soll sich wieder stärker auf seine soft power besinnen, der
Diplomatie und der internationalen Zusammenarbeit den Vorzug vor der
militärischen hard power geben.2
Wie alle außenpolitischen Erwartungen und Empfehlungen basieren auch
diese auf einer bestimmten Wahrnehmung der internationalen Lage. Jeder Staatsmann braucht ein Bild von der Welt, um in der Welt handeln
zu können. Der gegenwärtige Konsens, zumindest im liberalen Lager
Obamas, zeichnet ein Bild von einer sich verändernden Welt, die durch
den Machtverlust der USA und den Machtgewinn Chinas und anderer
Akteure (z.B. Brasilien, Russland und Indien, manchmal wird auch Europa genannt) charakterisiert wird. Auf eine in den politischen Feuilletons
1
2
Keller, Patrick: Hegemonie ist eine Strategie, in: Außenpolitik und Staatsräson.
Festschrift für Christian Hacke zum 65.Geburtstag, hrsg. von Volker Kronenberg, Jana Puglierin und Patrick Keller, Baden-Baden 2008, S.204-211.
Zur Begrifflichkeit siehe Nye, Joseph S. Jr.: Soft Power. The Means of Success in
World Politics, New York 2004.
Hegemonialstrategie: Zur Kontinuität amerikanischer Außenpolitik
111
derzeit sehr beliebte Formel gebracht: Die unipolare Weltordnung, so es
sie denn je gegeben hat, weicht einem multipolaren System. Geschwächt
durch die Fehler der Bush-Regierung und die Auswirkungen der globalen
Finanz- und Wirtschaftskrise verlieren die Vereinigten Staaten die Option
hegemonialer Politik. Die Rückkehr eines Konzerts der Mächte – der historischen default position – bedeutet das Ende der amerikanischen Sonderrolle. Die USA schrumpfen wieder zu einem „normal country in a normal
time“3, wie Jeane Kirkpatrick kurz nach Ende des Kalten Krieges schrieb.
Es gibt jedoch guten Grund, daran zu zweifeln, dass der relative Verlust
amerikanischer Macht so rasant stattfinden wird, wie es Propheten des
Abstiegs wie Fareed Zakaria und Parag Khanna weissagen.4 Denn schon
Paul Kennedy und David Calleo unterschätzten nicht nur die Erneuerungskraft Amerikas, seine strukturellen Vorteile auf allen machtpolitisch
relevanten Gebieten, sondern auch die Instabilität der potenziellen Herausforderer.5 Und selbst wenn man von einem – sehr langfristigen und
relativen – Machtverlust der USA ausgeht, sagt dies noch nichts darüber
aus, wie diese Entwicklung am besten zu verzögern bzw. politisch zu gestalten ist. Eben weil all diese Zukunftsfragen mit solch großer Ungewissheit behaftet sind, kommt der Interpretation der jüngeren Vergangenheit
amerikanischer Außenpolitik so große Bedeutung zu. Wer die Deutungshoheit über die amerikanische Rolle in der Welt seit 1989/90 erlangt, wird
Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Außenpolitik maßgeblich
gestalten können.
Typisch für diese mit politischen Absichten verfassten Analysen ist ein
„Drei-Varianten-Modell“: Die außenpolitischen Konzeptionen der drei
Präsidenten Bush Senior, Clinton und Bush Junior werden als grundlegend verschieden einander gegenübergestellt. Bush Sr. verkörpert dabei
die Denkschule des Realismus, Clinton den liberalen Internationalismus
und Bush Jr. den Neokonservatismus. Die Bewertung erfolgt dann gemäß
3
4
5
Kirkpatrick, Jeane: A Normal Country in a Normal Time, in: National Interest
21/1990, S.40-44.
Vgl. Zakaria, Fareed: The Post-American World, New York 2008; Khanna, Parag: The Second World. Empires and Influence in the New Global Order, New
York 2008.
Vgl. Kennedy, Paul: The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change
and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987; Calleo, David P.:
Beyond American Hegemony. The Future of the Western Alliance, New York
1987; für eine kluge Widerlegung der Thesen vom US-Niedergang vgl. Lieber,
Robert J.: The American Era. Power and Strategy for the 21st Century, New
York 2005; Kreft, Heinrich: Die USA im Abstieg?, in: Die Politische Meinung
470/2009, S.23-27.
112
Patrick Keller
der persönlichen Zugehörigkeit zu diesen Schulen – Zbigniew Brzezinski
sieht einen dramatischen Verfall außenpolitischer Kompetenz, für Charles
Krauthammer verhält es sich genau umgekehrt.6
Im Einzelnen ist eine solche Unterscheidung der Präsidenten berechtigt
und nützlich, aber sie verstellt den Blick auf die überzeitlichen Kontinuitätslinien amerikanischer Politik, die auch nach dem Kalten Krieg bestehen blieben und die letztlich von größerer Erklärungskraft für vergangene
Leistungen und Fehler sowie für die zukünftige Gestaltung amerikanischer
Außenpolitik sind. Die wichtigste Kontinuitätslinie besteht darin, dass
alle drei Präsidenten zuvörderst bestrebt waren, die globale Übermacht
der USA zu festigen und auszubauen. Um die Tragweite dieser Tatsache
zu erfassen, gilt es zunächst, das Konzept der unipolaren Weltordnung
zu diskutieren, das der amerikanischen Außenpolitik seit Ende des Kalten
Krieges zugrunde liegt. In einem zweiten Schritt lässt sich dann an Hand
ihrer jeweiligen außenpolitischen Leitideen zeigen, dass die Regierungen
Bush, Clinton und Bush sich in den Zielen, aber auch in den Mitteln ihrer
Außenpolitik viel ähnlicher waren, als gemeinhin zugestanden wird. Auf
der Basis dieser Analyse lässt sich dann in einem dritten Schritt überlegen,
inwieweit sich die Regierung Obama von dieser Kontinuitätslinie fortbewegen will und kann.
2. Eine unipolare Welt?
Als der Publizist Charles Krauthammer 1990 den „Unipolar Moment“7
ausrief, verkündete er zunächst nur das Offensichtliche: Nach der Implosion der Sowjetunion waren die USA die einzige Supermacht; aus dem
bipolaren System des Kalten Krieges wurde ein unipolares. In den internationalen Beziehungen gibt es jedoch selten Fälle von simpler Mathematik,
so dass seitdem ein Forschungs- und Meinungsstreit über die vermeintliche Unipolarität besteht. So befand Samuel Huntington, dass es sich
nun um eine „uni-multipolar world“8 handele, in der die USA zwar die
einzige Supermacht waren, aber in verschiedenen geographischen Regionen sowie bestimmten internationalen Problemkreisen auf die freiwillige
Kooperation anderer großer Mächte angewiesen blieben.
6
7
8
Vgl. Brzezinski, Zbigniew: Second Chance. Three Presidents and the Crisis of
American Superpower, New York 2007; Krauthammer, Charles: The Neoconservative Convergence, in: Commentary 1/2005, S.16-19.
Krauthammer, Charles: The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs 1/1990-91,
S.23-33.
Vgl. Huntington, Samuel P.: The Lonely Superpower, in: Foreign Affairs
2/1999, S.35-49, bes. S.36; Huntington entwickelt diesen Gedanken zuerst in
Ders.: America’s Changing Strategic Interests, in: Survival 1/1991, S.3-17.
Hegemonialstrategie: Zur Kontinuität amerikanischer Außenpolitik
113
Viele Forscher haben dieses Modell übernommen und verfeinert.9 Das
bekannteste Beispiel ist Joseph Nyes dreidimensionales Schachbrett,10,
wonach auf der ersten Ebene, welche die Verteilung militärischer Macht
widerspiegelt, das System unipolaren Charakter hat, so groß ist die Überlegenheit der USA. Auf der zweiten Ebene, welche die Verteilung ökonomischer Macht beschreibt, sind die USA zwar ebenfalls der stärkste Akteur,
allerdings gibt es einige ernstzunehmende Konkurrenten (China, Europa,
Japan), die eine multipolare Ordnung erzeugen. Die dritte Ebene umfasst
die nichtstaatlichen Akteure und den Bereich der soft power: „On this
board, power is widely dispersed and it makes no sense to speak of unipolarity, multipolarity, or hegemony.“11
Viele Beobachter schließen sich diesen Einschränkungen an oder gehen
sogar noch darüber hinaus, weil ihre impliziten Kriterien für Unipolarität
in letzter Konsequenz eine annähernd allmächtige Stellung der unipolaren Macht fordern – eine Voraussetzung, die auch die USA nicht erfüllen
können.12 Versteht man Polarität aber als strukturbestimmendes Merkmal
des internationalen Systems im Sinne des Begründers der neorealistischen
Theorie, Kenneth Waltz, ist die Voraussetzung für einen „Pol“ anders zu
definieren. Polare (Super-)Mächte sind solche, die im Vergleich zu den
konkurrierenden Staaten im System in einer Vielzahl von Kriterien – wie
Bevölkerungsstärke, Zugang zu Ressourcen, ökonomische, technologische
und militärische Stärke, politische Stabilität – einen signifikanten Vorteil
haben.13 So gesehen sind die USA tatsächlich in einer eigenen Liga: „Only
the United States currently excels in military power and preparedness,
economic and technological capacity, size of population and territory, resource endowment, political stability, and ‘soft power’ attributes such as
ideology. All other would-be great powers are limited or lopsided in one
critical way or another.“14
9
10
11
12
13
14
Vgl. z.B. Betts, Richard K.: Wealth, Power, and Instability. East Asia and the
United States after the Cold War, in: International Security 3/1993, S.34-77;
Joffe, Josef: Bismarck or Britain? Toward an American Grand Strategy after
Bipolarity, in: International Security 4/1995, S.94-117.
Vgl. Nye, Joseph S. Jr.: The Paradox of American Power. Why the World’s Only
Superpower Can’t Go It Alone, Oxford 2002, S.39f.
Ebd., S.39.
Vgl. Brooks, Stephen G./Wohlforth, William C.: American Primacy in Perspective, in: Foreign Affairs 4/2002, S.20-33.
Vgl. Waltz, Kenneth N.: The Emerging Structure of International Politics, in:
International Security 2/1993, S.44-79, S.50; allerdings kann auch diese Definition eine gewisse Unschärfe nicht vermeiden, das Problem der Messbarkeit
von Macht – und somit ihrer Vergleichbarkeit – bleibt bestehen.
Mastanduno, Michael: Preserving the Unipolar Moment. Realist Theories and
U.S. Grand Strategy After the Cold War, in: Unipolar Politics. Realism and
State Strategies After the Cold War, hrsg. von Ethan B. Kapstein und Michael
Mastanduno, New York 1999, S.138-181, bes. S.141.
114
Patrick Keller
Freilich ist es tückisch, den Neorealismus zur Begründung der Unipolarität heranzuziehen, widerspricht diese Struktur des internationalen
Systems doch den Grundannahmen der balance of power – dementsprechend diskutiert Waltz in seiner Theoriebildung auch nur Bi- und Multipolarität.15 Die Annahme der meisten Neorealisten, dass die Unipolarität
nur von kurzer Dauer sein kann, verstärkt den Dissens unter den politisch Verantwortlichen, wie diese Zeitspanne verlängert werden könne.
Denn Unipolarität bedeutet – wenn vielleicht auch nicht Hegemonie16 –
so doch zumindest strukturelle macht- und sicherheitspolitische Vorteile
für die USA, die es zu wahren gilt. Ob dies nun besser durch Einbindung
in multilaterale Zusammenhänge oder durch eine selbstbewusst-unilaterale Interpretation von Führungsstärke gelingt und ob es eine Rolle spielt,
wie wohlwollend und gemeinnützig diese Führungsrolle wahrgenommen
wird, sind keine Fragen der strategischen Zielsetzung, sondern der politischen Taktik. Sie kommt besonders plakativ in den außenpolitischen
Doktrinen der Präsidenten zum Ausdruck.
3. Die Bush-Senior-Doktrin
George H.W. Bush war denkbar ungeeignet, um eine „Neue Weltordnung“
konzeptionell zu entwickeln und kraftvoll zu begründen. UN-Botschafter
unter Nixon, oberster Verbindungsmann nach China und CIA-Direktor
unter Ford sowie acht Jahre Dienst als Vizepräsident unter Reagan: Bush
absolvierte die idealtypische Kalter-Krieg-Karriere. Seine diplomatische
Umsicht beförderte die Abwicklung des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung ebenso, wie sie es den USA ermöglichte, an der Spitze einer breiten internationalen Koalition Saddam Hussein in die Schranken
zu verweisen. Aber Bushs aus diesen Ereignissen abgeleiteter Entwurf einer
„Neuen Weltordnung“ war eben kein „vision thing“17, sondern blieb inhaltsleer.
„Out of these troubled times“, sagte Bush mit Blick auf den sich abzeichnenden Irakkrieg, „a new world order can emerge: a new era – freer from
the threat of terror, stronger in the pursuit of justice, and more secure
in the quest for peace. ... Today that new world is struggling to be born,
a world quite different from the one we’ve known. A world where the
15
16
17
Zu einer hervorragenden deutschsprachigen Einführung in den Neorealismus
siehe Masala, Carlo: Kenneth N. Waltz. Einführung in seine Theorie und Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, Baden-Baden 2005.
Zur Frage der Hegemonie (und – im Unterschied etwa zur primacy – der Bedingung der Akzeptanz) siehe Triepel, Heinrich: Die Hegemonie. Ein Buch von
führenden Staaten, Stuttgart 1938.
George H. W. Bush zitiert in: Safire, William: Bush the Underdog, in: New York
Times, 19.5.1988.
Hegemonialstrategie: Zur Kontinuität amerikanischer Außenpolitik
115
rule of law supplants the rule of the jungle.“18 Und warum bricht nun
die friedvolle Zeit der Herrschaft des Völkerrechts an? Weil die zerfallende Sowjetunion in der Irak-Frage im Rahmen der UN mit den USA
kooperierte: „Clearly, no longer can a dictator count on East-West confrontation to stymie concerted United Nations action against aggression. A new partnership of nations has begun.“19 Es war das erste Mal,
dass USA und Sowjetunion gemeinsam für eine den Kampfeinsatz legitimierende UN-Resolution stimmten. Dass aus diesem speziellen Fall
jedoch keine neue Weltordnung abgeleitet werden konnte, sollte die
Zukunft zeigen.
Trotzdem wäre es verfehlt, Bushs wenig konkreten Entwurf als legalistischmoralische Träumerei abzutun. Denn Bush strebt keineswegs eine Neuordnung der Welt an, sondern zementiert in seiner Doktrin den Status quo:
Die USA sind die einzige Weltordnungsmacht, ihrem Willen muss sich
auch die Sowjetunion unterordnen – wenn auch gesichtswahrend, im Forum der Vereinten Nationen, die aber wiederum von den USA dominiert
werden. Entscheidend ist, dass sich Bush multilateraler Politik bedient,
dabei aber stets auf die Führungsrolle der USA pocht und eben nicht nach
einer Weiterentwicklung der internationalen „rule of law“ verlangt, an
deren Ende eine Unterwerfung der USA unter Mehrheitsentscheidungen
der UN stehen würde.
Bushs „Neue Weltordnung“ ist als rhetorische Camouflage amerikanischen Machtanspruchs zu verstehen, wie insbesondere die fast zeitgleich
im Pentagon erarbeitete Defense Planning Guidance (DPG) zeigt.20 In
diesem geheimen Strategiepapier entwickelte der Stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz Leitgedanken für die amerikanische Außenpolitik nach dem Kalten Krieg. Zentrale Bedeutung hatte das Ziel, den
Zustand der Unipolarität zu erhalten; das Entstehen einer rivalisierenden
Supermacht, ob in Europa, Asien oder anderswo, müsse verhindert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die USA gegebenenfalls auch
unilateral vorgehen oder sich auf ad-hoc-Koalitionen stützen. In den euphorischen Jahren unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges waren
diese Überlegungen aber zu unpopulär, um öffentlich verteidigt zu werden – selbst Verteidigungsminister Cheney distanzierte sich von der DPG,
obwohl er sie eigentlich unterstützte. Im Rückblick zeigt sich jedoch, dass
18
19
20
Bush, George H. W.: Address Before a Joint Session of Congress on the Persian Gulf Crisis and the Federal Budget Deficit, 11. September (!) 1990, http://
bushlibrary.tamu.edu/research/papers/1990/90091101.html
Ebd.
Vgl. Tyler, Patrick E.: U.S. Strategy Plan Calls for Insuring No Rivals Develop,
in: New York Times, 8.3.1992; Ders.: Pentagon Drops Goal of Blocking New
Superpowers, in: New York Times, 24.5.1992; zu einer gelungenen deutschsprachigen Analyse der DPG siehe Menzel, Ulrich: Paradoxien der neuen Weltordnung. Politische Essays, Frankfurt a.M. 2004, S.132-138.
116
Patrick Keller
schon Anfang der 1990er-Jahre strategische Überlegungen das sicherheitspolitische Establishment prägten, die auf eine konfrontative Wahrung
amerikanischer Hegemonie hinausliefen.
4. Die Clinton-Doktrin
Auch Bill Clintons Präsidentschaft – die heutzutage gerade auf europäischer Seite gerne für ihren liberalen Internationalismus gerühmt wird
– war von diesem Ziel geprägt, wie seine Nationale Sicherheitsstrategie
zeigt. Sie entstand 1993 im Bemühen, dem sprunghaften, ereignisgetriebenen Charakter der Außenpolitik Clintons eine konzeptionelle Richtung
zu geben, und fand ihren ersten und schlüssigsten Ausdruck in einer Rede
des Nationalen Sicherheitsberaters Anthony Lake unter dem Titel „From
Containment to Enlargement“21. Darin kommt Lake nach einer Analyse der weltpolitischen Situation nach Ende des Kalten Krieges zu dem
Ergebnis, dass der logische Nachfolger einer Strategie der Eindämmung
eine Strategie der Erweiterung sein müsse. Während im Kalten Krieg der
Kommunismus eingedämmt wurde, gelte es nun, die marktwirtschaftliche Demokratie – die Zahl und den Einfluss der „free-market democracies“ (FMD)22 – auszuweiten. Das soll in vier eng miteinander verzahnten
Schritten geschehen.
Erstens soll die Gemeinschaft der bestehenden FMD gestärkt werden.
Zweitens sollen die neu entstehenden FMD, beispielsweise in Mittel- und
Osteuropa, in diese Gemeinschaft integriert werden – das ist das eigentliche Enlargement. Drittens sollen „backlash states“23 wie z.B. der Irak, die
(noch) keine FMD sind und den Prozess der Ausbreitung von Marktwirtschaft und Demokratie zu untergraben versuchen, eingehegt und zugleich
mit Anreizen zum systemischen Wandel umworben werden. Viertens
nennt Lake eine „humanitarian agenda“24, wonach die USA moralisch
verpflichtet seien, Hilfe bei humanitären Katastrophen zu leisten. Dies
sei aber auch als langfristige Investition zu verstehen, um beispielsweise
Entwicklungsländer auf dem Pfad zur marktwirtschaftlichen Demokratie
voranzubringen.
21
22
23
24
Lake, Anthony: From Containment to Enlargement, in: U.S. Department of
State Dispatch, 27.9.1993, S.658-664; Ders.: The White House, A National Security Strategy of Engagement and Enlargement, Washington D.C. 1994; vgl.
ferner Keller, Patrick: Von der Eindämmung zur Erweiterung. Bill Clinton und
die Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik, Bonn 2008.
Die „free-market democracies“ sind bei Lake ein feststehender Terminus; nie
stehen Marktwirtschaft oder Demokratie für sich, sie sind stets untrennbar
verbunden.
Lake: From Containment to Enlargement, S.661.
Ebd., S.660.
Hegemonialstrategie: Zur Kontinuität amerikanischer Außenpolitik
117
Diese Überlegungen sind nicht so beliebig, wie Clinton oft vorgeworfen
wurde,25 sondern geben durchaus klare Orientierung in konkreten Streitfragen, wie etwa Clintons Politik der NATO-Erweiterung oder seine Durchsetzung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA zeigen.
Insgesamt offenbaren sie jedoch – im Einklang mit Clintons innenpolitischem Programm – eine stark wirtschaftliche Orientierung. So spottete
selbst Clintons Außenminister, Warren Christopher, Enlargement sei „a
trade policy masquerading as foreign policy“26. In der Tat gehen institutionelle Vernetzung und die Durchsetzung amerikanischer Interessen Hand
in Hand. Besonders deutlich macht diese ökonomische Komponente die
eng mit Enlargement verflochtene Strategie der Einflussnahme auf die
großen entstehenden Märkte, die von Jeffrey Garten, dem Leiter des unter Clinton gegründeten National Economic Council, erdacht und implementiert wurde.27
Allein schon die Arbeit dieses „economic war room“28 zeigt, dass Clintons Außenpolitik wesentlich aggressiver war, als die idyllische Vision
einer Welt der friedvollen „free-market democracies“ glauben macht.
Vielmehr verfeinert Clinton Bushs Hegemonialanspruch, indem er ihn
auf die liberalen Institutionen fokussiert und sich als „Champion der
Globalisierung“29 positioniert. Clinton schloss eine nie zuvor erreichte
Zahl von über 270 Handelsabkommen ab,30 darunter Vereinbarungen
zum GATT, zur Gründung von WTO und NAFTA sowie zur Revitalisierung
der APEC. Es war das Ziel dieser Politik der ökonomischen Erweiterung,
die USA im Zentrum überlappender Institutionen zu etablieren und ihnen
– so wie die Nabe die Speichen kontrolliert – die globale Führungsrolle als
„steerer of the steerers“31 zu sichern.
25
26
27
28
29
30
31
Vgl. z.B. Safire, William: Bill’s Big Picture. The En-En Document Reveals Clinton’s, Ahem, Policy, in: Pittsburgh Post-Gazette, 26.8.1994.
Christopher zitiert in McCormick, John M.: Clinton and Foreign Policy. Some
Legacies for a New Century, in: The Postmodern Presidency. Bill Clinton’s Legacy in U.S. Politics, hrsg. von Steven E. Schier, Pittsburgh 2000, S.60-83, S.64.
Vgl. Garten, Jeffrey E.: The Big Ten. The Big Emerging Markets and How They
Will Change Our Lives, New York 1997.
Ebd.
Hacke, Christian: Der Terrorangriff vom 11. September und seine Folgen für
die amerikanische Außenpolitik, in: Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft. Konflikt, Trauma, Neubeginn, hrsg. von Caroline Y. Robertsonvon Trotha, Karlsruhe 2004, S.47-55, S.52.
Vgl. Clinton, Bill: Remarks on United States Foreign Policy in San
Francisco,
26.2.1999,
http://www.presidency.ucsb.edu/ws/index.
php?pid=57170&st=&st1=
Bergsten, C. Fred: The Primacy of Economics, in: Foreign Policy 87/1992, S.324, S.20.
118
Patrick Keller
5. Die Bush-Junior-Doktrin
George W. Bush beanspruchte diese Führungsrolle besonders unverstellt,
indem er auf die Terrorangriffe vom 11. September 2001 mit einem Wandel von der Ökonomisierung zur Militarisierung amerikanischer Außenpolitik reagierte. Ungeachtet dieser Verschiebung in den Mitteln blieb das
Ziel, die unipolare Rolle Amerikas zu erhalten, unverändert. Bushs Doktrin, in mehreren Reden und schließlich in der National Security Strategy
2002 formuliert, macht dies deutlich. So erklärt er, als Ergebnis des Kalten
Krieges gebe es nunmehr nur noch „a single sustainable model for national success: freedom, democracy, and free enterprise“32, das auf universellen Freiheitsrechten basiere, die von den USA verkörpert und weltweit
verteidigt würden:
„The United States will use this moment of opportunity to extend the
benefits of freedom across the globe. We will actively work to bring the
hope of development, free markets, and free trade to every corner of the
world. The events of September 11, 2001, taught us that weak states, like
Afghanistan, can pose as great a danger to our national interests as strong
states. Poverty does not make poor people into terrorists and murderers.
Yet poverty, weak institutions, and corruption can make weak states vulnerable to terrorist networks and drug cartels within their borders.“33
Unverblümter lässt sich der expansive Charakter der Strategie nicht beschreiben – Verbreitung der Demokratie, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten.
Der Nexus zwischen Terrornetzwerken, Massenvernichtungswaffen und
failed sowie rogue states veränderte die amerikanische Bedrohungsperzeption nach dem 11. September und trug so dazu bei, dass die USA ihre
Führungsrolle aggressiver wahrnahmen, etwa indem sie die Notwendigkeit präemptiver (eigentlich: präventiver) Kriegsführung erklärten. Denn
der neuen Bedrohungen ließ sich nicht mit dem Mittel der Abschreckung
Herr werden – mutual assured destruction bringt keinen Selbstmordattentäter ins Grübeln. Zugleich widerspricht Präemption aber der klassischen
Interpretation des Völkerrechts – indem sich die USA nicht von der UN
einbinden ließen, übten sie im vermeintlich präemptiven Krieg gegen den
Irak ihre Vormachtstellung im internationalen System besonders unver-
32
33
The White House, The National Security Strategy of the United States of America, September 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf
Ebd.
Hegemonialstrategie: Zur Kontinuität amerikanischer Außenpolitik
119
hohlen aus.34 Paradoxerweise hat diese Ausübung ihrer Macht die USA allerdings geschwächt – nicht nur, weil die Lage im Irak und in Afghanistan
sich als so problematisch herausgestellt hat, sondern auch, weil zunehmend andere Staaten die balancierende Distanz zur Supermacht suchen.
Bestätigt sehen sich jene Realisten, die den unipolaren Moment nur durch
machtpolitische Zurückhaltung für verlängerbar halten.35
6. Fazit: Hegemonie als Konsens
Tritt man einen Schritt von diesen tagespolitischen Entwicklungen zurück, offenbart sich ein eindeutiges Bild. Alle Präsidenten in der Zeit nach
dem Kalten Krieg haben versucht, die einzigartige Machtstellung der USA
zu erhalten und sogar auszubauen. Bush Sr. legte dafür den Grundstein,
indem er den Status quo zum Maß der Dinge erhob und in der Verbindung von amerikanischer Stärke und „pseudo-multilateralism“36 die sicherheitspolitische Richtschnur vorgab. Seine Nachfolger verließen diese
Bahnen nicht, sondern setzten nur unterschiedliche Schwerpunkte: Clinton betonte die ökonomisch-institutionelle Dominanz der USA, Bush Jr.
die militärische. Die außenpolitische Debatte in den USA lässt sich daher
auf zwei Fragen reduzieren. Die eine lautet: Welche Taktik ist besonders
erfolgreich darin, die amerikanische Hegemonie zu stärken? Über die Antwort streitet das Establishment, aber kaum jemand im politischen Zentrum spricht die zweite Frage an,37 die sich, einem verdrängten Gedanken
gleich, über die erste wölbt: Dient der Kampf um die Erhaltung der Unipolarität den amerikanischen Interessen – oder ist er ein aussichtsloses
Unterfangen, das mehr Kosten verursacht, als es Vorteile verspricht?
Entgegen mancherlei überzogener Erwartung – beziehungsweise Befürchtung – befindet sich auch Obama hier fest im Mainstream der amerikanischen Außenpolitik, denn auch er zielt auf den Erhalt der amerikanischen
Hegemonie ab. Innerhalb der linken „Graswurzel-Bewegung“, die Obama
erst die Nominierung seiner Partei ermöglicht hat, sind daher viele enttäuscht über Obamas sehr zentristische Personalentscheidungen. Außenministerin Hillary Clinton ist stets als pragmatischer Falke aufgetreten,
Sicherheitsberater Jim Jones war als SACEUR dafür bekannt, das Einstim34
35
36
37
Gaddis, John Lewis: Surprise, Security, and the American Experience, Cambridge 2004 zeigt überzeugend, dass Prämption/Prävention eine lange Tradition in der amerikanischen Militärstrategie hat, also keineswegs von einer
„Bush Revolution“ (Ivo Daalder/James Lindsay) gesprochen werden kann.
Vgl. Layne, Christopher: The Peace of Illusions. American Grand Strategy
from 1940 to the Present, Ithaca 2006; Mearsheimer, John J.: The Tragedy of
Great Power Politics, New York 2001.
Krauthammer: The Unipolar Moment, S.25.
Vgl. Lind, Michael: Beyond American Hegemony, in: The National Interest,
Mai/Juni 2007, S.9-15.
120
Patrick Keller
migkeitsprinzip der NATO zu verdammen, und der Republikaner Robert
Gates war schon unter George W. Bush Verteidigungsminister. Obamas
Sicherheitspolitikern wird selbst von Richard Cheney bescheinigt, „a pretty good team“38 zu sein – nicht eben ein Zeichen für tiefgreifenden strategischen Wandel. Zumal Hillary Clinton in ihrem Bestätigungsverfahren
vor dem Senat auch schon deutliche Pflöcke eingeschlagen hat: Die Diplomatie müsse wieder Vorrang vor militärischen Lösungen erhalten, aber
Amerikas hard power bleibe unverzichtbar in einer Welt, die auf amerikanische Führungsstärke angewiesen sei.39 Clinton lässt damit ein Leitmotiv
Madeleine Albrights anklingen, die Amerika die „unverzichtbare Nation“
genannt hat.40
In der Tat muss die auch in Europa oft unverhohlen geäußerte Schadenfreude über den amerikanischen Niedergang und die heraufziehende Multipolarität befremden. Denn bislang war der Westen – der Liberalismus,
die Freie Welt – nur dann stark, wenn auch Amerika stark war. Können wir
Europäer uns ernsthaft eine Welt wünschen, in der autokratische Regime
wie China und Russland tatsächlich auf Augenhöhe mit Washington verhandeln und entsprechend ungehemmt ihre Einflusssphären abstecken?
Wie lässt sich das mit unseren Werten vereinbaren? Wie mit unseren Interessen, etwa mit Blick auf den freien Welthandel oder die Sicherung
des freien Zugangs zu strategischen Ressourcen? So mag sich zwar herausgestellt haben, dass die USA nicht alle Weltprobleme allein lösen können. Aber es steht auch fest, dass ohne die USA und eine funktionierende
transatlantische Partnerschaft erst recht keine der drängenden Herausforderungen – vom internationalen Terrorismus bis zum Klimawandel –
gemeistert werden kann. Daher sollten wir mit Obama zumindest diese
eine Hoffnung wagen, dass Amerika auch in der Krise wieder einmal seine
Befähigung zur Erneuerung zeigt und seine Rolle als Weltordnungsmacht
kraftvoll annimmt.
38
39
40
Cheney zitiert in: Hayes, Stephen F.: Cheney. The Exit Interview, in: Weekly
Standard, 19.1.2009.
Vgl. Hillary Clinton’s Confirmation Hearing Statement, 13.1.2009, http://
www.cfr.org/publication/18214/hillary_clintons_confirmation_hearing_statement.html, Stand: 26.1.2009.
Vgl. Nordlinger, Jay: Albright Then, Albright Now, in: National Review,
28.6.1999.
Führungsanspruch und
Entlastungswunsch der
Bush-Administration
Eine Bilanz im Zeichen des
allianzinternen Sicherheitsdilemmas
Martin Reichinger
1. Zum Stand des transatlantischen „burden sharing“
„America will do more, but America will ask for more from our partners.”1
In der ambivalenten Ankündigung des US-Vizepräsidenten spiegelten
sich im Februar 2009 Elemente sowohl der Kontinuität als auch des Wandels amerikanischer Außenpolitik. Die neue US-Regierung unter Präsident
Barack Obama stellte ihren europäischen Bündnispartnern einerseits den
angemessenen Führungs- und Partnerschaftsstil als Anerkennung für
bekundete Bündnisloyalitäten und erbrachte Bündnisleistungen in Aussicht, den jene während der achtjährigen Regierungszeit George W. Bushs
vergeblich eingefordert hatten. Hinter dem Angebot aus Washington ließ
sich folgerichtig das Interesse an einem neuen transatlantischen Übereinkommen vermuten,2 an einer Neuinterpretation des „intra-alliance
bargain“3, bei dem sich das Engagement des Hegemons gleichwohl an
der Gefolgschaftsbereitschaft der Partnerstaaten und an der Erfüllung USamerikanischer Forderungen orientieren würde. Andererseits stand die
Ankündigung Bidens – zumal im 60. Jahr der Nordatlantischen Allianz
– ganz bewusst in der Tradition der transatlantischen „burden sharing“Debatte, die politisch seit mehr als vierzig Jahren geführt wird4 und die
vor dem Hintergrund der Frage eines europäischen Pfeilers in der NATO
seit rund fünfzehn Jahren die politikwissenschaftliche Forschung zu
1
2
3
4
Biden, Joseph R.: Speech at the 45th Munich Security Conference, München,
7.2.2009, www.securityconference.de/konferenzen/rede.php?menu_2009=&
menu_konferenzen=&id=238&sprache=en&, Stand: 18.2.2009.
Vgl. Frankenberger, Klaus-Dieter: Neuanfang über den Atlantik hinweg, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 9.2.2009, S.1.
Vgl. Olson, Mancur/Zeckhauser, Richard: An Economic Theory of Alliances,
in: Review of Economics and Statistics 3/1966, S.266-279.
Vgl. Kennedy, John F.: Address at Independence Hall, Philadelphia, 4.7.1962,
www.jfklibrary.org/Historical+Resources/Archives/Reference+Desk/Speeches/
JFK/003POF03IndependenceHall07041962.htm, Stand: 21.2.2009.
122
Martin Reichinger
„NATO-framework“ und „EU-autonomy“ färbt.5 Die Praxis der neokonservativen Bush-Regierung, über den „Transmissionsriemen“6 der Allianz
eine verstärkte militärische Lastenteilung innerhalb wie außerhalb der
NATO – notfalls auch gegen den Widerstand der europäischen Bündnispartner – zu organisieren, hatte die Kernproblematik dieses transatlantischen „burden sharing“ über den europäischen Kontinent hinaus in den
Mittleren Osten und bis nach Zentralasien verlagert.
Im Folgenden wird gezeigt, dass die Natur des „intra-alliance bargain“
unter US-Präsident Bush Jr. dabei politischer denn je geworden ist, nicht
nur mit Blick auf die neuen Risiken, Lasten und Kosten weltweiter Stabilitätsprojektion, sondern auch mit Blick auf die hohen wechselseitigen
Abhängigkeiten der Bündnispartner angesichts der „unharmonisch“7
verlaufenden Globalisierung und der Erwartungsunsicherheiten in einer
„Welt ohne Weltordnung“8, deren asymmetrische Gefahrenlagen9 durch
den „war on terror“ der Bush-Regierung erheblich verschärft worden
sind. Tragfähigkeit und Fortbestand der transatlantischen Partnerschaft
scheinen während der Bush-Jahre immer stärker von der permanenten
Austarierung von Tendenzen US-amerikanischer Kontrolle und EU-europäischer Eigenständigkeit abhängig geworden zu sein: Tendenzen, hinter
denen letztlich die „Zwillingskräfte“10 von Hegemonie und Gleichgewicht
wirken. Die von der US-Regierung vorangetriebene Transformation der
NATO,11 die großen Erweiterungsrunden des Bündnisses 1999 und 2004,
aber auch die institutionelle und kapazitative Weiterentwicklung der jungen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) haben die
Machtverhältnisse im Bündnis dabei so weit verändert, dass die Forderung nach einem globaleren, komplexeren und robusteren Aufgabenspek5
6
7
8
9
10
11
Vgl. Dembinski, Matthias: Die Beziehungen zwischen NATO und EU von
„Berlin“ zu „Berlin plus“: Konzepte und Konfliktlinien, in: Die Beziehungen
zwischen NATO und EU. Partnerschaft, Konkurrenz, Rivalität?, hrsg. von Johannes Varwick, Opladen 2005, S.61-80, hier S.61.
Haftendorn, Helga: Das Atlantische Bündnis als Transmissionsriemen atlantischer Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38-39/2005, S.8-15.
Henry Kissinger auf der Konferenz „Transatlantic Relations. Challenges – Responsibilities: A Common Future“, ausgerichtet vom „Frankfurter Allgemeine
Forum“, Berlin, 4.7.2008, am Tag der Eröffnung der neuen US-Botschaft am
Brandenburger Tor, zitiert nach Frankenberger, Klaus-Dieter: Im Herzen Berlins, in: FAZ, 5.7.2008, S.1f., 8.
Stürmer, Michael: Welt ohne Weltordnung, Hamburg 2006.
Vgl. Münkler, Herfried: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006.
Bierling, Stephan: Schwierige Partner. Differenzen zwischen Washington und
Paris als Problem deutscher Sicherheitspolitik, in: Europa und die USA. Transatlantische Beziehungen im Spannungsfeld von Regionalisierung und Globalisierung, hrsg. von Susanne Luther und Reinhard C. Meier-Walser, München
2002, S.222-232, hier S.223.
Riecke, Henning (Hrsg.): Die Transformation der NATO. Die Zukunft der euroatlantischen Sicherheitskooperation, Baden-Baden 2007.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
123
trum der NATO12 angesichts einer fehlenden Gesamtstrategie der Bündnispartner sowohl über die verteidigungspolitische Ausrichtung als auch
über Art und Umfang der weltweiten NATO-Einsätze die Organisation des
„burden sharing“ heute zu einer ernstzunehmenden Herausforderung für
den Zusammenhalt in der Allianz macht.
Beide gegenwärtigen Formen euro-atlantischer Arbeitsteilung – die institutionalisierte Strategische Partnerschaft zwischen EU und NATO („Berlin Plus“) und die von der Bush-Regierung eingesetzten „coalitions of the
willing“ aus NATO-Mitgliedern und Drittstaaten – haben die transatlantische Sicherheitsarchitektur vordergründig auf die Entlastung des amerikanischen Hauptverbündeten kalibriert. Andererseits aber erwächst aus
beiden Modellen die Chance zu einer verstärkten europäischen Einflussnahme auf die US-Außen- und Sicherheitspolitik. Führungsanspruch und
Entlastungswunsch stehen dabei unter dem Eindruck einer Dilemmasituation, die in der neorealistischen Theorieschule der internationalen Politik unter dem Begriff des allianzinternen Sicherheitsdilemmas13 firmiert
und die die gestiegene Verwundbarkeit der staatlichen Akteure in einem
zunehmend multipolaren internationalen System zum Ausdruck bringt.
2. Das allianzinterne Sicherheitsdilemma
Im allianzinternen Sicherheitsdilemma wirken die Furcht, vom Bündnispartner verlassen zu werden („abandonment„), und zugleich die Furcht,
vom Bündnispartner in einen fremden Konflikt verwickelt zu werden
(„entrapment“), handlungsleitend.14 Versuche, das Risiko von „abandonment“ bzw. „entrapment“ zu reduzieren, bedingen dabei häufig, jedoch
nicht immer, den Anstieg des jeweils anderen Risikos:15 Hegt ein staatlicher Akteur die Befürchtung, von seinem Allianzpartner verlassen zu werden, kann er zwar durch Intensivierung des eigenen Engagements seinen
Wert für den Partner innerhalb oder außerhalb der Allianz erhöhen. Er
läuft dann allerdings Gefahr, in Konflikte des Allianzpartners, an den er
sich nun stärker gebunden hat, verwickelt zu werden. Hegt ein Akteur
hingegen die Befürchtung, von seinem Allianzpartner in einen fremden
Konflikt hineingezogen zu werden, und reduziert daraufhin sein Engagement, so steigt das Risiko, dass Letzterer abtrünnig wird oder im Gegenzug
sein Engagement gegenüber dem ersten Akteur verringert. Die staatliche
12
13
14
15
Jones, James L.: Taking stock of NATO operations, video interview with the
Supreme Allied Commander Europe, Brüssel, 16.11.2006, www.nato.int/docu/
speech/2006/s061116a.htm, Stand: 22.2.2009.
Vgl. Snyder, Glenn H.: The Security Dilemma in Alliance Politics, in: World
Politics 36/1984, S.461-495.
Vgl. Siedschlag, Alexander: Neorealismus, Neoliberalismus und postinternationale Politik, Opladen 1997, S.137ff.
Vgl. Snyder, Glenn H.: Alliance Politics, Ithaca u.a. 2007 [1997], S.307.
124
Martin Reichinger
Strategiewahl ergibt sich folglich als das Ergebnis eines „trade-off“16 zwischen den Kosten und Risiken von „entrapment“ und „abandonment“,17
wobei ein Staat stets die Konsequenzen seines Handelns sowohl in Bezug auf seine Bündnispartner („alliance game“) als auch in Bezug auf den
oder die Gegner seines Bündnisses („adversary game“) bedenken muss.
Die Strategiewahl hängt überdies von einer Reihe von Determinanten der
allianzinternen Verhandlungsmacht („intra-alliance bargaining power“)
ab, zu denen insbesondere die relativen Abhängigkeiten der Allianzpartner untereinander zählen, wie auch der Grad der Interessenparallelität
der Partner, die Pfadabhängigkeiten des eigenen und des Verhaltens der
Partner in der jüngsten Vergangenheit sowie die Detaillierung der Bündnisverpflichtung, die wiederum Einfluss auf den allianzinternen Beistand
hat.18 Virulent wird das allianzinterne Sicherheitsdilemma beim Verlust
des gemeinsamen Gegners bzw. der kollektiven Bedrohungsperzeption
und insbesondere im multipolaren System.19 Es lassen sich sämtliche Formen eines internationalen „alignment“, d.h. Koalitionen, Bündnisse oder
auch nur wechselseitige Beistandserwartungen, unter der Schablone des
allianzinternen Sicherheitsdilemmas betrachten.20
3. Führungsanspruch trotz Gefolgschaftsverweigerung –
die Irak-Krise im Zeichen des allianzinternen
Sicherheitsdilemmas
In der Irak-Krise 2002/2003 wurde die NATO von der Bush-Administration marginalisiert. Ein rigider Unilateralismus, die Entwicklung neuer
Formen des „alignment“ zur Herstellung weitgehender Unabhängigkeit
von den Entscheidungsmechanismen des Bündnisses und die Rekrutierung allianzexterner Koalitionspartner gestatteten der einzig verbliebenen
Supermacht dabei die Abfederung des allianzinternen Sicherheitsdilemmas per Reduzierung insbesondere des „abandonment“-Risikos. Der Widerruf einzelner Bündnispartner nämlich fiel nun weniger ins Gewicht,
während die Möglichkeiten zur Kontrolle der Partner stiegen. Aus Sicht
der US-Regierung waren Risikoerwägungen dieser Art insofern berechtigt,
als langjährige Bündnispartner angesichts der vom Irak (vermeintlich)
ausgehenden Proliferationsgefahr sowie angesichts des (konstruierten)
Konnexes zwischen der säkularen Diktatur Saddam Husseins und dem
16
17
18
19
20
Snyder, Glenn H.: Alliance Theory: A Neorealist First Cut, in: Journal of International Affairs 1/1990, S.103-123, hier S.113.
Vgl. Snyder: The Security Dilemma in Alliance Politics, S.467.
Vgl. Synder: Alliance Politics, S.166ff; Ders.: The Security Dilemma in Alliance
Politics, S.471ff.
Vgl. Snyder: The Security Dilemma in Alliance Politics, S.485.
Vgl. Snyder, Glenn H.: Alliances, balance and stability, in: International Organization 1/1991, S.121-142, hier S.123.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
125
religiös-fundamentalistischen Terrornetzwerk Osama bin Ladens offenbar
regungslos verharrten und damit nicht nur die nationale Sicherheit der
USA gefährdeten, sondern auch die geostrategischen und energiepolitischen Interessen21 konterkarierten, die die Neokonservativen als Teil ihrer
ideologisch aufgeladenen Weltordnungspolitik im Mittleren Osten mit
militärischen Machtmitteln durchsetzen wollten.
Gerade das Konzept der Ad-hoc-Koalition sollte sich in der Hochphase der
Irak-Krise Anfang 2003 als Mittel der Wahl erweisen, um die geneigten europäischen Gefolgschaftsstaaten, allen voran Großbritannien unter Premierminister Blair, effektiver zu kontrollieren, während sich bestehende
Machtasymmetrien konservieren und über bilaterale Koalitionsverpflichtungen neue Abhängigkeiten schaffen ließen. Vor dem Hintergrund der
parallelen energiepolitischen Interessen22 und der asymmetrischen Abhängigkeiten in der anglo-amerikanischen „special relationship“ musste
die britische Regierung daher ein „abandonment“, d.h. den völligen Alleingang der USA, schlimmstenfalls eine Form von „Neoisolationismus“23,
stärker fürchten als die Verwicklung in einen (möglicherweise langwierigen) Krieg. Blair musste sein Engagement gegenüber Washington erhöhen, wollte er dieses Risiko minimieren.24 In der Tat optierte London für
eine Strategie des „bandwagoning“25, lehnte sich an die Politik der Supermacht an und begründete so eine bis in die Gegenwart andauernde
„entrapment“-Situation.
Am 16. Februar 2003 war im Ausschuss für Verteidigungsplanung der
NATO auf massiven Druck der USA entschieden worden, für den Fall eines
irakischen Angriffs auf die Türkei militärische Planungen zum Schutz des
Bündnispartners einzuleiten. Im Sinne der Allianztheorie hatten die französische Regierung unter Staatspräsident Chirac und die rot-grüne Bundesregierung Gerhard Schröders ihr „commitment“ reduzieren müssen,26
21
22
23
24
25
26
Vgl. Rice, Condoleezza: Campaign 2000: Promoting the National Interest, in:
Foreign Affairs 1/2000, S.45-62.
Vgl. Hill, Christopher: Putting the world to rights: Tony Blair‘s foreign policy
mission, in: The Blair Effect 2001-5, hrsg. von Anthony Seldon und Dennis
Kavanagh, Cambridge u.a. 2005, S.384-409, hier S.392.
Siedschlag, Alexander: Eine realistische Theorie europäischer Sicherheitspolitik, in: Die neuen deutsch-amerikanischen Beziehungen: Nationale Befindlichkeiten zwischen supranationalen Visionen und internationalen Realitäten, hrsg. von Winand Gellner und Martin Reichinger, Baden-Baden 2007,
S.163-171, hier S.165.
Vgl. Snyder: The Security Dilemma in Alliance Politics, S.475.
Wolf, Klaus Dieter: „Excuse me, I am not convinced.“ Von der Bipolarität
zur Unipolarität? Der Mythos vom zweiten amerikanischen Jahrhundert, in:
Weltpolitik heute. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. von Volker Rittberger,
Baden-Baden 2004, S.53-84, hier S.81. Grundlegend: Walt, Stephen M.: The
Origins of Alliances, Ithaca u.a. 1987, S.19ff.
Vgl. Snyder: The Security Dilemma in Alliance Politics, S.469.
126
Martin Reichinger
wollten sie das offenbar akute „entrapment“-Risiko verringern und die
Verwicklung27 in einen zweifellos völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vermeiden. Die Vielzahl ihrer bereits im Januar eingeleiteten, EU-europäisch
gelagerten sicherheits- und verteidigungspolitischen Initiativen vor dem
Hintergrund der laufenden Arbeiten des Europäischen Verfassungskonvents28 und insbesondere die unnachgiebige Position beider Staaten im
UN-Sicherheitsrat waren dabei als eine Strategie des „soft balancing“29 zu
werten, und im Grunde als Versuch, ein „kooperatives Gleichgewicht“30
zu den USA zu etablieren. Jedenfalls musste der deutsch-französische
Schulterschluss die politische Führung am Potomac von der Richtigkeit
ihrer Strategie der Differenzierung der Allianz überzeugen, so dass nun
der Versuch unternommen wurde, die europäischen Partner aktiv zu bipolarisieren31 („divide et impera“) und die perzipierte „Gegenallianz“ zu
stören.32 Diese problematische Kombination aus Führungsanspruch bei
Zurücknahme einst hegemonial induzierter Kooperation könnte insofern
als amerikanische Kausalkomponente für die Gefolgschaftsverweigerung
zahlreicher europäischer Staats- und Regierungschefs in der Irak-Krise zu
werten sein.
4. Führungsanspruch trotz Entlastungswunsch – das transatlantische „burden sharing“ im Zeichen des allianzinternen
Sicherheitsdilemmas
Transformation und Erweiterung der NATO boten der Bush-Administration die Möglichkeit, das allianzinterne „abandonment“-Risiko zu minimieren. Gleichzeitig forcierte Bush bereits in seiner ersten Amtszeit den
Rückzug der US-Truppen vom Balkan und verringerte damit im Sinne
27
28
29
30
31
32
Vgl. Overhaus, Marco: In Search of a Post-Hegemonic Order: Germany, NATO
and the European Security and Defence Policy, in: German Politics 4/2004,
S.551-568, hier S.558.
Vgl. Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Frankreichs Europapolitik, Wiesbaden
2004, S.245.
Rudolf, Peter: Von Clinton zu Bush: Amerikanische Außenpolitik und transatlantische Beziehungen, in: Supermacht im Wandel. Die USA von Clinton zu
Bush, hrsg. von Hans-Jürgen Puhle, Söhnke Schreyer und Jürgen Wilzewski,
Frankfurt/M. 2004, S.263-292, hier S.285.
Link, Werner: Integration, Kooperation und das „Gleichgewicht“ in Europa,
in: Europa und die USA. Transatlantische Beziehungen im Spannungsfeld von
Regionalisierung und Globalisierung, hrsg. von Susanne Luther und Reinhard
C. Meier-Walser, München 2002, S.61-70, hier S.63.
Vgl. das vielzitierte Diktum Donald Rumsfelds: „Wenn Sie Europa meinen,
dann denken Sie an Deutschland und Frankreich. Ich nicht. Ich denke, das ist
das ‚alte Europa‘„, zitiert nach Bannas, Günter/Leithäuser, Johannes/Rüb, Matthias: Empörung in Berlin und Paris über Washington, in: FAZ, 24.1.2003, S.2.
Dazu grundlegend: Morgenthau, Hans J.: Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace, New York 1960 [1948], S.179f.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
127
der neorealistischen Allianztheorie das eigene „entrapment“-Risiko. Aus
Sicht der Europäer jedoch erhöhten beide Strategien der US-Regierung die
Wahrscheinlichkeit für ein amerikanisches „abandonment“, denn – konsequent weitergedacht – die USA konnten auf diese Weise künftig unabhängig von gewachsenen Bündnisstrukturen wechselnde Koalitionen für
weltweite Anti-Terror-Einsätze zusammenschirren und dabei dem „alten“
Kontinent nonchalant den Rücken kehren.
4.1 Die Strategische Partnerschaft auf dem Balkan
Angesichts der Realität gewordenen „ever lurking European worries about
a U.S. retreat to the American ‚fortress‘„33 sowie angesichts der Versuche
der Bush-Regierung, die europäischen Bündnispartner insbesondere in
Afghanistan in einem global konzipierten „Anti-Terror-Krieg“ sekundierend einzusetzen, scheint in Europa das Mittel der Wahl zur Reduzierung
sowohl des „abandonment“- als auch des „entrapment“-Risikos in der
Weiterentwicklung autonomer sicherheits- und verteidigungspolitischer
Strukturen und Fähigkeiten zu liegen. Die ESVP nämlich dient in diesem Sinne sowohl als Instrument zur Kompensation des amerikanischen
Rückzugs wie auch zur Emanzipation gegenüber dem amerikanischen
„Ruf zu den Waffen“. Zwar hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs frühzeitig sowohl die Übernahme der NATO-Operation „Allied
Harmony“ in Mazedonien als auch der Stabilization Force (SFOR) in Bosnien-Herzegowina gefordert. Erst das globale Anti-Terror-Engagement der
NATO jedoch und damit das dauerhaft absehbare „disengagement“ der
USA in Europa zwangen die europäischen Regierungen zur Erarbeitung
einer konkreten Ersatzrolle für die NATO auf dem Balkan und zu handfesten Fähigkeitsverbesserungen. In diesem Zusammenhang steht vor allem das Headline Goal 2010 vom Mai 2004, dessen Kern neben der Einrichtung einer Europäischen Verteidigungsagentur und der Bereitstellung
einer Transportmaschine zur interkontinentalen Truppenverlegung (Airbus A 400M) im Konzept der Battlegroups besteht. Obgleich George W.
Bush im Wahlkampf 2000 offen ankündigte, das eigene „commitment“
beim „peace-keeping“ auf dem Balkan reduzieren und im Gegenzug die
europäischen Verbündeten zu höheren Truppenleistungen animieren zu
33
Snyder: The Security Dilemma in Alliance Politics, S.487; dergleichen Mearsheimer, John J.: The Tragedy of Great Power Politics, New York 2001, S.386f.
Auch die Pläne der Bush-Administration zur Stationierung einer amerikanischen Radaranlage in Tschechien und einer Batterie amerikanischer Abfangraketen in Polen standen vielmehr im Zeichen der Sicherheit des US-amerikanischen als des europäischen Territoriums; die geplanten Komponenten
nämlich wären auf Flugkörper gerichtet, die sich über Europa im Zenit ihrer
Flugbahn befänden (vgl. Link, Werner: Europa ist kein Juniorpartner, in: FAZ,
14.7.2008, S.7).
128
Martin Reichinger
wollen,34 forderte die US-Regierung später doch niemals explizit ein höheres Engagement der Europäer speziell im ESVP-Rahmen. Dies erklärt
denn auch das Zögern Washingtons bei der Lockerung allianzinterner
Kontrollen und der Abgabe von Führungsverantwortung, als es im Vorfeld der EU-Militärmission „Concordia“ darum ging, das Kernelement der
sogenannten Strategischen Partnerschaft zwischen NATO und EU – die
Berlin-Plus-Vereinbarung des Washingtoner Gipfels von 1999 – dauerhaft zu fixieren und der EU erstmals den praktischen Rückgriff auf Fähigkeiten und Mittel der NATO zu gestatten. Bereits im Februar 2001 hatte
US-Verteidigungsminister Rumsfeld festgestellt, dass „actions that could
reduce NATO’s effectiveness by confusing duplication or perturbing the
transatlantic link would not be positive”.35
Offensichtlich war insbesondere das Pentagon nur im Angesicht eines in
seiner Wahrnehmung Existenz bedrohenden transnationalen Terrorismus
sowie vor dem Hintergrund des heraufziehenden Irak-Kriegs dazu bereit,
Militäreinsätze der EU – und waren sie noch so klein – zu akzeptieren. Die
sicherheitspolitischen Gehversuche der Europäer auf dem Balkan ab März
2003 verschärften für die US-Regierung zweifellos das Dilemma zwischen
Führungsanspruch und Entlastungswunsch. Hatte die US-Sicherheitsgarantie den Europäern jahrzehntelang Möglichkeiten des „free-riding“
eröffnet, so lag es im Interesse der Bush-Regierung, jetzt, da die Partner
wohlhabender, selbstbewusster und sicherheitspolitisch leistungsfähiger
geworden waren, die Kosten der Herstellung des öffentlichen Guts „Sicherheit“ auf sämtliche Profiteure zu verlagern. Hier lässt sich eine sinnhafte Verbindung zwischen der Theorie der hegemonialen Stabilität36
und der Vorstellung einer euro-atlantischen Arbeits- und Lastenteilung
herstellen: Ist der Hegemon nicht mehr im Stande, hegemoniale Stabilität aufrechtzuerhalten, neigt er zum „burden sharing“ und fordert die
Trittbrettfahrer auf, sich an der Erbringung der notwendigen Leistung zu
34
35
36
Vgl. Bush, George W.: The Second Gore-Bush Presidential Debate, Wake Forest University, 11.10.2000, www.debates.org/pages/trans2000b.html, Stand:
22.2.2009.
Rumsfeld, Donald H.: Speech at the 37th Munich Security Conference, München,
3.2.2001, www.securityconference.de/konferenzen/rede.php?menu_2001=&
menu_konferenzen_archiv=&menu_konferenzen=&sprache=de&id=31&,
Stand: 21.2.2009.
Vgl. Keohane, Robert O.: After Hegemony. Cooperation and Discord in World
Political Economy, Princeton 1984, S.31-46; ferner Gilpin, Robert G.: Global
Political Economy. Understanding the International Economic Order, Princeton 2001, S.93-97.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
129
beteiligen37 – ohne jedoch seinen Führungsanspruch aufgeben zu wollen bzw. aufgeben zu können, denn die US-Regierung musste angesichts
des Zerwürfnisses über den Irak-Krieg der Tatsache Rechnung tragen, dass
die von ihr angestrebte Kostenverlagerung durch militärische Koalitionen
oder eine internationale Vorsorge-, Stabilisierungs- und Krisennachsorgepolitik der Partner nicht zwangsläufig im Interesse ihrer Alliierten lag.
Zwar verschoben die auch für die Zukunft zu erwartenden europäischen
Unzuverlässigkeiten die Präferenzordnung der Bush-Administration von
der Vorstellung eines transatlantischen „burden sharing“ – wie es von der
Republikanischen Partei noch in der Zeit der Regierung Clinton und im
Präsidentschaftswahlkampf 2000 vertreten worden war – in Richtung einer sicherheitspolitischen Führung der europäischen Partner. Die daraus
resultierenden allianzinternen Problematiken zwangen die US-Regierung
jedoch dazu, ihre Sicherheitspolitik mit der ihrer wichtigsten Partner abzustimmen, wollte Washington verhindern, dass es diese überforderte
und im zunehmend multipolaren System möglicherweise ganz verlieren
würde. In diesem Lichte also war die in den EU-Militärmissionen „Concordia“ in Mazedonien bzw. „Althea“ in Bosnien-Herzegowina erfolgte
Abgabe von Führungsverantwortung beim „peace-keeping“ zu sehen, und
im Übrigen auch die Abgabe von Führungsverantwortung bei der Leitung
zahlreicher Provinz-Wiederaufbauteams (PRT) in Afghanistan oder der
dortigen Einsatzleitung kleinerer Anti-Terror-Operationen. Die Problematik der Berlin-Plus-Dauervereinbarung im Vorfeld des ersten Balkan-Einsatzes der ESVP hat dabei im Vergleich zum Afghanistan-Einsatz gezeigt,
dass es der Bush-Regierung sichtlich leichter fiel, das „leadership“ in ihrem bilateralen Koalitionensystem zu teilen, als mit einer Europäischen
Union, die selbst ein „many-headed leadership“38 besitzt.
4.2 Die flexiblen Koalitionen in Afghanistan
In der Irak-Krise war deutlich geworden, dass eine konservative Institution wie eine Allianz, die auf die Bewahrung eines Konsenses über Mittel
und Ziele ausgerichtet ist, an Wirkungskraft verliert, je weiter sich ein
möglicher Einsatz von eben diesem Grundkonsens – im Fall der NATO
37
38
Vgl. Menzel, Ulrich: Imperium oder Hegemonie. Die Renaissance alter Weltordnungskonzepte?, Handreichung zum gleichnamigen Vortrag auf der Tagung „Ordnung in der internationalen Politik“ der Akademie für Politik und
Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. in Zusammenarbeit mit der
Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte und dem Arbeitskreis
Internationale Politik der Universität Passau, Passau, 6./7.6.2008, S.21, wwwpublic.tu-bs.de:8080/~umenzel/inhalt/vortraege/Vortrag_Imperium_oder_
Hegemonie.pdf, Stand: 23.2.2009.
Thompson, Wayne C.: European-American co-operation through NATO and
the European Union, in: Redefining Transatlantic Security Relations: The
Challenge of Change, hrsg. von Dieter Mahncke, Wyn Rees und Wayne C.
Thompson, Manchester 2004, S.93-131, hier S.104.
130
Martin Reichinger
der kollektiven Verteidigung – entfernt. Im Jahr 2003 war das Bündnis
nicht einmal mehr politisch einsatzfähig. Ohne den politischen Konsens im Bündnis aber beraubt sich der Hegemon seiner Möglichkeiten
zur sicherheitspolitischen Entlastung. Mehr noch: Eine Gemeinsame
Beschlussfassung über die Strategie der Allianz auf politischer Ebene ist
stets ein Instrument zur Vorsorge gegen das „abandonment“-Risiko. Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa forderte wenige Tage nach der US-Präsidentschaftswahl 2008 mit Blick auf den NATO-Jubiläumsgipfel im April
2009 die Erarbeitung eines neuen Strategischen Konzepts für das Bündnis.39 Gerade mit Blick auf Afghanistan nämlich schien die Fixierung der
Allianz durch eine einheitliche, allgemeinverbindliche Strategie von der
republikanischen US-Regierung nicht gewollt gewesen zu sein. Im Gegenteil: Spätestens seit dem 11. September hatte die Bush-Regierung einen
Transformationsprozess forciert, der konkret auf dem Prager NATO-Gipfel
im November 2002 begann und an dessen Ende die Allianz als Instrument
zur Koalitionenbildung und Kapazitätssteigerung bei der weltweiten Verteidigung US-amerikanischer Interessen stehen sollte.40 Dabei wurden die
Überdehnung von Einsatzmandaten und die Ausweitung des Einsatzgebietes bewusst in Kauf genommen, womit sich in den vergangenen Jahren
die Frage der Bündnissolidarität auf eine destruktive Aufrechnung der jeweiligen Truppenkontingente und eine „irrelevante Diskussion über zivile
oder militärische Prioritäten“41 reduziert hat.
In der Tat, die Chronologie des westlichen Krisenmanagements in Afghanistan demonstriert beispielhaft die Verwicklungsgefahr, der die Bündnispartner innerhalb der NATO heute ausgesetzt sind. Rückschläge im Kampf
gegen die religiösen Extremisten und die dramatische Verschlechterung
der Sicherheitslage seit spätestens 2006 haben den Einbezug der europäischen Partner dabei über Laufzeit immer dringlicher werden lassen, bis zu
einem Punkt, an dem heute jeder einzelne Soldat gebraucht wird: Hatte
der amerikanische Hegemon im Herbst 2001 bei seinem militärischen Alleingang trotz der Deklaration des Bündnisfalls jedweden militärischen
Beistand zunächst abgelehnt, so stand das Jahr 2002 im Zeichen der allmählichen Zunahme der Zahl der unterstützenden Nationen und deren
allmählicher Verwicklung, zunächst im Rahmen der multinationalen
Anti-Terror-Koalition „Operation Enduring Freedom“ (OEF), bald jedoch
auch im Rahmen einer UN-mandatierten Schutztruppe, der International
Security Assistance Force (ISAF), die im Frühjahr 2002 in einer Stärke von
knapp 5.000 Soldaten antrat und in der heute weit über 56.000 Militär39
40
41
Vgl. Löwenstein, Stephan: Merkel für neues Konzept der NATO, in: FAZ,
12.11.2008, S.5.
Vgl. Theiler, Olaf: NATO: Sicherheitspolitische Aufgabenfelder und Missionen, in: Handbuch zur europäischen Sicherheit, hrsg. von Franz Kernic und
Gunther Hauser, Frankfurt/M. u.a. 2006, S.203-222, hier S.214.
Rühl, Lothar: Neue Strategie mit alten Mitteln, in: FAZ, 20.2.2009, S.12.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
131
personen aus 41 Nationen dienen.42 Da in der Spätphase der Irak-Krise
Anfang 2003 deutlich geworden war, dass die Bildung einer Ad-hoc-Koalition aus NATO-Mitgliedern nur aufgrund der etablierten und bewährten
Allianzstrukturen funktionierte, die dazu angewandte unilaterale Außenpolitik jedoch „abandonment“-Reaktionen der übrigen NATO-Partner
provozierte, kann die Übernahme der ISAF durch die NATO im August
2003 durchaus als im Zusammenhang mit den „lessons learned in Iraq“
gesehen werden. Abgesehen davon war zwischen Euphrat und Tigris nun
ein zweiter Kriegsschauplatz eröffnet worden, der die primäre Aufmerksamkeit und Truppenpräsenz der USA erforderlich machte. Der „Bruch
des Westens“43 über den Irak hatte offenbar einen katalytischen Effekt auf
das westliche Engagement am Hindukusch, denn über den Transmissonsriemen der NATO war die ISAF fortan einer noch stärkeren US-amerikanischen Einflussnahme ausgesetzt, die vor allem dem Ziel diente, die sicherheitspolitischen Lasten in Afghanistan auf möglichst viele Schultern zu
verlagern. Das Folgejahr 2004 steht daher für die zahlenmäßige Zunahme
von Bündnispartnern und Drittstaaten in der ISAF sowie für den US-gesteuerten Versuch des NATO-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer, die
Mandate von OEF und ISAF zu verschmelzen.44 Insbesondere der NATOGipfel in Istanbul im Juni des Jahres war dabei von der auf beiden Ufern
des Atlantiks gewonnenen Erkenntnis geprägt, dass die neuen Bedrohungen der internationalen Sicherheit weder von Europa noch von den USA
alleine bewältigt werden könnten und beide Seiten verlässliche Partner
benötigten.45 Auf dieser Grundlage wurden 2004 denn auch die Weichen
für die geographische Expansion der ISAF gestellt, die im Jahr 2005 tatsächlich stattfand und im Rahmen derer das Einsatzgebiet der Schutztruppe zunächst aus der Hauptstadt Kabul heraus und anschließend über den
Norden und Westen des Landes bis hinein in den schwer umkämpften
Süden und Osten ausgeweitet wurde. Das von den Amerikanern entwickelte Modell der Provincial Reconstruction Teams (PRT) erwies sich in
diesem Zusammenhang als adäquat für die flächendeckende Versorgung
des Landes mit dem Gut „Sicherheit“, insbesondere aber für die internationale Lastenteilung und den flexiblen Einsatz und die Rotation der
Bündnispartner.46 Im Jahr 2006, als die Gewaltintensität am Hindukusch
das Niveau im Irak längst überschritten hatte und die Rückschläge im
Süden Afghanistans begannen, den bis dahin relativ ruhigen Norden des
42
43
44
45
46
Vgl. NATO: ISAF Troops Placemat, Stand: 13.2.2009; www.nato.int/isaf/docu/
epub/pdf/isaf_placemat.pdf, Stand: 21.2.2009.
Vgl. Daalder, Ivo H.: The End of Atlanticism, in: Survival 2/2003, S.147-166.
Vgl. Monaco, Annalisa: Beyond Kabul: Big words, small cautious steps, in:
NATO Notes 1/2004, S.1.
Vgl. Meier-Walser, Reinhard C.: Die Transformation der NATO. Zukunftsrelevanz, Entwicklungsperspektiven und Reformstrategien, Aktuelle Analysen
34/2004, S.10f.
Vgl. Schmunk, Michael: Die deutschen Provincial Reconstruction Teams. Ein
neues Instrument zum Nation-Building, SWP-Studie S 33/2005, S.11f.
132
Martin Reichinger
Landes zu destabilisieren,47 wurde die ursprünglich vorgesehene Komplementarität zwischen der den afghanischen Wiederaufbau flankierenden
ISAF, d.h. der für das „peace-keeping“ zuständigen NATO, und der AntiTerror-Mission OEF de facto aufgegeben. Die disponiblen Kräfte werden
seither auch im Anti-Terror-Kampf eingesetzt. Im Afghanistan Compact
des Jahres 2006 sowie auf dem Gipfel von Riga ersuchte die NATO offiziell
auch bei anderen internationalen Organisationen um Beistand,48 da beim
zivil-militärischen Krisenmanagement umso mehr Kompensationsbedarf
bestand und das Modell des „Afghan ownership“ bis dahin unzureichende Ergebnisse geliefert hatte. Während nun also sowohl die OEF als auch
die ISAF in die Bekämpfung von Al Qaida-Terroristen und (Neo-)Taliban
verwickelt waren, wurden die europäischen Bündnispartner im Jahr 2007
– als noch rund 158.000 US-Soldaten im Irak stationiert waren – zusätzlich über ihr europäisches Integrationsprojekt zur Unterstützung des zivilen Wiederaufbaus herangezogen. Für diesen Schritt steht der Beginn der
Polizeimission „EUPOL Afghanistan“ im Juni 2007. In 2008 schließlich
bestand das „burden sharing“ in Afghanistan darin, dass die USA als „lead
nation“ der OEF den hochintensiven Anti-Terror-Kampf im afghanischpakistanischen Grenzgebiet führten und die NATO unter amerikanischer
Führung vor allem im Süden und Osten des Landes für Anti-Terror-Missionen zur Verfügung stand, während sie beim „peace-keeping“, präziser:
beim „peace-enforcement“, vor allem von den Vereinten Nationen und
der Europäischen Union in ganz Afghanistan politisch, zivil und polizeilich unterstützt wurde. In der Tat besorgniserregend ist dabei die Tatsache,
dass Al Qaida und die Taliban-Kader indes auch auf dem Staatsgebiet der
benachbarten Atommacht Pakistan (wieder) Fuß gefasst haben.49
Ausgehend von den nationalen Interessen aller NATO-Mitgliedstaaten an
einem politisch und gesellschaftlich stabilen Afghanistan und ausgehend
von der Überzeugung der alliierten Staats- und Regierungschefs, dass bei
einem Scheitern in oder einem Rückzug der Allianz aus der HindukuschRegion das Land nicht nur in das prä-moderne Regime der Taliban zurückfallen, sondern es überdies wieder zum primären Ausbildungshort
des weltweit operierenden islamistischen Terrorismus würde, können die
wechselseitigen Abhängigkeiten dies- und jenseits des Atlantiks heute als
überaus hoch betrachtet werden. Hoch sind diese sicherheitspolitischen
Interdependenzen insbesondere auch deshalb, weil zur kollektiven Verteidigung gegen den transnationalen Terrorismus und zur Befriedung aktueller Krisenherde der Einsatz von militärischen und zivilen Instrumenten
47
48
49
Vgl. Jung, Franz Josef: „Wiederaufbau ist die richtige Strategie für Afghanistan“, Stand: 30.10.2006, www.bundesregierung.de/nn_1500/Content/DE/
Interview/2006/10/2006-10-30-interview-jung-faz.html, Stand: 21.2.2009.
Vgl. North Atlantic Council: Riga Summit Declaration, Riga, 29.11.2006, paragraph 6, www.nato.int/docu/pr/ 2006/p06-150e.htm, Stand: 21.2.2009.
Vgl. Rubin, Barnett: Letzte Ausfahrt Quetta, in: Rheinischer Merkur 5/2007, S.6.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
133
gleichermaßen notwendig ist. Die jeweiligen Dependenzen sind dabei
asymmetrisch. In dem Maße nämlich, wie das auf die Anwendung von
militärischer „hard power“ spezialisierte Amerika zunehmend die ausgewiesenen „soft-power“-Fähigkeiten der Europäer benötigt, bleiben Europas Staaten mit ihrer „Zivilmacht“ auch weiterhin auf die militärische
Schlagkraft der USA angewiesen.
5. Sharing the burden – sharing the lead?
Während der Bush-Jahre haben auch die Europäer das „allianzinterne
Sicherheitsdilemma“ entschärft. Durch die sukzessive Ausprägung ihrer
sicherheits- und verteidigungspolitischen Identität bzw. durch die operative Implementierung der ESVP gelang ihnen dabei nicht nur die Reduktion des „entrapment“-Risikos – heute nämlich sind sie in der Lage, für
militärische Leistungen auf dem Balkan oder in Afghanistan eine höhere
Einflussnahme auf politische Führungsentscheidungen und strategische
Weichenstellungen innerhalb der NATO einzufordern. Vielmehr war
es möglich, das Risiko des „abandonment“ zu verringern, denn in dem
Maße, wie die US-Regierung den Charakter der NATO vom rigiden Allianz- auf das weitaus flexiblere Koalitionsmodell getrimmt und ihr traditionelles Aufgabenspektrum um Fragen der Terrorismusbekämpfung oder
Energiesicherheit50 erweitert hat, ist die Wichtigkeit der europäischen Beiträge für den US-amerikanischen Verbündeten relativ gestiegen.
Abgesehen davon bringen sich die Europäer mit ihrer Sicherheits- und
Verteidigungspolitik – die insbesondere mit den Regelungen des Vertrags
von Lissabon zur Verstärkten Zusammenarbeit51 und zur Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit52 eine Effizienzsteigerung im Sinne der differenzierten Integration erfahren wird – in die Lage, den eigenen Kontinent
ohne Inanspruchnahme US-amerikanischer Unterstützung, d.h. unabhängig von dem zu konstatierenden hegemonialen „abandonment“-Verhalten zu verteidigen. Beide Entwicklungen erhöhen wiederum die Wahr50
51
52
Vgl. Varwick, Johannes: Die militärische Sicherung von Energie. Kann sich
die NATO neue strategische Aufgabenfelder erschließen?, in: Internationale
Politik 3/2008, S.50-55.
Vgl. Art.VI-326-334, Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EUV/AEUV), in: ABl. EU, Nr.2008/C115/01, 9.5.2008; 189-192; Vertragstext abrufbar unter: http://bookshop.europa.eu/eubookshop/download.
action?fileName=FXAC 08115DEC_002.pdf&eubphfUid=575507&catalogNbr
=FX-AC-08-115-EN-C, Stand: 21.2.2009.
Vgl. Art.I-42 Abs.6 i.V.m. Art.I-46 und Protokoll Nr.10 EUV/AEUV; in: ABl.
EU, Nr.2008/C115/01, 9.5.2008; 39-41, 275-277; Vertragstext abrufbar unter:
http://bookshop.europa.eu/eubookshop/download.action?fileName=FXAC
08115DEC_002.pdf&eubphfUid=575507&catalogNbr=FX-AC-08-115-EN-C,
Stand: 21.2.2009.
134
Martin Reichinger
scheinlichkeit zum „abandonment“ seitens der Europäer, deren ESVP sich
zwar in kleinen Schritten entwickelt, deren verteidigungspolitische Abhängigkeit von den Amerikanern aber an dem Tag dramatisch sinkt, an
dem sie in der Lage sind, ihre Sicherheit selbst zu gewährleisten.53
Zwei Dekaden sind vergangen, seit sich nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion die Sinnfrage für die NATO als Instrument staatlicher Sicherheitspolitik gestellt hatte. Diese Sinnfrage ist heute der Führungsfrage gewichen, die in den Modellen der transatlantischen Arbeitsteilung in
Form der „Strategischen Partnerschaft“ und der „flexiblen Koalitionen“54
unterschiedliche Antworten findet. Die Sollbruchstellen der allenthalben
beschworenen euro-atlantischen Partnerschaft55 liegen dabei einerseits
im US-amerikanischen Desinteresse an der NATO – sei es in Form des
bekannten Multilateralismus à la carte oder eines neuen Isolationismus56
–, andererseits in einem auf sicherheitspolitische Autonomie zielenden
Konkurrenzverhalten auf EU-europäischer Ebene. Am Ende der Ära Bush
jedenfalls ist festzustellen, dass das Interesse der USA an der NATO in ihrer
ursprünglichen Form und Besetzung kontinuierlich gesunken57 und der
über Jahrzehnte gepflegte partnerschaftliche Umgang der Bündnispartner
wenn nicht abhandengekommen, so doch einem weitaus pragmatischeren, erfolgsorientierteren Verständnis von Allianzpolitik gewichen ist.58
Die Notwendigkeit zur Flexibilisierung der Zusammenarbeit erwuchs dabei in den vergangenen Jahren auch aus der Multipolarisierung des internationalen Systems,59 mit der eine relative Abnahme der (Super-)Macht60
und damit ein absoluter Rückgang von Einfluss und Unabhängigkeit einhergingen.
Fest steht, dass die sicherheitspolitischen Herauforderungen heute für
alle Akteure immer ähnlicher werden. Daraus resultiert eine graduelle
53
54
55
56
57
58
59
60
Vgl. Haftendorn, Helga: Das Atlantische Bündnis in der Krise, in: Jahrbuch für
internationale Sicherheitspolitik 2002, Bd.2, hrsg. von Erich Reiter, Hamburg
u.a. 2002, S.75-86, hier S.81.
Vgl. den Beitrag von Carlo Masala in diesem Band.
Vgl. Walt, Stephen M.: The Ties That Fray: Why Europe and America are Approaching a Parting of the Ways, in: The National Interest 54/1993, S.3-11.
Vgl. Wilhelm, Andreas: Konstruktion eines „Empire“ durch „moralischen“ Realismus?, in: Empire, hrsg. von Eberhard Sandschneider, Baden-Baden 2007,
S.127-136, hier S.135.
Vgl. Masala, Carlo: Möglichkeiten einer Neuorientierung deutscher Außenund Sicherheitspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43/2008, S.22-27,
hier S.23.
Vgl. Kornelius, Stefan: USA fordern Kampfeinsatz der Bundeswehr, in: Süddeutsche Zeitung, 1.2.2008, S.2.
Vgl. Haass, Richard N.: Abschied vom Hegemon, in: Rheinischer Merkur
34/2008, S.7.
Vgl. Zakaria, Fareed: The Future of American Power, in: Foreign Affairs 3/2008,
S.18-43.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
135
Angleichung der Bedrohungsperzeptionen und sicherheitspolitischen Interessen, wie sie den jüngsten Strategiepapieren Großbritanniens61, Frankreichs62 und der Bundesrepublik Deutschlands63 zu entnehmen sind:
Sowohl die beiden Weißbücher aus Paris und Berlin als auch die (erste)
Nationale Sicherheitsstrategie aus London setzen dabei einen Schwerpunkt auf die Terrorismusbekämpfung, stehen robusten Militäreinsätzen
der NATO „out of area“ offen gegenüber und betonen die Wichtigkeit
zivil-militärischer Wiederaufbaumaßnahmen, deren Notwendigkeit auch
von der US-Regierung spätestens in der zweiten Amtszeit George W. Bushs
gesehen wurde.64 Mit der „National Security Strategy“ vom März 2006
nährte Washington in Europa dabei insgesamt die Hoffnung auf eine
künftig stärkere multilaterale Zusammenarbeit,65 auch, da es die Option
eines Präventivkriegs – wenn nicht vollständig ausschloss – so doch einschränkte.66 Damit scheinen sich die Sicherheitspolitiken der Partner ein
Stück weit angeglichen zu haben – ein Befund, der im Sinne der neorealistischen Allianztheorie67 den Thesen zum Zerfall der NATO nach dem
Ende des Ost-West-Konflikts68 widerspricht. Mehr noch: Gerade aufgrund
der in der Multipolarität erhöhten Bündnisoptionen scheint das noch
während der Irak-Krise hoch umstrittene US-Konzept des „coalition building“ heute von allen NATO-Partnern akzeptiert zu werden – und zwar
so lange, wie die Koalitionenbildung aus der NATO heraus erfolgt. Die
Tatsache, dass der neue US-Präsident wenige Wochen nach Amtsantritt –
wie zu erwarten stand – mit unmissverständlichen Forderungen auf seine
Bündnispartner zukam,69 sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass
die USA trotz der beschriebenen „entrapment“-Situation in Afghanistan
61
62
63
64
65
66
67
68
69
Vgl. Cabinet Office: The National Security Strategy of the United Kingdom: Security in an interdependent world, März 2008, http://interactive.cabinetoffice.
gov.uk/documents/security/national_security_strategy.pdf, Stand: 21.2.2009.
Vgl. Ministère de la Défense: Défense et Sécurité nationale. Le Livre Blanc, Vol.1,
Part.I, Juni 2008, www. defense.gouv.fr/content/download/120276/1053255/
version/1/file/LB_tome1_partie1%5B1%5D.pdf, Stand: 21.2.2009.
Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Rolle der Bundeswehr, Berlin 2006.
Vgl. Ackermann, Alice: The United States‘ Perspective on Conflict Prevention,
in: Transatlantic Discord. Combatting Terrorism and Proliferation, Preventing
Crises, hrsg. von Franz Eder, Gerhard Mangott und Martin Senn, Baden-Baden
2007, S.237-248.
Vgl. The White House, The National Security Strategy of the United States
of America, März 2006, S.14-17, www.whitehouse.gov/ nsc/nss/2006/, Stand:
10.11.2007.
Vgl. ebd., S.18.
Vgl. Snyder: The Security Dilemma in Alliance Politics, S.494.
Vgl. Layne, Christopher: Rethinking American Grand Strategy: Hegemony
or Balance of Power in the Twenty-First Century?, in: World Policy Journal
15/1998, S.8-28.
Vgl. Gebauer, Matthias/Schmitz, Gregor Peter: Obama setzt Nato-Partner
unter Zugzwang, in: Spiegel Online, 19.2.2009, www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,608586,00.html, Stand: 21.2.2009.
136
Martin Reichinger
noch immer die Hauptlast der kostenintensiven militärischen Sicherheitsleistungen tragen und allem Anschein nach auch in den kommenden Jahren verstärkt tragen werden.70
Während die US-Regierung die NATO mehr denn je aus militärischen
Gründen wertzuschätzen gelernt hat, steht für viele Europäer dabei zunehmend der politische Zweck der Allianz als Instrument zur Einflussnahme auf den Hegemon im Vordergrund. Speziell Frankreich unternimmt
hier gegenwärtig den Versuch, die funktionale Beschränkung des Bündnisses über den Ausbau einer EU-europäischen Sicherheits- und Verteidigungskomponente zu forcieren und bietet sich mit seiner Rückkehr in die
integrierte Militärstruktur der Allianz71 zugleich als schlagkräftiger Partner im Koalitionensystem der US-Regierung an. Großbritannien, das wie
Frankreich internationale Institutionen traditionell als Amplifikator nationaler Politikpositionen einsetzt, wirkt über eine weithin bilateral gehaltene Gefolgschaftstreue entgegen und prädestiniert sich so zur Führung
von Teilkoalitionen in Afghanistan und im EU-Rahmen. Allein Deutschland ist zur Vermittlung gezwungen, denn es kann weder in der NATO
noch in der EU seine Interessen ohne die Unterstützung der Partner umsetzen. Gleichwohl erwächst aus dieser Vermittlerrolle heute die Chance,
Einfluss auf die Interessenkonvergenz der EU-Kernstaaten zu nehmen und
mehrheits- und konsensfähige Positionen zu entwickeln. Der Anreiz für
die von den USA gewünschte Organisation von Gefolgschaftsbereitschaft
auf EU-Ebene läge dabei in der gestalterischen Einflussnahme auf die internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert.72 Die strategische Komponente eines solch „fordernden Multilateralismus“73 freilich bestünde in
der Erhöhung des EU-europäischen Gewichts in der Weltpolitik. Die ESVP
nämlich kommt heute bereits dort zum Einsatz, wo die USA nicht intervenieren wollen, nicht mehr intervenieren müssen oder nicht mehr intervenieren können, da ihre Kapazitäten nach den Jahren der Bush-Regierung
schlicht erschöpft sind.
Sowohl die Substitution der Allianz durch die EU-geführten Operationen „Concordia“ und „Althea“ auf dem Balkan als auch die zunehmende
Verwendung der NATO zum Anti-Terror-Kampf in Afghanistan belegen,
dass der Primat der NATO jedenfalls beim „peace-keeping“ zu schwinden
begonnen hat. Dies wiegt insofern schwer, als gerade der Fall Afghanistan beweist, dass „limited wars of intervention and robust PSOs are in-
70
71
72
73
Vgl. Rüb, Matthias: Washington entsendet weitere 17.000 Soldaten nach Afghanistan, in: FAZ, 19.2.2009, S.6.
Vgl. den Beitrag von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet in diesem Band.
Vgl. Masala: Möglichkeiten einer Neuorientierung, S.27.
Hellmann, Gunther: Fordernder Multilateralismus, in: FAZ, 4.2.2009, S.7.
Führungsanspruch und Entlastungswunsch der Bush-Administration
137
creasingly the currency of modern international security”.74 In der Tat
scheint die EU in ihrem diversifizierten Profil gegenüber vielen Bedrohungen heute glaubwürdiger zu sein als die NATO, deren Hauptrolle bei
der Verteidigung jedoch aufgrund der noch immer lückenhaften Fähigkeiten der Europäer nicht in Frage gestellt wird. Die EU braucht die NATO
umso mehr, je schwächer ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist.
Die Stärke der NATO aber hängt von der hegemonialen Kraft und der
Leistungsbereitschaft der USA ab, die sich wiederum als Ergebnis einer
Kosten-Nutzen-Erwägung aus faktisch notwendigen europäischen Bündnisleistungen und europäischen Ansprüchen auf Mitsprache und langfristige Gewinnpartizipation ergibt. Im flexiblen Koalitionensystem der USRegierung dominieren diese Interdependenzen. Dass die Supermacht eine
effektive Entlastung bei der Herstellung von Sicherheit künftig mit der
Einschränkung ihres Führungsanspruchs wird erkaufen müssen, stünde
insoweit in der außenpolitischen Bilanz der Bush-Administration.
74
Lindley-French, Julian: In the shade of Locarno? Why European defence is
failing, in: International Affairs 4/2002, S.789-811, hier S.804.
Die Obama-Administration:
Ouvertüre zu einem neuen
Amerika?
Ulf Gartzke
1. Ein glatter Regierungswechsel
Washington, DC – Anfang Februar 2009: Es sind erst knapp zwei Wochen
vergangen, seit Barack Obama in einer historischen Zeremonie auf den
Stufen des Kapitol als erster „African American“ zum 44. Präsidenten der
USA vereidigt wurde. Bereits in seiner Amtsantrittsrede vor rund 1,2 Millionen begeisterten Anhängern auf der Washingtoner Mall machte der
frischgebackene Präsident seine Landsleute mit ernster Miene auf harte
Zeiten gefasst:
„Unsere Nation befindet sich im Krieg gegen ein weitreichendes Netzwerk
von Gewalt und Hass. Unsere Wirtschaft ist stark geschwächt; eine Konsequenz der Gier und Unverantwortlichkeit einiger Personen, aber auch
unseres gemeinsamen Versagens, harte Entscheidungen zu treffen und
unsere Nation auf ein neues Zeitalter vorzubereiten. Unser Gesundheitssystem ist zu teuer, unsere Schulen versagen zu oft und jeder Tag liefert
neue Belege dafür, dass die Art und Weise, wie wir Energie nutzen, unsere
Gegner stärkt und unseren Planeten bedroht.“
Diese Liste an drängenden Herausforderungen, denen die USA und ihr
neuer Präsident gegenüberstehen, findet schon auf internationaler Ebene weitere Ergänzungen: den Nahost-Konflikt, das iranische Nuklearprogramm, die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen zu China und
Russland, der eskalierende Konflikt zwischen Pakistan und Indien, die
Lage in Nordkorea, das Risiko internationaler Nuklear-Proliferation, der
in den letzten Jahren in Lateinamerika verstärkt zu beobachtende Linkspopulismus (Hugo Chavez & Co.) usw. Die Vielzahl und Multidimensionalität der aktuellen Sicherheitsprobleme machen den jüngsten Amtsantritt Barack Obamas fraglos zu dem schwierigsten in der amerikanischen
Geschichte seit Abraham Lincolns Vereidigung 1861. Nicht zuletzt aus
diesem Grund verbinden daher auch Millionen von Obama-Anhängern
im In- und Ausland geradezu messianische Hoffnungen und Erwartungen
mit dem charismatischen früheren „Junior Senator“ aus Illinois.
Die Obama-Administration: Ouvertüre zu einem neuen Amerika?
139
Und in der Tat: Bislang lief für Barack Obama und sein Team vieles nach
Plan. Vor allem während der „transition phase“ – d.h. der 78 Tage dauernden Übergangszeit zwischen Obamas Wahlsieg am 4. November 2008
und dem offiziellen Amtsantritt am 20. Januar 2009 – konnte der 47-jährige „President-elect“ mit der schnellen und zielstrebigen Zusammenstellung seiner Regierungsmannschaft viele Vorschusslorbeeren sammeln.
Selbst langjährige politische Beobachter Amerikas waren sich zunächst
schnell darüber einig, dass die „Obama Transition“ der disziplinierteste
und professionellste Regierungswechsel sei, den Washington jemals erlebt habe. Nach dem Amtsantritt wandelte sich jedoch das Bild. Zwar
hatte die „Blagogate“-Affäre um das Verschachern von Obamas Senatssitz in Chicago und der durch Korruptionsvorwürfe bedingte Rückzug
Bill Richardsons als designierter US-Handelsminister Obamas „transition
phase“ nur marginal berührt, doch die jüngst enthüllten Steuerskandale
prominenter Vertreter seiner Administration – insbesondere der Rückzug
des Super-Lobbyisten und Obama-Intimus Tom Daschle – haben das coole
Saubermann-Image des neuen Präsidenten merklich getrübt.
2. Die Obama-Administration: jung, divers, urban und technologisch orientiert
Zum jetzigen Zeitpunkt – dieser Beitrag wurde, wie bereits eingangs erwähnt, Anfang Februar 2009 erstellt – ist es noch zu früh, die Obama Administration einer personellen und inhaltlichen Detailanalyse zu unterziehen. Dafür sind erst zu wenige Puzzle-Teile bekannt. Zwar stehen fast
alle Personalentscheidungen auf der ersten Ebene – d.h. Kabinettsminister
und Leiter wichtiger US-Regierungsbehörden sowie Obamas neuer Parallel-Stab an politischen Sonderberatern im Weißen Haus mit Zuständigkeiten für wichtige Themengebiete wie z.B. Klimaschutz- und Energiepolitik
– bereits fest. Doch letztlich werden auch Personalien auf der zweiten,
dritten und sogar vierten Hierarchieebene erheblichen Einfluss auf Inhalt
und Implementierung der politischen Agenda des neuen Präsidenten ausüben. Bedenkt man darüber hinaus, dass weitere rund 1.100 politische Beamte vom Senat bestätigt werden müssen, wird deutlich, dass noch mehrere Monate vergehen werden, bevor die neue Regierungsmannschaft ein
vollständiges Ganzes ergeben wird.
Gleichwohl lassen die bereits deutlich erkennbaren Konturen der ObamaAdministration Rückschlüsse auf das künftige Gesamtbild zu. Die Kontraste zur Ära Bush können auf den ersten Blick deutlicher kaum ausfallen. Zunächst einmal steht an der Spitze Amerikas nun ein 47 Jahre alter
„African American“ aus dem urbanen Chicago anstelle eines 62-jährigen
Weißen aus dem konservativen Texas. Weiterhin ist die Obama-Administration im Durchschnitt deutlich jünger, deutlich diverser (was die Präsenz
140
Ulf Gartzke
von Frauen und Minderheiten anlangt) sowie deutlich urbaner und mehr
technologisch orientiert als das Vorgänger-Team von George W. Bush.
Während sich viele Mitarbeiter von Barack Obama in ihren 30ern oder
sogar erst 20ern befinden – Jon Favreau ist als Chef-Redenschreiber des
US-Präsidenten gerade mal 27 Jahre alt –, wurde die Bush-Administration
im direkten Vergleich dazu klar von älteren Jahrgängen dominiert. Und
während der 43. Präsident der USA viele seiner engsten Berater aus dem
christlich-konservativen ländlichen Süden Amerikas (Texas und weitere
Staaten des sog. „Bible Belt“) rekrutierte, so sind es bei Obama nunmehr
vor allem die kosmopolitischen Eliten der amerikanischen Ost- und Westküste (v.a. New York und Kalifornien) sowie natürlich aus Chicago, die
wichtige Positionen in der Regierung übernehmen. Selbst die Besetzung
der heiß begehrten Praktikumsplätze in Washington wird sich angesichts
des Machtwechsels spätestens ab dem Sommer deutlich ändern. Kamen
unter Präsident Bush noch bevorzugt Studenten aus christlich-konservativen Kaderschmieden (Regent oder Liberty Universities in Virginia etc.)
zum Zuge, so werden nun viele der Obama-Praktikanten an den traditionellen US-Eliteuniversitäten (Harvard, Stanford etc.) studieren.
3.
Wichtige Mitglieder der Obama-Administration im Überblick
3.1 Stabschef Rahm Emanuel
Die erste wichtige Personalie der „transition phase“ war die Berufung von
Rahm Emanuel zum Stabschef des künftigen Präsidenten. Der 49-jährige
Kongressabgeordnete (2003-2009) aus dem Heimatstaat von Barack Obama gilt als Teil der „Chicago Mafia“ – dem unmittelbaren politischen Umfeld von Barack Obama in Chicago – und pflegt mit einer Reihe weiterer
Mitglieder, darunter Obamas Top-Wahlkampfstratege und wichtigster politischer Berater David Axelrod, bereits seit Jahren enge persönliche Freundschaften. Zusammen mit Senator Charles Schumer aus New York gilt Rahm
Emanuel zudem als Architekt des historischen Wahlsiegs der Demokraten
im Herbst 2006, bei dem die Republikaner vor dem Hintergrund von diversen Korruptions- und Sexskandalen in ihren Reihen ihre bestehenden
Mehrheiten in beiden Kammern des US-Kongresses einbüßten. Emanuel
ist nicht zuletzt wegen seines aggressiven Politik-Stils (Spitzname „Rahmbo“) vor allem bei den unter Madame Speaker Nancy Pelosi bereits seit
mehreren Jahren arg gebeutelten Republikanern im Repräsentantenhaus
nicht wohl gelitten. So sahen führende republikanische Politiker die Berufung von Emanuel zum Stabschef als wichtiges Indiz dafür, dass der neu
gewählte Präsident es mit seinem Wahlkampfversprechen, einen neuen,
weniger konfrontativen Ton nach Washington zu bringen, nicht wirklich
ernst meine, sondern vielmehr seine politische Agenda ohne Rücksicht auf
die Opposition in möglichst kurzer Zeit durchsetzen wolle.
Die Obama-Administration: Ouvertüre zu einem neuen Amerika?
141
Letztlich wird sich Rahm Emanuel jedoch vor allem mit seinen Parteifreunden auf dem Capitol Hill (insbesondere mit den früheren Kollegen
im Repräsentantenhaus) herumschlagen müssen. Sowohl House Speaker
Nancy Pelosi als auch Senate Majority Leader Harry Reid haben bereits
klar gemacht, dass sie sich nicht einfach als verlängerter Arm des Präsidenten sehen und bei der Umsetzung von Barack Obamas politischer
Agenda sowie der Bewältigung der Wirtschaftskrise eine gewichtige Mitsprache beanspruchen. Dies könnte die Ouvertüre zu einem nicht unerheblichen politischen Konflikt innerhalb der Demokraten werden, vor
allem dann, wenn Nancy Pelosi & Co. der Versuchung nicht widerstehen
können, im Kongress eine dezidiert linke Politikagenda (z.B. im Bereich
der Außen- und Sicherheitspolitik, der Steuer- und Budgetpolitik etc.) zu
verfolgen und sich damit unweigerlich auf Konfrontationskurs mit dem
neuen Präsidenten begeben.
3.2 Außenministerin Hillary Clinton und Vizepräsident Joe Biden
Die Berufung von Hillary Clinton zur neuen US-Außenministerin war zunächst sehr umstritten. Was hatte Barack Obama dazu bewogen, seine
schärfste innerparteiliche Konkurrentin auf einen so wichtigen Kabinettsposten zu berufen? Überdies eine Berufung, verbunden mit dem Risiko,
dass Ex-Präsident Bill Clinton über seine Frau indirekt in die Geschicke
der Obama-Administration eingreifen könnte. Die Einbindung von Hillary Clinton orientiert sich an dem historischen Vorbild Abraham Lincolns
mit seinem berühmten „Team of Rivals“-Konzept, demzufolge nur die fähigsten Personen mit der Führung des Landes zu betrauen sind, ungeachtet aller politischen Rivalitäten. Deshalb auch die Einbindung von Hillary
Clinton in die Obama-Administration, welche überdies die Unterstützung
an der demokratischen Basis, wie beabsichtigt, steigern konnte. Parallel
wird jedem Einfluss ihres Mannes deutlich vorgebaut. So wurden z.B. die
lange Zeit undurchsichtigen millionenschweren Fundraising-Aktivitäten
von Bill Clintons Privatstiftung erst auf Druck des Obama-Teams offengelegt, als Bedingung für den Einzug Hillary Clintons ins State Department.
Das Bestreben der Obama-Administration, den Einfluss der Clintons zu
begrenzen, führte in der Vergangenheit bereits zu ihrer Ablehnung als
Vize-Präsidentschaftskandidatin. Ein solcher Schritt hätte Obamas Wahlkampfslogan „Change We Can Believe In“ untergraben können, wenn
plötzlich die „alte“ First Lady nach acht Jahren zur neuen Nummer Zwei in
Amerika aufgestiegen wäre. Eine solche Kontinuität war nicht gewünscht.
Hillary Clinton ist in außen- und sicherheitspolitischen Fragen dem pragmatisch-moderaten Lager innerhalb der Demokratischen Partei zuzurechnen. So hatte sie trotz des hohen Drucks durch die pazifistische Parteibasis
142
Ulf Gartzke
während des gesamten Vorwahlkampfs nie ihre Unterstützung für Präsident George W. Bushs umstrittene „Iraq War Resolution“ vom Oktober
2002 revidiert und lehnte ebenso einen überstürzten Irak-Rückzug rundweg ab. In ihrer neuen Position im State Department will Hillary Clinton
nun vor allem die Kooperation mit Washingtons Alliierten verstärken und
gleichzeitig die Reputation Amerikas in der Welt wiederherstellen. Umfragen belegen deutlich, dass die USA nach acht Jahren George W. Bush
bei großen Teilen der Bevölkerung Europas und in fast allen islamischen
Staaten ein sehr schlechtes Ansehen besitzen. Die Ursachen hierfür sind
bekannt und reichen vom Krieg im Irak über Guantanamo und Abu Ghraib bis hin zu Washingtons Ablehnung des Kyoto-Protokolls. Die von
Präsident Bush in seiner zweiten Amtszeit ab Januar 2005 unter Führung
von Condoleezza Rice gestartete Charmeoffensive in Richtung der (europäischen) Alliierten konnte in diesem Zusammenhang lediglich das
Image Amerikas auf Ebene der politischen Eliten verbessern. Das Thema
„Public Diplomacy“ bleibt mit Blick auf die breite Bevölkerung deshalb
auch weiterhin eine der wichtigsten Herausforderungen und Prioritäten
amerikanischer Außenpolitik. Zur Beilegung der Krise um das iranische
Nuklearprogramm befürwortet Clinton die Aufnahme direkter Verhandlungen mit Teheran und will darüber hinaus die Beziehungen zu Syrien
reaktivieren.
Hillary Clinton stellt insgesamt sicherlich eine exzellente Wahl für den
wichtigen Posten als US-Außenministerin dar. Sie verfügt bereits heute
über internationale Anerkennung und genießt in vielen Hauptstädten der
Welt einen sehr guten Ruf. Auch innerhalb des State Department kann
Clinton auf die volle Unterstützung ihres Hauses zählen. So wurde sie
bereits an ihrem ersten Arbeitstag von rund 1.000 jubelnden Mitarbeitern
des Außenministeriums wie ein Rockstar empfangen. Gleichwohl wird
sich Hillary Clinton innerhalb der Obama-Administration in außen- und
sicherheitspolitischen Fragen behaupten müssen. So könnte sich die Ernennung der zwei neuen US-Sonderbeauftragten Richard Holbrooke (für
Afghanistan und Pakistan) sowie George Mitchell (für arabisch-israelische
Angelegenheiten) für Clinton als problematisch erweisen. Schließlich
wurden diese zwei erfahrenen außenpolitischen Schwergewichte der Demokraten in der Vergangenheit bereits selbst als potenzielle Außenminister gehandelt und könnten daher versucht sein, unter Umgehung der
Außenministerin direkt Einfluss auf die Politikgestaltung im Weißen Haus
und den Ministerien zu nehmen. Insbesondere Richard Holbrooke, den
gewieften Taktiker und knallharten Verhandlungsführer, sollte die ehemalige First Lady im Auge behalten. So vermochte Clinten angeblich erst
in letzter Minute und nach persönlicher Intervention bei Barack Obama
zu verhindern, dass Holbrooke ein eigenes Büro im Weißen Haus zugewiesen wurde. Die räumliche Nähe des 67-Jährigen zum Präsidenten hätte
sonst die Position der US-Außenministerin von vornherein untergraben.
Die Obama-Administration: Ouvertüre zu einem neuen Amerika?
143
Dennoch ließ es sich Holbrooke nicht nehmen, bei der offiziellen Vorstellung der beiden neuen Sonderbeauftragten im State Department vor
versammelter Regierungsspitze – d.h. inklusive Präsident Obama und Vize
Biden – die US-Außenministerin lediglich als seine „unmittelbare Chefin“
zu bezeichnen. Probleme scheinen vorprogrammiert zu sein. Es ist in diesem Zusammenhang interessant anzumerken, dass Holbrooke US-Medienberichten zufolge neben Afghanistan und Pakistan ursprünglich auch
noch für Indien als „Special Representative“ verantwortlich sein sollte.
Doch die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (und eine der dynamischsten Wirtschaftsregionen) wollte sich nicht in die gleiche Schublade
wie die beiden „failing states“ Afghanistan und Pakistan schieben lassen.
Nach energischen Protesten der indischen Regierung hinter den Kulissen
ist Holbrooke nunmehr lediglich für Afghanistan und Pakistan zuständig.
Die aufstrebende Großmacht Indien, mit der die Bush-Administration in
den letzten Jahren eine „wirtschaftlich-strategische Partnerschaft“ aufgebaut hat, spielt bereits in einer anderen Liga.
Für den außenpolitischen Wahlkampf-Beraterstab war die Berufung Clintons eine frustrierende Enttäuschung. Gehen doch jetzt viele wichtige
Schlüsselpositionen im State Department an alte Clinton-Vertraute, während Obama-nahe Politik-Experten aus Thinktanks, Wissenschaft und
Wirtschaft beim Kampf um interessante Jobs das Nachsehen haben. Bereits wenige Tage nach Barack Obamas Wahlsieg wurden die außenpolitischen Beraterstäbe komplett aufgelöst und die betreffenden Personen
lapidar gebeten, bei Interesse an einer Tätigkeit innerhalb der neuen Administration ihren Lebenslauf – wie alle anderen Amerikaner auch – auf
der Transition-Website www.change.gov einzureichen. Weiterhin wurde
ihnen ein enger Maulkorb verpasst: keine Kontakte zu den Medien und
keine Kontakte mit ausländischen Politikern und Diplomaten.
Angesichts der Tatsache, dass hier Hunderte von hoch qualifizierten Personen über einen Zeitraum von zwei Jahren erhebliche Zeit und Energie
in den harten US-Wahlkampf von Barack Obama investiert haben, zumeist neben ihren „normalen“ beruflichen Verpflichtungen, und dabei
auch Anfeindungen des Clinton-Teams erdulden mussten, ist die Enttäuschung oftmals riesig. Hier hatten sich viele einen gänzlichst anderen
„Change“ versprochen!
Abseits all dieser Fragen wird Hillary Clinton zweifelsohne das einflussreichste Mitglied der Obama-Administration werden, ihre politische
Statur und ihr weit verzweigtes persönliches Netzwerk kann neben dem
Präsidenten keiner aufwiegen. Die formale Nummer Zwei, Vizepräsident
Joe Biden, ist kein vergleichbar zentraler Akteur, und dies trotz seiner nahezu gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerungen, in alle wichtigen
Entscheidungen des Präsidenten involviert zu sein. Bislang hat es viel-
144
Ulf Gartzke
mehr den Anschein, dass Biden weder bei wichtigen Personalfragen noch
bei inhaltlichen Entscheidungen der Obama-Administration eine signifikante Rolle spielen konnte. Joe Biden bietet folglich einen klaren Bruch
zu dem brillanten „Strippenzieher“ und ultimativen Washington-Insider
Dick Cheney, den Biden mehrmals als „gefährlichsten“ Vizepräsidenten
in der Geschichte der USA bezeichnet hatte. Ungeachtet der Frage, wie
man zu Bidens Kritik an seinem Vorgänger steht, war Cheney zweifelsohne der einflussreichste Vizepräsident in der Geschichte der USA.
3.3 Nationaler Sicherheitsberater Jim Jones und Verteidigungsminister Robert Gates
Barack Obamas Nationaler Sicherheitsberater ist wohl der einzige hochrangige Mitarbeiter des neuen Präsidenten, der diesen Regierungsposten
auch im Falle eines Wahlsiegs von John McCain hätte bekommen können. Den ehemaligen Kommandanten des US-Marinekorps sowie früheren NATO-Oberbefehlshaber in Europa und Afghanistan verbindet eine
langjährige Freundschaft mit dem 72-jährigen republikanischen Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2008. Doch trotz seiner persönlichen
Beziehung zu McCain entschied sich Jones – der über alle Parteigrenzen
hinweg für seine Integrität und Professionalität geschätzt wird – schon
während der heißen Wahlkampfphase, Barack Obama als sicherheitspolitischer Berater im Hintergrund zur Verfügung zu stehen. Jones gilt als
ein Kenner Europas und entschiedener Befürworter der NATO. Er weiß
insbesondere um die Bedeutung der europäischen Alliierten bei der Bewältigung der schwierigen Situation in Afghanistan. Auch kennt er die
erheblichen innenpolitischen Probleme vieler europäischer Regierungen,
die mit einer massiven Ablehnung des aktuellen NATO-Engagements in
Afghanistan unter ihrer eigenen Bevölkerung zu kämpfen haben. Ein weiteres Thema, bei dem Jones über erhebliche Expertise verfügt, ist der Bereich Energiepolitik bzw. Energiesicherheit. So war Jones bis zu seinem
Wechsel in die Obama-Administration Präsident des „Institute for 21st
Century Energy“ bei der US-Handelskammer.
Traditionell kommt dem Nationalen Sicherheitsberater und seinem Mitarbeiterstab im National Security Council innerhalb der US-Administration eine wichtige Koordinierungsfunktion zu, insbesondere für die Abstimmung zwischen Weißem Haus, Pentagon und State Department. Die
Rolle und Bedeutung des National Security Advisor ist vor allem davon
abhängig, dass er/sie das volle Vertrauen des Präsidenten besitzt. Nur so
kann er seiner Position im relativen Kräfteverhältnis zu den anderen relevanten Akteuren (vor allem der Außen- und Verteidigungsminister sowie
ggf. der Vizepräsident) Gewicht verleihen. Doch selbst ein enges Vertrauensverhältnis zum Präsidenten ist noch keine automatische Erfolgsgaran-
Die Obama-Administration: Ouvertüre zu einem neuen Amerika?
145
tie für einen einflussreichen Sicherheitsberater. So sah sich Condoleezza
Rice in ihrer Zeit als George W. Bushs erste Nationale Sicherheitsberaterin
(2001-2005) weitgehend marginalisiert. Die Planungen für den Irakkrieg
wurden beispielsweise maßgeblich von Pentagon-Chef Donald Rumsfeld
und Vizepräsident Cheney vorangetrieben. Selbst der populäre damalige
Außenminister und Realpolitik-Anhänger Colin Powell zog im internen
Machtkampf mit ihnen den Kürzeren. Zum Schluss blieb sowohl Powell
als auch Rice nichts anderes übrig, als den Administrationskurs wohl oder
übel mitzutragen. Bushs letzter Sicherheitsberater Stephen Hadley war
noch schwächer und vermochte während der zweiten Amtszeit von George W. Bush – diesmal dominiert von Verteidigungsminister Robert Gates
und Außenministerin Condoleezza Rice – keine eigenen Akzente zu setzen.
Alle Anzeichen deuten bislang darauf hin, dass Jim Jones ein tendenziell
stärkerer Sicherheitsberater sein wird. Er besitzt umfangreiche militärische
Erfahrung, genießt Vertrauen über alle Parteigrenzen hinweg, und mit
Robert Gates steht ihm ein Verteidigungsminister auf Abruf gegenüber.
Denn auch wenn Barack Obama den bisherigen Pentagon-Chef überreden
konnte, vorläufig im Amt zu bleiben, wird dieses Arrangement jedoch
spätestens nach Jahresfrist enden. In der Zwischenzeit ist die Beibehaltung von Robert Gates jedoch ein geschickter, stabilisierender Schachzug,
der es Obama ermöglicht, jeden Bruch in der US-Verteidigungspolitik zu
vermeiden und die geplanten Anpassungen in der amerikanischen Militärstrategie im Irak sowie vor allem in Afghanistan schrittweise und
reibungslos vorzunehmen. Gleichzeitig konnte Barack Obama mit dem
Festhalten an Gates sein Wahlkampversprechen einlösen, ebenfalls prominente Republikaner in seine neue Administration einzubinden.
Robert Gates selbst hatte ursprünglich geplant, seinen Posten am 20. Januar
2009 zu räumen, blieb aber auf Bitten des „President-elect“ im Amt; nicht
zuletzt auch aus der Überzeugung, dass Kontinuität an der Pentagon-Spitze
zu einer Zeit, in der sich Amerika an mehreren Kriegsschauplätzen engagiert,
von großer Bedeutung sei. Wenngleich Gates vorläufig Verteidigungsminister
bleibt, werden aber fast alle anderen politischen Beamten der Bush-Administration im Pentagon in den kommenden Wochen und Monaten ihren Hut
nehmen müssen. Diesem Kompromiss musste Gates zustimmen. Im Gegenzug wurde ihm von Barack Obama zugesichert, dass während seiner Amtszeit
sein geplanter Nachfolger nicht im Pentagon arbeiten würde (z.B. als stellvertretender US-Verteidigungsminister). Verständlicherweise wollte Gates verhindern, dass sein designierter Nachfolger noch während seiner restlichen
Amtszeit im Pentagon die Kommando- und Hierarchieebenen durcheinander bringen und sich als de facto Verteidigungsminister etablieren könnte.
Just aus diesem Grund wird Richard Danzig, der bereits Barack Obama im
Wahlkampf als sicherheitspolitischer Chefberater zur Seite stand, erst nach
dem Abgang von Gates ins Pentagon wechseln – direkt an die Spitze.
146
Ulf Gartzke
Einigermaßen unbehelligt von diesen Entscheidungen dürfte sich die weitere Entwicklung des US-Verteidigungshaushaltes gestalten. Unter Präsident
George W. Bush stiegen die Militärausgaben nach den Terroranschlägen des
11. September 2001 – nicht zuletzt wegen der sehr teuren Interventionen in
Afghanistan und im Irak – rapide an und erreichten zuletzt, inklusive aller
Neben- und Nachtragshaushalte, die gigantische Summe von rund 700 Milliarden Dollar pro Jahr. Bereits während des US-Präsidentschaftswahlkampfs
wurde eifrig darüber spekuliert, ob nach einem möglichen Wahlsieg von
Barack Obama mit einer drastischen Verringerung des Verteidigungshaushaltes zu rechnen sei – nicht nur, um die häufig von Demokraten kritisierte
„Militarisierung der US-Außenpolitik“ unter George W. Bush rückgängig
zu machen, sondern auch, um die frei werdenden finanziellen Ressourcen
für eine expansive Gesundheits- und Sozialpolitik zu verwenden (das altbekannte „Kanonen vs. Butter“ Dilemma).
Pentagon-Beobachter gehen indes davon aus, dass zumindest in den
kommenden zwei Jahren mit keinen signifikanten Veränderungen im
Kernhaushalt des US-Verteidigungsministeriums – d.h. ohne die Kosten
laufender Militäroperationen in Afghanistan, Irak etc. – zu rechnen sei.
Dies betrifft vor allem die unter der Bush-Administration angelaufenen
bzw. geplanten Beschaffungsprogramme für neue Waffen- und Trägersysteme. Obschon das Defense Business Board, ein externes Beratergremium
des Pentagon, President-elect Barack Obama bereits im November 2008
angesichts der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise empfohlen hatte,
eine Reihe teurer Rüstungsinvestitionen neu zu überdenken und ggf. zu
streichen. „Business as usual is no longer an option”, so der Tenor des
Briefings.
Doch drastische Kürzungen sind in nächster Zeit trotz schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen nicht zu erwarten. Zum einen ist die
US-Rüstungslobby sehr einflussreich und kann insbesondere auf dem
Capitol Hill auf die Unterstützung mächtiger Senatoren und Kongressabgeordneten beider Parteien zählen. Zum anderen hat Barack Obama
gerade Bill Lynn, bislang Chef-Lobbyist beim Rüstungskonzern Raytheon,
zum stellvertretenden Verteidigungsminister nominiert. Diese Personalentscheidung Obamas – die eine Ausnahmegenehmigung des Präsidenten für die neuen, strikten Ethik-Richtlinien der Administration erforderte – stieß denn auch im Kongress umgehend auf Kritik. Bislang weisen
die Weichen im Pentagon in die bekannte Richtung und weniger nach
„Change We Can Believe In”. Bleibt abzuwarten, wie lange angesichts der
ökonomischen Krise eine Fortsetzung noch möglich sein wird. In diesem
Zusammenhang steht aber bereits heute fest, dass für Barack Obama ein
großer Terroranschlag à la 11. September während seiner Amtszeit politisch fatal wäre. Zumal dann, wenn in der amerikanischen Öffentlichkeit
der Eindruck entstünde, Obama habe die Sicherheitsinteressen des Lan-
Die Obama-Administration: Ouvertüre zu einem neuen Amerika?
147
des aus ökonomischen und ideologischen Gründen grob vernachlässigt
(z.B. durch massive Kürzungen im Budget von Pentagon und Homeland
Security, durch eine defensivere Anti-Terror Politik etc.). Man mag zur
Bush-Administration stehen wie man will: Viele Dinge liefen falsch bzw.
nicht so wie vorgesehen. Doch wird der 43. Präsident für sich immer beanspruchen können, mit seiner Regierung einen zweiten Terroranschlag
auf amerikanischem Boden für mehr als sieben Jahre verhindert zu haben.
Darin wird wohl das bleibende historische Vermächtnis von George W.
Bush bestehen.
3.4 Abschließende Bemerkungen
Vorliegender Beitrag fokussiert sich auf die außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsträger und Berater der Obama-Administration,
welche die öffentliche Wahrnehmung maßgeblich beeinflussen werden.
Wenngleich die Obama-Administration insgesamt gesehen (inklusive des
Präsidenten) jünger und diverser ist als die Bush-Administration, gilt für
fast alle im vorliegenden Artikel analysierten Personen, dass sie zumeist
weißer Hautfarbe und (mitunter deutlich) über 60 Jahre alt sind (Rahm
Emmanuel ist 49 Jahre alt). Offenkundig wurde angesichts der großen
Herausforderungen ein Generationswechsel in diesen Bereichen noch
einmal vertagt.
Schon vor der Amtseinführung von Barack Obama stand fest, dass die
Bewältigung der größten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression von
1929 seine wichtigste innen- und außenpolitische Herausforderung darstellen wird. Schließlich basieren die außen- und sicherheitspolitischen
Kapazitäten eines Landes letztlich auf der Stärke und Dynamik der jeweiligen Volkswirtschaft. Genauso wie z.B. Chinas rasanter wirtschaftlicher
Aufstieg zwangsläufig strategisch-militärische Konsequenzen zeitigt (bislang primär in Asien, zukünftig aber auch vermehrt auf globaler Ebene),
würde eine dauerhafte Schwächung der amerikanischen Wirtschaft unweigerlich den außen- und sicherheitspolitischen Spielraum Washingtons
erheblich einengen. Es sollte Deutschland in diesem Zusammenhang zu
denken geben, dass wir 2008 von China als drittgrößte Industrienation
der Welt abgelöst wurden. Wenngleich die Berechnungsmethoden und
die Zahlenakrobatik der chinesischen Regierung immer mit Fragezeichen
zu versehen sind, ist der generelle Trend eines Aufstiegs Asiens und eines
(zumindest relativen) Abstiegs Europas nicht von der Hand zu weisen.
Selbst die USA sind nicht völlig von den Konsequenzen des auf die westlichen Industrieländer zukommenden „demographischen Winters“ isoliert,
wenngleich eine generell höhere Geburtenrate und eine effektivere Einwanderungspolitik Amerika im Vergleich zum „Alten Kontinent“ Europa
erhebliche strukturelle Vorteile verschafft. Barack Obama hatte mit seiner
148
Ulf Gartzke
Administration ohne Zweifel einen starken Start. Doch Amerika befindet
sich im Zustand einer gefährlichen wirtschaftlich-militärischen Überdehnung und muss dringend die Balance zwischen seiner inneren Leistungsfähigkeit und seinen außen- und sicherheitspolitischen Ansprüchen wiederherstellen. An dieser gewaltigen historischen Herausforderung werden
sich Präsident Barack Obama und seine Administration letztlich messen
lassen müssen. Barack Obama und seine Mitstreiter werden die Vereinigten Staaten nicht neu erfinden, aber ihr Gesicht gravierend verändern.
Washingtons Krieg gegen den
Terror – Lehren aus den Fehlern
der Bush-Administration
James W. Davis
Der „Krieg gegen den Terrorismus“ – ersonnen als Antwort auf die Anschläge von New York und Washington am 11. September 2001 – war
zweifellos das wichtigste außen- und sicherheitspolitische Vermächtnis
der Bush-Administration. Nach sieben Jahren – einem Zeitraum also, der
das amerikanische Engagement in beiden Weltkriegen des vergangenen
Jahrhunderts übersteigt – und nach Kriegsausgaben in Höhe von rund
864 Milliarden US-Dollar,1 verließ George W. Bush sein Amt. Derweil
verteidigten 145.000 Soldaten einen hart erkämpften, aber fragilen Sieg
über die Aufständischen im Irak, die sich im Zuge der amerikanischen Invasion formiert hatten; weitere 30.000 Mann der US-Truppen bekämpften
gemeinsam mit rund 40-50.000 Soldaten der NATO sowie anderer alliierter Staaten wiedererstarkende Taliban in Afghanistan und eine sich
neu organisierende Al Qaida im westlichen Pakistan. Doch anstatt zu
einer voranschreitenden Demokratisierung im Nahen Osten zu führen,
hat der „Krieg gegen den Terror“ autoritären Regimen die Gelegenheit
gegeben, unter dem Mantel des Anti-Terror-Kampfes nicht-islamistische,
reformorientierte Oppositionsbewegungen zu unterdrücken, während Al
Qaida und seine Verbündeten reformistische Führer der islamischen Welt
systematisch getötet haben. Und trotz, oder vielleicht gerade wegen, der
Präsenz von 200.000 US-Soldaten an seiner Grenze und amerikanischen
Kriegsschiffen vor der Küste, strebte im Iran ein fundamentalistisches Regime weiterhin trotzig nach Atomwaffen und unterstützte die Hisbollah
im südlichen Libanon mit Geld und Waffen.
Ähnlich düster erschien auch die Situation im israelisch-palästinensischen Konflikt. Nachdem Bush den Konflikt für die längste Zeit seiner
Administration auf ein Abstellgleis verfrachtet hatte, verließ er sein Amt
zu einem Zeitpunkt, da die Spuren des israelischen Luftangriffs auf Gaza
kaum beseitigt waren. Zugleich war der Gazastreifen fest in der Hand der
Hamas – einer Organisation, die vom amerikanischen Außenministerium
als terroristisch eingestuft wird. Fortschritte im Friedensprozess hin zur
vielfach beschworenen „Zwei-Staaten-Lösung“ waren während der Amts1
Balasco, Amy: The Cost of Iraq, Afghanistan, and Other Global War on Terror Operations Since 9/11, Washington, DC, Congressional Research Service,
15.10.2008.
150
James W. Davis
zeit George W. Bushs nicht zu erkennen.2 Auch die Beziehungen zwischen
den USA und ihren traditionellen Alliierten (vor allem in Westeuropa)
waren in den vergangenen Jahren erheblich angespannt, während der
amerikanische Einfluss in wichtigen internationalen Organisationen dramatisch sank. Insgesamt hat die amerikanische Reputation in der Welt
durch den „Krieg gegen den Terror“ einen historischen Tiefstand erreicht:
Viele sahen in diesem Krieg nichts anderes als einen Krieg gegen den Islam oder einen Mosaikstein einer umfassenden imperialistischen Agenda.
Wieder andere kritisierten den Krieg als einen Angriff auf traditionelle
amerikanische Werte, insbesondere die Rechtstaatlichkeit.3 Und für beide
Seiten exemplifizierte das Militärgefängnis in Guantanamo geradezu den
moralischen Verfall Amerikas.
Wenn man jedoch argumentiert, dass der „Krieg gegen den Terror“ sowohl menschlich als auch finanziell verlustreich und für das amerikanische Prestige schädlich war, impliziert dies nicht notwendigerweise, dass
er auch ein völliger Misserfolg war. Zur Verteidigung der Bush-Politik sollte man anerkennen, dass kaum ein Sicherheitsexperte im September 2001
geglaubt hat, dass die Vereinigten Staaten in den kommenden sieben oder
acht Jahren nicht erneut Ziel eines Terroranschlags werden würden. Doch
es ist trotz der strapazierten Beziehungen während des Irakkriegs gelungen, die internationale Kooperation in der Geheimdienstarbeit sowie beim
Gesetzesvollzug zu vertiefen und wichtige Erfolge im Antiterrorkampf zu
ermöglichen: Im August 2006 etwa konnte dank der engen Zusammenarbeit zwischen pakistanischen, britischen und amerikanischen Sicherheitsbehörden ein Komplott islamistischer Terroristen vereitelt werden, die
geplant hatten, zehn Flugzeuge während des Flugs von Großbritannien
in die USA zu sprengen. Auch die Aufdeckung der Pläne für ein Bombenattentat auf den Frankfurter Flughafen im September 2007 wurde durch
die intensive Kooperation zwischen amerikanischen und deutschen Geheimdienstkräften ermöglicht.
Angesichts der globalen Natur der terroristischen Bedrohung reicht ein
enger Fokus auf „Homeland Defense“ jedoch nicht aus. Zum einen hat
es in der Zeit seit dem 11. September 2001 weltweit mehr islamistische
Attentate gegeben als in der Dekade zuvor – darunter die Anschläge auf
London (2005) und Madrid (2004). Zum anderen hat auch die Tötung
mehrerer Al Qaida-Anführer nichts daran geändert, dass sich Osama bin
Laden weiterhin auf freiem Fuß befindet. Zudem überrascht die Terror2
3
Die Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas haben allerdings auch
deutlich gemacht, dass ein Friedensschluss zwischen Israel und Palästinensern
erst möglich sein wird, wenn es zu einer Aussöhnung der Palästinenser untereinander kommt.
Vgl. die jährlichen Berichte des Pew Global Attitudes Project, Pew Research
Center, Washington, DC.
Washingtons Krieg gegen den Terror
151
organisation geradezu mit der Fähigkeit, sich immer wieder an das sich
ändernde strategische Umfeld anzupassen, so dass Experten mittlerweile
argumentieren, Al Qaida ähnele heute eher einer sozialen Bewegung als
einer zentral kontrollierten terroristischen Vereinigung.4 Wie erfolgreich
war also der Antiterrorkampf? Der frühere Verteidigungsminister Donald
Rumsfeld brachte diese Frage in einem Memo an hochrangige Mitarbeiter
auf den Punkt, indem er folgenden Maßstab vorschlug: „Are we capturing, killing or deterring and dissuading more terrorists every day than
the madrassas and the radical clerics are recruiting, training and deploying against us?“5
Rumsfelds Frage ist ebenso wichtig wie ironisch, denn sie zeigt die gravierendste Schwäche des – maßgeblich von ihm selbst mitentwickelten
– Antiterrorkriegs auf: Die Bush-Administration ist gescheitert, weil sie
nicht verstanden hat, dass das Ziel des Antiterrorkriegs nicht allein darin
bestehen kann, eine bestimmte Zahl von Terroristen festzunehmen oder
zu töten oder die Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet herzustellen, auch
wenn kaum bestritten werden kann, dass solche taktischen Maßnahmen
nützlich sind. Der Schlüssel zu einem langfristigen Erfolg in der Auseinandersetzung mit dem islamischen Terror liegt darin, den Kampf um Ideen
zu gewinnen. Oder, wie es ein enger Berater von Präsident Obama ausdrückte: „[The Bush Administration] misdiagnosed the most important
origins of the problem, put too much faith in military force and tough
talk, needlessly alienated friends and allies, and neglected the important
ideological aspects of the struggle.“6
1. Die Gefahr der Vereinfachung
In ihrem Bemühen, die Anziehungskraft des radikalen Islam zu verstehen, hat die Bush-Administration vielfach den Fehler begangen, sich auf
grob vereinfachte, oft monokausale Erklärungen zu verlassen. Solch simplifizierende Analysen haben wiederum zu kruden Strategien geführt, die
sich, nicht zuletzt wegen ihrer Beschränkung auf militärische Instrumente nationaler Machtausübung, häufig als kontraproduktiv erwiesen haben. Ein besonders augenscheinliches Beispiel für solch eine vereinfachte
Betrachtungsweise liefert die von der Bush-Regierung wiederholt vorge4
5
6
Vgl. Leheny, David: Terrorism, Social Movements and International Security:
How Al Qaeda Affects Southeast Asia, in: Japanese Journal of Political Science
6/2005, S.87-109; Sageman, Marc: Understanding Terror Networks, Phildelphia 2004; Sageman, Marc: Leaderless Jihad: Terror Networks in the Twentyfirst Century, Philadelphia 2008; Hoffman, Bruce: The Myth of Grassroots Terrorism. Why Osama bin Laden Still Matters, in: Foreign Affairs, Mai/Juni 2008.
Moniz, David/Squitieri, Tom: Defense Memo: A Grim Outlook, in: USA Today,
22.10.2003.
Gordon, Philip H.: Winning the Right War, in: Survival 49/2007, S.14-46.
152
James W. Davis
tragene Behauptung, dass die Terroristen uns angriffen, da sie die Freiheit
verabscheuten. Als dieses Argument erstmals kurz nach den Anschlägen
vom 11. September vorgebracht wurde, konnte man noch entschuldigend
einwenden, dass die Aussagen der besonderen Stresssituation geschuldet
waren und der Präsident noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, die Ereignisse mit seinen Beratern zu besprechen. Fünf Jahre später konnte diese Entschuldigung jedoch nicht mehr gelten. Bush wiederholte seine These dennoch und ignorierte damit eine Vielzahl exzellenter Studien und
ausgewogener Analysen, die in der Zwischenzeit auch von staatlichen
Institutionen produziert worden waren: „Iraq is not the reason the terrorists are at war against us. They are at war against us because they hate
everything America stands for – and we stand for freedom. We stand for
people to worship freely. One of the great things about America is, you‘re
equally American if you‘re a Jew, a Muslim, a Christian, an agnostic or an
atheist. What a powerful statement to the world about the compassion
of the American people that you‘re free to choose the religion you want
in our country. They can‘t stand the thought that people can go into the
public square in America and express their differences with government.
They can‘t stand the thought that the people get to decide the future of
our country by voting. Freedom bothers them because their ideology is
the opposite of liberty, it is the opposite of freedom. And they don‘t like
it because we know they know we stand in their way of their ambitions
in the Middle East, their ambitions to spread their hateful ideology as a
caliphate from Spain to Indonesia.”7
Bereits an anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass diese Aussage
zutiefst widersprüchlich ist.8 Denn einerseits wird behauptet, dass Terroristen motiviert seien durch ihren Hass auf die Freiheit; andererseits
heißt es, dass der Mangel an Freiheit die Menschen im Nahen Osten dazu
veranlasse, die Terroristen zu unterstützen. Doch beklagenswert ist nicht
allein dieser Widerspruch, sondern vor allem die kontraproduktive Strategie, die aus der Verbindung solch simplifizierter, oberflächlicher Betrachtungsweisen resultierte. Denn wenn Politiker davon überzeugt sind, dass
Terroristen uns für das hassen, was wir sind und nicht für das, was wir tun,
dann machen sie sich wahrscheinlich wenige Gedanken darüber, welche
Auswirkungen ihre Strategien im Kampf gegen den Terror für diejenigen
Gemeinschaften und Gesellschaften haben, aus denen die Terroristen
stammen. Und wenn fehlende Demokratie die Ursache des Terrors ist – ist
dann nicht Demokratie die Antwort?
7
8
President Bush Discusses Global War on Terror, Wardman Park Marriott Hotel, Washington DC, 29.9.2006, http://www.whitehouse.gov/news/releases/2006/09/20060929-3.html
Gordon: Winning the Right War, S.19.
Washingtons Krieg gegen den Terror
153
In gewisser Hinsicht hatte Bush natürlich Recht, als er erklärte, der Irak sei
nicht der Grund, warum sich die Terroristen mit uns im Krieg befänden.
Aber natürlich verfehlt diese Aussage den Kern des Problems. Die überwiegende Mehrheit der Forschung zu den Ursachen des Terrorismus verweist
auf ein komplexes Netz aus individuellen Gruppen- und Gesellschaftsdynamiken. Subjektive Klagen über historisches Unrecht, fehlenden Respekt
und erlittene Demütigungen geben diesen Dynamiken immer wieder
neue Nahrung. Für den „Krieg gegen den Terror“ war der Irakkrieg insofern kontraproduktiv, als er nicht nur die weit verbreitete Feindseligkeit
gegenüber den USA anstachelte, sondern auch dem unter radikalen Islamisten im Nahen und Mittleren Osten verbreiteten Argument Auftrieb
gab, wonach Amerika einen Krieg gegen den Islam führe. Darüber hinaus
hat das wenig fundierte Demokratieverständnis, das Demokratie schlicht
mit Wahlen gleichsetzt, aber die Notwendigkeit etablierter, repräsentativer politischer Parteien außer Acht lässt, im Irak zu einem äußerst fragilen
Resultat geführt, das gegenüber der konfessionellen Gewalt schon bald
nicht mehr standhalten konnte und beinahe in einen totalen Bürgerkrieg
ausgeartet wäre.9
Dabei kann natürlich kein Zweifel daran bestehen, dass die Förderung der
Demokratie ein erstrebenswertes Ziel ist – nicht zuletzt, weil stabile Demokratien langfristig notwendig sind, um der Herausforderung durch den
islamischen Terrorismus zu begegnen. Doch während wir in fest verankerten Demokratien jene Aspekte verwirklicht sehen, die wir auch in der islamischen Welt und in den internationalen Beziehungen insgesamt fördern
wollen, müssen wir beachten, dass schwach institutionalisierte Demokratien sowohl in ihrem Inneren, als auch im Verhältnis zu anderen Staaten
dazu neigen, ihre politischen Ziele gewaltsam zu verfolgen. Staaten, die
erst am Anfang ihrer Demokratisierung stehen, sind besonders anfällig für
kriegerische Auseinandersetzungen. Eine wichtige Studie, die Daten aus
den vergangenen zwei Jahrhunderten untersucht hat, belegt: Länder, die
Wahlen durchgeführt haben, ohne über die notwendigen Institutionen
zur friedlichen Austragung des politischen Wettbewerbs zu verfügen, sind
viermal so anfällig, in Kriege verstrickt zu werden. So ist etwa Jugoslawien
1991 in einem Bürgerkrieg versunken, sechs Monate nach entscheidenden Wahlen; die gewählten Regierungen Pakistans und Indiens standen
sich 1999 im Kargil-Krieg gegenüber; und Kriege zwischen Armenien und
Aserbaidschan, Peru und Ecuador, Russland und Tschetschenien sowie
Äthiopien und Eritrea folgten ebenfalls demokratischen Experimenten in
den 1990ern. Zu tödlichen Gewaltausbrüchen kam es auch in Burundi
nach den international mandatierten Wahlen im Jahr 1993 sowie in Ost9
National Intelligence Estimate. Prospects for Iraq‘s Stability: A Challenging
Road Ahead, Washington, DC, National Intelligence Council, Januar 2007;
Katzman, Kenneth: Iraq: Politics, Elections, Benchmarks, Washington, DC,
Congressional Research Service, November 2008.
154
James W. Davis
timor nach dem Unabhängigkeitsreferendum 1999.10 Wiederum ist die
Frage aber offenkundig, nicht, ob man überhaupt Demokratie fördern
soll, sondern, wie man es in einer verantwortungsvollen und erfolgversprechenden Weise tun kann. Eine Anti-Terror-Strategie, die diese Komplexität nicht zur Kenntnis nimmt, wird kaum die gewünschten Erfolge
produzieren, sondern stattdessen womöglich sogar zu jenen Ergebnissen
führen, die wir eigentlich vermeiden wollen.
Welche Gefahren eine vereinfachende Analyse mit sich bringt, zeigte sich
jedoch nicht nur in den fehlerhaften Erklärungen der Ursachen des Terrorismus. Auch die von der Bush-Administration vorgetragene Einschätzung
der Auswirkungen des Terrors wurde der Komplexität der Zusammenhänge nicht gerecht. Als etwa im Sommer 2006 die Hisbollah aus dem südlichen Libanon israelische Streitkräfte angriff und dabei zwei israelische
Soldaten verschleppte und acht weitere tötete, bezeichnete George W.
Bush den Konflikt als eine weitere Front im globalen Antiterror-Kampf,
obwohl die Hisbollah eine radikalisierte Gruppierung innerhalb des
schiitischen Islam darstellt und ganz andere Ziele verfolgt als die vom
Wahabismus inspirierte sunnitische Al Qaida.11 Doch die Mängel dieser
Rhetorik beschränken sich nicht allein auf die schwachen analytischen
Grundlagen, sondern sie verschließen auch den Blick dafür, dass Differenzen und Risse innerhalb des Islam eine Gelegenheit darstellen könnten,
die politischen Ambitionen der Radikalen zu bekämpfen, den regionalen
Machtansprüchen einiger Akteure entgegenzuarbeiten und gezielt Gruppen gegeneinander auszuspielen. Noch schwerer wiegt zudem, dass diese
Rhetorik – und das damit einhergehende Zusammenwerfen schiitischer
und sunnitischer Gruppen in ein vermeintlich monolithisches Ganzes –
den Eindruck verstärken, dass die USA und ihre Verbündeten tatsächlich
den Islam als solches als Feind betrachten. Dies wiederum motiviert diejenigen Gruppen, die eigentlich untereinander um Einfluss in der islamischen Welt konkurrieren würden, nun stattdessen taktische Allianzen
gegen den gemeinsamen Gegner – die USA, ihre Alliierten und deren weltweite Interessen – einzugehen.
Neben dieser fehlenden Sensibilität für Differenzen innerhalb des Islam
zeigte sich die Bush-Regierung selbst auf den höchsten Ebenen erschrekkend ignorant gegenüber wichtigen ethnischen und nationalen Rivalitäten in denjenigen Regionen der Welt, die für die Rekrutierung radikaler
Islamisten besonders wichtig waren. Auch die Auswirkungen des „Krieges
gegen den Terror“ auf die regionalen Machtverhältnisse wurden von der
amerikanischen Administration häufig nur unzureichend bedacht: Ob10
11
Mansfield, Edward D./Snyder, Jack L.: Electing to Fight. Why Emerging Democracies go to War, Cambridge 2005.
President Discusses Foreign Policy During Visit to State Department, 14.8.2006,
http://www.whitehouse.gov/news/releases/2006/08/20060814-3.html
Washingtons Krieg gegen den Terror
155
wohl es recht vorhersehbar war, erkannte man erst spät, dass der Iran der
regionale Hauptnutznießer einer jeden Strategie sein würde, die darauf
abzielt, sowohl Saddam Hussein (Irans arabischen Gegenspieler) als auch
die Taliban (einen zentralen ideologischen Gegner) zu zerstören. Und in
Afghanistan schien die Bush-Administration nicht zu realisieren, dass die
pakistanische Unterstützung der Taliban Teil einer größeren Strategie des
Geheimdiensts (ISI) war und darauf abzielte, den paschtunischen Nationalismus und damit einhergehende Machtambitionen zu bekämpfen, um
die eigenen Truppen in Kaschmir konzentrieren zu können.
Der Verweis auf diese innerislamischen Unterschiede und auf die Risse
innerhalb jener Regionen, die gemeinhin mit dem „Krieg gegen den Terror“ in Verbindung gebracht werden, erinnert uns einmal mehr daran,
dass eine Strategie zur Terrorismusbekämpfung nicht unabhängig von
einer umfassenderen außenpolitischen Agenda entwickelt werden kann,
welche sich sensibel mit den geopolitischen Realitäten auseinandersetzt.
Doch anstatt den „Krieg gegen den Terror“ in einen größeren geopolitischen Rahmen einzuordnen, hat die Bush-Administration gerade die
Außenpolitik selbst diesem Krieg untergeordnet. Das Ergebnis war eine
Deformation des politischen Prozesses und des politischen Gefüges, eine
Schieflage bei den Investitionen ohnehin knapper menschlicher und
materieller Ressourcen, ein mangelhaftes Verständnis und ein unzureichender Einsatz des gesamten Instrumentariums zur Verfügung stehender
nationaler Machtmittel und ein grundsätzliches Versagen bei der Definition eines umfassenden politischen Ziels, das der US-Politik vorangestellt
werden könnte.
2. Vernachlässigung nicht-militärischer Instrumente
So war der „Krieg gegen den Terror“ gleichzeitig zu weit und zu eng. Zu
weit war er insofern, als die Bush-Administration eine Vielzahl von außenpolitischen Entscheidungen mit dem Antiterror-Kampf vermischt hat
– den Sieg gegen die Taliban in Afghanistan, die Bekämpfung des iranischen Atomprogramms sowie des iranischen Machtstrebens in der Region, die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, die Förderung
von Entwicklung und Demokratie usw. Zu eng gefasst war der Krieg, weil
die Nützlichkeit militärischer Instrumente gegenüber anderen Instrumenten der nationalen Machtausübung überschätzt wurde, mit negativen Folgen für die Innen- und Außenpolitik.
Diese Betonung der militärischen Instrumente war jedoch von Beginn an
sichtbar; die strategischen Grundzüge wurden bereits im September 2002
in der Nationalen Sicherheitsstrategie veröffentlicht. Darin wird insbesondere die Antizipation und Verhinderung terroristischer Attacken gefordert
156
James W. Davis
oder, wie es Präsident Bush in einer Reihe von Reden immer wieder formuliert hat: „We will confront them overseas so that we do not have to
confront them here at home.“12 Angesichts der von der Bush-Administration frühzeitig geäußerten Abneigung gegenüber „Nation-Building“ mag
es dementsprechend kaum überraschen, dass sich in diesem Dokument
wenig finden lässt über die Notwendigkeit, Kapazitäten und staatliche
Strukturen in schwachen Staaten oder Post-Konflikt-Situationen zu stärken. Stattdessen hat man sich intensiv mit einer möglichen Verbindung
zwischen „rogue states“ und Massenvernichtungswaffen beschäftigt.
Am offenkundigsten werden die Möglichkeiten und Grenzen des militärischen Anti-Terror-Kampfes in Afghanistan. Zwar haben die amerikanischen und britischen Einheiten, unterstützt durch Kämpfer der Nordallianz, im Herbst 2001 mit großem Erfolg die Trainingscamps von Al Qaida
zerstört und die Taliban vertrieben.13 Doch in den darauffolgenden Jahren
ist es Al Qaida und den Taliban besser gelungen, sich im sogenannten
„Stammesgebiet unter Bundesverwaltung“ (FATA) im westlichen Pakistan
neu zu organisieren, während die internationale Gemeinschaft bekanntermaßen weniger erfolgreich darin war, einen gut funktionierenden
afghanischen Staat aufzubauen. Einer Studie der Brookings Institution
zufolge ist Afghanistan heute der zweitschwächste Staat der Welt, die Gesamtsituation in Afghanistan wird schlechter eingeschätzt als die im Irak.
Darüber hinaus gilt das Land am Hindukusch der gleichen Studie zufolge
als das weltweit unsicherste. Auch in Bezug auf das staatliche Sozialwesen
beurteilt Brookings die Lage in Afghanistan als katastrophal. Aufgrund
der hohen Kindersterblichkeit, dem mangelhaften Zugang zu sauberem
Trinkwasser und sanitären Einrichtungen sowie einer nur geringen Zahl
von Primarschulabsolventen schneidet Afghanistan auch in dieser Kategorie schlechter ab als jedes andere Land der Welt.14 Auch wenn die Rhetorik eine andere war, hat die Bush-Regierung doch zu keinem Zeitpunkt
annähernd ausreichende Mittel bereitgestellt, um einen funktionierenden Staat aufzubauen. Afghanistan hat pro Kopf wesentlich weniger Hilfe
erhalten als andere Post-Konflikt-Staaten wie Bosnien, Kosovo oder Haiti.
Nach Einschätzung eines afghanischen Experten war die Differenz gravierend: „Aid per capita to Afghans in the first two years after the fall
12
13
14
President Bush, George W.: Remarks at Oak Ridge National Laboratory,
12.7.2004, http://www.cfr.org/publication/7178/remarks_at_oak_ridge_national_laboratory.html
Für Analysen der US-Strategie in Afghanistan siehe Andres, Richard B./Wills,
Craig/Griffith, Thomas Jr.: Winning with Allies: The Strategic Value of the
Afghan Model, in: International Security 30/2005, S.124-160; Biddle, Stephen
D.: Allies, Airpower, and Modern Warfare: The Afghan Model in Afghanistan
and Iraq, in: International Security 30/2005, S.161-176.
Brookings Institution, Index of State Weakness in the Developing World,
http://www.brookings.edu/reports/2008/~/media/Files/rc/reports/2008/02_
weak_states_index/02_weak_states_index_basket_scores_pullout.pdf
Washingtons Krieg gegen den Terror
157
of the Taliban was around a tenth of that given to Bosnians following the
end of the Balkan civil war in the mid-1990s.“15
In der afghanischen Bevölkerung wächst gleichzeitig der Unmut darüber,
dass es der Regierung Präsident Karzais weder gelungen ist, die eigene Autorität, noch den öffentlichen Dienst über das ganze Land hinweg auszudehnen und für eine spürbare Verbesserung der Lebensumstände zu sorgen.16 Infolge dessen kam es zu einem Wiedererstarken von Taliban und
Al Qaida – nicht weil diese militärisch besonders mächtig sind, sondern
weil die afghanische Regierung weiterhin zu schwach ist, um ihnen Einhalt zu gebieten.17
Die Vernachlässigung nicht-militärischer Machtinstrumente bei den amerikanischen Auslandsoperationen spiegelt zudem ein innenpolitisch-bürokratisches Ungleichgewicht wider: Nach den Anschlägen vom 11. September ist das Budget des Verteidigungsministeriums effektiv um rund
60% gestiegen und belief sich für das Jahr 2008 auf mehr als 500 Milliarden Dollar. Und obwohl auch das Budget des Außenministeriums nach
dem 11. September gestiegen ist – die Einschnitte, die seit dem Ende des
Kalten Krieges gemacht worden waren, wurden zurückgenommen und
weitere Mittel bereitgestellt – bleiben die Ressourcen und das verfügbare
Personal für eine „Soft Power“-Politik in beklagenswertem Maße unzureichend. So blieb etwa die Zahl der amerikanischen Diplomaten mehr oder
weniger konstant, selbst nachdem Außenministerin Rice erklärt hatte,
dass mehr außenpolitische Missionen notwendig seien, um die gesteckten Ziele der „transformativen Diplomatie“ erreichen zu können.18 Doch
während die US-Behörde für Internationale Entwicklung zu Zeiten des
Vietnamkriegs noch 15.000 Mitarbeiter beschäftigte, sind es heute nur
noch 3.000. Das Schicksal der wichtigsten amerikanischen Einrichtung
für „Public Diplomacy“ ist noch dramatischer: Die United States Information Agency, die einmal über ein Budget in Höhe von einer Milliarde
Dollar verfügte, mehrere 10.000 Mitarbeiter (darunter viele Nicht-Amerikaner) beschäftigte und Informations- und Kulturzentren auf der ganzen Welt unterhielt, wurde 1999 „abgewickelt“. Nach den Anschlägen auf
New York und Washington gab es deshalb keine staatliche Institution,
die allein zuständig gewesen wäre, den Kampf um Ideen aufzunehmen –
mit dem Ergebnis, dass sich schließlich keine Behörde zuständig fühlte.
15
16
17
18
Wadhams, Caroline P./Lawrence J. Korb: The Forgotton Front, Washington,
DC 2007, S.29.
Jones, James L./Pickering, Thomas R.: Afghanistan Study Group Report, Washington, DC Januar 2008, S.17.
Strategic Advisors Group: Saving Afghanistan: An Appeal and Plan for Urgent
Action, Washington, DC März 2008.
„Transformational Diplomacy“, Remarks of Secretary of State Condoleezza
Rice at Georgetown University, 18.1.2006, http://www.state.gov/secretary/
rm/2006/59306.htm
158
James W. Davis
Die Notwendigkeit einer besseren Zusammenarbeit mit zivilen Akteuren
und einer effizienteren öffentlichen Diplomatie im Kampf um Ideen hat
auch Verteidigungsminister Robert Gates erkannt. Er plädierte unlängst
für eine drastische Ausweitung der „civilian elements of the United States´
national security apparatus“19.
3. Implikationen für die neue Administration
Welche Folgerungen sich aus der vorangegangenen Analyse für die Obama-Administration ergeben, sind offensichtlich und, wie ich glaube,
vom Präsidenten und seinen Beratern weithin verstanden.
Erstens: Der „Krieg gegen den Terror“ muss einer umfassenden außenpolitischen Agenda untergeordnet werden, einer Agenda, die nicht allein
definiert, was Amerika verhindern will, sondern die ebenso eine Reihe positiver Ziele umfasst und das Potenzial hat, auch in der islamischen Welt
Anziehungskraft zu entfalten. Die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten müssen eine Zukunftsvision aufzeigen, welche all jene anspricht, die
den gewaltsamen Extremismus ablehnen und gleichzeitig nach besseren
Möglichkeiten streben, um selbstbestimmt zu leben. Aber, um es in den
Worten Präsident Obamas zu sagen, das erfordert „more than lectures on
democracy. We need to deepen our knowledge of the circumstances and
beliefs that underpin extremism“20.
Zweitens: Auch wenn militärische Instrumente und der Einsatz möglicherweise todbringender Gewalt weiterhin eine Rolle im Antiterrorkampf
spielen werden, so müssen diese Mittel doch ergänzt und ausbalanciert
werden durch nicht-militärische Instrumente, die auf einem komplexeren
Verständnis der vielfältigen historischen, politischen und sozialen Ursachen des Terrorismus beruhen. Ein wirklich weit gespannter, alle staatlichen Institutionen umfassender Ansatz wird eine bessere Koordination
zwischen den Ministerien sowie eine Anhebung der Budgets der zivilen
Ministerien erfordern. Ein wirklich mutiger – wenngleich innenpolitisch
riskanter – Schritt wäre zudem, die generelle Frage aufzuwerfen, ob unsere
Außen- und Sicherheitsbürokratie überhaupt angemessen konzipiert ist,
um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Abgesehen von kleineren Korrekturen nach den Attacken vom 11. September
ist die Bürokratie, die Präsident Obama von seinem Amtsvorgänger übernimmt, ein Apparat, der gestaltet worden ist, um den Anforderungen des
Kalten Kriegs gerecht zu werden. Doch in einer Zeit, in der die Grenzen
19
20
Gates, Robert M.: A Balanced Strategy: Programming the Pentagon for a New
Age, in: Foreign Affairs 88/2009.
Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs 86/2007,
S.11.
Washingtons Krieg gegen den Terror
159
zwischen zivilen und militärischen Missionen einerseits sowie zwischen
innerer und äußerer Sicherheit andererseits immer mehr verschwimmen,
ist die Bereitschaft, unkonventionell zu denken, eine zentrale Voraussetzung für institutionelle Innovation.
Drittens: Washington benötigt eine nuanciertere Strategie, um mit den
regionalen geopolitischen Komplexitäten im Antiterrorkampf zurechtzukommen. In seiner Zeit als Präsidentschaftskandidat schien Barack Obama
dies verstanden zu haben, schrieb er doch in seinem Beitrag für Foreign
Affairs: „I will encourage dialogue between Pakistan and India to work toward resolving their dispute over Kashmir and between Afghanistan and
Pakistan to resolve their historic differences and develop the Pashtun border region. If Pakistan can look toward the east with greater confidence,
it will be less likely to believe that its interests are best advanced through
cooperation with the Taliban.”21
4. Implikationen für die transatlantischen Beziehungen
Die weit verbreitete europäische Ablehnung der Bush-Doktrin (in welcher
argumentiert wurde, die USA hätten das Recht, unilateral zu handeln, um
terroristischen Angriffen zuvorzukommen) sowie die Entscheidung der
USA, in den Irak einzumarschieren, haben die transatlantischen Beziehungen in die tiefste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestürzt.
Vielfach wurde prophezeit, dass die Krise gar einen Wendepunkt darstelle,
der die Natur der amerikanisch-europäischen Partnerschaft für immer verändern werde, nicht zuletzt weil Europa zukünftig in zentralen Fragen der
internationalen Sicherheit nicht mehr automatisch auf die Führungsrolle
der USA verweisen werde.
Doch obwohl vieles für eine solche Lesart spricht, basieren solche Argumente doch auf einer gravierenden Schwäche: Sie überbewerten einerseits
das Maß an Harmonie, das die transatlantischen Beziehungen während
der vergangenen 50 Jahre vermeintlich geprägt hat. Und andererseits
überbewerten sie auch den Bruch, der sich in den letzten Jahren aufgetan
haben soll. Abseits der rhetorischen Exzesse eines Präsidenten Bush oder
eines Kanzlers Schröder sind die Arbeitsbeziehungen zwischen Amerikanern und ihren europäischen Kollegen heute jedoch in vielerlei Hinsicht
intensiver und produktiver als während des Kalten Krieges. Und es gibt
keinen Anlass zu befürchten, dass sich diese Formen der engen Kooperation und Koordination unter einer neuen Administration verschlechtern
werden.
21
Obama: Renewing American Leadership, S.10.
160
James W. Davis
Wenn sich aber die Obama-Administration entscheiden sollte, in der zuvor skizzierten Art voranzuschreiten und den „Krieg gegen den Terror“
einer breiteren Strategie zur fundamentalen Transformation der Beziehungen zwischen dem Westen und den islamischen Gesellschaften unterzuordnen, dann wird eine enge Zusammenarbeit allein auf der Ebene der
Arbeitsbeziehungen in Zukunft nicht mehr ausreichen. Europa und die
USA müssen sich einig sein, sie müssen die gleichen positiven Signale aussenden und gemeinsam daran arbeiten, den Krieg der Ideen erfolgreich
zu bewältigen. Denn wie sonst wollen wir andere davon überzeugen, dass
unsere Zukunftsvision erstrebenswert ist, wenn wir untereinander vielstimmig weiter streiten? Zudem hat die gegenwärtige Finanzkrise allen
Budgets erhebliche Zwänge auferlegt, so dass nur eine vertiefte Kooperation auf den höchsten Regierungsebenen dabei helfen kann, die knappen
Mittel effektiv für einen umfassenden Ansatz einzusetzen.
Der von der Bush-Administration geführte „Krieg gegen den Terror“ war
geprägt von vielen Fehlern, aus denen sowohl Amerikaner als auch Europäer heute lernen müssen. In anderen Dingen lag die Regierung um
George W. Bush jedoch richtig, etwa in der Überzeugung, dass der Kampf
gegen den islamistischen Extremismus die Herausforderung für eine ganze Generation sein würde. Daraus folgt, dass Amerikaner und Europäer
mit Ausdauer und Geduld an der Umsetzung einer verbesserten Strategie
arbeiten müssen. Wenn sie dabei erfolgreich sind, werden sich mehr und
mehr Muslime gegen die Extremisten in ihren eigenen Gesellschaften
wenden und den Terror als ein legitimes Mittel des politischen Widerstands ablehnen. Erst dann werden wir die Antwort geben können, auf
die Rumsfeld gewartet hat.
USA, Multilateralismus
und internationale
Organisationen
Das Spannungsfeld der Mandatierung
internationaler Zwangsgewalt
Johannes Varwick
1. Wandel als Programm – auch in der Außenpolitik?
Barack Obama wurde mit dem Versprechen eines grundlegenden Wandels
in allen Politikbereichen zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von
Amerika gewählt. Im Bereich der Außenpolitik – der sicher nicht wahlentscheidend war – dürfte dieser Wandel jedoch insgesamt weniger radikal
ausfallen, als dies diejenigen, die seinem Vorgänger „eine der schlechtesten außenpolitischen Leistungsbilanzen aller US-Präsidenten“1 bescheinigen, erwarten. Denn erstens war bereits in der zweiten Amtszeit von George W. Bush eine Veränderung des stark unilateralistisch geprägten Stils zu
verzeichnen, der sich auch im Rückzug neokonservativer Schlüsselakteure
wie Wolfowitz, Bolton oder Rumsfeld zeigte. Zweitens sind aufgrund der
Zwänge des politischen Systems der USA radikale Veränderungen in der
Außenpolitik unwahrscheinlich und drittens steht die neue außenpolitische Mannschaft Obamas mit Außenministerin Hillary Clinton, dem alten und neuen Verteidigungsminister Robert Gates und Sicherheitsberater
James Jones an der Spitze nicht für einen vollkommen neuen Ansatz in
der Außenpolitik.
Anderseits sind die Herausforderungen, vor denen der neue Präsident im
Bereich der Außenpolitik steht, enorm: Es handelt sich, wie es Richard
Holbrooke formulierte, um „eine Respekt einflößende Agenda“.2 Ein Blick
auf die angekündigte außenpolitische Prioritätenliste der neuen Administration lässt in der Substanz auf ein gehöriges Maß an Kontinuität schließen.
1
2
Amerikanische Außenpolitik unter Bush: Bilanz und Ausblick, CSS Analysen
zur Sicherheitspolitik, Zürich 2008. Als eine der wenigen Beispiele für eine
insgesamt positive außenpolitische Bilanz der Bush-Zeit siehe Gaddis, John
Lewis: Das Ende der Tyrannei, in: Internationale Politik 1/2009, S.70-82.
Hoolbroke, Richard: The Next President. Mastering a Daunting Agenda, in:
Foreign Affairs, September/Oktober 2008. Alle englischsprachigen Aussagen
im gesamten Beitrag sind vom Verfasser aus Gründen der besseren Lesbarkeit
des Textes ins Deutsche übersetzt worden.
162
Johannes Varwick
Barack Obama3 selbst nennt als sicherheitspolitische Herausforderungen
die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, globalen Terrorismus,
Schurkenstaaten (rogue states), schwache Staaten (weak states) sowie aufstrebende Staaten, die die internationale liberale Ordnung herausfordern.
Er bewegt sich damit hinsichtlich der Problemwahrnehmung durchaus
in Tradition der Sicherheitsstrategien der Bush-Administration. Wichtigste inhaltliche Veränderung ist, dass das Thema Klimaveränderung und
globale Erderwärmung als gleichwertige sicherheitspolitische Herausforderung zu den genannten Gefahren gesehen wird und in diesem Bereich
erhebliches amerikanisches Umsteuern angekündigt wird. Obama erklärte zudem bei zahlreichen Gelegenheiten, dass er die amerikanische Führungsrolle erneuern, internationale Organisationen reformieren sowie die
amerikanischen Allianzen und Partnerschaften stärken wolle.4 In jedem
Fall lässt sich Obama einer außenpolitischen Schule zurechnen, die in den
USA den Garanten der internationalen Stabilität sieht und in der die USA
die Rolle eines „sanften“ oder „wohlmeinenden Hegemons“ einnehmen
müssten.5 Der Versuchung, nach den Lasten des Irak-Krieges nach innen
zu schauen, müssten die USA dezidiert widerstehen. Der „amerikanische
Moment“ sei nicht vorbei, müsse aber neu begriffen werden.6
Unabhängig von der Einschätzung, wie viel Wandel es im Zuge der neuen Administration im Bereich der Außenpolitik geben wird, steht Obama für einen Aufbruch, der auch die Außenpolitik berühren wird. Ob
daraus ein neues Verhältnis der USA zu internationalen Organisationen
und zum Multilateralismus abgeleitet werden kann, soll im Folgenden
analysiert werden. Hinsichtlich der Frage der Legitimierung militärischer
Gewalt wird festgehalten, dass das allgemeine Gewaltverbot und die Regelungen zur friedlichen Streitbeilegung sowie das in der völkerrechtlichen
Idealwelt bestehende Gewaltlegitimierungsmonopol des Sicherheitsrats
der Vereinten Nationen zwar in der politischen Praxis permanent unter
Druck sind, jedoch weder normativ noch politikpraktisch eine bessere
Alternative in Sicht ist. Gleichwohl ist multilaterale Zusammenarbeit im
Rahmen der Vereinten Nationen oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend.
Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen unstrittig, dass nur
ein multilateraler Ansatz erfolgversprechend sein kann. Anderseits sind
3
4
5
6
Als programmatischen Beitrag vor seiner Wahl zum Präsidenten Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs, Juli/August 2007,
S.2-16.
Die Aussagen im Wahlprogramm und in verschiedenen programmatischen
Reden im Internet, http://origin.barackobama.com/issues/foreign_policy,
Stand: 5.12.2008.
Vgl. Rudolf, Peter: Amerikas neuer globaler Führungsanspruch, in: SWP-Aktuell 77/2008; Krause, Joachim: Liberaler Imperialismus und imperialer Liberalismus als Erklärungsansätze amerikanischer Außenpolitik, in: Zeitschrift für
Außen- und Sicherheitspolitik 1/2008, S.68-95.
Obama: Renewing American Leadership.
USA, Mulilateralismus und internationale Organisationen
163
andere Problemkonstellationen offensichtlich multilateral nicht immer
effektiv zu bearbeiten. Hier ist zu erwarten, dass die neue amerikanische
Administration jenseits von „wishful thinking“ eine nüchterne Bestandsaufnahme vornimmt und die VN nicht überfordert oder gar von ihr Leistungen verlangt, die sie nicht erbringen kann. Sicherheitspolitischer Multilateralismus ist zudem kein Wert an sich, sondern nur dann sinnvoll,
wenn damit im Sinne eines effektiven Multilateralismus Beiträge zur Problemlösung geleistet werden. Ein „VN-Legalismus“ ist also ebenso wenig
zu erwarten, wie sich die USA in allen Fällen von der Handlungsbereitschaft des VN-Sicherheitsrats abhängig machen werden.
2. Sichtweisen internationaler Organisationen
Die Beurteilung der Frage, welche Chancen internationale Organisationen
und ein multilateraler Politikstil haben und wie sich nationale Außenpolitiken dazu verhalten können und sollen, hängt auch von grundsätzlichen
Einschätzungen über die Handlungsmöglichkeiten von internationalen
Organisationen ab, die in Politik und Wissenschaft je nach normativem
Standpunkt durchaus variieren. Zugespitzt formuliert ergibt sich eine
dreifache funktionale Differenzierungsmöglichkeit. Die erste Sichtweise sieht in internationalen Organisationen vornehmlich „Instrumente
staatlicher Diplomatie“, d.h. Staaten instrumentalisieren internationale
Organisationen, um ihre eigenen Interessen mit deren Hilfe in einer anarchischen Umwelt durchzusetzen. Abmachungen sind wenig verlässlich,
weil ein Partner sie je nach Interesse jederzeit brechen und das kooperative Verhalten der anderen Seite ausnutzen kann. Eine zweite Sichtweise
interpretiert internationale Organisationen vornehmlich als „Arenen in
der internationalen Politik“, die als diplomatische Dauereinrichtungen
unterschiedliche Politikfelder auf spezifischen Kooperationsniveaus behandeln. Im Unterschied zu der instrumentellen Sichtweise werden die
internationalen Organisationen eher als Rahmen denn als Mittel zum
Erreichen bestimmter Ziele gesehen. Die dritte Sichtweise weist internationalen Organisationen eine eigenständige Qualität als „Akteur in der
internationalen Politik“ zu, der zudem als ursächlicher Faktor in der Lage
ist, die Grundmuster internationaler Politik im Sinne einer Minderung
des anarchischen Grundzustands zu verändern.
So ist es nicht verwunderlich, dass es in der Wissenschaft, aber auch in der
Politik der Staaten sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen hinsichtlich
der Bedeutung internationaler Abkommen und völkerrechtlicher Regeln
gibt. Die beiden Extrempositionen lassen sich wie folgt zuspitzen: Eine
„legalistische Schule“ sieht in völkerrechtlichen Arrangements ein extrem hohes Gut, dem politische Erwägungen unterzuordnen sind. Wenn
Staaten Verpflichtungen eingegangen sind, dann müssen sie sich auch an
164
Johannes Varwick
diese halten, weil andernfalls eine Grundvoraussetzung internationaler
Kooperation beschädigt wird. Es wird akzeptiert, dass durch völkerrechtliche Arrangements die staatliche Souveränität insofern beschnitten wird,
als dass diese staatliches Verhalten determinieren. Eine „politikorientierte
Schule“ stellt völkerrechtliche Arrangements stärker in einen politischen
Kontext und betont, dass es letztlich politischen Entscheidungen der Regierungen vorbehalten bleiben soll und muss, ob sich diese an überstaatliche Regelungen halten oder nicht. Völkerrechtliche Regelungen sind ein
Abwägungsfaktor unter vielen anderen und dürften demnach nicht den
Anspruch erheben, maßgeblich handlungsleitend zu sein.
Mit Blick auf die amerikanische Außenpolitik ist zudem darauf hinzuweisen, dass im politischen System der USA hohe Hürden für multilaterale
Zusammenarbeit eingebaut sind. Gemäß der amerikanischen Verfassung ist
für den Abschluss von multilateralen Verträgen und den Beitritt zu internationalen Organisationen neben der Zustimmung des Präsidenten die Ratifizierung des Vertragswerkes durch zwei Drittel der Mitglieder des Senats
erforderlich. Außerdem ist meistens zur Umsetzung eines Vertrags die Verabschiedung eines speziellen Gesetzes durch beide Kammern des Kongresses nötig. Dies verbindet sich mit einer politischen Kultur, die völkerrechtliche Regelungen nicht als über dem nationalen Recht stehend begreift.
2.1 Multilateralismus in Theorie und Praxis
Der Begriff Multilateralismus leidet an seiner Unschärfe und bringt zahlreiche Definitions- und Abgrenzungsprobleme mit sich. Nach einer formal-deskriptiven Definition bezeichnet Multilateralismus die Praxis der
Koordination nationaler Politiken von drei oder mehr Staaten durch Adhoc-Vereinbarungen oder Institutionen. Damit ließe sich nahezu jede
Form staatlicher Zusammenarbeit jenseits von Uni- und Bilateralismus als
multilateral bezeichnen. Auf der anderen Seite stehen normativ gehaltvolle Konzepte, die Multilateralismus als Politikstil verstehen, bei dem
die zwischenstaatlichen Beziehungen auf der Basis bestimmter allgemein
akzeptierter Verhaltensregeln und Prinzipien ablaufen. Kennzeichnend
ist in dieser Perspektive eine Kultur der Reziprozität, der gegenseitigen
Verlässlichkeit und des prinzipiellen Verzichts auf unabgestimmtes Verhalten. Bei dem konzeptionellen Gegenmodell – dem Unitaleralismus
– ginge es dann darum, dass einzelne Staaten sich vorbehalten, je nach
eigener Interessenlage alleine und wenn notwendig auch gegen andere
Staaten zu handeln.
Unterhalb dieser prinzipiellen Unterscheidungen kann der Begriff weiter differenziert werden. Eine mögliche Eingrenzung wäre, als Definitionskriterium die tendenziell universale Ausrichtung bzw. das Bemühen
USA, Mulilateralismus und internationale Organisationen
165
um funktionale oder geographische Ausweitung der Zusammenarbeit zu
nehmen. Damit würden bestimmte Formen regionaler Kooperation oder
thematisch enge, sachbezogene Zusammenarbeit als Untersuchungsgegenstand ausscheiden. Eine weitere Spezifizierung ergibt sich aus der
Einbeziehung einer normativen Dimension wie etwa der Betonung einer
regel- und normgeleiteten Qualität der Zusammenarbeit, die aus einem
gemeinsamen Weltbild resultiert („epistemischer Multilateralismus“). Andere Unterscheidungskriterien beziehen sich auf die policy-Dimension
der Zusammenarbeit (ökonomischer, sicherheitspolitischer, umweltpolitischer etc. Multilateralismus), die bestimmenden Akteure (staatlicher
versus transnationaler Multilateralismus), den Verbindlichkeitsgrad der
Zusammenarbeit, die Reichweite (offener versus geschlossener Multilateralismus) oder auch die Machtdimension in der Zusammenarbeit (hierarchischer versus egalitärer Multilateralismus).
In der politischen Praxis neigen vor allem große und mächtige Staaten zu
unilateralem Vorgehen, weil sie sich von einem unilateralen Handeln ihre
eigene Interessenmaximierung versprechen. Selbst wenn solche mächtigen Staaten nach dem Prinzip „so viel Multilateralismus wie möglich,
so viel Unilateralismus wie nötig“ verfahren würden (d.h. nur im Notfall
unilateral handelten), würde in der Theorie eine wichtige Voraussetzung
für internationale Kooperation zumindest beschädigt. Denn wer im Einzelfall auch allein und gegen den Willen seiner potenziellen Partner handelt,
der kann sich kaum darüber wundern, wenn dann auch andere Staaten
dies tun. Anders gewendet: Nur wer sich selbst den Normen der internationalen Kooperation unterwirft, der kann dies auch von anderen erwarten und einfordern. Ohne das Grundmuster der Interdependenz ist eine
unilateralistische Politik allerdings wahrscheinlicher. Zu den Grundsätzen
multilateraler Politik gehören das uneingeschränkte Verbot von Gewalt
zur Durchsetzung politischer Ziele und die Erkenntnis, dass nationale Interessen durch Zusammenarbeit besser durchgesetzt werden können als
in einem nationalstaatlichen Gegeneinander. Die Betonung gemeinsamer
Interessen ist mithin entscheidend für eine multilaterale Politik.
Es hängt also stark von den theoretischen Leitbildern in den betreffenden
Staaten ab, ob eine unilaterale oder multilaterale Strategie als erfolgversprechend angesehen wird. Internationale Organisationen können nur
dann eine wichtige Rolle in der internationalen Politik spielen, wenn ihre
Mitgliedstaaten auf multilaterale Strategien zu Bewältigung der Probleme
und Herausforderungen setzen, d.h. ein Erfolg ist äußerst voraussetzungsreich. In der realen Welt zeigt sich, dass diese Voraussetzungen nicht immer gegeben sind.
166
Johannes Varwick
2.2 Legitimierung internationaler Zwangsgewalt
Eine zentrale Frage ist die Reform des gesamten Systems der VN-Friedenssicherung. Insbesondere der Krieg gegen den Irak im Frühjahr 2003 stellte
einen fundamentalen Einschnitt in die etablierte Sicherheitsordnung dar.
Die völkerrechtlichen Regelungen zur Einhegung des Krieges, wie sie in
der VN-Charta festgeschrieben sind, seien gescheitert, und es sei an der
Zeit, das Völkerrecht zu reformieren und den neuen Gegebenheiten anzupassen. Unter welchen Voraussetzungen und für welche Fälle militärische Interventionen erlaubt sein sollen, sind strittige Fragen, die mit der
Debatte um die sogenannte „präemptive Sicherheitspolitik“ verbunden
sind. In der Kombination von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen liege eine der zentralen sicherheitspolitischen Herausforderungen.
Die der sicherheitspolitischen Strategie in der Zeit des Ost-West-Konflikts
zugrunde liegende Philosophie der Abschreckung (deterrence) funktioniere unter den neuen Gegebenheiten nicht mehr. Im Einzelfall müsse von
einer „Abschreckung durch Bestrafung“ (deterrence by punishment) zu
einer „Abschreckung durch Verwehren“ (deterrence by denial) übergegangen werden. Denn werde militärische Gewaltanwendung prinzipiell als
ultima ratio begriffen, könne der günstigste Augenblick verpasst werden,
in dem beim Eingreifen in Konflikte mit vergleichsweise geringem Mittelaufwand – und möglicherweise schon mit einer glaubwürdigen Drohung
– ein maximaler politischer Effekt erzielt werden könne.
Die Selbstverteidigung nach Artikel 51 der VN-Charta ist zwar ein klassisches legitimes Recht der Staaten. Die zentrale Frage ist aber, was im
Zeitalter von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen als Selbstverteidigung gelten kann. Die Grenzen des Selbstverteidigungsrechts sind
bereits seit längerem unscharf, spätestens seit dem 11. September 2001
ist aber deutlich geworden, dass existenzielle Bedrohungen für Staaten
nicht dem klassischen Bild eines bewaffneten Überfalls von Staat A auf
Staat B entsprechen müssen. Während militärische Prävention im Einzelfall als legitim gelten kann, stellen Präemptionskriege die internationale
Ordnung vor fundamentale Herausforderungen. Denn es bleibt offen, wer
über die Angemessenheit von solchen Militäreinsätzen entscheidet, auf
welcher völkerrechtlichen Grundlage sie durchgeführt werden und wie
sich dazu das allgemeine Gewaltverbot der VN-Charta verhält. Bedacht
werden müssen aber ebenfalls die möglichen Folgen, wenn in jedem Fall
auf die Sanktionierung von Gewaltanwendung durch den Sicherheitsrat
bestanden wird. So sind durchaus Fälle vorstellbar, in denen er aufgrund
von – nicht zwangsläufig rationalen – Vetodrohungen blockiert ist, aber
dennoch unmittelbarer Handlungsbedarf besteht. Es sei etwa daran erinnert, dass ein militärisches Eingreifen im Kosovo 1999 nicht möglich gewesen wäre, wenn auf die klassische Legitimierung durch den VN-Sicherheitsrat bestanden worden wäre. Um es dann aber nicht nur der Willkür
USA, Mulilateralismus und internationale Organisationen
167
oder der Interessensdefinition einzelner Staaten zu überlassen, was eine
sicherheitsrelevante Bedrohung ist und was nicht, wird u.a. diskutiert, das
Völkerrecht im Lichte der neuen Bedrohungen fortzuentwickeln. Denkbar wäre etwa, eine Debatte darüber zu führen, wo die Toleranzgrenze bei
der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Unterstützung des
internationalen Terrorismus oder aber auch der systematischen Verletzung von Menschenrechten liegt. Es müsste dann ein nachvollziehbarer
Kriterienkatalog entwickelt werden, bei dem ein Eingreifen gerechtfertigt
sein kann. Solche Definitionsversuche sind mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, und es ist eher unwahrscheinlich, dass es gelingen wird.
Die Alternative ist aber, den Status quo zu erhalten, der ebenfalls unbefriedigend ist.
2.3 Neuer versus alter Multilateralismus
Entlang dieser argumentativen Konfliktlinien zeichnet sich in der Wissenschaft eine Dichotomie zwischen zwei Formen des Multilateralismus
ab: der sogenannten klassischen und der neuen Form. Während das klassische Verständnis größtenteils dem europäischen Verständnis entspricht,
zeichnet sich der „neue Multilateralismus“ durch eine lockerere Form von
Ad-hoc-Koalitionen und eine größere Betonung einer Output-Legitimität
aus. Die legalistischen und institutionalisierten Formen der eher klassischen multilateralen Koordinierung und Zusammenarbeit im Rahmen
von zentralen internationalen Organisationen wurden insbesondere von
der Bush-Regierung als umständlich und ineffektiv abgewertet. Die fundamentalen Veränderungen der internationalen Politik seit dem Ende des
Ost-West-Konfliktes und insbesondere seit den Terror-Anschlägen vom
11. September 2001 und der US-geführten Invasion des Irak vom März
2003 führten auch zu einer heftigen Debatte über die Bedeutung und den
Nutzen des Multilateralismus. Mit der amerikanischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahre 2002 hat sich die US-Regierung zwar zum Multilateralismus bekannt, jedoch auch deutlich gemacht, dass sie weder in der Lage
noch willens sein würde, sich bei der Umsetzung ihrer nationalen Interessen – vor allem der Gewährleistung der Sicherheit der amerikanischen
Bürger – auf internationale Organisationen zu verlassen.
Wer nun der Auffassung ist, diesem amerikanischen Verständnis von Multilateralismus stünde ein einheitliches europäisches Verständnis gegenüber, dem muss entgegnet werden, dass – jedenfalls jenseits der allgemeinen Aussagen in der europäischen Sicherheitsstrategie – auch in Europa
unterschiedliche Varianten des Denkens über Multilateralismus anzutref-
168
Johannes Varwick
fen sind:7 So ist erstens eine „deutsche Denkschule“ auszumachen, für
die Multilateralismus an sich als ein Gewinn gilt. Verhandlung und eine
Strategie des langen Atems werden als die entscheidenden Parameter gesehen, um eine ordnungspolitische Alternative zur Macht- und Gewaltpolitik darzustellen. Zweitens ist eine „französische Denkschule“ anzutreffen,
die Multilateralismus primär als Instrument einer politischen Multipolarität sieht, durch die ein Gegengewicht zu den USA hergestellt werden
soll. Dabei wird die Konfrontation mit den USA einkalkuliert, sollte sich
Washington nicht zu gleichberechtigter Kooperation mit Europa zusammenfinden. Drittens kann von einer „britischen Denkschule“ gesprochen
werden, die einen Kompromiss zwischen beiden erstgenannten darstellt
und eher pragmatisch orientiert ist. Das Hauptanliegen dieser Denkschule
ist es, internationale Probleme effektiv und wenn möglich durch multilaterale Kooperation zu lösen. Dieses gehe aber nur in Kooperation und
nicht in Konfrontation mit den USA.
3. Obamas Außenpolitik
Internationale Organisationen stellen für die Politik der USA traditionell
lediglich ein Mittel zum Zweck und kein Ziel an sich dar. Dies ist keine
Entwicklung, die sich erst seit dem Jahre 2001 durchgesetzt hat. Obgleich
die USA nach 1945 von der Vorstellung einer multilateralen Ordnung
geleitet waren und nahezu alle wichtigen multilateralen Organisationen
von den Vereinten Nationen über die Welthandelsorganisation, den Internationalen Währungsfonds bis hin zur Nordatlantikorganisation auf
amerikanische Initiative zurückgingen, können die Erfahrungen der amerikanischen Regierungen mit internationalen Organisationen in den vergangenen Jahren sicher nicht durchweg als positiv beschrieben werden.
Die mangelnde Effizienz, die damit häufig verbundene Einschränkung
der amerikanischen Handlungsfreiheit sowie geringe Kostenersparnisse
für die USA haben daher zu einer weniger positiven Perzeption von multilateralen Entscheidungsmechanismen beigetragen als in Europa.8 Zwar
hatte die Regierung Clinton unter dem deutlichen Einfluss von Madeleine
Albright eine Politik des so genannten durchsetzungsfähigen Multilateralismus („assertive multilateralism“) verfolgt, dies bedeutet jedoch nicht,
7
8
Vgl. Krause, Joachim: Multilateralismus in der Sicherheitspolitik – europäische
und amerikanische Sichtweisen, in: Die Beziehungen zwischen NATO und EU,
hrsg. von Johannes Varwick, Opladen 2005, S.219-238, bes. S.230.
Irlenkaeuser, Jan: In order to form a more perfect union – Die amerikanische
Politik zur Reform der Vereinten Nationen, in: Die Reform der Vereinten Nationen – Bilanz und Perspektiven, hrsg. von Johannes Varwick und Andreas
Zimmermann, Berlin 2006, S.243-258. Zur amerikanischen VN-Politik siehe
Braml, Josef: Amerikas UN-Reformdruck, in: Vereinte Nationen 4/2006, S.153159; Luck, Edward: Die USA und die Vereinten Nationen: Ein seltsames Paar
wird sechzig, in: Vereinte Nationen 5/2005, S.201-206.
USA, Mulilateralismus und internationale Organisationen
169
dass die Clinton-Administration unilaterale Maßnahmen grundsätzlich
ausgeschlossen hätte. Schon in der Nationalen Sicherheitsstrategie der
Clinton-Administration aus dem Jahre 1999 wird der unilaterale Einsatz
der amerikanischen (Militär-) Macht nicht ausgeschlossen.
Was bedeuten diese Überlegungen nun für die Frage nach dem künftigen
Verhältnis der USA zu Multilateralismus und internationalen Organisationen? Zunächst bietet Obama eine Projektionsfläche für jeweils eigene
Wünsche und Vorstellungen in Europa und andernorts, das außenpolitische Programm der neuen Administration wird sich aber weniger an
externen Erwartungen ausrichten, sondern an den Faktoren orientieren,
die Außenpolitik bestimmen. Diese lassen sich mit der Formel „3 I plus
F plus E“ konzeptionalisieren. Es sind mithin in erster Linie Interessen
(I), Institutionen (I), Ideen (I) und Fähigkeiten (F), die die außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten und -optionen bestimmen. Zudem ist es
eine alte Erfahrung, dass die Realität die Aussagen aus dem Wahlkampf
schnell relativieren wird (E). So versprach etwa Franklin Roosevelt 1940,
dass er keine amerikanischen Truppen in auswärtige Kriege schicken würde, Lyndon Johnsen erklärte 1964, keine Bodentruppen nach Vietnam zu
entsenden, und George W. Bush trat im Jahr 2000 mit dem Versprechen
an, dass seine Außenpolitik die USA niemals wieder in nation-building
Prozesse verwickeln würde. Die Realität – oder besser gesagt: die sich jeweils schnell ändernde außenpolitische Problemagenda – hat solche Ankündigungen schnell zu Makulatur werden lassen. Insofern gilt das alte
Bonmot des britischen Premierministers MacMillan, der bekanntlich auf
die Frage, was ihn in seiner Amtszeit am meisten herausforderte, entgegnete: „Events, my dear, events!“
Anlässlich der Vorstellung seines außenpolitischen Teams am 1. Dezember 2008 erklärte Obama abermals die Grundzüge seiner Außenpolitik.
In einer unsicheren Welt ist es nach den Worten des künftigen US-Präsidenten Zeit für einen pragmatischen Neuanfang. Um dabei Erfolg zu
haben, bedürfe es einer neuen Strategie, die fachkundig alle Kräfte Amerikas vereine. Militärische, diplomatische und geheimdienstliche Kräfte
der USA müssten integriert werden in eine gemeinsame Politik des guten
Beispiels. „Wir werden unsere Fähigkeiten verbessern, um unsere Gegner
zu bekämpfen und unsere Freunde zu stärken. Wir werden alte Allianzen
erneuern und neue und andauernde Partnerschaften formen. Wir werden
der Welt einmal mehr zeigen, dass Amerika ebenso unnachgiebig in der
Verteidigung unseres Volkes ist, wie es fest der Wahrung unserer Interessen und Werte verpflichtet ist.“ Außenministerin Hillary Clinton sagte bei
gleicher Gelegenheit, die USA benötigten mehr Partner und Verbündete
und weniger Gegner. Angesichts der enormen Herausforderungen in der
Welt müssten die USA künftig alle politischen Mittel nutzen, um Frieden
und Freiheit zu sichern. „Amerika kann die Probleme nicht ohne die Welt
170
Johannes Varwick
lösen, und die Welt kann die Probleme nicht ohne die USA lösen“, sagte
Clinton. Militärische Macht allein sei nicht ausreichend, um die Ideale
Amerikas zu sichern.9 Auch in ihrer Anhörung von dem Senat im Januar
2009 anlässlich ihrer Nominierung argumentierte Clinton, dass die USA
das Potenzial der harten Macht der militärischen Stärke (hard power) mit
jenem der weichen Macht der kulturell-politischen Anziehungskraft (soft
power) verbinden müssen. Clinton bezeichnete diese Kombination als
„smart power“ (kluge Macht), bei dem der Einsatz des vollen Arsenals an
Mitteln – diplomatisch, ökonomisch, militärisch, politisch, rechtlich und
kulturell – gefordert sei, um die Interessen der USA durchzusetzen. 10
Das außenpolitische Team Obamas lässt sich aber durchaus als „realpolitisches Demento des großen Wandels, den Obama vor der Wahl verkündigt
hatte“,11 deuten. Der neue Verteidigungsminister Gates symbolisiert schon
durch die Tatsache, dass er auch in der Bush-Administration in gleicher
Funktion tätig war, Kontinuität im Bereich der Verteidigungspolitik, und
auch der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber in Europa, James Jones, eignet sich als neuer nationaler Sicherheitsberater kaum für Experimente in
der Sicherheitspolitik. Hillary Clinton als Außenministerin gehörte zwar zu
den scharfen Kritikern der Bush-Außenpolitik, vertritt aber durchaus eine
harte Linie bei der Wahrung und Durchsetzung amerikanischer Interessen.
Auch Obama steht in einer außenpolitischen Tradition, in der sich „Ideale, Interessen, Moral und Macht untrennbar mischen“.12 Vermutlich bezieht sich der Aufbruch in der neuen US-Außenpolitik in erster Linie auf
den Politikstil, der sich vorwiegend in der Betonung von Partnerschaften
und Allianzen festmachen lässt. Um die amerikanische Führungsrolle in
der Welt zu erneuern, so Obama, „beabsichtige ich die Allianzen, Partnerschaften und Institutionen zu erneuern, die notwendig sind, um gemeinsamen Bedrohungen zu begegnen und gemeinsame Sicherheit zu stärken.
Notwendige Reformen dieser Allianzen und Institutionen sind aber nicht
damit zu erreichen, indem man andere Staaten dazu nötigt, die Veränderungen nachzuvollziehen, die wir zuvor alleine ausgebrütet haben. Sie
gelingen vielmehr nur dann, wenn wir andere überzeugen, dass sie ihren Anteil an effektiven Partnerschaften haben.“13 Auch in seiner Berliner
Rede vom Juli 2008 erklärte Obama in sehr allgemeiner Form, dass es zur
9
10
11
12
13
Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des außenpolitischen Teams am
1.12.2008 in Chicago, Abschrift der Redebeiträge, http://blogs.suntimes.com/
sweet/2008/12/obama_opening_remarks_at_sixth.html, Stand: 5.12.2008.
Die Ausführungen Clintons im Senate Foreign Relations Committee am 13.1.2009,
http://foreign.senate.gov/testimony/2009/ClintonTestimony090113a.pdf,
Stand: 15.1.2009.
Frankenberger, Klaus-Dieter: Obamas realpolitisches Dementi, in: FAZ,
5.12.2008, S.1.
Rudolf: Amerikas neuer globaler Führungsanspruch, S.3.
Obama: Renewing American Leadership.
USA, Mulilateralismus und internationale Organisationen
171
Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Nationen keine Alternative gebe. „Es ist der Weg, der einzige Weg, um unsere gemeinsame
Sicherheit und unsere gemeinsame Menschlichkeit voranzubringen.“14
Hintergrund dabei dürfte allerdings nicht das Bekenntnis zu einem prinzipiellen Multilateralismus sein, sondern vielmehr in den sich abzeichnenden Macht- und Strukturveränderungen des internationalen Systems
begründet liegen. Denn der „unipolare Moment“ der USA ist in jedem
Fall vorbei und die Führungsmacht USA steht vor der Herausforderung,
die bestehende internationale Ordnung anzupassen. Dies gilt für eine
Reform von Vereinten Nationen und NATO ebenso wir für die bessere
Einbindung aufstrebender Mächte wie Brasilien, Indien, Nigeria oder Südafrika.15 Der Ansatz von Hillary Clinton kommt dabei in der erwähnten
Nominierungsrede von dem Senat deutlich zum Ausdruck: „Wir sollten
die Vereinten Nationen und andere internationale Institutionen nutzen,
wann immer es angemessen und möglich ist. Demokraten wie Republikaner haben über Jahrzehnte verstanden, dass diese Institutionen – wenn sie
gut funktionieren – unseren Einfluss vergrößern. Wenn sie aber nicht gut
funktionieren, sollten wir mit befreundeten Staaten zusammenarbeiten,
um sicherzustellen, dass diese Institutionen unsere Werte reflektieren, die
ihrer Gründung in erster Linie zugrunde lagen.“16
Für zwei wichtige internationale Organisationen, die Vereinten Nationen
und die NATO, ergeben sich aus dem Regierungswechsel in den USA neue
Chancen, allerdings sind auch hier keine grundlegend neuen Ansätze zu
erwarten. Die Zeiten, in denen die Vereinten Nationen in Washington
für irrelevant erklärt wurden, dürften mit Obama vorbei sein. Die Nominierung seiner engen außenpolitischen Beraterin, Susan Rice, als UNBotschafterin zeigt, dass den VN Bedeutung beigemessen wird. Allerdings
hat Obama ebenfalls deutlich gemacht, dass die VN dringend reformiert
werden müssen und eine Verpflichtung zu multilateralem Handeln geradezu mit einer Verpflichtung zur Reform verbunden werden muss. Dies
war ebenfalls ein wichtiges Anliegen der Bush-Administration, und es
bleibt abzuwarten, wie in Washington reagiert wird, wenn sich Reformen
als nicht durchsetzbar erweisen sollten. Abzuwarten bleibt auch, ob dann
stärker auf Formen des „neuen Multilateralismus“ – wie etwa G-20, Global
Energy Forum oder ein in den USA immer wieder diskutiertes „Konzert der
Demokratien“ als Gegenmodell zu den VN – ausgewichen werden wird.
14
15
16
Obama, Barack: A World that Stands as One, Rede am 24.7.2008 in Berlin,
http://my.barackobama.com/page/community/post/obamaroadblog/gGxyd4,
Stand: 5.12.2008.
Als Beispiele für die kontrovers geführte Debatte um amerikanische Vorherrschaft als Gegenpole siehe Lieber, Robert: The Declinists are wrong again, in:
Perspectives, 47/2008; Zakaria, Fareed: The Future of American Power, in: Foreign Affairs, Mai/Juni 2008.
Clinton: Ausführungen im Senate Foreign Relations Committee.
172
Johannes Varwick
Bezüglich der NATO hat Obama mehrfach erklärt, dass er die Allianz stärken wolle. In dem Wahlprogramm heißt es aber auch deutlich, dass die
Verbündeten dazu gebracht werden sollen, mehr Truppen in kritischen
Einsätzen wie Afghanistan zur Verfügung zu stellen, und auch der Entscheidungsprozess in der NATO gestrafft werden sollte. Bei der Streitfrage
Erweiterung um Georgien und die Ukraine werden sich in der Substanz
keine großen Unterscheide zur Bush-Politik ergeben. In beiden Fällen
wird es aber den Partnern möglicherweise schwerer fallen, amerikanische Forderungen abzuwehren. Denn wenn die amerikanischen Interessen „geschmeidiger“ vorgetragen werden und dies mit einer Rhetorik des
Mitentscheidens bzw. mit tatsächlichem Einfluss auf eine gemeinsame
Strategie in wichtigen Fragen verbunden wird, dann werden die Partner
ihre Beiträge erhöhen müssen. Insofern könnte sich der amerikanische
Ruf nach Partnerschaften und Multilateralismus als besonders geschickte
Variante der Debatte um Lasten- und Risikoteilung erweisen.
4. Bilanz
Wie jeder Regierungswechsel, so bietet auch der Wechsel in den USA
Chancen für eine neue Politikgestaltung. Aus europäischer und deutscher Sicht ist es zu begrüßen, dass in Washington eine Administration
ins Amt kommt, die sich offener zu Partnerschaften und multilateraler
Zusammenarbeit bekennt, als dies die Vorgängerregierung getan hat. Unabhängig davon muss die EU aber noch mehr tun, um die internationale
Agenda effektiver zu gestalten. Der „Hohe Vertreter der EU für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP), Javier Solana, formulierte dies kürzlich auf einer Rede in Paris wie folgt: „Vor allem müssen
wir daran arbeiten, die Agenda zu bestimmen und nicht nur zu reagieren.
Es stimmt zwar, dass heutzutage kein internationales Problem ohne Mitwirkung der EU diskutiert wird. Aber Mitwirkung ist nicht zu verwechseln
mit wirklicher Mitentscheidung. Wir verbringen nach wie vor zu viel Zeit
damit, in Europa zu diskutieren, wer etwas sagen soll, anstatt selber zu
sagen, was wir tun wollen.“17 Um diese „alte europäische Krankheit“ – die
destruktive Vielstimmigkeit – zu heilen, ist es nicht zuletzt erforderlich,
dass die Neuerungen des derzeit auf Eis liegenden Lissabon-Vertrags wie
die Schaffung eines europäischen „Außenministers“ (der sich zwar nicht
so nennen darf) und die Verbesserungen im Bereich der politischen Führungsfähigkeit der EU auch bald Realität werden. Wenn (!) Europa mit
einer Stimme spricht und zu fairer Lasten- und Risikoteilung bereit ist,
dann bestünden in einer ganzen Reihe von Fragen gute Chancen auf eine
gemeinsame transatlantische Politik, und die „respekteinflößende Agen17
Solana, Javier: Speech by the European Union High Representative for Common Foreign and Security Policy at the Annual Conference of the Institute for
Security Studies of the European Union, Paris, 30.10.2008.
USA, Mulilateralismus und internationale Organisationen
173
da“ könnte sicher mit guten Chancen auf Problemlösungen bearbeitet
werden. Dies würde sich auch positiv auf die Relevanz internationaler
Organisationen auswirken.
Im Ergebnis dürfte die künftige Außenpolitik der USA durch einen pragmatischen Multilateralismus à la Obama gekennzeichnet sein.18 Der Erwartung, dass sich die USA nun widerspruchslos in den Geleitzug einer
vermeintlichen internationalen Gemeinschaft einreihen werden, ist jedoch vehement zu widersprechen. Dazu weicht das amerikanische Verständnis von Multilateralismus zu sehr vom europäischen Durchschnitt
ab und versteht sich vornehmlich als ein Instrument amerikanischer Außenpolitik. Selbst liberale Internationalisten argumentieren, dass die USA
zwar eine generelle Präferenz für Multilateralismus haben sollten, zeitweise aber ein Alleingang zu bevorzugen sei.19 Dies hat auch Obama unmissverständlich deutlich gemacht, etwa in der Frage, ob bei sicherheitspolitischen Fragen in jedem Fall ein Mandat des VN-Sicherheitsrats notwendig
sei.20 Dies sieht auch seine Außenministerin so: „Wir werden mit diplomatischen Mitteln führen, denn dies ist der kluge Ansatz. Aber wir wissen ebenso, dass militärische Mittel manchmal notwendig sind, und wir
werden auf sie als ein letztes Mittel zurückgreifen, um unsere Interessen
und unser Volk zu schützen, wenn und wo sie gebraucht werden.“21 Vor
Illusionen über die amerikanische Bereitschaft, sich von internationalen
Organisationen oder multilateralen Verbünden Einschränkungen bei Fragen von wichtigen nationalen Interessen gefallen zu lassen, muss also
ausdrücklich gewarnt werden.
18
19
20
21
Keller, Patrick: Obama’s foreign policy. What can NATO expect from the next
U.S. President?, NATO Defense College Research Paper 43/2008.
Vgl. Maull, Hanns W.: The Quest for Effective Multilateralism and the Future
of Transatlantic Relations, in: Foreign Policy in Dialogue 25/2008, S.9-18, der
in diesem Sinne einen den einflussreichsten Vertreter dieser Denkschule, Joseph S. Nye, zitiert.
So erklärte Obama: Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte würde ich nicht zögern,
gegen jeden zuzuschlagen, der Amerikanern oder amerikanischen Interessen
schadet, http://www.ontheissues.org/2008_CBC_Dems.htm, Stand: 5.12.2008.
Ähnlich argumentiert er auch in dem zitierten Foreign Affairs Artikel.
Clinton: Ausführungen im Senate Foreign Relations Committee.
Raketenabwehr für die NATO
Warum die Europäer Obama ermuntern sollten,
Bushs Weg zu Ende zu gehen*
Svenja Sinjen
Nur wenige verteidigungspolitische Themen wurden in den vergangenen Jahren öffentlich so kontrovers diskutiert wie das Thema „Raketenabwehr“. Ausgelöst wurde die Debatte 2007 durch die Ankündigung des
ehemaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush, das nationale
Raketenabwehrsystem der USA durch weitere Komponenten in Osteuropa
ausbauen zu wollen. Nach monatelangen, zum Teil heftigen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Russland sowie innerhalb der NATO
schien es eine zeitlang so, als ob zumindest die transatlantischen Partner
ihre Differenzen beseitigt hätten und gar auf dem Weg zu einem gemeinsamen Raketenabwehrsystem seien. So arbeitet die NATO derzeit an einer
Studie, die Optionen aufzeigen soll, wie sich die Europäer an den Plänen
der USA beteiligen könnten, um das gesamte NATO-Territorium gegen
einen Angriff mit ballistischen Raketen (BR) zu verteidigen.1 Eine endgültige Entscheidung für ein gemeinsames NATO-System wurde jedoch bis
heute immer wieder hinausgezögert.
Während diese Verzögerungen bereits nahelegten, dass man in der NATO
offensichtlich doch noch keinen tragfähigen Konsens über den positiven Nutzen von Raketenabwehrsystemen erwirken konnte, steuert die
Haltung der neuen US-Administration zu diesem Thema ihr übriges bei:
Gegenwärtig ist auch für den Gipfel zum 60. Jahrestag der NATO keine
Entscheidung zugunsten eines gemeinsamen Raketenabwehrsystem zu erwarten. Mehr noch, das Angebot Präsident Obamas an seinen russischen
Amtskollegen, von dem Bau der Abwehrbasen in Osteuropa abzulassen,
wenn Russland helfe, den Iran von der Herstellung von Langstreckenraketen abzuhalten,2 könnte das Raketenabwehrsystem der NATO ganz zu
*
1
2
Die Autorin gibt ausschließlich ihre persönliche Auffassung und nicht die der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. wieder. Der Beitrag basiert
in seinen Grundzügen auf den Ergebnissen des Artikels von Frühling, Stephan/Sinjen, Svenja: Raketenabwehr, NATO und die Verteidigung Europas,
in: Analysen & Argumente 40/2007.
Der Beitrag berücksichtigt die Ereignisse zu diesem Thema bis Anfang März
2009.
Vgl. Baker, Peter: Obama Offered Deal to Russia in Secret Letter, in: The New York
Times, 3.3.2009, http://www.nytimes.com/2009/03/03/washington/03prexy.
html?partner=rss&emc=rss, Stand: 3.3.2009.
Raketenabwehr für die NATO
175
Fall bringen. Eine dringend gebotene ganzheitliche – und damit effektive
– verteidigungspolitische Strategie der NATO gegen die Bedrohung durch
Massenvernichtungswaffen (MVW) und BR rückte damit in weite Ferne.
Erneut muss daher die Frage der politischen Notwendigkeit für ein Raketenabwehrsystem zum Schutz des NATO-Territoriums diskutiert werden.
1. Hintergründe des US-Raketenabwehrprogramms
Das gegenwärtige Raketenabwehrprogramm der USA ist das Ergebnis einer
verteidigungspolitischen Neuausrichtung, die Präsident Bush bei seinem
Amtsantritt eingeleitet hatte. Diese Neuausrichtung beinhaltete zunächst
eine veränderte Bedrohungsperzeption, die neben dem Terrorismus v.a.
die wachsende Gefahr durch MVW und BR in den Vordergrund rückte.
Des Weiteren wurden neue Akzente im Rahmen der Bekämpfungsstrategie gegen diese Gefahren gesetzt, die u.a. auf eine Stärkung der Verteidigungskraft abzielten.
1.1 Gewandelte Bedrohungsperzeption
Im Zentrum der Bedrohungsanalysen der Bush-Administration standen
Nordkorea und Iran. Beide Länder arbeiten seit langem an Langstreckenraketen, deren Bedrohungspotenzial zweifelsfrei am höchsten ist, wenn
sie mit MVW bestückt sind. Während es um den Stand des iranischen
Nuklearprogramms nach wie vor Verwirrungen gibt, zündete Nordkorea
bereits 2006 eine Atombombe. Unklar ist allerdings, ob das Land bereits
Nuklearwaffen auf seine Raketen montieren kann. Aber selbst wenn Raketen keine MVW tragen, können sie eine erhebliche Bedrohung darstellen. Der Einschlag auch nur einer Rakete in einer amerikanischen Stadt
hätte vermutlich schwerwiegende psychologische Auswirkungen auf die
Gesellschaft der USA, deren Folgen für das internationale System kaum
abzusehen wären.
Nordkorea baut seit Jahren No Dong-Raketen, die mit 1.300 km Reichweite Japan erreichen können. Für wesentlich größere Reichweiten sind Raketen mit mehreren Stufen notwendig. 1998 testete es eine Taepo Dong I
mit drei Stufen, die erfolgreich separierten (obwohl die dritte Stufe aus unbekannten Gründen versagte). Seit dem Test 1998 konzentriert sich Nordkorea auf die leistungsfähigere Taepo Dong II, deren Reichweite auf bis zu
10.000 km geschätzt wird. Ein Test im Juli 2006 schlug aufgrund von Problemen der ersten Stufe fehl. Da Nordkorea aber bereits acht Jahre zuvor
mehrere Stufen erfolgreich separieren konnte, ist der technologische Stand
seines ICBM-Programms (Interkontinentalraketen) derzeit weiter unklar.
176
Svenja Sinjen
Die prominenteste Rakete Irans hingegen ist die Shahab III, die auf der
No Dong basiert. Die Standardvariante mit 1.300 km Reichweite kann Israel erreichen. 2004 testete Iran zudem eine gestreckte Version mit wahrscheinlich 2.000 km Reichweite – genug, um Athen zu treffen. Der neue
Kopf dieser Version hat darüber hinaus Ähnlichkeiten mit sowjetischen
Designs für die Aufnahme von Nuklearwaffen. Unbestätigten deutschen
und israelischen Berichten zufolge erhielt Iran zudem angeblich SS-N-6/
BM-25 aus Nordkorea mit einer Reichweite von 2.500 km. Noch ist aber
nicht klar, ob Nordkorea diese Raketen überhaupt nachbaut. Teheran bekundete außerdem, an einer Shahab V mit noch größerer Reichweite zu
arbeiten. Diese Rakete ist wahrscheinlich eine Version der nordkoreanischen Taepo Dong I. Nicht zuletzt aufgrund der engen Kooperation zwischen Iran und Nordkorea ist der Fortschritt des iranischen Programms
ebenso schwer einzuschätzen. Der ehemalige Direktor der amerikanischen Missile Defense Agency Obering betonte in einem seiner letzten
Interviews im Oktober 2008 jedoch, dass geheimdienstlichen Erkenntnissen zufolge davon auszugehen wäre, dass sowohl Nordkorea als auch Iran
innerhalb der nächsten zwei Jahre über Langstreckenraketen verfügen
könnten3, die in der Lage wären, u. a. die USA zu erreichen – und das trotz
intensiver diplomatischer Gegenbemühungen.
Natürlich unterliegen Programme zur Herstellung von Raketen und MVW
in Ländern mit zweifelhaften Absichten größter Geheimhaltung und gezielter Verschleierung. Detaillierte Einschätzungen über den Stand von
Rüstungsvorhaben sind somit immer mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit behaftet, das zu überraschenden Ergebnissen führen kann: Völlig unerwartet testete Nordkorea 1998 z. B. eine Langstreckenrakete; Iran
im selben Jahr eine Rakete mittlerer Reichweite. Weitere Fehleinschätzungen westlicher Geheimdienste betrafen die irakischen MVW-Programme
vor dem Zweiten Golfkrieg 1990/91 und vor dem Dritten 2003. Im ersten Fall wurde der Stand des Nuklearprogramms weit unterschätzt. Hinzu kam, dass man trotz jahrelanger UNSCOM-Inspektionen erst 1995 das
irakische Biowaffenprogramm entdeckte. Im zweiten Fall konnte man im
Anschluss an die Kampfhandlungen die vermuteten MVW im Land nicht
auffinden. An diesen Beispielen zeigt sich deutlich, dass der Stand militärischer Fähigkeiten sowohl unter- als auch überschätzt werden kann.
Ebenso deutlich ist allerdings auch, dass von einer Fehleinschätzung, die
das gegnerische Potenzial unterschätzt, eine größere Gefahr für die transatlantische Sicherheit ausgehen könnte, als umgekehrt.
3
Vgl. Rance, Michael: US Missile Defence. Interview with General Obering, Director of the MDA, in: The RUSI Journal 5/2008, S.60-65, hier S.61.
Raketenabwehr für die NATO
177
Neben Nordkorea und Iran gibt es weitere Länder, deren Raketen schon
allein durch die Möglichkeit von Unfällen oder unautorisierten Starts eine
Gefahr für die USA und Europa darstellen. Sowohl Russland als auch China verfügen z.B. über Raketen sämtlicher Reichweiten sowie umfassende
Bestände an MVW. Beide Länder unterhalten zudem substanzielle Programme zur Modernisierung ihrer nuklearen und konventionellen Raketenstreitkräfte.
Obwohl die genauen politischen Absichten Nordkoreas und Irans letztlich
im Verborgenen bleiben, sind ihre Feindseligkeiten gegenüber regionalen
Akteuren wie Südkorea, Japan und Israel sowie westlichen Demokratien
insgesamt, insbesondere den USA, kaum zu überhören. Die tatsächliche
Gefahr, die von ihnen ausgeht, kann nur in Anlehnung an ihre politischen
Ambitionen eingeschätzt werden. Aber auch über die Ziele und das Verhalten von Kim Jong Il und Ahmadinedschad (und ihren Führungszirkeln)
können schlussendlich keine sicheren Vorhersagen gemacht werden – Gegenstand dieser Vorhersagen ist die menschliche Psyche. Es bleibt nur der
Verweis auf die innenpolitische Struktur in ihren Ländern, die der Bevölkerung keine Sanktionsmechanismen zur Kontrolle der politischen Eliten
gibt. Folglich stellt die Existenz von Raketen und MVW unter der Kontrolle dieser Länder eine potenzielle Gefahr für alle NATO-Mitglieder dar.
1.2 Stärkung der Verteidigungskraft
In Anbetracht dieser Situation sah sich die Bush-Administration dringend
veranlasst, die etablierten Bekämpfungsansätze der amerikanischen Verteidigungsstrategie zu modifizieren. Diese Dringlichkeit wird durch die
globale ordnungspolitische Rolle der USA verschärft: Seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs verfolgen die USA das Prinzip, ihre Interessen an der
Peripherie – weit vor ihren Grenzen – zu verteidigen. Sowohl im Nahen
Osten als auch in Ostasien haben sie dazu auch Verteidigungsgarantien
gegenüber Staaten übernommen, die in direktem Konflikt mit Nordkorea
und Iran stehen und bereits jetzt durch ihre Raketen getroffen werden
können. Somit ist für die USA eine militärische Auseinandersetzung mit
beiden Ländern eine realistische Gefahr – daran ändert auch die gegenwärtige Überdehnung ihres militärischen Engagements nichts. Die periodisch wiederkehrenden feindseligen Äußerungen von Nordkorea und Iran
gegenüber den amerikanischen Verbündeten Israel, Südkorea und Japan
untermauern diese Möglichkeit glaubwürdig. Gleiches Szenario könnte
sich für die USA im Rahmen der Verteidigungsgarantien gegenüber ihren
transatlantischen Verbündeten entwickeln, sollte sich z.B. der europäische Konflikt mit Iran verschärfen.
178
Svenja Sinjen
Raketenabwehrsysteme – zum Schutz des eigenen Territoriums – nehmen
in diesem Zusammenhang zwei bedeutende Funktionen in einer militärischen Bekämpfungsstrategie ein: Erstens stärken sie den Versuch, feindlich gesinnte Staaten von Erpressungsversuchen oder einer militärischen
Auseinandersetzung abzuschrecken: Als aktive Verteidigung ergänzen sie
den passiven ABC-Schutz (atomar, biologisch, chemisch) und weitere offensive Verteidigungsmaßnahmen und signalisieren dem Gegner, dass
ein Angriff mit einer Rakete nicht zu dem gewünschten Erfolg führen
kann (deterrence by denial). Diese mangelnden Erfolgsaussichten wären
umso abschreckender, wenn der Angreifer nach einem Raketenabschuss
gleichzeitig mit einem (nuklearen) Vergeltungsschlag rechnen müsste
(deterrence by punishment). Erst eine Kombination aus Verteidigung und
Vergeltung macht Abschreckung somit effektiv. Da aber jede Vergeltungsmaßnahme – insbesondere auf der Basis von Nuklearwaffen – auch in den
USA mit erheblichen innenpolitischen Schwierigkeiten verbunden sein
dürfte, kommt der Verteidigungskomponente im Konzept der Abschreckung eine besondere Bedeutung zu. Ohne Raketenabwehrsysteme bleibt
die Verteidigung unvollständig und Abschreckung wenig glaubwürdig.
Mit dem Aufbau eines Raketenabwehrsystems zum Schutz des eigenen
Territoriums setzte die Bush-Administration die jahrzehntelang geltende
– aber stets zweifelhafte – Doktrin der „gegenseitigen gesicherten Zerstörung“ (mutually assured destruction), die bewusst auf Raketenabwehr verzichtet hatte, außer Kraft und begann die amerikanische Verteidigungskraft zu stärken.
Trotz aller militärischen Vorkehrungen können Abschreckungsbemühungen – auch gegenüber staatlichen Akteuren – dennoch scheitern: Abschreckung ist kein mechanischer Prozess, sondern setzt eine Vielzahl an
Informationen über den Gegner voraus, die in der Realität nicht immer
verfügbar sind. Zudem entscheidet letztlich der Gegner selbst, ob er abgeschreckt ist oder nicht. Die zweite Funktion von Raketenabwehrsystemen
liegt damit in einer Art „Rückversicherung“ für den Fall, dass Abschreckung tatsächlich versagt. Sollten sich Nordkorea oder Iran im Konfliktfall
entscheiden, einen Raketenangriff auf die USA zu unternehmen, könnte
der Schaden durch ein Abwehrsystem erheblich reduziert bzw. vermieden
werden.
Die strategische Neuausrichtung der USA zielte aber nicht auf die Stärkung der amerikanischen Verteidigungskraft allein; sie sah darüber hinaus auch vor, die Verbündeten der USA bei der Aufstellung von Raketenabwehrsystemen zu unterstützen. Wären in einem Konfliktfall nur die
USA mit einem effektiven Schutz für ihr Land ausgestattet, erhöhte dies
zwar die Glaubwürdigkeit ihrer Verteidigungsgarantien gegenüber ihren
Allianzpartnern; das Entstehen einer belastbaren Verteidigungskoalition
mit diesen Partnern wäre aber wenig wahrscheinlich. Der Gegner könnte
Raketenabwehr für die NATO
179
immer noch die amerikanischen Verbündeten ins Fadenkreuz seiner BR
(Ballistischen Raketen) nehmen und sie damit erpressen oder von einem
Militäreinsatz abschrecken. Somit kooperieren z.B. Japan und Israel mit
den USA bei der Entwicklung und Produktion von Abfangraketen (SM-3
und Arrow II).
Insgesamt könnte eine derartige Verteidigungsstrategie aufseiten aktueller
und zukünftiger Konfliktgegner dazu führen, dass die Attraktivität von BR
als Drohwaffe gegenüber den USA und ihren Verbündeten abnimmt (deterrence by dissuasion). Es ist davon auszugehen, dass gegenwärtig zahlreiche Staaten u.a. deshalb nach BR streben, weil aufseiten des amerikanischen Allianzsystems nach wie vor eine erhebliche Verteidigungslücke
gegen diese Waffen besteht. Raketenabwehrsysteme unterstützen damit
die internationalen Bemühungen, Staaten wie Nordkorea und Iran zur
Abrüstung zu veranlassen.
2. Architektur des US-Raketenabwehrprogramms
Dementsprechend veranlasste die Bush-Administration 2002 die Stationierung eines Raketenabwehrsystems zum Schutz des amerikanischen
Territoriums. Dieses System unterliegt dabei der Maßgabe, eine gestaffelte
Verteidigung gegen BR jeglicher Reichweite in allen Flugphasen zu bieten und basiert vorerst auf vier Typen von Abfangraketen: Patriot PAC-3,
THAAD, SM-3 und Ground-Based Interceptor.
–
Patriot PAC-3 Abfangraketen sind relativ langsam, haben eine geringe
Reichweite und operieren nur in der Atmosphäre. Sie werden im Wesentlichen zum Schutz von Punktzielen gegen Kurzstreckenraketen
eingesetzt.
–
THAAD-Raketen sind im Vergleich zu Patriot leistungsstärker und fangen Raketen in der oberen Atmosphäre ab. Sie können dementsprechend auch Flächenziele gegen Mittelstreckenraketen wie die iranische Shahab III und u.U. weiter reichende Raketen verteidigen. ICBM
sind allerdings zu schnell, um von THAAD-Raketen abgefangen zu
werden. THAAD wird von den USA außerdem erst 2009/10 in den
operativen Dienst gestellt.
–
SM-3-Abfangraketen werden von Aegis-Flugabwehrschiffen abgeschossen. Sie können Raketen nur oberhalb der Atmosphäre im Weltraum zerstören, so dass sie gegen Kurzstreckenraketen nutzlos sind.
Ihnen kommt hauptsächlich der Schutz von Flächenzielen gegen Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von ca. 3.000 km zu. Obwohl
es zukünftig auch möglich sein soll, Raketen größerer Reichweite mit
180
Svenja Sinjen
ihnen abzufangen, können SM-3-Abfangraketen bisher wegen ihrer
geringen Beschleunigung und ihres relativ kleinen Abfangkörpers
ebenfalls keine ICBM zerstören.
–
Nur Ground-Based Interceptor-Abfangraketen (GBI) sind momentan
leistungsstark genug und können ICBM im Weltraum abfangen.
Abfangraketen aller Typen werden von den USA mit den übrigen Elementen ihres Raketenabwehrsystems wie Frühwarnsatelliten, boden- und
seegestützten Radaren, Kommunikationsverbindungen und Kommandozentralen integriert. Dazu gehören auch Radaranlagen in Großbritannien
(Fylindales) und Dänemark/Grönland (Thule). Bislang ist geplant, die Fähigkeit des Systems durch die Modernisierung der existierenden Systeme
und das Hinzufügen neuer Komponenten stetig weiter zu verbessern.
In Anbetracht des fortgeschrittenen nordkoreanischen ICBM-Programms
begann die Bush-Administration ab 2004 zunächst mit der Stationierung
von Abfangraketen gegen einen Angriff aus Asien. Gegenwärtig sind neben SM-3 Abfangraketen auf zahlreichen Aegis Flugabwehrschiffen 26
GBI in Alaska (Fort Greely) und vier in Kalifornien (Vandenburg AFB) stationiert. Diese GBI sind geographisch so platziert, dass sie Raketen aus
Nordkorea effektiv abfangen können. Sie sind aber weniger geeignet, einen Angriff aus dem Nahen Osten abzuwehren: Die GBI-Basis in Alaska
ist von der Flugbahn einer Rakete, die die amerikanische Ostküste aus Iran
ansteuert, zu weit entfernt. Somit besteht – wenn überhaupt – nur ein
kleines Abfangfenster.
Ist das Fenster klein, müssen von vorneherein mehrere Abfangraketen als
Salve gefeuert werden, in der Hoffnung, dass zumindest eine von ihnen
die anfliegende ICBM zerstört. Dies führt zu einer rapiden Reduzierung
des Arsenals an verfügbaren Abfangraketen. Ist das Abfangfenster einer
Basis jedoch so groß, dass nach dem Fehlschlag einer einzelnen Abfangrakete noch eine weitere gestartet werden kann, sinkt die Zahl der benötigten Abfangraketen erheblich. Zudem bestehen gleich zwei Versuche,
die feindliche Rakete abzuwehren. Dies gilt natürlich umso mehr, wenn
Abfangbasen wie die in Alaska und Kalifornien zur Verteidigung gegen
Raketen aus Asien gestaffelt werden (layered defence).
Wollen sich die USA ebenso verlässlich wie effektiv gegen Raketen aus
dem Nahen Osten schützen, müssen sie folglich eine GBI-Basis zwischen
der amerikanischen Ostküste und dem Abschussgebiet der gegnerischen
Raketen stationieren – d.h. in Europa. Diese Notwendigkeit erklärt primär
die einstigen Verhandlungen zwischen der Bush-Administration und Polen sowie der Tschechischen Republik. Während in Polen bis dato zehn
GBI aufgestellt werden sollen (bis ca. 2012/13), soll in der Tschechischen
Raketenabwehr für die NATO
181
Republik eine Radaranlage entstehen. Dieses Radar soll durch zwei weitere Radaranlagen in Großbritannien und Grönland unterstützt werden.
Beide Länder kooperieren diesbezüglich mit den USA bereits seit 2003 auf
bilateraler Basis.
3. Anfängliche Raketenabwehrbemühungen in der NATO
Neben diesem rein nationalen Programm der USA ist auch die NATO im
Bereich der Raketenabwehr tätig. Das Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence (ALTBMD) Programm soll militärischen Kräften im Einsatz
Schutz bieten und ist Ergebnis der Erfahrungen aus dem Zweiten Golfkrieg 1991. Damals setzte der Irak Kurzstreckenraketen gegen Israel und
Saudi-Arabien ein, wobei auch amerikanische Soldaten getötet wurden.
Machbarkeitsstudien zu ALTBMD befassten sich mit Raketen bis 3.000 km
Reichweite. Auf dem Gipfel in Riga 2006 wurde die erste Stufe beschlossen, die allerdings keine eigenen Abfangraketen umfassen soll. Sie hat
lediglich zum Ziel, die unterschiedlichen nationalen Systeme (Abfangraketen und Sensoren) der Länder, die an einem Einsatz teilnehmen, zu
vernetzen, um sie als ein System befehligen und nutzen zu können. Initial
Operational Capability ist für 2010 geplant. Während europäische NATOStaaten mit Patriot, MEADS und SAMP/T Komponenten zum Abfangen
von Kurzstreckenraketen beitragen können, haben zur Zeit nur die USA
mit SM 3 und in Kürze THAAD Systeme, die auch eine Verteidigung gegen
Mittelstreckenraketen bieten können.
Getrennt davon hatte die NATO bereits auf ihrem Prager Gipfel 2002 eine
Machbarkeitsstudie zur Verteidigung des Bündnisgebietes – gegen das gesamte Raketenspektrum – in Auftrag gegeben. Die Studie unterlag dabei
der Maßgabe, das Prinzip der Unteilbarkeit alliierter Sicherheit zu beachten. Das amerikanische Raketenabwehrprogramm wurde allerdings nicht
in die Betrachtungen einbezogen. Im Juni 2006 wurden die NATO-Verteidigungsminister mit einem positiven Ergebnis konfrontiert: Ein territoriales Raketenabwehrsystem ist technisch machbar und mit relativ geringem
Aufwand finanzierbar. Trotzdem die NATO seit Istanbul 2004 betont, dass
die Proliferation von MVW und BR eine der Hauptbedrohungen für ihre
Mitglieder darstellt, konnten sich die Verbündeten dann auf ihrem Gipfel in Riga nicht zum Aufbau eines NATO-Abwehrsystems entschließen.
Dies schien zum einen daran zu liegen, dass sich nicht alle europäischen
NATO-Mitglieder gleich stark durch BR bedroht fühlten; zum anderen
schien es auch darin begründet zu sein, dass nicht alle Europäer in einem
Raketenabwehrsystem einen sinnvollen Ansatz zur Bekämpfung von BR
sahen.
182
Svenja Sinjen
4. Konsequenzen des US-Vorhabens für die NATO
Die geplante GBI-Basis in Osteuropa könnte nicht nur die USA gegen
Langstreckenraketen aus dem Nahen Osten schützen, sondern in gewissem Maße auch das europäische NATO-Territorium – quasi als Nebenprodukt. Dieser Schutz beträfe aber erstens lediglich Nordost- und Zentraleuropa und wäre zweitens weniger verlässlich und effektiv, als der, den
die USA erhielten. Darüber hinaus begäben sich die europäischen NATOPartner drittens in eine direkte Abhängigkeit von den USA:
–
Der Südosten Europas und die Türkei liegen außerhalb des Schutzbereichs der GBI in Polen. Während z.B. Athen in der Reichweite von
Mittelstreckenraketen liegt, die nur von SM-3 (auf Schiffen im Mittelmeer oder Schwarzen Meer) und von THAAD abgefangen werden
können, befindet sich z.B. die Türkei auch im Bereich von Kurzstreckenraketen. Diese müssen durch Systeme wie Patriot PAC-3 oder
THAAD abgefangen werden. Mit Blick auf die Verteidigung gegen
Mittelstreckenraketen besteht auf europäischer Seite allerdings eine
kritische Fähigkeitslücke.
–
Damit die GBI-Basis eine hohe Abfangwahrscheinlichkeit erzielte,
müssten zur Verteidigung Europas sehr wahrscheinlich Salven gefeuert werden, die wie bereits erwähnt das Arsenal an verfügbaren Abfangraketen rapide reduzierten; bei etwa zehn Abfangraketen, die die
USA für die Basis in Polen planen, eine problematische Aussicht. Zudem bestünde keine zweite Chance, eine auf Europa gerichtete Rakete
abzufangen. Nur eine weitere Basis in Europa könnte dieses Problem
lösen. Stationierte man z.B. neben den GBI in Polen weitere in Großbritannien, könnte die zweite Basis ihr Feuer zurückhalten, bis der
Erfolg oder Misserfolg der ersten bestätigt wäre.4
–
Die Bush-Administration gab stets unmissverständlich zu verstehen,
dass sie eine rein nationale Kontrolle ihres Abwehrsystems anstrebten.
So betonte die Missile Defense Agency regelmäßig, dass die Kontrolle
über Systeme, die das Territorium der USA verteidigten, ausschließlich
in amerikanischer Hand bliebe. Dieser Umstand ist allerdings keineswegs eine Neuerung der Bush-Administration, sondern ein generelles Prinzip amerikanischer Verteidigungspolitik. Selbst zu Zeiten des
„Kalten Krieges“ war z.B. das amerikanisch-kanadisch integrierte Luftverteidigungskommando NORAD nicht der NATO assigniert. Damit
4
Ein GBI, den man aus Osteuropa auf eine Rakete aus dem Nahen Osten abschösse, könnte eine anfliegende Rakete relativ früh zerstören und wäre somit
geeignet, auch Raketen, die auf Zentraleuropa gerichtet wären, abzufangen.
Eine Abfangbasis in Großbritannien hätte hingegen ein größeres Abfangfenster für Raketen, die auf Nordwesteuropa oder die USA gerichtet wären.
Raketenabwehr für die NATO
183
hätten die europäischen NATO-Mitglieder keinen Einfluss auf die Verteidigung ihres Kontinents gegen Langstreckenraketen – auch nicht
in Krisenzeiten. Dies versetzte die Europäer in eine direkte Abhängigkeit von den USA, die durch die begrenzte Zahl an Abfangraketen in
Polen noch problematischer werden könnte.
5. Optionen für ein umfassendes Raketenabwehrsystem der NATO
Die bilateralen Verhandlungen zwischen den USA und den osteuropäischen Staaten veranlassten die übrigen Europäer dazu, eine intensive Debatte über die Motive der Befürworter territorialer Raketenabwehr zu führen. In diesem Zusammenhang gaben die NATO-Verteidigungsminister
im Juni 2007 eine Ergänzung der Machbarkeitsstudie von 2006 in Auftrag,
die die Auswirkungen des amerikanischen Raketenabwehrprogramms –
v.a. der Basis in Osteuropa – für die NATO untersuchen sollte. Darüber
hinaus konnten sich die Verbündeten im Herbst 2007 auf eine neue Bedrohungsanalyse einigen, in der nach Angaben von NATO-Offiziellen ein
tragfähiger Konsens hinsichtlich der Raketenbedrohung für das Bündnisgebiet erkennbar wäre. Daran anschließend betonte der Gipfel in Bukarest
2008 nicht nur, dass Raketenabwehr ein bedeutender Teil eines breiten
Ansatzes zur Bekämpfung gegen BR wäre, sondern beauftrage den NATORat auch, Optionen aufzuzeigen, wie die Teile Europas, die das amerikanische System nicht schützte, durch NATO-Anstrengungen abgedeckt werden könnten. Die Ergebnisse sollen auf dem Gipfel in Strassburg und Kehl
im April 2009 vorgelegt werden.
Damit sind die transatlantischen Partner beim Thema Raketenabwehr erheblich weiter vorangeschritten als gemeinhin in der öffentlich geführten
politischen Debatte anerkannt wird. Der größte Fortschritt besteht darin,
dass die NATO – v.a. die Europäer – scheinbar einen wesentlichen Punkt
erkannt haben: Sofern das grundlegende Prinzip der Allianz – das Prinzip
der Unteilbarkeit der Sicherheit – weiterhin Geltung haben soll, muss das
ungeschützte NATO-Territorium zusätzlich gegen die wachsende Bedrohung durch BR gesichert werden. Das besagte Territorium sollte aber nicht
nur grundsätzlich geschützt werden, sondern auch in einem vergleichbaren Maße wie die USA bisher planen, den amerikanischen Kontinent zu
schützen. Zudem sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Europäer einen effektiven eigenen Beitrag zu ihrer Verteidigung leisten und
sich ein angemessenes Maß an Einfluss bei den möglichen Raketenabwehroperationen zum Schutz ihres Territoriums sichern.
Um diesen politischen und operationellen Anforderungen gerecht zu werden, böte sich ein kombiniertes US- /NATO-Raketenabwehrprogramm mit
zwei Basen an. Zwei Basen – eine unter NATO-, die andere unter ameri-
184
Svenja Sinjen
kanischer Flagge – verdeutlichten, dass die Verteidigung der USA unter
amerikanischer Hoheit bliebe, während beide Seiten des Atlantiks die Verteidigung des Bündnisgebietes innerhalb der NATO gemeinsam betrieben
und auch finanzierten. Zudem maximierten zwei Basen in Europa die
Abfangwahrscheinlichkeit nicht nur für Raketen, die auf die USA, sondern auch für diejenigen, die auf Europa zielten. Obwohl diese Lösung
zunächst vielleicht kostenintensiver erscheint, könnte sich die Zahl der
insgesamt notwendigen Abfangraketen eventuell sogar reduzieren, wenn
beide Basen als Teil eines Gesamtsystems operierten. Gleichzeitig müsste
die NATO Raketenabwehrsysteme wie SM 3 und THAAD für die Verteidigung gegen Mittelstreckenraketen bereitstellen – ebenso wie GBI sind
diese für die Verteidigung des Kontinents unerlässlich.
Entschiede sich die NATO, eigene GBI zu stationieren, müsste das NATOProgramm gegenwärtig dennoch auf amerikanische Kommunikationsund Sensorsysteme wie z.B. Frühwarnsatelliten zurückgreifen. Zugleich
müssten beide Basen im Ernstfall sowohl eng miteinander als auch mit
dem US-Raketenabwehrkommando im Strategic Command zusammenarbeiten. Eine solche Problemstellung ist in der NATO jedoch nicht unbekannt. Eine Reihe von Kommandeuren tragen deshalb „Doppelhüte“, die
zeigen, dass sie Teil der nationalen amerikanischen und Teil der NATOBefehlskette zugleich sind. So ist der NATO-Oberbefehlshaber SACEUR
z.B. traditionell gleichzeitig der Kommandeur des amerikanischen Europakommandos EUCOM. In diesem Sinne sollte der Kommandeur der
Raketenabwehreinheiten der NATO ein amerikanischer Offizier sein, der
gleichzeitig durch SACEUR/Kommandeur EUCOM auch die amerikanische Basis befehligt. Einerseits hätte die NATO dann Zugang zu denjenigen
amerikanischen Systemen, die dem Bündnis nicht assigniert sind. Zudem
wäre eine integrierte Gefechtsführung gewährleistet. Andererseits hätte
der NATO-Rat durch SACEUR und die NATO-Raketenabwehrbefehlskette
die Oberhoheit über alle gemeinsamen Systeme der Allianz.
Alles in allem könnten ca. 20 bodengestützte Abfangraketen, inklusive
der amerikanischen zehn in Polen, in Verbindung mit THAAD und SM 3
einen Schutz gewährleisten, der mit dem für die USA vergleichbar wäre.
Ein Angriff, der darauf zielte, ein derartiges Abwehrsystem zu durchbrechen, erforderte nicht nur substanzielle Investitionen auf Seiten des Aggressors, sondern erhöhte gleichzeitig auch die Wahrscheinlichkeit einer
nuklearen Vergeltung durch die NATO. Die Gesamtkosten für den NATOEtat eines solchen kombinierten Systems sollten zudem erheblich geringer als die 6-8 Milliarden Euro sein, die in der NATO-Machbarkeitsstudie
veranschlagt wurden.5
5
Die USA veranschlagen die zehn Abfangraketen in Europa mit 1,6 Milliarden
US-Dollar.
Raketenabwehr für die NATO
185
6. Europäische Unterstützung für Obama gefordert
Sollte die Obama-Administration die Raketenabwehrbasis in Osteuropa
im Zuge der amerikanisch-russischen tatsächlich „opfern“, bräche ein
wesentliches Element der US-Verteidigungsstrategie gegen MVW und BR
weg. Da die USA bisher der Motor der Raketenabwehranstrengungen im
Rahmen der NATO waren, ist davon auszugehen, dass auch das Bündnis
insgesamt nicht in der Lage wäre, die bisherigen Fortschritte im Bereich
seiner Strategieanpassung in ein wirkungsvolles Programm umzusetzen
– nur unter erheblichen finanziellen Aufwendungen. Mit Blick auf den
Gipfel zum 60-jährigen Bestehen der NATO, auf dem das tasking zur Erarbeitung für ein neues – den aktuellen Bedrohungen – angepasstes strategisches Konzept erfolgen soll, wäre diese Entwicklung ein fatales Signal der
Verteidigungsunwilligkeit.
Die NATO-Mitglieder haben sich nicht nur verpflichtet, sich gemeinsam
zu verteidigen, sondern auch, die entsprechenden Fähigkeiten für eine
effektive Verteidigung bereitzuhalten. Ein Raketenabwehrsystem zum
Schutz des Bündnisgebiets könnte die bisherigen Anstrengungen der
NATO zur Verbesserung des ABC-Schutzes und der offensiven Fähigkeiten im konventionellen Bereich, die seit Prag angestoßen wurden, sinnvoll optimieren. Dementsprechend sollte sich die NATO bei der gegenwärtigen Debatte nicht länger von der russischen Kritik vereinnahmen
lassen. Die Geschichte hat gezeigt, dass Staaten mit erpresserischen und/
oder expansiven Zielen wie Nordkorea und Iran stets versucht haben, die
Verwundbarkeit des Kontrahenten für ihre Zwecke auszunutzen. Eine Verteidigungslücke gegen Raketen auf Seiten der NATO lädt seine Gegner
geradezu ein, sich diese Waffen zu beschaffen. Die transatlantischen Partner können sich gegen derartige Bestrebungen langfristig nur verteidigen,
wenn sie den Technologiewettbewerb mit diesen Staaten dominieren und
ihre Verteidigungslücken rechtzeitig immer wieder neu schließen. Die bekundeten russischen Interessen kann das geplante Raketenabwehrsystem
kaum beeinflussen – dies ist unterdessen allseits anerkannt.
Die Europäer sollten den neuen amerikanischen Präsidenten Obama
geradezu ermuntern und unterstützen, den Weg von George W. Bush im
Bereich der Raketenabwehr zu Ende zu gehen. Nur so können sie den
Schutz ihres eigenen Kontinents gegen BR zu einem relativ geringen und
effektiven Preis gewährleisten.
No change at all –
Die NATO-Politik der
Obama-Administration
Carlo Masala
1. Einleitung
Nachdem der Jubiläumsgipfel der Allianz am 3./4. April 2009 in Straßburg
und Kehl, an dem der neue amerikanische Präsident Barack Obama zum
ersten Mal an einer Sitzung des Nord-Atlantik-Rates teilgenommen hat,
vorbei ist, erscheint es legitim, eine erste vorläufige Bilanz hinsichtlich
der Vorstellungen der gegenwärtigen US-Administration zur Zukunft der
NATO und zur Rolle, die die USA in der NATO zukünftig einzunehmen gedenken, zu ziehen. Dies soll in dem vorliegenden Beitrag versucht werden.
Die Ausgangsthese lautet dabei, dass – im Gegensatz zu anderen Politikbereichen (z.B. nukleare Abrüstung), in denen die US-Administration unter
Präsident Barack Obama durchaus versucht, sich nicht nur von der Politik
ihrer Vorgängerin zu distanzieren, sondern auch Neuansätze zu wagen –
die NATO-Politik der USA von großer Kontinuität zu der Allianzpolitik
der Bush-Administration gekennzeichnet ist. Dies erscheint auf den ersten Blick bemerkenswert. Denn gerade die neue US-Administration war
ja unter dem Stichwort „change“ nicht nur in der Innenpolitik, sondern
auch in der Außenpolitik angetreten. Wie lässt es sich somit erklären, dass
die ersten Schritte der neuen Administration im Bereich der NATO-Politik
doch eher von erstaunlicher Kontinuität als von angekündigtem Wandel
gekennzeichnet sind?
Betrachtet man einmal, wie Wandel und Kontinuität in der Theorie der internationalen Beziehungen erklärt bzw. nachvollzogen werden, so bieten
sich zwei Ebenen der Analyse an, um die These von der Kontinuität amerikanischer NATO-Politik unter Präsident Obama zu erklären. Zunächst einmal kann die neorealistische Perspektive einen Beitrag dazu leisten, indem
sie auf die strukturellen Rahmenbedingungen verweist, unter denen sich
auch amerikanische Außenpolitik vollzieht. Da der Wechsel von Bush zu
Obama nicht mit einem Wandel der Struktur des internationalen Systems
einhergegangen ist, würde die neorealistische Erklärung lauten, dass die
NATO-Politik der neuen US-Administration eher von Kontinuität als von
Wandel geprägt sei. Ein zweiter Ansatz, der eher personaler Natur ist, würde darauf verweisen, dass die maßgeblichen Personen, die in der neuen
US-Administration für die Allianzpolitik der USA zuständig sind (Hillary
No change at all – Die NATO-Politik der Obama-Administration
187
Clinton, James Jones, Elizabeth Sherwood-Randall), für das Kontinuitätselement in der amerikanischen NATO-Politik unter Präsident Obama verantwortlich sind. Zwar haben die meisten von ihnen, mit Ausnahme von
General James Jones, nicht unter Präsident Bush gearbeitet, jedoch ist man
sich in der Forschung zur amerikanischen NATO-Politik nach dem Ende
des Ost-West-Konflikts relativ einig, dass die amerikanische NATO-Politik
seit 1990 eine große Kontinuität aufweist, ungeachtet der Tatsache, ob ein
Republikaner oder ein Demokrat im Oval Office residiert.
Der vorliegende Beitrag versucht, im Sinne eines eklektischen Ansatzes
beide Erklärungsstränge miteinander zu verbinden. Demzufolge ist die
Tatsache, dass unter der Präsidentschaft Obamas bislang eine erstaunliche
Kontinuität der NATO-Politik mit Blick auf die Vorgängeradministrationen zu beobachten ist, darauf zurückzuführen, dass sich an den strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen die neue Administration agiert,
nichts Grundlegendes geändert hat und das Personal, das gegenwärtig für
NATO-Angelegenheiten verantwortlich ist, in ihren konzeptionellen Vorstellungen über die Zukunft der Allianz Kontinuität repräsentiert.
Um dies aufzuzeigen, ist der vorliegende Beitrag wie folgt strukturiert. Zunächst einmal wird auf die strukturellen Rahmenbedingungen amerikanischer NATO-Politik eingegangen. Hierbei wird zwischen Konstanten und
Veränderungen unterschieden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf
der Frage, welche Handlungsmöglichkeiten und Handlungseinschränkungen sich für die USA in der NATO durch diese Rahmenbedingungen
ergeben. In einem weiteren Schritt wird dann, basierend auf zugänglichen Dokumenten, der Frage nachgegangen, welche konzeptionellen
Vorstellungen die führenden Akteure in der neuen US-Administration mit
Blick auf die Zukunft der Nordatlantischen Allianz verfolgen. Der Beitrag
schließt mit einem Fazit, das die wichtigsten Aussagen des vorliegenden
Beitrages nochmals zusammenfasst.
2.
Strukturelle Bedingungen
2.1 Konstanten
Amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik vollzieht sich nach wie
vor in einem dezentralisierten anarchischen Selbsthilfesystem, in dem
Staaten unter den Bedingungen eines Macht- und Sicherheitsdilemmas
agieren und interagieren.1 Aus dieser Grundkonstellation resultiert ein
kompetitiver Charakter in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Da es
an einer übergeordneten Instanz fehlt, die für Ordnung und Sicherheit im
internationalen System Sorge tragen kann, stellen die Existenzerhaltung
1
Vgl. Herz, John H.: Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961, S.130-131.
188
Carlo Masala
und ggf. Existenzentfaltung für Staaten ein Problem ersten Ranges dar. In
ihrer Beziehung zu anderen Staaten sind Staaten stets mit dem Problem
der Macht konfrontiert bzw. ihr ausgesetzt, so dass zwischenstaatliche Kooperation zwar nicht unmöglich, aber schwierig ist, da eine übergeordnete Instanz fehlt, die den an der Kooperation beteiligten Staaten Erwartungssicherheit hinsichtlich der voraussichtlichen Kosten/Nutzen bietet
bzw. einen Ausgleich zwischen Vor- und Nachteilen gewähren kann. In
dieser Perspektive ist Außen- und Sicherheitspolitik immer Machtpolitik.
2.2 Veränderungen
Während es mit Blick auf die Grundstruktur des internationalen Systems
seit dem Westfälischen Frieden keine Veränderung gegeben hat, so hat
das Ende des Ost-West-Konflikts eine entscheidende und einschneidende
Veränderung mit Blick auf die Machtverteilung zwischen den Großmächten im internationalen System nach sich gezogen, die fälschlicherweise
von einigen Wissenschaftlern2 und vor allem von der öffentlichen Meinung als Unipolarität charakterisiert wird. Denn ein genauer Blick auf
die gegenwärtig zwischen den Großmächten existierende Machtverteilung offenbart, dass es sich bei dem momentanen internationalen System
um ein multipolares System mit unipolarem sicherheitspolitischem Kern
handelt,3 in dem die USA aufgrund ihrer militärischen Stärke eine besondere, jedoch nicht die herausragende Stellung einnehmen.
2.3 Konsequenzen
Welches sind nunmehr die Konsequenzen, die aus der Grundstruktur des
internationalen Systems für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA
resultieren?
Im Folgenden werden drei Auswirkungen näher zu betrachten sein. Diese
sind im Einzelnen
a) der Aufstieg von Großmächten,
b) die Schwächung multilateraler Institutionen und
c) das Ende des politischen Westens.
zu a)
2
3
Nicht erst seit dem russisch-georgischen Krieg vom Sommer 2008
ist die Tendenz zu beobachten, dass regionale Mächte mit zuneh-
Wohlforth, William/Books, Stephen G.: International Relations Theory and
the Case Against Unilateralism, in: Perspectives on Politics 3/2005, S.509-524.
Vgl. ausführlicher dazu: Masala, Carlo: Den Blick nach Süden. Die NATO im
Mittelmeerraum (1990-2003), Baden-Baden 2005, Kapitel II.
No change at all – Die NATO-Politik der Obama-Administration
189
mendem Selbstbewusstsein und ordnungspolitischem Anspruch
auf die Bühne der internationalen Politik zurückgekehrt sind.
Insbesondere Russland und China machen aus ihrem Anspruch,
regionale Ordnungsmächte zu sein, keinen Hehl und betreiben,
teils offen, teils verdeckt, eine „strategy of denial“-Politik, die darauf abzielt, den militärischen, politischen und ökonomischen
Einfluss der USA in ihren jeweiligen Regionen zurückzudrängen.4
Aber auch Brasilien und Indien entwickeln sich zu selbstbewussten regionalen Großmächten, die zunehmend die institutionellen Strukturen der in Zeiten des Ost-West-Konfliktes aufgebauten
Weltordnung in Frage stellen.5 All diesen aufsteigenden Mächten
ist gemein, dass sie (noch?) keine offene revisionistische Politik
betreiben, die auf eine revolutionäre Umgestaltung der gegenwärtigen internationalen Ordnung abzielt. Jedoch gibt es bereits Anzeichen dafür, dass einige dieser aufstrebenden Staaten neben der
machtpolitischen Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten auch
einen ordnungspolitischen Dissens im Bereich der Interpretation
staatlicher Souveränität zu westlichen Staaten suchen. Die von
europäischen Staaten sowie den USA in der letzten Dekade zusehends aufgeweichte Souveränitätsnorm, wonach interne Angelegenheiten eines Staates unter gewissen Umständen (Genozid, ethnische Vertreibungen) das Eingreifen anderer Staaten zur Pflicht
machen (duty to protect),6 wird von diesen Staaten abgelehnt.
Entgegen einer Aufweichung der Souveränitätsnorm betonen diese Staaten (insbesondere Russland und China) die fortdauernde
Relevanz des Nichteinmischungsprinzips.7 Wie sich der Aufstieg
neuer Großmächte in Zukunft konkret vollziehen wird, ob kooperativ oder konfrontativ, ist eine Frage, die aus der heutigen Sicht
nicht beantwortet werden kann. Wohlgleich ist es jedoch bereits
jetzt absehbar, dass das zukünftige internationale System ein multipolares sein wird, und die Frage, ob diese Multipolarität eine stabile oder instabile8 sein wird, hängt maßgeblich davon ab, ob die
aufsteigenden Mächte die neue Ordnung als eine legitime, somit
4
5
6
7
8
Zu Russland siehe Toft, Monica Duffy: Russia‘s Recipe for Empire, http://www.
foreignpolicy.com/story/cms.php?story_id=4462; zu China vgl. Christensen,
Thomas: Fostering Stability or Creating a Monster? The Rise of China and U.S.
Policy toward East Asia, in: International Security 1/2006, S.81-126.
Vgl. Sewall, Sarah: A Strategy of Conservation: American Power and the International System, Harvard Kennedy School (Faculty Research Papers), Mai
2008 (RWP08-028), S.8.
Vgl. Buchanan, Allen/Keohane, Robert O.: The Legitimacy of Global Governance Institutions, in: Ethics and International Affairs 4/2006, S.405-437.
Vgl. Joint statement on a new world order in the 21st century issued by China
and Russia on 04/07/2005, http://au.china-embassy.org/eng/xw/t202227.htm.
Zur Unterscheidung zwischen stabiler und instabiler Multipolarität siehe Mearsheimer, John J.: The Tragedy of Great Power Politics, New York 2001, Kapitel 8.
190
Carlo Masala
ihren Interessen dienlich, oder illegitime perzipieren werden. Sollte Letzteres der Fall sein, so ist eine Rückkehr zu einer globalen
Politik der Konfrontation nicht auszuschließen.
zu b)
Es ist bereits angedeutet worden, dass die neuen aufstrebenden
Großmächte die multilaterale Ordnung der Zeit des Ost-WestKonflikts zunehmend in Frage stellen. Doch auch seitens der Staaten, die maßgeblich am Aufbau dieser Ordnung beteiligt waren
(allen voran die USA), ist diese multilaterale Ordnung zunehmendem Druck ausgesetzt. Denn seit dem Ende des Ost-West-Konflikts
lehnen die USA zwar nicht den Multilateralismus als System der
zwischenstaatlichen Beziehungen ab, torpedieren jedoch einen
vertragsbasierten Multilateralismus, der ihre eigene Handlungsfreiheit (aus amerikanischer Perspektive) unnötig einschränkt.9
An die Stelle vertraglich basierter und damit handlungseinschränkend wirkender multilateraler Institutionen setzen die Vereinigten
Staaten zunehmend auf informelle Gremien (wie z.B. die Proliferation Security Initiative), die aus ihrer Perspektive flexibler und
effektiver sind und die die reale Machtverteilung zwischen den
USA und den anderen an solchen Initiativen beteiligten Staaten
widerspiegeln. Die zunehmende Abkehr der USA von tradierten
Institutionen (insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich)
wirkt auch unmittelbar auf die NATO. Aus amerikanischer Sicht ist
die Allianz ein zu vernachlässigendes Instrument ihrer politischen
und militärischen Machtprojektion geworden, wenn sie nicht zur
Durchsetzung amerikanischer Interessen genutzt werden kann.
Da nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes Interessendivergenzen
zwischen den USA und insbesondere den „alten europäischen“
NATO-Mitgliedern in nahezu allen politischen und militärischen
Fragen vorherrschen,10 ist seitens der amerikanischen Administration, aber auch der außenpolitischen Eliten am Potomac11 ein
zunehmendes Interesse an der Allianz zu konstatieren. An die
Stelle von Politik in Desinteresse tritt zunehmend Politik außerhalb von Institutionen, in Direktoraten oder sogenannten Koalitionen der Willigen und Fähigen.
Die Schwächung multilateraler Institutionen ist jedoch nicht nur
auf der globalen Ebene zu konstatieren und nicht nur durch die
USA verursacht, sondern vollzieht sich auch regional. Durch ihre
9
10
11
Vgl. Ikenberry, G. John: Is American Multilateralism in Decline?, in: Perspectives on Politics 3/2003, S.533-550.
Vgl. Haftendorn, Helga: Das Ende der alten NATO, in: Internationale Politik
4/2002, S.49-54.
So haben sich beide Kandidaten im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf bislang kaum zur Allianz und ihrer Bedeutung für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA geäußert.
No change at all – Die NATO-Politik der Obama-Administration
191
Erweiterung nach Osten bei gleichzeitig ausbleibender Vertiefung
ist auch der europäische Handlungsrahmen der Bundesrepublik
Deutschland in eine schwere Krise geraten, und zwar nicht nur
hinsichtlich der institutionellen Weiterentwicklung der EU, sondern auch bezüglich ihrer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Insbesondere die Fragen, wie die Beziehungen zu den USA
und zu Russland zukünftig gestaltet werden sollen, spalten die
Unionsmitglieder. Die meisten osteuropäischen Staaten würden
eine Konzeption befürworten, in der Europa unter amerikanischer
Hegemonie eine konfrontative Politik gegenüber der russischen
Föderation betreibt, was von den meisten Gründungsmitgliedern der EU abgelehnt wird. Dieser konzeptionelle Dissens lähmt
jedoch die konsequente Weiterentwicklung der GASP und vor
allem der ESVP hin zu Instrumenten politischer und militärischer
Machtprojektion der EU.12
zu c)
12
13
Die skizzierte Schwächung der beiden für transatlantische Außenund Sicherheitspolitik zentralen multilateralen Institutionen belegt auch die Tatsache – und das wird von den meisten führenden Politikern diesseits und jenseits des Atlantiks bis heute nicht
wahrgenommen –, dass der Westen als politische Handlungseinheit nicht mehr existiert. Zwar werden die europäischen Staaten
und die USA auch weiterhin durch ihre gemeinsame Geschichte
und Kultur auf das Engste verbunden bleiben, daraus zu folgern,
dass sie aber auch zukünftig eine stabile politische Handlungseinheit bilden werden, ist jedoch verfehlt.13 Nach dem Wegfall des
gemeinsamen Feindes werden die USA und Europa nur noch auf
einer Ad-hoc-Basis – wenn Interessenidentität vorherrscht – gemeinsam handeln. Wenn jedoch Interessendivergenzen zwischen
den USA und den Europäern, aber auch unter den Europäern
selbst handlungsbestimmend sein werden, wird die Außen- und
Sicherheitspolitik im transatlantischen und europäischen Rahmen durch Koalitionen der Willigen und Fähigen dominiert sein,
die sich teils der vorhandenen Institutionen bedienen werden.
Wenn dies jedoch nicht möglich sein sollte, werden die Staaten
auch außerhalb dieser handeln.
Kietz, Daniela/Perthes, Volker (Hrsg.): Handlungsspielräume einer EU-Präsidentschaft. Eine Funktionsanalyse des deutschen Vorsitzes im ersten Halbjahr
2007, Berlin 2007.
Anders als Angelo Bolaffi und auch Werner Link sehe ich auch nicht die Aufteilung in den amerikanischen und den europäischen Westen, da die Interessendivergenzen unter den Mitgliedstaaten der EU ebenso groß sind, wie die
zwischen der EU und den USA. Vgl. Bolaffi, Angelo in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 19.5.2003. Allerdings würde ich in Anknüpfung an beide Autoren
auch argumentieren, dass die Rekonstruktion des europäischen Westens eher
wahrscheinlich ist als die des transatlantischen Westens.
192
Carlo Masala
Nachdem Kontinuitäten und Veränderungen in der internationalen Politik
kurz skizziert wurden, soll nun untersucht werden, wie sich diese auf die
Allianz und insbesondere auf die amerikanische NATO-Politik auswirken.
3. Allianzen im neuen internationalen System
Ein multipolares System mit unipolarem (sicherheitspolitischem) Kern
hat unmittelbare Auswirkungen auf Allianzen, in denen die sicherheitspolitisch unipolare Macht Mitglied ist. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die sicherheitspolitische Machtasymmetrie zwischen
dem Unipol und den anderen Allianzmitgliedsstaaten dazu führt, dass
der Unipol immer weniger auf Koordination und Abstimmung seiner
Politik mit anderen Allianzmitgliedern angewiesen ist.14 Die überragende
Machtfülle versetzt ihn in die Lage, seine Politik ohne die Unterstützung
von Alliierten umzusetzen. Zugleich ist die überragende Macht nicht auf
alle Allianzmitglieder bei der Verfolgung ihrer Ziele angewiesen. Er kann
cherry-picking betreiben, um sich eine loyale Koalition zur Verfolgung
seiner Ziele zusammenzustellen.
Die existierenden Machtasymmetrien innerhalb einer solch konfigurierten Allianz stellen für die „schwächeren Staaten“ insofern ein Problem dar,
als dass ihr Einfluss auf die Politik der überragenden Macht sinkt. Während zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes die europäischen Staaten durchaus
in der Lage waren, die Politik der USA in Teilen zu beeinflussen,15 schwinden die Möglichkeiten der Einflussnahme unter den Bedingungen sicherheitspolitischer Unipolarität. Dies bedeutet nicht, dass Allianzmitglieder
keine Möglichkeit haben, sich dem Druck der unipolaren Macht zu entziehen oder sogar dagegen zu wirken, wie die deutsch-französischen Versuche zur Delegitimierung des Irak-Krieges 2002/2003 gezeigt haben. Die
Wahrscheinlichkeit, dass sie jedoch in der Lage sind, die stärkste Macht in
der Allianz von ihrer Politik abzubringen, ist angesichts der vorhandenen
Machtasymmetrien eher gering.
Was sich in einer Allianz unter den Bedingungen sicherheitspolitischer
Unipolarität verschärft, ist das von Glenn Snyder herausgearbeitete „entrapment“ und „abondonment“-Problem,16 wonach schwächere Staaten
einer Allianz im Falle eines Konfliktes mit einem Allianzmitglied fürchten
müssen, im Stich gelassen zu werden (abandonment), und die stärkste
14
15
16
Die folgenden Ausführungen stützen sich in wesentlichen Teilen auf Masala:
Den Blick nach Süden, sowie Walt, Stephen M.: Alliances in a Unipolar World,
in: World Politics 1/2009, S.86-120.
Vgl. Risse-Kappen, Thomas: Cooperation among Democracies: The European
Influence on U.S. Foreign Policy, Princeton 1995.
Vgl. Snyder, Glenn: Alliances Politics, Ithaca 1997.
No change at all – Die NATO-Politik der Obama-Administration
193
Allianzmacht zurückhaltend sein wird, sich in Konflikte verwickeln zu
lassen (entrapment), die aus ihrer Sicht nicht von vitalem Interesse sind.
Nachdem die strukturellen Auswirkungen des neuen internationalen Systems für die allianzinterne Kooperation skizziert wurden, soll in einem
nächsten Schritt dargelegt werden, welche konkrete Politik seitens der
Obama-Administration mit Blick auf die NATO verfolgt wird.
4. No change at all
Die Allianz spielte im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf
eine nur untergeordnete Rolle. Nur mit Blick auf Afghanistan, einem zentralen Thema des außenpolitischen Teils der Obama-Kampagne, war beständig zu hören, dass „[t]he US has to put more resources and troops into
Afghanistan, and NATO should do the same, while – to the greatest extent
possible – lifting operational restrictions“.17 Bereits hier deutete sich Kontinuität zu der Haltung der Bush Jr.-Administration an. Auch diese hatte
stets gefordert, dass die Europäer (und hier insbesondere die Deutschen)
sich stärker in Afghanistan mit Kampftruppen engagieren sollten. Ansonsten war aber, abgesehen von Obamas Berliner Rede vom 24. Juli 2008,
in der er die Deutschen ebenfalls zu mehr militärischem Engagement in
Afghanistan aufforderte, die NATO kein Thema des US-amerikanischen
Wahlkampfes. Dass die NATO nach dem Endes des Ost-West-Konfliktes
nicht mehr im Zentrum des strategischen Interesses der Vereinigten Staaten stand, machte Obama in seiner Rede vor dem Chicagoer Council on
Global Affairs am 23. April 2008 deutlich, als er ihre Bedeutung für die
amerikanische Außenpolitik im 21. Jahrhundert dadurch relativierte, dass
er ankündigte, „as we strengthen NATO, we should also seek to build new
alliances and relationships in other regions important to our interests in
the 21st century“.18
Kurz nach dem Amtsantritt der neuen Administration bot sich Vizepräsident Biden die Gelegenheit, die Vorstellungen der neuen Administration
zur Zukunft der NATO auf der Münchner Sicherheitskonferez im Februar
2009 darzulegen. Wie Josef Bramel richtig schreibt, hätte diese Rede auch
von der Vorgängerregierung formuliert werden können.19 Die Allianz,
so Biden, müsse sich auf die neuen Gefährdungslagen im 21. Jahrhundert einstellen, die nicht mehr nur regionaler, sondern auch funktionaler
17
18
19
Rice, Susan: Each Side has to do more, Interview mit der Wochenzeitschrift
„Der Spiegel“, http://www.spiegel.de/international/world/0,1518,567066,00.
html
Remarks of Senator Barack Obama to the Chicago Council on Global Affairs,
23.4.2007, http://my.barackobama.com/page/content/fpccga/
Bramel, Josef: Im Westen nichts Neues?, in: APuZ 15-16/2009, S.15-21, hier S.17.
194
Carlo Masala
Natur seien (Cyber-Attacks, Energiesicherheit etc.).20 Damit setzte Biden
ebenfalls ein Zeichen der Kontinuität zur Vorgängerregierung, die bereits
seit 2004 versucht, die NATO in diese Richtung zu drängen.
Gleichzeitig bekräftige Biden in seiner Rede, dass die USA angesichts der
vom Iran ausgehenden Bedrohung an dem Raketenabwehrschild in Polen
und der Tschechischen Republik festzuhalten gedenken, was Präsident
Obama in seiner Prager Rede vom 5. April 2009 nochmals bekräftigte.21
Angesichts der Tatsache, dass bereits die Bush-Administration mit ihren
Raketenabwehrplänen einen Spaltpilz durch die Allianz getrieben hatte,
ist auch in diesem Politikfeld seitens der neuen Administration am Potomac Kontinuität zu beobachten.
Und auch im Vorfeld des NATO-Gipfels von Straßburg und Kehl im April 2009 wurde deutlich, dass die neue US-Administration in Kontinuität
zu ihrer Vorgängerin steht. Der nationale Sicherheitsberater James Jones
(ehemaliger SACEUR) verlangte im Vorfeld des NATO-Gipfels umfassende
strukturelle Reformen für die Allianz, die diese – aus amerikanischer Sicht
– in die Lage versetzen sollten, schneller, effektiver und effizienter auf
zukünftige Herausforderungen zu reagieren. Worin diese Reformen genau
bestehen sollen, ließ Jones offen. Man kann aber ahnen, was dem nationalen Sicherheitsberater vorschwebt. Bereits als SACEUR (somit als hoher
General der Bush-Administration) schrieb Jones zusammen mit SACT-Admiral Giambastiani (Supreme Allied Commander Transformation) 2004
die „Strategic Vision“ , die u.a. verklausuliert die Abschaffung des Military
Committees der NATO, des höchsten militärischen Beratungsgremiums
für den Nord-Atlantik-Rat, forderte.22
Auch hinsichtlich anderer Politikbereiche zeichnet sich bereits jetzt eine
große Kontinuität amerikanischer NATO-Politik ab, die von der Clintonüber die Bush Jr.- bis hin zur Obama-Administration reicht.
Insbesondere die Frage der zukünftigen Ausrichtung der Allianz liefert
dafür ein beredtes Beispiel. Wie die beiden Vorgängerinnen so ist auch
die Obama-Administration bestrebt, die Allianz in ein global einsetzbares
Bündnis zu transformieren, und sucht zu diesem Zwecke die enge Anbindung nicht-europäischer Staaten wie z.B. Japan, Australien und Süd-Korea
an die Allianz. Eine global agierende NATO mit außereuropäischen Partnern soll möglicherweise zukünftig das Kernstück eines Projektes werden,
20
21
22
Vgl. Biden, Joseph R.: Speech at the 45th Munich Security Conference, http://
www.securityconference.de/konferenzen/rede.php?menu_2009=&sprache=e
n&id=238&
Vgl. http://www.huffingtonpost.com/2009/04/05/obama-prague-speech-onnu_n_183219.html
Vgl. hierzu Yost, David: Interview with General James L. Jones, Rom 2008, S.4.
No change at all – Die NATO-Politik der Obama-Administration
195
das insbesondere der Leiterin des Planungsstabes des State Departments,
Ann-Marie Slaughter, am Herzen liegt: die Schaffung einer Community
of Democracies, deren Aufgabe es sein sollte, global massive Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.23 Die NATO würde in dieser Konzeption der bewaffnete Arm der Community sein, die im Auftrage dieser Einsätze zum Schutz der Menschenrechte durchführen würde.24
Die hier angeführten Beispiele, und es ließen sich noch mehrere anfügen,
zeigen deutlich, dass es mit Blick auf die in der neuen US-Administration
für die NATO verantwortlichen Personen eine große Kontinuität im Denken über die Zukunft der NATO gibt. Diese Kontinuität reicht über die
Bush-Administration hinaus zurück zur Clinton-Administration, in der
die meisten heute mit NATO-Fragen befassten Akteure bereits hohe Positionen inne hatten.
Aus dieser Perspektive ist trotz aller Ansätze zur Neuformulierung amerikanischer Außenpolitik, die sich in anderen Politikfeldern abzeichnen,
die NATO-Politik der neuen amerikanischen Administration von beeindruckender Kontinuität zu ihren beiden Vorgängerinnen geprägt.
5. Fazit
Der folgende Beitrag ist von der These ausgegangen, dass sich die NATOPolitik der Obama-Administration weniger durch „change“ als vielmehr
durch Kontinuität auszeichnet. Bei der Frage, warum die NATO-Politik
durch beachtliche Kontinuität zu der Politik der beiden Vorgänger-Administrationen gekennzeichnet ist, wurden zwei Argumente miteinander
verknüpft. Zum einen lässt sich die Kontinuität aus der Struktur des internationalen Systems, insbesondere aus der militärischen Machtverteilung
in diesem, erklären. Die dort noch existierende Unipolarität eröffnet den
Vereinigten Staaten Handlungsspielräume und begrenzt ebendiese für die
europäischen Allianzmitglieder.
Doch der Verweis auf die militärische Machtverteilung alleine genügt
nicht, um die konkrete NATO-Politik der Obama-Administration zu erklären. Denn der Blick auf die militärische Machtverteilung als alleinige
Erklärungsvariable würde Agency ausschließen und einen Erklärungsdeterminismus erzeugen. Ebenso bedeutsam erscheint es, die handelnden
23
24
Vgl. Slaughter, Anne-Marie: America‘s Edge: Power in the Networked Century,
in: Foreign Affairs 1/2009, http://www.princeton.edu/~slaughtr/Articles/AmericasEdgeFA.txt.
Vgl. Daalder, Ivo/Lindsay, James: Democracies of the World, Unite, in: The
American Interest Online, http://www.the-american-interest.com/ai2/article.
cfm?Id=220&MId=8
196
Carlo Masala
Personen in dieser Administration und ihre Konzeptionen zur Zukunft
der Allianz näher zu betrachten. Und hier lassen sich große Kontinuitätslinien zu beiden Vorgänger-Administrationen feststellen.
In dem Zusammenspiel zwischen Strukturen und Akteuren muss man
abschließend festhalten, dass von der neuen US-Administration weniger
Wandel als vielmehr Kontinuität zu erwarten sein wird bzw. sich bereits
jetzt abzeichnet.
Dies bedeutet aber auch, dass man sich in Europa keinerlei Illusionen hingeben sollte, die darauf abzielen, zu einem neuen strategischen Konsensus
innerhalb der Allianz zu gelangen. Zu unterschiedlich sind hier die Vorstellungen diesseits und jenseits des Atlantiks.
Sicherheit ohne die USA?
Die NATO in der Perzeption
Europas
Klaus Naumann
1. Einführung
Europa hat fast sechzig Jahre Nutzen aus der amerikanischen Bereitschaft
gezogen, Europa als Teil amerikanischer Sicherheit zu sehen und den
Schutzschirm der „erweiterten“ nuklearen Abschreckung (Extended Deterrence) über Europa aufzuspannen. Im Kalten Krieg haben damit vor
allem die USA Krieg in Europa gegenüber einer Angriff unter Einschluss
eines nuklearen Erstschlages planenden Sowjetunion verhindert.
Nach Ende des Kalten Krieges waren es erneut die USA, die den Frieden in
Europa wiederherstellten, als sie sich entschlossen, im Rahmen der NATO
die jugoslawischen Sezessionskriege zu beenden und durch den Doppelansatz Erweiterung der NATO und Partnerschaft für den Frieden eine
friedliche Neuordnung des post-sowjetischen Europas zu ermöglichen.
Als die USA nach dem 11. September 2001 den Krieg gegen den Terrorismus aufnahmen, zerbrach die „Pax Americana“ in Europa, und die
schon am Ende des Kalten Krieges aufgeworfene Frage nach der Zukunft
der NATO und nach einer Sicherheit Europas ohne die USA wurde wieder
gestellt. Mit Amtsantritt der Regierung Obama mag sich die Frage erneut
stellen, denn trotz der wahrscheinlichen Rückkehr der USA zu multilateraler Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht ausgeschlossen, dass Präsident Obama wie G.W. Bush Europa für befriedet hält und seine Schwerpunkte im Nahen Osten und in Asien sieht. Die Frage, ob es Sicherheit für
Europa ohne die USA geben kann, stellt sich daher auf beiden Seiten des
Atlantiks. Eine Antwort verlangt zunächst die Lage Europas Anfang 2009
zu betrachten, dann zu bewerten, wie die Sicherheit Europas gewahrt werden kann, bevor man beurteilt, ob dies ohne die USA gelingen kann und
welche Rolle dabei die NATO spielt.
2. Die Lage
Die Welt war schon vor den aufwühlenden Entwicklungen seit Anfang August 2008, erst im Kaukasus, dann auf den weltweiten Finanzmärkten und
198
Klaus Naumann
schließlich zum Jahresende in Nahost in einem Prozess anhaltenden Wandels, ausgelöst durch dramatische, Grenzen und Kontinente überschreitende, alle Lebensbereiche erfassende Veränderungen. Vieles verändert
sich gleichzeitig und wirkt aufeinander ein. Es gibt nicht mehr die halbwegs stabile Weltordnung des Kalten Krieges, es sind viele der alten Konflikte ungelöst, man denke nur an das im August 2008 in Georgien zum
Teil detonierte Pulverfass Kaukasus, an den Nahen Osten oder vor Europas
Haustür den Balkan. Es wird viel von einer multipolaren Welt geredet, aber
noch niemand hat erklärt, wie man in ihr Stabilität erreicht. Doch es gibt
eine gute Nachricht: Ein großer Krieg in Europa, dem Schlachtfeld unzähliger Kriege seit 300 Jahren, ist so gut wie ausgeschlossen.
Aber seit Oktober 2008 weiß die Welt, dass sich zusätzlich zu den akuten,
immer regionalen Krisen globale Krisen mit der Geschwindigkeit von Tsunamis entwickeln können. In der Finanzkrise stand die Welt am Abgrund,
und sie ist noch keineswegs in Sicherheit. Man weiß nun, wie rasch die
Kontrolle verloren geht, dass aus einer Finanzkrise Staatskrisen, ja Demokratiekrisen werden können. Leider, das ist die schlechte, aber nicht überraschende Nachricht, könnte es in der Zukunft noch mehr Krisen dieser
Dimension geben, denn der Welt stehen weitere globale und oft dramatische Veränderungen bevor.
Um zu beantworten, ob Europa Sicherheit ohne die USA erreichen kann,
sind zuerst die längerfristigen Entwicklungen zu betrachten, denn in den
aktuellen Krisen kann man nur nutzen, was man zur Verfügung hat, also
NATO und EU.
Vier langfristige Krisen
Vier langfristige Entwicklungen, die zu Krisen und Konflikten führen können, sind heute erkennbar: demographische Verschiebungen, Verknappung überlebenswichtiger Ressourcen, weitere industrielle Revolution
und Klimawandel.
Als erste dramatische, seit langem bekannte, aber politisch vernachlässigte Veränderung sind die weltweiten demographischen Umwälzungen
zu nennen. Sie werden vor allem Europas Gesellschaften gewaltige Belastungen aussetzen. Europas Bevölkerung nimmt ab und wird älter. Sie
dürfte um 2050 im Durchschnitt 50 Jahre alt sein, während die Bevölkerung Nordamerikas zunehmen und das heutige Durchschnittsalter von
37 Jahren bewahren wird. Russlands Bevölkerungsabnahme auf bis dahin
möglicherweise weniger als 100 Millionen ist noch dramatischer, und sie
kann sich durch die weitere Ausbreitung von Aids und Tbc sogar noch
beschleunigen. Die heute noch rund sechs Millionen ethnischer Russen,
Sicherheit ohne die USA? Die NATO in der Perzeption Europas
199
die das nahezu menschenleere, aber unglaublich rohstoffreiche Sibirien
bevölkern, werden hilflos zusehen müssen, wie sich die heute rund vier
Millionen illegalen chinesischen Immigranten weiter vermehren dürften.
In Asien wird Indien schon bald das bevölkerungsreichste und zugleich
das Land der Welt sein, das mehr Akademiker sein eigen nennen darf als
jedes andere Land, aber eben auch die meisten Analphabeten. In China
wird die Bevölkerung überaltern und mit den Spätfolgen der „Ein-KindPolitik“ ringen, während die Gesellschaft mit mehr als 150 Millionen
Arbeitslosen, 200 Millionen gegenwärtig zum Teil gerade freigesetzten
Wanderarbeitern, einer unglaublichen Umweltverschmutzung und einer
rasant zunehmenden Urbanisierung fertig werden muss.
Wachstum und Verjüngung der Gesellschaften werden wohl nur Afrika
– und das trotz Krieg und Aids –, die arabische Welt und Südamerika erleben. Daraus könnten Migrationswellen entstehen, die vor allem Europa treffen dürften. Diese Entwicklungen sind nicht mehr umkehrbar. Sie
werden weltweit, aber ganz besonders in Europa Spannungen auslösen,
weil die Sozialsysteme nicht mehr finanzierbar sein werden und sich die
meisten europäischen Länder Einwanderern werden öffnen müssen.
Die zweite Entwicklung ist die Verknappung überlebenswichtiger Ressourcen. Blutige Konflikte um keineswegs überlebenswichtige, aber zur Gewinnmaximierung unentbehrliche Rohstoffe sieht man im Kongo, wo die
Rivalität zwischen Tutsi und Hutu wohl nur das Mäntelchen ist, das seit
Jahren dort über Coltan und Ähnlichem liegt. Die Konkurrenz um immer
knapper werdende Rohstoffe, an der Spitze Wasser, Gas und Öl, wird immer härter werden und zu Konflikten führen, denn Europa, Indien und
China brauchen zum Überleben gesicherte Energieimporte. Europa wird
selbst dort, wo man klugerweise an Atomenergie festhält, seinen Energiebedarf nicht durch erneuerbare Energien decken können und würde,
selbst wenn es die Verschwendung, Öl zu verbrennen, beendete, abhängiger sein als die USA, die durch neue Technologien und die Nutzung
ungenutzter Potenziale durch Spielen mit dem Gas- und Ölhahn kaum
erpressbar sein werden. Weltweit dürfte aber der Kampf um Wasser die
Konfliktursache der Zukunft werden, denn schon heute decken 40% der
Menschheit ihren Wasserbedarf aus ausländischen Quellen.
Trend Nummer drei, die Notwendigkeit, als Folge weiterer technischer Revolutionierung der Fertigung arbeitsintensive Produktion und Dienstleistungen zunehmend an kostengünstigere Länder außerhalb der industrialisierten Welt abzugeben, wird zu weiteren Belastungen der Arbeitsmärkte
und der Sozialsysteme einerseits und zu zunehmendem Wettbewerb um
junge Hochqualifizierte andererseits führen. Europa, Nordamerika und Japan werden sich zum Preis erheblicher Veränderung industrieller Struktu-
200
Klaus Naumann
ren und daraus folgenden steigenden Qualifikationsanforderungen an die
Arbeitskräfte wohl bis auf Weiteres in den High Value Märkten behaupten
können, und die ungleiche, Konflikte fördernde Verteilung des Reichtums
auf dieser Welt dürfte sich auch nicht ändern, obwohl sich das BSP von
Indien und China verdreifachen könnte.
Trend Nummer vier sind Klimawandel und Umweltbelastung. Auch sie
dürften zu Krisen und Konflikten führen. Ein Beispiel: Klimaveränderung
dürfte mehr als ethnische oder religiöse Fragen zum Krieg in Darfur geführt
haben, diese Tragödie ist vielleicht der erste Klimakrieg. Sollten die Prognosen zur Erderwärmung wahr werden, dann wird man noch mehr Konflikte
dieser Art sehen. Dort, wo verseuchte Umwelt zu Wassermangel führt, wird
man andere Konflikte sehen. Wie so oft werden in ihnen die Schwachen
zu Terrorismus greifen, und die organisierte internationale Kriminalität,
darunter auch Piraterie, wird blühen. Daneben wird es Konflikte zwischen
Staaten geben – man denke nur an offene Fragen wie die zwischen Russland und Norwegen strittige Aufteilung des ölreichen Kontinentalschelfs
vor Spitzbergen oder die Frage, wie neue Seewege in den möglicherweise
eisfrei werdenden arktischen Meeren zu kontrollieren sind.
Diese vier Entwicklungen werden die Gesellschaften im Inneren verändern, natürlich unterschiedlich stark, und sie werden nach Außen zu Konflikten führen, auch zu bewaffneten. Sie könnten sogar neue Formen von
Regierungsorganisation erzwingen, weil die Probleme nicht mehr in den
engen Grenzen von Ministerien, oft noch nicht einmal mehr auf nationalem Level zu lösen sein werden. Es wird also mehr internationale Zusammenarbeit nötig sein, obwohl die Neigung der Nationen wächst, zunächst
einmal nationalstaatlich zu handeln, obwohl die Gestaltungsfähigkeit der
Nationen schrumpft.
Europa wird all diese Veränderungen unmittelbar miterleben, sogar stärker als jeder der anderen großen Akteure auf der Weltbühne wie die USA,
Russland, China, Indien und Japan, denn es liegt näher als jeder von ihnen an der Schlüsselzone der Weltpolitik der näheren Zukunft, dem erweiterten Nahen Osten, der Zone, in der sich all die genannten Trends
bündeln und von der Europa abhängiger ist als jeder andere Akteur der
Weltpolitik. Konflikte in Europas Umfeld sind deshalb nahezu unvermeidlich. Sie könnten entstehen durch
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Auseinandersetzungen über den Zugang zu und die Verfügung über
existenzielle Ressourcen wie Wasser, Ernährung, Energie und Gesundheitsfürsorge,
Migration auslösende Folgen des Klimawandels,
diese neuen Konfliktursachen verschärfende traditionelle Konfliktgründe wie ungelöste territoriale Ansprüche, Zugehörigkeit zu frem-
Sicherheit ohne die USA? Die NATO in der Perzeption Europas
–
201
den Ethnien oder Stämmen, ungleiche Machtverteilung oder religiöse
Spannungen und
die zerfallende Macht von Staaten in einer Welt, in der nicht-staatliche Akteure zunehmend über alle Machtmittel verfügen können, aber
keinerlei Kontrolle unterliegen.
Neue aggressive und expansive Ideologien könnten jede dieser Konfliktursachen durch Agitation und Nutzung weltweiter Kommunikation verschärfen.
Diese künftigen Konflikte werden oftmals durch ein Nebeneinander des
Handelns staatlicher und nicht-staatlicher Akteure gekennzeichnet sein,
wobei Letztere zunehmend über das volle Gewaltpotenzial der Staaten
verfügen dürften. Das Gewaltmonopol der Staaten wird zerbrechen und
die nicht-staatlichen Akteure werden ohne jede Bindung an Recht oder
sittliche Norm handeln, während die Staaten in ihrer Abwehr an diese
Normen gebunden bleiben müssen.
Viele künftige Konflikte dürften innerstaatlich und lokal beginnen, einige
könnten anfänglich herkömmliche Kriege sein, und fast alle werden als
„war amongst the people“, als Krieg mitten unter den Menschen, geführt
werden. Viele Konflikte werden schnell regionale, manchmal sogar globale Bedeutung erlangen. Die Bereitschaft der Regierungen, ja nahezu der
Zwang, Konflikte vorbeugend weit außerhalb ihrer Region einzudämmen,
könnte zunehmen, aber die Fähigkeit der Völker, solches Handeln zu verstehen und über relativ lange Zeiträume mitzutragen, dürfte abnehmen.
Das 21. Jahrhundert wird ein unruhiges Jahrhundert werden, in dem es
manchen Konflikt und neben dem bekannten Krieg zwischen Staaten
auch neue Formen der Gewalt wie Cyberwar und den Kampf transnationaler Kräfte gegen Staaten geben wird. Es wird anfangs wohl eine Welt
ohne Weltordnung sein, auch weil die Pax Americana in Europa an Bedeutung verloren hat, im Nahen Osten nicht so richtig greift, aber doch
unersetzbar ist und nur im Pazifik der Stabilitätsfaktor schlechthin bleibt.
Die Staatenwelt wird auf der Suche nach einer neuen Ordnung nur sehr
langsam begreifen, dass kein Staat der Welt, auch nicht der Mächtigste,
auf sich allein gestellt seine Menschen schützen kann. Alle wissen, dass
weder militärische Mittel allein noch pazifistischer Verzicht auf sie Frieden
sichern kann. Die Zukunft gehört den internationalen Organisationen,
obwohl die Mächtigen dieser Welt sich schwer tun, dort Schwächeren
Einfluss zu geben und Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Doch auch
die Schwachen tun sich schwer, denn sie müssen Souveränität abgeben.
Hinzu kommen zwei zusätzliche Gefahrenquellen: nukleare Proliferation
und Cyber Operations. Die Welt wird bis 2050 eine Renaissance von Kern-
202
Klaus Naumann
kraftwerken erleben, bis zu 1.400 neue Kernkraftwerke sollen ans Netz
gehen, deren Nebenprodukt Atomwaffen sein können. Neue Anstöße zu
deren Reduzierung sind dringend geboten. Sie haben aber nur eine Chance, wenn sie von den USA ausgehen.
Eine andere neue Gefahr, die den Terrorismus und organisierte Kriminalität noch verstärkt, entsteht aus der zunehmenden Anwendbarkeit von Cyberwar durch Staaten und nicht-staatliche Akteure. Cyberwar macht einen
Paradigmenwechsel der Strategie möglich, weg von der Vernichtung des
Gegners und hin zur strategischen, möglicherweise präventiven Lähmung
der Machtpotenziale. Die Entwicklung ist atemberaubend. Waren es 2000
noch vier Gbps, die zur Lähmung von Systemen anwendbar waren, so sind
es heute, nur neun Jahre später, bereits 16 Gbps. Man sollte daher nicht
nur den Cyberattack auf Estland 2007 gründlich auswerten, sondern auch
bedenken, welche Möglichkeiten damit dem organisierten internationalen Verbrechen offenstehen, dessen wachsender „Umsatz“ von zwei bis
drei Billiarden USD pro Jahr die Nutzung modernster Technik erlaubt.
All diesen Konfliktursachen und -formen muss durch eine geeignete Sicherheitsarchitektur begegnet werden. Sie kann nur wirksam sein, wenn
die in ihr verbundenen Staaten den Willen haben zu handeln und alle
ihre Instrumente nutzen. Vor allem aber, und das ist das entscheidende
Kriterium für die Beantwortung der Frage, ob Europa ohne die USA auskommen kann, verlangt Konfliktbewältigung der Zukunft globale Handlungsfähigkeit.
3. Die aktuellen Krisen
Zusätzlich muss die Staatenwelt, so auch Deutschland, mit aktuellen Krisen und Konflikten fertig werden, denen man mit den vorhandenen Instrumenten begegnen muss. Diese sind ohne die USA unwirksam, deshalb
gibt es kurz- und mittelfristig keine Sicherheit für Europa ohne die USA.
Viele der heutigen Konflikte verlangen Handeln in Europa oder in seiner
Peripherie, so die ungelösten Fragen auf dem Balkan und im Kaukasus
oder die brennenden Fragen in Nahost. Die Anerkennung des Kosovo
durch die USA und Teile der EU mag Russlands Entscheidung in der Georgien-Krise beeinflusst haben, ganz gewiss aber hat sie für Unruhe auf dem
Balkan gesorgt, denn so mancher in dem künstlichen Konstrukt BosnienHerzegowina träumt nun von Unabhängigkeit, vor allem in der „Republicka Serbska“. Nicht wenige wären bereit, dafür erneut zu den Waffen zu
greifen. Europa muss daher auf dem Balkan engagiert bleiben und muss
Wege finden, über die Integration Serbiens in die EU zu dauerhaften Lösungen zu kommen.
Sicherheit ohne die USA? Die NATO in der Perzeption Europas
203
Doch die dringlichste Frage ist die der Stabilität im Raum des erweiterten
Nahen Ostens, der Schlüsselzone der Weltpolitik der näheren Zukunft.
Keine der dort anstehenden Fragen darf in Isolation gesehen werden.
Die vielleicht noch einfachste ist Irak, wo es zu gelingen scheint, so etwas
wie eine zwar noch brüchige, doch zum Teil schon belastbare Stabilität
herzustellen. Doch im Nahen Osten haben sich seit 2003 die Machtverhältnisse fundamental verändert. Zur Staatenwelt ist ein in seiner Vielschichtigkeit kaum erfassbarer Akteur hinzugetreten, und zwar der politische Islam, und das politische Zentrum ist der Golf mit den beiden
rivalisierenden Mächten Saudi-Arabien und Iran geworden. Dort muss die
Lösung der Probleme im Nahen Osten gesucht werden, nicht im politischen Sumpf Palästina.
In der Region haben Vorschläge nur dann eine Chance, wenn die USA
dahinterstehen. Das gilt vor allem für den Iran, weil Iran zum globalen
Problem werden könnte. Es besteht noch immer eine – vielleicht die
letzte – Chance, doch noch eine friedliche Lösung im Konflikt über das
iranische Nuklearprogramm zu erreichen. Der Iran verfolgt ohne jeden
Zweifel entgegen all seinen Behauptungen ein Atomwaffen-Programm.
Atomwaffen zu besitzen ist keineswegs nur ein Ziel des amtierenden iranischen Präsidenten, es war das Ziel iranischer Führer seit dem Schah. Die
anstehenden Wahlen dürften daran nichts ändern. Der Iran dürfte jetzt in
der Lage sein, die Schwelle zum Bau einer Nuklearwaffe zu überschreiten.
Die Anreicherung des bis dahin produzierten Reaktorbrennstoffs in waffenfähiges HEU (Highly Enriched Uranium) könnte beginnen. Von da an
sind es nur noch Monate bis zum Besitz einer, wenn auch zunächst noch
recht primitiven Atomwaffe. Die notwendigen Trägerraketen, die Israel
und sogar die östlichsten Teile Europas erreichen können, besitzt Iran bereits. Die Alarmglocken schrillen deshalb in Israel, denn für Israel ist eben
schon eine Bombe eine existenzielle Gefahr. Keine israelische Regierung
wird angesichts der Vernichtungsdrohungen durch Präsident Ahmadineschad dieser Entwicklung tatenlos zusehen. Doch nur die USA könnten
Israel von einseitigem Handeln abhalten. Das aber kann nur gelingen,
wenn Russland und China ihr den Iran eher förderndes denn behinderndes Verhalten aufgeben, sich endlich voll hinter die Forderungen des
UNSC stellen, die UN neue, verschärfte Sanktionen beschließt und diese
dann auch von allen umgesetzt werden. Würden die USA dann ein neues Paket für den Iran aus Sicherheitsgarantien und wirtschaftlichen und
politischen Anreizen und einem umfassenden Lösungsansatz für Nahost
anbieten, dann bestünde die Chance einer gesichtswahrenden Lösung.
Angesichts der jüngsten Gewalt im Gaza-Streifen ist das noch viel schwerer geworden, denn weder die Hamas noch ihre Geldgeber in Teheran
scheinen Interesse an einer dauerhaften Konfliktlösung zu haben. Terrororganisationen wie Hamas oder Hisbollah leben von Konflikt, und Hem-
204
Klaus Naumann
mung, Menschen in ihrer Gewalt als Geisel zu nehmen, kennen sie nicht.
Die Gutwilligen, die gegen Israel protestieren, machen sich unwissend
zu Helfershelfern der radikalen Kräfte in der islamischen Welt, wie dies
auch ein Teil der Medien tut, wenn sie Ängste vor einem Flächenbrand im
Nahen Osten schüren. Diese Krise vor Europas Haustür belegt, dass nur
die USA, nicht aber Europa eine Friedensregelung erreichen können. Sie
ist dringlich, denn man sollte keine Illusionen haben: Israel wird nicht
zusehen, bis der Iran eine Atomwaffe hat, mit der er seine Drohungen
gegenüber Israel wahrmachen kann. Diese Krise hat eine globale Dimension: Gelingt es nicht, Iran an der Schwelle zur „virtuellen“ Atommacht
einzufrieren, dann könnte die relativ stabile Welt des Atomwaffensperrvertrages mit fünf erklärten und drei unerklärten Atomwaffen-Staaten zu
Ende gehen, denn die Folge des iranischen Griffs zur Bombe könnte die
nukleare Bewaffnung von Staaten wie Saudi-Arabien, Syrien und Ägypten,
vielleicht auch der Türkei sein. Das Ergebnis wäre eine höchst instabile
Welt, in der die Folgen aus dem Bau von 1.400 neuen Kernkraftwerken
bis 2050 nicht mehr zu kontrollieren wären und in der man auch den
Einsatz von Nuklearwaffen durch einen der möglicherweise vielen neuen
Nuklearwaffen-Staaten nicht mehr völlig ausschließen könnte. Das ist die
weltpolitische Dimension der Iran-Krise, die zeigt, dass eine Lösung wichtiger ist als jedes Geschäft.
Doch auch in Afghanistan darf nicht gewartet werden. Im Sommer stehen
Wahlen an, das bedeutet Spannungen. Hunger und Gewalt sind heute der
Alltag, auch im Norden. Die Menschen sind unzufrieden, denn nach sechs
Jahren ist landesweit allenfalls punktuelle, aber keine deutliche Besserung
der Lebensbedingungen eingetreten. Sie sehen zunehmend die Fremden
als unerwünschte Besatzer. Die Taliban, von denen vermutlich weniger als
zehn Prozent unbelehrbare Eiferer sind, haben Zulauf. Zudem gibt ihnen
die Instabilität im benachbarten Pakistan einen idealen Ruheraum in den
Stammesgebieten an der Grenze. Einfach mehr NATO-Soldaten bringt in
dieser Lage keine Lösung. Das Problem ist ein politisches. Die Afghanen
sehen in der ihnen übergestülpten fremden Ordnung einer „starken“ Zentralregierung nicht „ihre“ Lösung, und der bislang ungestörte Teufelskreis
aus Drogenhandel, Waffenhandel und Korruption erzeugt Unsicherheit,
schwächt die von Korruption nicht freie Zentralregierung, treibt das Land
immer mehr in die Hände rivalisierender Warlords und gibt den Taliban
das Geld, das sie zur Finanzierung ihrer Mitläufer brauchen. Die gültige Strategie muss deshalb aufbauend auf den bisherigen unbestreitbaren
Erfolgen noch einmal überprüft und zu einer mit einer „counterinsurgency strategy“ verknüpften Aufbaustrategie gemacht werden. Deren Ziel
wäre es, gemeinsam mit gemäßigten Kräften eine afghanische Ordnung
zu suchen, die afghanischen Sicherheitsorgane, also Militär und Polizei,
zu stärken und den kriminellen Teufelskreis aus Drogenhandel, Korruption und Bewaffnung der Warlords zu durchbrechen. Dann könnte das
Sicherheit ohne die USA? Die NATO in der Perzeption Europas
205
sichere Umfeld entstehen, in dem die Sicherheit Schritt für Schritt und
gleichzeitig der Wiederaufbau des Landes weiter vorangebracht wird. Es
genügt daher nicht, über vernetzte Sicherheit zu reden. Man muss gemeinsam mit den Verbündeten handeln, auch wenn dies Risiken in sich
birgt, denn in Afghanistan gibt es keine Teillösungen für den Süden oder
den Norden. Afghanistan wird entweder als Ganzes gewonnen oder verloren, doch verloren darf es nicht werden, denn dann entstünde eine neue
Brutstätte des Terrorismus. Im Übrigen ist Afghanistan längst ein regionales Problem geworden, dessen Lösung die Mitwirkung Pakistans, des Iran
und Indiens verlangt. Europa ist hier gefordert, und es sei erinnert, dass es
Deutschland war, das im Jahr 2002 gefordert hat, Afghanistan zur NATOOperation zu machen.
Afghanistan kann noch ein Erfolg werden, ein „weiter so“ ist allerdings
der sichere Weg ins Verderben, nicht in eine militärische, aber in eine
politische Niederlage der westlichen Welt. Sie würde weit über die Region
hinaus destabilisierend wirken.
Gelänge es aber, Iran und Afghanistan einer Lösung zuzuführen und
im Irak die gegenwärtige brüchige Ruhe zu wahren, dann könnte man
eine Friedenslösung für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gestalten. Dies ist durch den jüngsten Konflikt in Gaza unglaublich
schwer geworden, denn Hamas hat mit der Macht der Bilder vergessen
machen können, dass sie die Unruhestifter sind. Israel hat zwar seine Abschreckungskraft wiederhergestellt, aber die Fundamentalisten in der arabischen Welt sind wohl gestärkt worden.
Jede Lösung verlangt amerikanische Führung und europäisches Engagement. Vor allem verlangt sie sofortiges Handeln, weil dafür wohl die gesamte Amtszeit des neuen Präsidenten gebraucht werden wird und weil
Israel aus demographischen Gründen die Zeit unter den Fingern zerrinnt.
Gelänge die Entschärfung der Iran-Krise, dann hätten die USA sich die
neuen Regierungen Israels und Saudi-Arabiens verpflichtet. Damit dürfte auch Syrien verhandlungsbereit werden, weil es ohne den Iran den
Ausgleich braucht und weil die Hisbollah ohne Iran so geschwächt wäre,
dass Syrien im Libanon flexibel sein kann. Mit einer Iran-Lösung würde
auch die Hamas ihre Sponsoren verlieren. Dann könnten die USA Druck
auf Israel und Syrien ausüben und die Saudis bewegen, die Palästinenser
zum Einlenken zu bringen. Gemeinsamer Druck Washingtons und Riads
könnte zu ersten greifbaren Ergebnissen einer Zwei-Staaten-Lösung führen und daraus entstünde die Hoffnung auf Frieden zwischen Israel und
dem neuen Staat Palästina.
206
Klaus Naumann
Doch neben den brennenden Krisen sind die kurz- und mittelfristigen Entwicklungen in Asien und das Verhältnis zu Russland zu betrachten, wenn
man beurteilen will, ob es Sicherheit für Europa ohne die USA geben kann.
In Asien, dem einzigen Teil der Welt, in dem die Pax Americana unverändert der Garant relativer Stabilität ist, besteht kein kurzfristiger Handlungsbedarf. Im gefährlichsten Fall, Nord-Korea, gehen die Verhandlungen zunächst weiter, und in der Taiwan-Frage droht in nächster Zeit
vermutlich kein Konflikt, da beide Seiten miteinander sprechen. China,
das auch mittelfristig keine nennenswerte Fähigkeit zur Machtprojektion besitzt, will die USA in der Region engagiert halten, denn damit gewinnt Beijing den politischen Spielraum zur Bewältigung seiner inneren
Probleme und die Chance, sein Wirtschaftswachstum fortzusetzen. Dazu
braucht China freien Zugang zum amerikanischen Markt. China und die
USA sind wirtschaftlich in einer symbiotischen Beziehung, darum kann
es für China kurz- und mittelfristig nur den Weg der Kooperation geben.
China braucht die USA im pazifischen Raum als Ordnungsmacht, nur
dann kann es seine langfristigen Optionen entwickeln.
Schwieriger ist das Verhältnis zu Russland. Es besteht keine Gefahr eines
bewaffneten Konfliktes mit der NATO, dazu ist Russland militärisch zu
schwach. Es besteht auch keine Gefahr für einzelne NATO-Staaten, solange die NATO geschlossen bleibt und sich eine glaubwürdige Fähigkeit
zur kollektiven Verteidigung erhält. Das allerdings geht nur mit den USA,
eine autonome europäische Verteidigung des EU-Gebietes ist weder kurznoch mittelfristig machbar.
Das Problem mit Russland ist psychologischer Natur. Das Putin’sche Russland handelt aus einem Gefühl gedemütigten Stolzes. Russland möchte
Nummer Zwei auf der Welt sein, und seine Regenten glauben aus einer Position der Stärke handeln zu können. Aber Russland ist eher schwach, denn
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es kann nur Waffen und Rohstoffe exportieren und Letztere auch nur
dann über 2011 hinaus, wenn der sogenannte Westen bei der Modernisierung der Förder- und Transportanlagen hilft,
es steht in einer nicht unbeträchtlichen, aber nicht zugegeben wirtschaftlichen Krise, die durch die fallende Ölpreise noch verschärft
werden könnte,
seine Militärreform ist gescheitert und
es steht vor einer demographischen Katastrophe, die zu immer weniger Russen an den verwundbarsten Grenzen führen wird.
Doch Moskau fühlt sich stark. Das erklärt die zum Teil tölpelhaften Aktionen seit Sommer 2008: die unverhältnismäßige Gewalt in Georgien und
die Anerkennung der abtrünnigen Provinzen, die törichte Ankündigung
Sicherheit ohne die USA? Die NATO in der Perzeption Europas
207
Medvedjews, neue Raketen im Oblast Kaliningrad am Tag der amerikanischen Wahl zu stationieren, und das erneute Spiel mit dem Gashahn
im Januar 2009, das unschwer als Versuch zu erkennen war, die Ukraine
von ihrer Hinwendung nach Westen abzuhalten und Europa zu zeigen,
dass man von EU- wie NATO-Erweiterungen besser die Finger lässt. Eines
der zentralen Probleme europäischer Sicherheit bleibt deshalb, das amerikanische „commitment“ glaubhaft zu erhalten und einen Weg partnerschaftlicher Kooperation mit Russland zu finden, ohne ihm ein „droit
de regard“ einzuräumen. Europa kann hier eine hilfreiche Rolle spielen,
nicht als Mittler, dafür ist es nicht mächtig genug und zu gespalten. Doch
Europa könnte dem neuen US-Präsidenten verdeutlichen, dass man im
Verhältnis zu Russland sehr viel Geduld braucht und man sich von der
Erfahrung leiten lassen muss, dass man einem schwachen Gegner nicht
von ihm subjektiv als Demütigung empfundene einseitige Entscheidungen zumuten darf, sondern mit ihm sprechen muss und ihm durch eine
gemeinsame Vision eine helfende Hand geben sollte.
Soweit die aktuellen Krisen. Man könnte nun die anhaltenden Kriege in
Afrika und die Spannungen in Südamerika hinzufügen, doch die Frage
ist ja, Sicherheit für Europa ohne die USA. In beiden Fällen, Afrika wie
Lateinamerika, besteht keine direkte Gefahr für Europa, auch wenn die
wirtschaftlichen Folgen dort anhaltender Konflikte schwerwiegend sein
könnten.
4. Europäische Sicherheit ohne die USA?
Europa ist politisch uneinig und in Fragen der Sicherheitspolitik zutiefst
gespalten. Die EU, von vier Millionen Iren in eine tiefe Krise gestürzt, hat
gegenüber allen anderen internationalen Organisationen einen großen
Vorzug: Sie verfügt über alle Mittel der Politik und damit genau über die
Bandbreite der Instrumente, die man für eine wirksame Sicherheitspolitik
braucht. Aber sie leidet unter zwei gravierenden Schwächen:
–
–
Es fehlt der politische Wille, notfalls rasch, entschlossen und hart zu
handeln.
Die militärischen Mittel der EU sind unzureichend. Sie reichen nicht
einmal aus, das Gebiet der EU-Staaten vor den heute bestehenden
Gefahren zu schützen, von nennenswerter Projektion militärischer
Macht über Europa hinaus ganz zu schweigen. Das aber ist genau das,
was Europa braucht, denn die mittel- bis langfristig drohenden Gefahren verlangen globale Handlungsfähigkeit, also nicht nur die Fähigkeit, das eigene Gebiet reaktiv zu schützen, sondern vor allem die
Fähigkeit, aktiv den Gefahren dort zu begegnen, wo sie entstehen.
208
Klaus Naumann
Allein, so die von niemandem ernsthaft bestrittene Folgerung, kann Europa Sicherheit nicht bewirken. Hoffnungen auf UN und OSZE zu setzen,
ist weltfremd, und das im Kalten Krieg bewährte Verfahren, Sicherheit in
starkem Maße an die USA „ outzusourcen“, ist nicht mehr möglich, nicht
zuletzt, weil Amerikas Rolle in der Welt sich verändert hat. Die USA haben
seit 2001 viel von ihrer einstigen Glaubwürdigkeit verloren, und sie sehen
sich in einem langen Krieg gegen den globalen Terrorismus. Sie sind und
bleiben entschlossen, ihn zu gewinnen.
Europa bleibt daher bis auf Weiteres keine bessere Wahl, als Sicherheit in
der NATO zu suchen. Doch dazu ist das Bündnis erheblich umzugestalten,
und es muss sich durch intensive Zusammenarbeit mit der EU in die Lage
versetzen, vernetzte Sicherheit zu gestalten. Unter diesem Dach könnte
Europa langfristig eigene Fähigkeiten zu begrenzten Operationen außerhalb Europas entwickeln, sei es im Rahmen der NATO oder als eigenständige EU-Operation. Dem entsprechen übrigens die Verpflichtungen, die
die EU-Staaten in der NATO und in der EU mit dem Prague Capability
Commitment, den Headline Force Goals 2010 und dem European Capability Action Plan übernommen haben, aber allenfalls verbal erfüllen. Europa muss dazu auch seine Perzeption der NATO ändern. Die NATO muss
zwar weiterhin der Garant kollektiver Verteidigung des Bündnisgebietes
bleiben, doch sie darf sich damit nicht begnügen. Sie darf aber auch nicht
globaler Akteur werden. Die NATO muss dem heute gebotenen erweiterten
Sicherheitsbegriff entsprechend umgestaltet werden. Dazu braucht sie eine
neue „Grand Strategy“, in der alle Instrumente der Krisenbewältigung, vor
allem auch nicht-militärische, und die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, insbesondere der EU, auf das Ziel der Verhinderung bewaffneter Konflikte ausgerichtet werden. Dieser Strategie entsprechend müssten dann die Mittel gestaltet werden. Ziel sollte dabei sein, das vorhandene
Geld für die Streitkräfte so auszugeben, dass man die NATO-Staaten, deren
Interessen und deren Menschen durch eine Kombination von aktiver und
reaktiver Verteidigung schützen kann und dennoch in der Lage bleibt, wo
geboten, im Rahmen von UN und NATO zur Abwehr von Gefahren auch
außerhalb des NATO-Gebietes zu handeln. Dazu müssen die meisten europäischen Streitkräfte auf den Prüfstand, aber auch Rüstungsprojekte, die,
im Kalten Krieg geboren, die Kassen von heute belasten und die notwendige Modernisierung in Schlüsselfähigkeiten wie Informationsüberlegenheit behindern. Die Europäer täten gut daran, gemeinsam mit den USA
eine Reihe von Kernfähigkeiten, sogenannte „strategic enablers“, zu entwickeln, zu beschaffen und gemeinsam zu betreiben. Dazu gehören Satelliten für Aufklärung, Navigation und Kommunikation, unbemannte Aufklärungsflugzeuge mit globaler Reichweite, unbemannte Kampfflugzeuge,
Raketenabwehr, elektronische Kampfführung und wirklich strategisch zu
nennende Luft- und Seetransportkapazitäten. Hätte dann Europa eine leistungsfähige Rüstungsindustrie, was aber niemals heißen darf, europäisch
Sicherheit ohne die USA? Die NATO in der Perzeption Europas
209
zu entwickeln, wenn man günstig „off the shelf“ kaufen kann, dann erschiene es möglich, bis ca. 2020 ohne erhebliche Mehrkosten europäische
militärische Fähigkeiten zu schaffen, die Europa in die Lage versetzen würden, auch künftig gemeinsam mit seinen amerikanischen Verbündeten
operieren zu können und in begrenztem Maße selbstständig auch außerhalb Europas unter Einsatz aller Mittel der Politik zu handeln. Würde Europa dann noch die eingeleiteten Schritte zum Aufbau einer europäischen
Polizeitruppe, zum Aufbau europäischer Katastrophenhilfsdienste und
zum Aufbau eines EU-Entwicklungshilfskorps tun, dann würde die EU zu
einem Akteur mit begrenzten globalen Handlungsoptionen. Europa wäre
damit immer noch nicht auf Augenhöhe mit den USA, aber es wäre ein
so begehrter Partner, dass man dort nicht mehr entscheiden würde, ohne
Europa vorher gefragt zu haben. Das sollte das Ziel Europas sein.
Damit würde man auch aus amerikanischer Sicht das Richtige tun, denn
ein stabiles, mit den USA fest verbundenes Europa erhöht die globale
Handlungsfähigkeit der USA.
5. Fazit
Es gibt bis auf Weiteres keine Sicherheit für Europa ohne die USA. Die
NATO als Ausdruck der vertraglichen Verpflichtung der USA, zusammen
mit den Europäern für gemeinsame Sicherheit im Raum zwischen Vancouver und Brest-Litowsk zu sorgen, muss bestehen bleiben und weiterentwickelt werden. Der NATO-Gipfel im April 2009 gibt Präsident Obama
und den Verbündeten die Chance, eine grundlegende Reform der NATO
einzuleiten. Dabei gilt es, Bewährtes wie kollektive Verteidigung und den
Leim des Bündnisses, die faire Teilung von Risiken und Lasten, zu erhalten und Neues zu gestalten.
Was gebraucht wird, ist die Vision eines Bündnisses der Staaten Europas
und Nordamerikas, die von gleichen Werten und Überzeugungen ausgehend bereit sind, sich gemeinsam gegen alle Formen von Gefahr zu
schützen, ohne irgendjemandem ihr Modell aufzwingen oder ihre Region
ausweiten zu wollen, die Kooperation mit anderen Staaten und Regionen
suchen und die gemeinsam und mit ihren Partnern daran arbeiten, die
Zone gemeinsamen Schutzes von Finnland nach Alaska zur Grundlage
für eine mit Russland zu gestaltende Zone gemeinsamer Sicherheit von
Vancouver nach Wladiwostok zu machen.
Dies wäre eine solide Basis für die umfassende Zusammenarbeit Europas
und der USA bei der Bekämpfung der globalen Fragen unserer Zeit, dem
Kampf gegen die Erderwärmung, dem Kampf gegen Hunger und Wassermangel und dem Kampf gegen Seuchen und Pandemien.
Die Rolle Russlands als
Faktor des transatlantischen
Beziehungsgefüges
Lothar Rühl
Russland ist auch seit dem Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 der zentrale strategische Maßstab für die europäische Sicherheit und für den Nutzen
der euro-atlantischen Allianz geblieben. Zwar ist die militärische Bedrohung
des über die Mitte des Kontinents erweiterten atlantischen Europas aus dem
Osten zurückgewichen, doch bleiben im europäischen Maßstab erhebliche,
vor allem nukleare Angriffsfähigkeiten in Russland erhalten. Diese müssen
sich nicht nach Westen richten. Aber sie können über die Meere und z.B. im
Mittleren Osten wirken. Das reduzierte russische Militärpotenzial ist noch
immer als Instrument der russischen Außenpolitik einsetzbar. Jelzin setzte
es im Tschetschenienkrieg ab Dezember 1994 ein und warnte Europa vor
einem „kalten Frieden“, den die Politik der NATO herbeizuführen drohe. Er
tat dies in Budapest anlässlich der Unterzeichnung der KSZE-Beschlüsse über
die Einrichtung der OSZE. Putin setzte es im zweiten Tschetschenienkrieg zu
Beginn seiner Präsidentschaft und seither wieder 2008 gegen Georgien ein.
Moskau hat die militärisch gestützte Machtpolitik nicht aufgegeben und verfolgt eine offensive Strategie nicht nur zur Krisenbeherrschung, sondern auch
zur Kontrolle seiner geographischen Peripherie. Die russische Sicherheitsstrategie sagt dies auch in allen ihren Fassungen – von der ersten unter Jelzin
an – deutlich aus. Die Wiederaufrüstung nach den Jahren der Wirren und der
Schwächung hat 2000 unter Putin begonnen. Ihre Fortsetzung ist allerdings
von der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung, besonders von den
Investitionen in den brüchigen Produktionsapparat und in die unzureichende
Infrastruktur wie in die mangelhaften Transportkapazitäten abhängig. Dies
gilt auch für die Erdgas-/Erdöl-Infrastruktur im Hohen Norden und in Sibirien, die eine neue Großmachtbasis bieten soll und für die russische Außenpolitik genutzt wird, wie die Krisen zwischen Russland und der Ukraine oder
Weißrussland seit 2005/06 gezeigt haben. Dabei steht Russlands Rolle und Zuverlässigkeit als Energiesicherheitspartner Europas, das insgesamt etwa 60 Prozent seines Bedarfs an Erdgas aus Russland oder über Russland deckt, in Frage.1
1
Die Zahlen schwanken seit 2007, als für 2007 noch 25-30% Erdgaseinfuhr
aus Russland in die EU angegeben wurde, für Deutschland 35-37%, für osteuropäische Länder um die 60%; vgl. Meier-Walser, Reinhard C. (Hrsg.): Energieversorgung als sicherheitspolitische Herausforderung, Berichte & Studien
88/2007, S.109-110; vgl. für Zukunftsprojektion: BAKS Berlin, Seminar für
Sicherheitspolitik 2008, Energiesicherheit 2050, hier S.19-23.
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
211
Seit dem Krisenjahr 2008 steht ein Fragezeichen hinter der gesamten weltwirtschaftlichen Entwicklung, nicht nur hinter der russischen Wirtschaft.
Die künftige Korrelation der Kräfte zwischen Russland und Europa, China, Japan und Amerika ist derzeit unkalkulierbar, damit sind auch die strategischen Qualitäten der Akteure nicht bestimmbar. Eines aber ist sicher:
Russland wird auch künftig eine kritische Größe, ein schwer berechenbarer Unsicherheitsfaktor und ein notwendiger Sicherheitspartner der USA,
der nordatlantischen Allianz und der Europäischen Union bleiben.
Dies gilt für die USA wie für Japan und China auch im Fernen Osten mit
dem Problem Korea und der nordkoreanischen Nuklear- und Raketenrüstung, für die neuen Kernwaffenstaaten Indien und Pakistan, für Zentralasien und für den Mittleren Osten, an den die NATO über die Türkei grenzt.
Das militärische Engagement der NATO mit den USA in Afghanistan ist
im Norden auf Zentralasien und indirekt auf Russland abgestützt. Wenn
künftig der Nachschubweg von Karatschi über den Kyberpass mit derzeit etwa 10.000 LKW-Ladungen am Tag für die US-/NATO-Truppen gesperrt oder unsicher werden sollte, würde die NATO in Afghanistan für
ihre rückwärtigen Verbindungen einseitig von Russland abhängig, wie es
das deutsche Kontingent im Norden schon zum Teil ist. Kooperation mit
Russland und Verzicht auf unnötige politische Herausforderungen Moskaus durch die NATO-Partner sind also im eigenen Interesse geboten.
Die Vetomacht Russlands als Ständiges Mitglied des Uno-Weltsicherheitsrates, die privilegierte Position als originärer Kernwaffenstaat im Rahmen
des NPT, des internationalen Vertrags gegen die Weiterverbreitung nuklearer
Rüstungen, die militärische Nuklearmacht Russlands und deren strategisches
Waffenarsenal mit dem technischen Entwicklungspotenzial, schließlich der
aus den fossilen Energiequellen strömenden wirtschaflichen Möglichkeiten
werden Russland eine globale Macht sichern und als privilegierten Partner
der atlantischen Führungsmacht Amerika erhalten. Dies wurde auch von
Präsident Bush jun. im Frühjahr 2008 vor der Georgienkrise noch einmal
bei dem Zusammentreffen mit Putin in Sotschi ausdrücklich bestätigt, wo
im gemeinsamen Kommuniqué von „joint leadership“ oder „gemeinsamer
Führung“ in Angelegenheiten globaler Sicherheit die Rede war.2
Selbst wenn man die gipfelübliche Rhetorik abzieht und von der quasitestamentarischen Willenskundgebung der beiden scheidenden Präsidenten (von denen der russische als Regierungschef an der Macht blieb)
absieht, so bleibt doch der harte politische Kern übergeordneter gemeinsamer Sicherheitsinteressen, die Präsident Obama faktisch bestätigt hat:
2
Vgl. Kommuniqué vom 5.4.2009; die erklärte Absicht „gemeinsamer Führung“ wurde von den beiden Außenministern Lawrow und Rice vor der Presse
in Sotschi explizit herausgehoben.
212
Lothar Rühl
–
der Begrenzung strategischer Eskalationsrisiken in internationalen
Krisen, auch durch Abrüstung auf niedrigere Paritätsobergrenzen der
strategischen Kernwaffen,
–
der Nichtweiterverbreitung nuklearer Rüstungen und nuklearfähiger
Flugkörpersysteme,
–
der Bewahrung der operativen Überlegenheit ihrer Streitkräfte über
die von Nuklearmächten zweiter und dritter Ordnung,
–
der Bekämpfung des internationalen Terrorismus,
–
der Eindämmung des Islamismus bei Erhaltung der politischen und
territorialen Stabilität im weiteren Mittleren Osten als größtem internationalen Krisengebiet mit den größten Energiequellen, und
–
der Kontrolle der internationalen Seefahrt und des Luftverkehrs, im
konkreten Fall zur Unterdrückung von Piraterie und für sicheres Geleit.
Diese Themen wurden in Sotschi auch als gemeinsame Aufgaben von den
beiden Außenministern hervorgehoben. Präsident Medwedjew wird, ganz
unabhängig vom fortdauernden politischen Einfluss Putins als Regierungschef, an dieser politischen Agenda der Kooperation mit Washington
trotz aller Gegensätze und aktuellen Konflikte im Ansatz nichts ändern,
weil es sich um dauernde und wesentliche gemeinsame Interessen handelt, die zum beiderseitigen Vorteil zu wahren sind. Dies schließt Krisen
im Verhältnis zu Washington und Konflikte mit den USA über andere
politische Fragen wie in der Vergangenheit nicht aus.
Die NATO-Osterweiterung und das Vorhaben strategischer Raketenabwehr
der USA in Europa sind seit Jahren aktuelle Beispiele für solche Gegensätze. Doch die Grundlinie der Risikobegrenzung wird auch in internationalen Spannungslagen mit gegensätzlichen politischen Interessen beider
ungleichen Mächte beibehalten werden wie in den Nahostkriegen und
in den Balkankriegen. Deshalb wird auch die Administration Obama darauf achten, wie immer die kurz- bis mittelfristigen Prioritäten unter dem
Druck der aktuellen Lage gesetzt werden mögen.
Im Nahen Osten wird Russland nicht gebraucht, wohl aber im Mittleren
Osten im Umgang mit dem iranischen Atomenergieprogramm und zur
Sicherung des Erdöltransports in Krisenzeiten wie im irakisch-iranischen
Krieg der 1980er Jahre. Diese Grunddaten werden auch die Politik der
Obama-Präsidentschaft gegenüber Russland anleiten.
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
213
Der Augustkrieg des Jahres 2008 in Georgien nach dem Angriff der Georgier in Südossetien3 und die Dauerkrise im Verhältnis Russlands und der
Ukraine über Preis, Mengen und Bedingungen der Zufuhr und Durchleitung von Erdgas aus Russland nach Westen seit Ende 2005 haben bestätigt, dass die Spannungen im Osten Europas und damit zwischen dem euro-atlantischen Bündnis und Russland andauern, dass jederzeit Konflikte
aufbrechen oder neue entstehen können, weil der fundamentale Gegensatz und die Instabilitäten entlang der historischen Bruchlinien auf dem
Kontinent fortbestehen. Weder die Ukraine noch Russland, weder Weißrussland noch die in NATO und EU aufgenommenen baltischen Staaten
sind stabil, noch weniger die südkaukasischen oder die zentralasiatischen.
Dies gilt natürlich auch für die internationale Vertragslage zur Kontrolle
von Waffen, nuklearem und toxischem Material, der Nichtweiterverbreitung von wissenschaftlicher und waffentechnischer Expertise, zur Kontrolle der Laboratorien und Fabrikationsanlagen für nukleare, chemische
und biologische Kampfmittel. Das Sicherheitsproblem der Proliferation
von Massenvernichtungsmitteln besteht überall im Orient. Russland ist
ein Teil davon. Insofern verbinden sich auch beide als Maßstäbe der euroatlantischen Sicherheit zu einer den westlichen Horizont füllenden Bedrohungsperspektive in der absehbaren Zukunft. Deshalb ist der Umgang
mit Russland für die euro-atlantischen Staaten das zentrale Sicherheitskriterium weit über Europa hinaus. Die Kalkulierbarkeit der russischen
Politik und die angemessene Berücksichtigung der tatsächlichen strategischen Bedürfnisse im Verhältnis zu Russland samt den Risiken für den
Westen und den erkennbaren russischen Sicherheitsinteressen gegenüber
dem NATO-Bündnisgebiet, das seit 1990 um bis zu 1.000 km nach Osten
auf Russland zu ausgeweitet wurde, sind Elemente des euro-atlantischen
Sicherheitskalküls. Damit sind der Einfluss und die Bedeutung Russlands
für das nordatlantische Bündnis wie für die Europäische Union gekennzeichnet. Die verbliebenen nuklearfähigen Kurzstreckenraketen, die
neuen 500km-weit reichenden „Iskander“-Raketen und die modernen
Interkontinentalraketen variabler Reichweite „Topol-M“, die auch auf
europäische Ziele eingestellt werden können, exemplifizieren das Problem im Bereich der Kernwaffen und die Möglichkeit für Russland, die
Rüstungskontrollverträge zu umgehen.
3
Vgl. „Rights group assails foes in Georgia war“ über die georgische Kriegseröffnung durch „Angriff auf die Hauptstadt Südossetiens Tskhinvali am 7.
August“; in: International Herald Tribune (IHT), 24./25.1.2009. Eine Sachverhaltsaufklärung durch eine unparteiische internationale Untersuchung steht
noch aus, doch die westlichen Nachrichtendienste einschließlich des BND waren schon im Spätsommer 2008 davon überzeugt, dass Georgien angegriffen
hatte.
214
1.
Lothar Rühl
Der historische Hintergrund und die Entwicklung seit 1991
1.1 Allianzgründung 1949
Die expansive Politik der Sowjetunion seit dem II. Weltkrieg, beginnend
1939 in Polen, kulminierend 1948 in der Tschechoslowakei und mit der
Blockade West-Berlins im gemeinsam besetzten Deutschland war die
Ursache der Allianzgründung im April 1949. Sie kam auf britische Initiative zwischen zehn Staaten Westeuropas und Nordamerika zustande.
Das Engagement der USA und Kanadas für die gemeinsame Verteidigung
und Sicherheit Westeuropas war in erster Linie gegen die sich militärisch
konkretisierende und politisch aggressiv zugespitzte sowjetrussische Bedrohung gerichtet, obwohl der Washingtoner Vertrag im Unterschied zu
früheren Bündnissen nicht gegen ein bestimmtes Land oder eine Staatengruppe geschlossen wurde, sondern allgemein gegen Bedrohungen der
gemeinsamen Sicherheit.
Seither blieb die Abwehr einer Bedrohung durch die Sowjetmacht im
Osten Europas die Hauptaufgabe der NATO, die Konfrontation mit dem
von Moskau geschaffenen „Ostblock“ im „Warschauer Pakt“ bis 1990 ihr
Hauptzweck, mehrmals bestätigt durch die Interventionen der Sowjetarmee 1953 in der damaligen DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der damaligen Tschechoslowakei gegen demokratische Freiheiten. 1961 bedrohte
Moskau in der Berlinkrise Westeuropa mit einem Großaufmarsch von
etwa einer Million Soldaten in Ost-/Mitteleuropa.
In der strategischen Richtung Ost wurde das nordatlantische Bündnis auch
von Nordamerika her über den Nordatlantik von Island, dem dänischen
Grönland und Norwegen an der Nordflanke, Portugal mit seinen Atlantikinseln im maritimen Zentrum, Dänemark an den Ostseeausgängen,
Großbritannien als Rückgrat der Nordflanke und Westeuropas, Frankreich
einschließlich des französischen Algerien in Nordafrika, Italien im Mittelmeer als zentrale Position mit der Flanke über die Adria zum Balkan und
mit der Türkei als dem südöstlichen Eckpfeiler und Sperre gegenüber Sowjetrussland militärisch organisiert. Westdeutschland war als von den drei
Westmächten besetztes Gebiet und strategisches Vorfeld Westeuropas von
vornherein eingeschlossen, 1955 wurde die Bundesrepublik in die NATO
aufgenommen. Das Ganze sollte der sowjetrussischen Expansionspolitik,
so wie sie seit Ende der 1940er Jahre im Westen wahrgenommen wurde,
den gesamten euro-atlantischen und mediterranen Raum, damit auch den
Zugang zum Mittleren Osten und weiter zum Indischen Ozean, versperren.
Geopolitisch und strategisch gesehen war die NATO bis zum Ende der
Sowjetunion und des Warschauer Pakts 1991 ein interkontinental-maritimes Bündnis zur Sicherung des Nordatlantik und der europäischen
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
215
Gegenküste Nordamerikas in der Randlage Westeuropas auf der eurasischen Landmasse gegenüber der russischen Kontinentalmacht, ergänzend
zur Sicherung des Mittelmeers und des Zugangs zur Golfregion mit den
größten Erdölreserven der Welt. Darin liegt auch weiterhin die strategische Bedeutung der Türkei als NATO-Partner in ihrer Schlüsselstellung
zwischen Europa und dem Orient, Russland und dem Mittelmeer, Balkan
und Kaukasus als Schwarzmeerland mit der längsten Küste.
Um die Golfregion sollte ab 1955 ein „Mittelost“-Verteidigungspakt, nach
seinem Gründungsort „Bagdad-Pakt“ genannt, zwischen der Türkei, Irak,
Iran und Pakistan die gedachte Front bis zum Indischen Subkontinent
halten und so den Persischen Golf und den Indischen Ozean nach Norden abschirmen. Diese geschlossene Abwehrfront zwischen Mittelmeer
und Pakistan als östliche Verlängerung des westlichen Bündnissystems
kam nie zustande. Schon 1958 nach der Juli-Revolution in Bagdad mit
dem blutigen Sturz der Monarchie schied der Irak aus dem westlichen
Sicherheitssystem aus. Jordanien und Libanon wurden zwar durch militärische Interventionen Großbritanniens und der USA in ihrer westlichen
Ausrichtung gestützt, konnten aber ebenso wenig in den „Mittelost-Pakt“
einbezogen werden wie Ägypten nach der Revolution von 1952. So blieb
die orientalische Flanke der NATO östlich und südlich der Türkei nur vom
Iran gedeckt, mit riskanten Lücken am Golf im Irak, im Süden der Arabischen Halbinsel im Jemen und am Horn von Afrika in Somalia, schließlich zwischen Iran und Pakistan in Afghanistan.
Die Moskauer Außenpolitik versuchte ab Mitte der 1950er Jahre in diese und andere Lücken des amerikanisch-britischen „containment“ (der
„Eindämmung“ sowjetrussischer Expansion) einzudringen, um den noch
unvollkommenen Ring aufzubrechen. Sie hatte schon seit 1945 versucht,
nordwestliche Gebietsteile des Iran abzuspalten, den Iran von Norden her
zu beherrschen und armenisches Gebiet in der östlichen Türkei zu annektieren. Der Ost-West-Konflikt war im Orient eröffnet, bevor er in Europa
aufbrach. Es war schon darum unvermeidlich, dass die Sowjetregierung
die westliche Mittelost-Paktstrategie mit einer offensiven Politik um die
NATO herum von Indien über den Irak und Syrien bis nach Afrika konterkarierte.
Diese Entwicklung erneuerte zwischen 1945 und 1955 das Grundmuster
der russischen Orientpolitik aus der Zarenzeit im 19. Jahrhundert entlang der historischen russischen Expansionsachsen in der strategischen
Richtung Süd/Südost. Verbunden war damit der Druck auf die Türkei und
Griechenland über den Balkan zu den Meerengen in das Mittelmeer und
nach Afrika in der strategische Richtung Süd/Südwest.
216
Lothar Rühl
Als Resultat dieser strategischen Konfrontation sahen sich die Sowjetunion und die Atlantische Allianz gegenseitig durch Umfassung und Einkreisung bedroht, eine wechselseitige, künstlich vereinfachte Wahrnehmung
der komplexen politischen Realität, die den Ost-West-Konflikt zu globalisieren drohte, zumal im Washington der 1960er Jahre das kommunistische China als fester Bestandteil eines „sino-sowjetischen Blocks“ mit
Nordkorea und Nordvietnam als Vorfelder und Moskau als Machtzentrum
angesehen wurde.
Dieses Kunstbild auf dem westlichen Horizont löste sich erst ab 1969 mit
der Nixon-Präsidentschaft auf. Aber das euro-atlantische Bündnis war für
die nächsten zwei Jahrzehnte über Europa hinaus auf den Orient fixiert.
Ab Mitte der 1970er Jahre begannen die USA unter den Präsidenten Ford,
Carter und Reagan die NATO-Partner auf militärische Mitwirkung an der
Krisenbeherrschung und Verteidigung des Mittleren Ostens zu drängen,
eine Forderung, die von den europäischen Alliierten abgelehnt wurde.4
Doch der Weg für „out of area“ in den Orient war für die alliierten Strategen vorgezeichnet, damit auch eine Ausweitung der Ost-West-Konfrontation, die den Horizont der NATO mit dem Feindbild Russland füllte wie
umgekehrt den Horizont Russlands mit dem Feinbild Westen.
Diese wechselseitigen Feindbilder haben sich nach einer zehnjährigen
Zwischenzeit des gegenseitigen Abtastens in einer zwischen Annäherung
und Abgrenzung schwankenden Politik beider Seiten erneuert. Die Aufnahme der früheren Zwangsverbündeten der Sowjetunion auf dem westlichen Vorfeld Russlands und der drei ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum in das nordatlantische Bündnis haben diese Feindbilder verstärkt.
Das Drängen Georgiens und der Ukraine in die NATO samt den Moskauer
Reaktionen haben sie zum Grundmuster einer Dauerkrise zwischen Russland und dem atlantischen Bündnis hochstilisiert.
Die politische Dialektik dieses Prozesses der expansiven Integration oder
integrativen Expansion des „westlichen Bündnis- und Sicherheitssystems“
(Volker Rühe 1993 in seinem Plädoyer für die Aufnahme Polens, Ungarns
und der Tschechoslowakei in die NATO) und der russische Versuch, das
verlorengegangene westliche Vorfeld wenigstens militärpolitisch zu neutralisieren, die verbliebene geopolitische Peripherie mit Weißrussland, der
Ukraine, der Moldau und dem Südkaukasus unter russischer Kontrolle zu
konsolidieren, liegt offen zutage. Dieses strategisch-geopolitische Problem
der europäischen Sicherheit für ihre Politik der NATO-Osterweiterung zu
übersehen oder zu verdrängen, die Konsequenzen für das Verhältnis zu
Russland und für die Stabilität jeder Abgrenzung wie einer offenen Flanke in diesem politisch umstrittenen Übergangsgebiet nicht zu erkennen
4
Vgl. Rühl, Lothar: Das Reich des Guten. Amerikas Machtpolitik und globale
Strategie, Stuttgart 2005, S.292.
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
217
oder geringzuschätzen, ist auf der westlichen Seite die Hauptursache der
fortbestehenden, sich immer wieder erneuernden Spannungen im Verhältnis zwischen Russland und der Allianz, zwischen Russland und dem
atlantischen Europa, das nun bis an die Grenzen Weißrusslands und der
Ukraine, im Baltikum direkt an Russlands Grenze, reicht.
1.2 Russland gegenüber der euro-atlantischen Nordflanke
Der Aufwuchs der Hochseeflotte und der ozean-gängigen nuklearen Unterseestreitkräfte der UdSSR seit Ende der 1950er Jahre und deren wachsende Raketenangriffsfähigkeit mit Nuklearwaffen auch gegen Nordamerika seit den 1960er Jahren rückte den Nordatlantik neben Europa in die
Frontstellung gegenüber Russland. Die euro-atlantische Nordflanke der
NATO von der Ostsee bis zur Norwegensee wurde zur zweiten kritischen
Bündnisfront neben Mitteleuropa.
Über den Norden wirkte die direkte Bedrohung Nordamerikas durch sowjetische Raketen, auf der Gegenseite die drohende Einschließung der sowjetischen Nordmeerflotte mit der Angriffsdrohung amerikanischer Flugzeugträger mit Nuklearwaffen gegen die Basen dieser Flotte und der strategischen
U-Boote. Diese strategische Situation war für Amerika und Europa neu. Sie
wertete auch die Bedeutung Großbritanniens und Norwegens im Bündnis
und global-strategisch auf. Dieser Einfluss der beiden nördlichen Seeflankenmächte Westeuropas in der Allianz ist bestehen geblieben, gegründet
auf ihre besonders engen Beziehungen zu Amerika. Schweden und Finnland wiederum konnten sich ihre erklärte Neutralität nur angelehnt an die
Nordostflanke der NATO in Norwegen leisten: Die „Nordische Balance“,
ein politisches Konstrukt großer Zerbrechlichkeit, hatte nur einen Halt gegenüber der russischen Macht, den Rückhalt im Westen durch die NATO.
Auch nach 1991 ist diese Sicherheitslage in Nordeuropa strategisch bestehen geblieben, obwohl die militärische Bedrohung aus dem Osten zurückgegangen ist und die russische Seemacht havariert hat.
Die Ressourcenkonkurrenz im schmelzenden Eis der Arktis ist zwischen
Russland, Norwegen, Dänemark mit Grönland, Kanada und USA vorgegeben. Ende Januar 2009 warnte NATO-Generalsekretär De Hoop Scheffer in
Reykjavik vor neuen Spannungen zwischen den Verbündeten und Russland über die sich öffnenden Seewege im arktischen Meer zur Ausbeutung
vermuteter unterseeischer Bodenschätze der Polarregion. Er sprach dabei
von „militärischen Pressionen“, die zu erwarten seien, und von „neuen
Herausforderungen für die NATO“.5
5
NATO warns of tensions as ice thaws in the Arctic, in: IHT, 30.1.2009.
218
Lothar Rühl
Gerade in Nordeuropa ist das Gefahrenbewusstsein gegenüber Russland
stark ausgeprägt, wobei sich ökologische und militärische Befürchtungen
mit politischen um die Sicherheit der drei baltischen Staaten verbinden.
Schon deshalb setzten sich Stockholm und Helsinki nach 1991 für die
Aufnahme dieser drei Länder in NATO und EU ein: Das Baltikum sollte
fester und geschützter Bestandteil des euro-atlantischen Bündnisgefüges
werden, um der Region Stabilität zu geben und Russland von Ausfällen
nach Westen abzuschrecken. Seit ihrer Aufnahme in das Bündnis und in
die EU wirken die drei baltischen Länder gemeinsam mit Polen für eine
Versteifung der westlichen Politik gegenüber Russland, wie sich z.B. seit
2006/07 im Gaskonflikt zwischen Moskau und Kiew, dann 2008 in der
akuten Georgienkrise, und wieder in der Krise im Gaskonflikt zum Jahreswechsel 2008/09 gezeigt hat. Die Ursachen und die Verantwortung für
den Verlauf lagen, nicht eindeutig geklärt, auf beiden Seiten. Die EU war,
vor allem über Südosteuropa, davon in Mitleidenschaft gezogen, die Frage
nach der Sicherheit der Energieversorgung Europas akut gegenüber Russland und der Ukraine gestellt.
1.3 Die offene Flanke des Bündnisses zum Orient
An der Südflanke Europas wurde die Allianz über ihre euro-atlantische
Spannweite hinaus bis in den Mittleren Osten erweitert, als 1952 neben
dem eben von Amerika und Großbritannien aus dem Bürgerkrieg gegen
die Kommunisten geretteten Griechenland auch die bis dahin offiziell
neutrale Türkei in die NATO aufgenommen wurde, um die türkischen
Meerengen zu kontrollieren, die Türkei zu schützen und Anatolien als
Riegel gegen sowjetrussisches Vordringen in das Mittelmeer zu nutzen.
US-Militärstützpunkte und Aufklärungstechnik in der Türkei haben seit
den 1950er Jahren diesem Zweck gedient, amerikanische Mittelstreckenraketen mit Zielen in Südrussland wurden nach der Kubakrise von 1962
aus der Türkei abgezogen. Nuklearfähige Kampffliegerstaffeln der USA
sind in der Türkei verblieben und können im Krisenfall verstärkt werden.
Die türkische Luftwaffe hat Nuklearwaffen unter gemeinsamer Kontrolle
mit den USA.
Der Beitritt zur NATO und der diesem vorausgegangene Sicherheitspakt
mit den USA war die historische Wende der modernen Türkei aus der
Neutralität in die sicherheitspolitische Bindung an den Westen. Um die
außenpolitische und im Innern der Türkei psychologische Bedeutung dieser Wende, aber auch deren strategischen Einschnitt zu verstehen, ist es
nützlich, daran zu erinnern, dass im Ersten Weltkrieg 1915/16 auf dem
Höhepunkt der russischen Kriegführung gegen die deutschen Mittelmächte und das Osmanische Reich, als eine russische Armee auf der Höhe der
Karpathen vor Ungarn und eine zweite tief in Anatolien standen, London
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
219
und Paris dem verbündeten Zaren Nikolaus II. konzedierten, was alle europäischen Mächte seinen Vorgängern stets verweigert hatten: Konstantinopel mit der Halbinsel Izmet und dem Marmara-Meer in souveränem
russischen Territorialbesitz samt der militärischen Kontrolle der Meerengen inklusive der Dardanellen, mit anderen Worten den freien Zugang
zum Mittelmeer; dazu über Ostanatolien die Annäherung zu Lande an den
Persischen Golf. Nur die bolschewistische Machtergreifung 1917 mit dem
Ausscheiden Russlands aus dem Krieg durch den Separatrieden Lenins im
Frühjahr 1918 ersparte Europa diese strategische Expansion der russischen
Macht. Sowjetrussland wurde von den Alliierten als Feind betrachtet und
isoliert, nachdem eine militärische Intervention der Westmächte in den
russischen Bürgerkrieg gegen die Rote Armee gescheitert war.
Als Stalin ab 1945 die historische Expansionstendenz des Zarenreichs wieder aufnahm und Bulgarien Teil des äußeren Imperiums wurde, waren die
türkischen Meerengen wieder in Gefahr wie die türkische Ostgrenze am
Kaukasus. Die westliche Paktstrategie über die NATO hinaus blieb allerdings in ihren Ansätzen stecken. Die angestrebte geschlossene Abwehrfront vom Mittelmeer bis nach Indien kam nicht zustande.
Die NATO blieb im Osten und Süden der Türkei mit einer offenen Flanke nur von dem unsicheren amerikanischen Klienten Iran unter der
Herrschaft des Schahs gedeckt. Seit dessen Sturz und dem Ende des Mittelostpakts mit dem Ausscheiden Irans suchte Washington unter fünf
Präsidenten von 1979 bis 2008 einen strategischen Ersatz zur Deckung
des Persischen Golfs und der Arabischen Halbinsel mit Hilfe der NATOPartner. Während des irakisch-iranischen Golfkriegs 1980-89 und in den
beiden Golfkriegen der USA mit internationalen Koalitionen 1990/91 und
2003 gegen den Irak haben sich die Brüchigkeit der Mittelostflanke der
westlichen Allianz und die andauernde Gefährdung der Energiequellen
des Golfs bestätigt. Im ersten Fall mussten internationale Flottenverbände unter Beteiligung der Sowjetmarine die Öltanker und Containerschiffe
durch den Golf eskortieren.
In den beiden späteren Golfkriegen mussten starke amerikanische Expeditionskorps, die 7. US-Flotte und US-Luftstreitkräfte mit alliierten Hilfstruppen, eingreifen. 2003/04 lehnten Frankreich und Deutschland jede
Beteiligung, auch nach dem Ende des Feldzugs zur Sicherheitspräsenz mit
Truppen, und jede NATO-Verantwortung im Irak ab. Die Türkei verweigerte dem amerikanischen Verbündeten 2003 die Öffnung Südanatoliens
für einen Aufmarsch zum Zweifrontenkrieg gegen den Irak und die Nutzung der Luftstützpunkte in Anatolien für Luftangriffe auf den Irak.
220
Lothar Rühl
Nach den vergangenen Spannungen zwischen Ankara und Washington
über Zypern, die Ägäis und Israel in den 1960er und 1970er Jahren legten die beiden Golfkriege der USA tiefgehende Differenzen zwischen den
beiden Verbündeten bloß. Diese bestanden gegenüber Iran und Russland
schon vor dem Ende der Sowjetunion. Ankara hatte sich 1987 geweigert,
an der Modernisierung der taktischen Kernwaffen in der NATO teilzunehmen und dabei eine neue Sicherheitsdoktrin im Verhältnis zum russischen Nachbarn erklärt: Die Türkei würde nur eine rein defensive Politik
betreiben und nicht an einer Eskalation von Krisen mitwirken. Die nukleare Option müsste als letztes Mittel verstanden werden.6
1.4 Der Zusammenbruch der russischen Position im Nahen/
Mittleren Osten und die Veränderung des Verhältnisses
zwischen Russland und der Türkei
Seit dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung des Ostens sieht die
türkische Politik ein weites Feld im Norden und Osten vor sich, auf dem
zwar Konkurrenzen um Zugang und Einfluss stattfinden, vor allem mit
Russland, auf dem aber die Sicherheit im Verhältnis zu Russland unter
den 1991 veränderten geopolitisch-strategischen Gegebenheiten neu zu
bestimmen ist. Diese Veränderung hat auch Moskau eine neue Chance
zur Ausbreitung russischen Einflusses und zur Eindämmung des amerikanischen gegeben. Die vorsichtige Zurückhaltung der Türkei seit 1990/91
in den Kaukasuskonflikten und wieder in der Georgienkrise 2008 gegenüber Russland7 weist auf die Konsequenzen dieser neuen Situation im
Schwarzmeer-Raum an der Südostflanke der NATO und im Übergang in
den Orient.
Schon in den beiden Golfkriegen 1990/91 und seit 2003 sah sich Washington mit seiner Politik im Mittleren Osten auch mit Moskau konfrontiert. Zwar konnten 1991 die Sowjetunion und 2003 Russland weder
militärisch eingreifen noch politischen Einfluss auf die Entwicklung des
Konflikts nehmen. Die Ohnmacht Moskaus war evident. Doch wirkten
die russischen Versuche, Amerika in den Arm zu fallen, gegen die russischen Interessen, die Moskau sowohl im Irak und auf dessen Erdölfeldern
6
7
Unterrichtung des Verfassers im Dezember 1987 in Brüssel durch den offiziellen Vertreter des türkischen Generalstabs, dass die Türkei an der Ausführung
des NPG-Beschlusses von Montebello 1983 über die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenwaffen der NATO in Europa nicht teilnehmen werde und
dass die Regierung die Sicherheitsstrategie gegenüber der UdSSR in diesem
Sinne verändert habe: keine neuen oder zusätzlichen Nuklearwaffen in der
Türkei.
Die türkische Regierung stimmte zwar allen Erklärungen und Beschlüssen des
NATO-Rates in dieser Frage zu, nahm aber an politischen Demonstrationen
der Solidarität anderer NATO-Partner in Tiflis nicht teil.
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
221
wie im Iran und in Syrien, aber auch allgemein bei den Arabern zu sichern
suchte. Der Erfolg war bei großem Aufwand gering. Die gesamte, seit Mitte der 1950er Jahre von Syrien und vom Irak über das Horn von Afrika bis
nach Ägypten und Ostafrika angelegte militärpolitische Position war zwischen 1970 und 1990 in sich zusammengebrochen. Damit war Russland
praktisch aus der Nah-/Mittelost-Politik ausgeschieden. Es war kein entscheidender internationaler Faktor in diesem Raum gegenüber Amerika
und der euroatlantischen Allianz mehr. Seither versucht Moskau jedoch,
wieder Fuß zu fassen, sowohl im Irak als auch in arabischen Golfstaaten
und im Iran, den es nuklear- und waffentechnisch unterstützt und politisch abschirmt.
In der öffentlichen Perzeption aber erschien der russische Akteur im Osten Europas, obwohl geschwächt und territorial zurückgefallen, noch immer als die bedrohliche Gegenmacht. Schon zwischen 1991 und 2003
war Russland aber von den USA und den europäischen Alliierten aus dem
internationalen Krisenmanagement zur Beendigung des Nahostkonflikts,
zur Überwachung des Irak und aus der Sicherheitspolitik in Südosteuropa ausgeschlossen worden, obwohl 1995-99 ein russisches Kontingent
in Bosnien an der Okkupation beteiligt war und Russland 1994 an den
Friedensverhandlungen mit den USA, Großbritannien, Frankreich und
Deutschland, die von dieser internationalen „Dayton-Gruppe“ über Bosnien geführt wurden. Der Kosovo-Krieg der NATO beendete 1999 die
aktive Kooperation Russlands mit der NATO in dem 1997 geschaffenen
„NATO-/Russland-Rat“ in Brüssel. Moskau unterbrach die Beziehungen
zur NATO und zog seine Vertreter ab.
1.5 Der politische Gegensatz zwischen Russland und der
NATO
Dieses Kapitel ist auch seither unvollendet geblieben. In den Jahren der
Einleitung der ersten NATO-Osterweiterung in Mitteleuropa nach 1993
blieben die Verhandlungen zwischen den NATO-Partnern und Russland
bis zur Vereinbarung der „Pariser Charta“ 1997, mit der die Kooperation im „NATO-/Russland-Rat“ festgelegt wurde, erfolglos. Die russischen
Forderungen auf Mitsprache über die Aufnahme neuer Mitglieder in die
NATO und bei NATO-Entscheidungen über Krisenbewältigung mit militärischen Mitteln, nach Anerkennung einer besonderen Verantwortung
Russlands für die Sicherheit im Gebiet der „Gemeinschaft Unabhängiger
Staaten“ (d.h. der ehemaligen Sowjetunion ohne das Baltikum) und nach
einer besonderen Beziehung Russlands zur NATO wurden abgelehnt. Die
„Vier Nein“: kein russisches Vetorecht, kein russisches „droit de regard“,
222
Lothar Rühl
keine Interessensphären, keine privilegierten Beziehungen8 bedeuteten,
dass Russland nicht als Sicherheitspartner des Bündnisses anerkannt wurde, obwohl Präsident Clinton gerade eine „strategische Partnerschaft“ mit
Russland als Ziel verkündet und bei einem Besuch in Moskau im Fernsehen sogar von einer möglichen Mitgliedschaft Russlands in der NATO
in fernerer Zukunft gesprochen hatte. Darauf hatte er allerdings auch in
Kiew der Ukraine Hoffnungen gemacht und die Unabhängigkeit einer lebensfähigen Ukraine zu einem „wichtigen“ amerikanischen Sicherheitsinteresse erklärt.9
Beides konnte nur in Übereinstimmung mit Moskau vereinbar werden.
Die NATO-Politik gegenüber Moskau aber wurde seit Dezember 1993 unverändert im Kern von dem Programm der NATO-Erweiterung im Osten
Europas bestimmt. Jelzin und Ministerpräsident Tschernomyrdin (seither
russischer Botschafter in Kiew) zogen mehrere „rote Linien“ durch das
osteuropäische Vorfeld Russlands, die die NATO nicht überschreiten sollte. Die erste verlief im Westen des Baltikum über Weißrussland und die
Ukraine in den Westen der Slowakei und von dort nach Jugoslawien. Hinter ihr lagen auch Bulgarien, Rumänien und die Moldau. Die Situation
Ungarns blieb undeutlich. Diese Beschränkung der NATO und der Souveränität der betroffenen Staaten wurde von den Alliierten abgelehnt. Eine
spätere steckte eine neutralisierte Zone vom Baltikum bis zum Schwarzen
Meer ab. Auch dieser Vorschlag Moskaus wurde zurückgewiesen. Die NATO-Partner wollten sich aus guten Gründen nicht auf eine neue „Jalta“Linie festlegen lassen. Der tschechische Präsident Havel hatte vor einem
„neuen Jalta“ gewarnt, der polnische Präsident Waleca vor einem „Sicherheitsvakuum“ in der Mitte Europas.10
Georgien oder andere Länder des Südkaukasus wurden weder von russischer noch von westlicher Seite erwähnt, bis der US-Verteidigungsminister Cohen kurz vor Ende der Clinton-Präsidentschaft im Jahre 2000 in
Tiflis Georgien eine Aussicht auf NATO-Mitgliedschaft eröffnete.
Im April 1999, während des Kosovokrieges, wurden Polen, Tschechien,
Ungarn und die Slowakei in die Allianz aufgenommen. Ungarn, Rumänien und Bulgarien leisteten der NATO auf verschiedene Weise indirekt
Unterstützung für ihre Luftkriegsoperationen. Damit war eine strategischpolitische Interessensphäre der NATO in Südosteuropa vorgezeichnet, in
8
9
10
Vgl. dazu Rühl, Lothar: Die USA als Widerpart Russlands, in: Russland und der
postsowjetische Raum, SWP Internationale Politik und Sicherheit Nr.54, hrsg.
von Olga Alexandrova, Roland Götz und Uwe Halbach, Baden-Baden 2003,
S.414.
Rühl: Das Reich des Guten, S.162.
Vgl. Rühl, Lothar: Deutschland als europäische Macht. Nationale Interessen
und internationale Verantwortung, Bonn 1996, S.245.
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
223
der die NATO-Osterweiterung fortgesetzt wird. Damit wurde die historische „Orientalische Frage“, die ja zuerst den Balkan betraf, der im 19. Jahrhundert zum „Nahen Osten“ gerechnet wurde, vom westlichen Bündnis
unter amerikanischer Führung auch von Europa her aufgegriffen. Die Öffnung des Ostens mit dem Ende der Sowjetunion hatte Ende 1991 nicht
nur im Zentrum und im Norden Europas die geopolitische Grundstruktur
des Kontinents verändert und eine neue geostrategische Lage geschaffen,
sondern vor allem auch im Südosten und im Schwarzen Meer zwischen
Balkan, Türkei und Kaukasus.
Das geopolitische Resultat aller dieser Veränderungen zwischen 1991 und
2009 liegt in der nicht nur territorialen, sondern auch strategischen Zurückdrängung Russlands vom Baltikum bis zum Kaukasus mit dem Verlust der Seeherrschaft über die Ostsee und das Schwarze Meer und der
westlichen Kontrolle über die Zugänge zu beiden. Würde im Zuge einer
Aufnahme der Ukraine in die NATO auch die bis 1954 russische Krim
mit dem Halbinselfortsatz von Kertsch vor dem Asow’schen Randmeer
im Süden Russlands unter die direkte Kontrolle der NATO kommen, wäre
Russland tatsächlich von Westen an seinen Flanken in Europa militärisch
eingeschlossen und politisch ausgegrenzt – wie auch immer man in der
atlantischen Allianz diese Situation nennen mag. Dies ist einer der Aspekte, unter denen Putin aus russischer Sicht den Zusammenbruch der
Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“
genannt hat. In diesem kritischen Bereich bleibt darum ein tiefer Gegensatz zwischen Russland und der westlichen Allianz bestehen. Wahrscheinlich wird jede Regierung in Moskau versuchen, dies mit allen politischen
Mitteln – ausschließlich Krieg gegen die NATO – zu verhindern und die
Option auf eine politische Reintegration der Ukraine in die Russische Föderation für die Zukunft offen zu halten. Dieses Interesse Moskaus betrifft
nicht nur die NATO, sondern auch die EU. Es erstreckt sich natürlich auch
auf Weißrussland.
2. Die Weiterentwicklung der Probleme und das
Thema Raketenabwehr in Europa
Das Thema Raketenabwehr ist aus der gegenseitigen strategischen Bedrohungslage als Folge der Weiterentwicklung der Raketentechnik seit dem
amerikanisch-sowjetischen Abkommen SALT-1 mit dem ABM-Vertrag von
1969 entstanden. Der Streit zwischen den beiden Vertragspartnern über
den Nutzen und die Abänderungsmöglichkeiten seit den 1980er Jahren
unter der Reagan-Präsidentschaft eskalierte schließlich nach den Verständigungsversuchen der Präsidenten Bush sen. und Clinton mit neuen Abkommen über die Reduzierung der strategischen Angriffssysteme und der
Zahl der nuklearen Gefechtsköpfe. Präsident Bush jun. machte strategi-
224
Lothar Rühl
sche Raketenabwehr nach 2001 zu einem zentralen Thema der Sicherheitspolitik der USA und kündigte den inzwischen strategisch und rüstungskontrolltechnisch obsolet gewordenen ABM-Vertrag, um freie Hand
für den Aufbau einer strategischen Raketenabwehr in Nordamerika zu gewinnen. Damit wurde dieses Rüstungsvorhaben der USA auch zu einem
transatlantischen Thema in der NATO, denn die Bush II-Administration
fasste den Plan, Abwehrsysteme vorwärts in Mitteleuropa zu stationieren.
Abgesehen von der Zweckbestimmung, Nordamerika abzuschirmen, und
von der Tatsache, dass die zunächst verfügbaren Abfangsysteme nur bestimmte Teile Europas abdecken können, andere aber ungeschützt lassen
werden, insbesondere im Süden und Südosten, dazu auch die Türkei, rückt
das Vorhaben Europa wieder in eine zentrale Frontstellung in der strategischen Gegenüberstellung zwischen Amerika und Russland. Wie auch
immer das neu entstehende Verhältnis politisch bezeichnet werden mag,
handelt es sich objektiv nach den militärtechnischen und geographischen Maßstäben um eine Konfrontationsanlage. In Verbindung mit dem
Plan des Nordatlantikrates, 2008 in Bukarest bestätigt, die Osterweiterung
der NATO fortzusetzen und zunächst Georgien und der Ukraine eine Beitrittsperspektive zu öffnen, kann das Projekt US-Raketenabwehr in Mitteleuropa mit Abfangsystemen in Polen und einem modernen ABM-Radar
in Tschechien aus Moskauer Sicht durchaus als eine strategisch-politische
Herausforderung aufgefasst werden.
Obwohl eine solche Raketenabwehr als Vorwärtsverteidigung Nordamerikas in Europa nicht gegenüber Russland, sondern gegen mögliche Angriffsdrohungen aus dem Mittleren Osten eingerichtet werden soll, sieht
Russland seine eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit gegenüber den
USA mit Interkontinentalraketen potenziell gefährdet. Es ist richtig, dass
auch bestimmte Raketenstellungen in Russland von Mitteleuropa aus
zum Ziel für Raketenabwehr genommen werden könnten. Andererseits
ist in Moskau öfters deutlich geworden, dass auch die russischen Militärs
eine Raketendrohung aus dem Orient gegen Russland künftig für möglich
halten.
Darüberhinaus muss Russland für die Konsolidierung seiner qualitativ geschwächten strategischen Nuklearstreitkräfte auf einem modernen technischen Niveau, also auch mit Modernisierungspotenzial für die Zukunft,
an einer quantitativen Parität mit den USA bei reduzierten Waffenzahlen
interessiert sein. Ende 2009 läuft der Vertrag mit den USA über die Reduzierung dieser Waffen aus. Moskau hat dies in den vergangenen Jahren
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
225
auch deutlich werden lassen.11 Es gibt deshalb eine objektive Grundlage
für strategische Zusammenarbeit zwischen den USA, der NATO in Europa
und Russland.
Washington hat unter den Präsidenten Clinton und Bush jun. Moskau
immer wieder konkrete Vorschläge gemacht, zuletzt 2008. Russische Gegenvorschläge waren entweder ausweichend und ablenkend oder sachfremd. Die Moskauer Verweigerung blieb, jedenfalls bis zum Ende der
Bush-II-Präsidentschaft, wie dies seit 2007 nicht anders zu erwarten gewesen war, unbeugsam und äußerlich unbeeinflusst von amerikanischen
Zusicherungen und Offerten einer gemeinsamen Raketenabwehr.
3. Perspektiven
1. Zwar wird die russische Macht im Osten Europas nicht länger als feindlich angesprochen, jedenfalls nicht im eigentlichen Westeuropa der alten
NATO, wohl aber wird sie weiterhin als europäisches und globales Sicherheitsrisiko, als gefährliches Gegenüber und unberechenbare politische
Größe mit innerer Unsicherheit, nuklearer Rüstung, auf ihre Energiequellen gegründeter Machtpolitik und „neo-imperialen“ Ambitionen angesehen. Diese Perzeption, ob natürlich wegen der historischen Erfahrung mit
Russland seit dem Zarenreich und einer autoritären Regierung des Landes
aus dem Moskauer Kreml, die den Zustand Osteuropas nach dem Ende der
Sowjetunion so weit wie es Russland möglich ist wieder zum russischen
Vorteil zu verändern sucht, also wegen einer revisionistischen Politik
Russlands oder gekünstelt aus politischen Gründen, die einen Vorwand
für eine Abgrenzung von Russland und für die NATO-Osterweiterung geben sollen, bestimmt psychologisch noch immer das gestörte Verhältnis
zu Russland.
Die enttäuschten Erwartungen in ein „neues Russland“, das sich im Innern und in seinem Verhalten gegenüber seinen Nachbarn westlichen
Vorstellungen annähern, an die westliche Linie in der internationalen
Politik (so weit eine solche existiert) anpassen und schließlich auf die euro-atlantischen Positionen, wie sie in Washington und Brüssel festgelegt
werden, einschwenken werde, haben das politische Ressentiment gegenüber Russland revitalisiert wie umgekehrt das russische gegenüber dem
Westen. Ressentiment und Affekte aber sind keine Merkmale rationaler
Politik. Dies gilt für beide Seiten.
11
Bisher (März 2009) in Moskau dazu keine regierungsamtlichen Erklärungen,
sondern nur offiziöse Äußerungen aus Regierungskreisen. Der Generaldirektor
der IAEA, El Baradei, hat in einem Namensartikel in der IHT vom 12.2.2009
die Größenordnung von 1.000 bis 500 Nukleargefechtsköpfen an strategischen Waffen als mögliche Konsensbasis zwischen Washington und Moskau
genannt.
226
Lothar Rühl
2. Russland wird ein schwieriges und nur schwer berechenbares Gegenüber für Amerika und das atlantische Europa bleiben, zumal das Letztere
im Osten mit antirussischen Gefühlen aufgeladene Völker in das Bündnis, teils auch in die EU, aufgenommen hat und nun in seiner Politik
gegenüber Russland von diesen als Mitgliedern von innen unter Druck
gesetzt wird (sogar öffentlich und demonstrativ wie in der Georgienkrise
im Sommer 2008), wie dies insbesondere für eine Aufnahme der Ukraine
und Georgiens in das Bündnis und mit der Forderung nach Einrichtung
von NATO-Stützpunkten für alliierte Streitkräfte im Baltikum geschieht.
Ob Russland mehr Gegner oder Partner der USA, der EU und der NATO
sein wird, hängt unter solchen Umständen auch vom Verhalten und von
den Zielen der westlichen Verbündeten ab. Aber in Moskau wird vor allem
und letztlich nach den dort bestimmten russischen Interessen gegenüber
der Allianz, den USA und in Europa gehandelt, gleichgültig ob diese realistisch definiert werden oder nicht. Beide Seiten können irren und strategische wie taktische Fehler machen, die aufeinander wirken und sich kumulieren können. Die Aussetzung des „NATO-/Russland-Rates“ durch die
NATO-Partner in der Georgienkrise des Jahres 2008 war ein solcher taktischer und vor allem diplomatischer Fehler. Gerade dieses diplomatische
Forum hätte in der Georgienkrise des Sommers und Herbstes 2008 für
multilaterale Konsultationen nützlich sein können, vor allem für die europäischen NATO-Staaten im Verhältnis zu Moskau und zu Washington.
3. Auch nach ihrer Wendung über das euro-atlantische Bündnisgebiet
hinaus vom Feld der alliierten kollektiven Verteidigung auf das weite internationale Feld der kollektiven Sicherheit und bei ihrem Sprung nach
Afghanistan zur ausgreifenden Vorwärtsverteidigung weit von den äußeren Grenzen des Bündnisgebietes entfernt, haben die NATO-Partner ihre
Politik der integrativen Expansion in Europa gegenüber Russland nicht
aufgegeben. Vor allem die USA unter den Präsidentschaften Clinton und
Bush jun. zwischen 1993 und 2009 haben Moskau unverändert als den
östlichen Machtpol behandelt, dessen Schwächung genutzt werden sollte, um den westlichen zu stärken und die euro-atlantische Allianz als Fundament der europäischen Sicherheit aufzuwerten, um mit der NATO im
Osten diese Sicherheit mit oder ohne, notfalls auch wieder gegen Russland zu organisieren.
Russland ist der zentrale Maßstab der euro-atlantischen Sicherheit geblieben. Dies, obwohl längst die entstehenden Bedrohungen aus dem Orient,
die Weiterverbreitung von nuklearen und anderen destabilisierenden Rüstungen, der Aufstieg Chinas zu einer global relevanten Großmacht, die
grassierende Instabilität und ökonomisch-soziale Krise Afrikas, schließlich
der Indische Subkontinent mit zwei neuen Kernwaffenstaaten, Südwestasien und dem benachbarten Mittleren Osten um den Persischen Golf,
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
227
als Unsicherheitsfaktoren in das Zentrum des politischen Krisenbogens
der Welt gerückt sind. Zwar hat der Nordatlantikrat dies in seinen „Neuen
Strategischen Konzepten“ 1991 und 1999 ausdrücklich anerkannt. Auch
hat er auf dem Papier Konsequenzen gefordert. Doch die Aktivität blieb
auf Moskau konzentriert: Russlands Einfluss auf breiter Front zu verdrängen, war das strategische Vorrangziel Washingtons trotz einzelner Annäherungsversuche in den vergangenen achtzehn Jahren und konzertierter
Aktionen der diplomatischen Krisenbewältigung wie das „Nahost-Quartett“ für Palästina oder die Bemühungen um eine Beendigung der Urananreicherung im Iran.
Außerdem stand die tatsächliche Politik der NATO seit Mitte der 1990er
Jahre nicht nur auf dem Balkan, sondern auch im Kaukasus im Gegensatz
zur deklaratorischen der Zusammenarbeit mit Russland. 1990 anlässlich
der Wiedervereinigung Deutschlands in der NATO wurde Moskau offiziell zugesichert, dass keine Kernwaffen, keine schweren Waffen und keine nuklearfähigen Trägersysteme nach Osten vorverlegt würden.12 Später erklärten die Alliierten, dass dies nur für Deutschland gegolten hätte,
nicht aber für die 1990 noch nicht vorhersehbare NATO-Erweiterung über
Deutschland hinaus nach Osten. Inzwischen wurden oder werden Stützpunkte für die Stationierung von US-Luftkampfverbänden und Truppen
in Ungarn, Bulgarien und Rumänien eingerichtet.
Die Rüstungskontrollpolitik wurde von beiden Seiten den Konflikten über
Raketenabwehr und über die NATO-Osterweiterung untergeordnet, damit
praktisch ausgesetzt. Die Verantwortung Moskaus dafür ist ebenso evident
wie die Washingtons und Brüssels. Doch die Notwendigkeiten und die
Ansätze sind erhalten geblieben.
4. Der geopolitische Konflikt im Osten Europas um die Fortsetzung oder
Einstellung der NATO-Osterweiterung kann durch beiderseitige Mäßigung beendet werden. Weder Georgien noch die Ukraine sind Staaten,
deren Aufnahme in das nordatlantische Bündnis der Sicherheit der Verbündeten dienen könnte. Weder das Land im Südkaukasus mit zwar international anerkannten, aber in den Grenzbevölkerungen durch Sezession,
also von innen her, unsicher gewordenen Grenzen noch das historisch
und politisch in sich selber ungefestigte Übergangsland zwischen Russland und Mitteleuropa mit einem starken russischen und einem russischsprachigen Bevölkerungsanteil im Industriegebiet des Ostens und auf der
Krim eignen sich als Grenzländer eines westlichen Verteidigungsbündnisses mit dem Anspruch, der europäischen Sicherheit zu dienen. Wie
würden sie als Frontstaaten in einer politischen Konfrontation mit Russland wirken und wie könnten sie im Konflikt unterstützt und notfalls verteidigt werden? Wer wäre dazu in Europa oder Amerika bereit? Was aber
12
Rühl: Deutschland als europäische Macht, S.179.
228
Lothar Rühl
sollte eine Ausweitung des Bündnisgebietes auf diese oder andere Länder
im Osten Europas, die von der NATO im Notfall nicht verteidigt werden
könnten, die aber immer für eine politische Provokation an den Grenzen
Russlands gut wären? Wie sollte unter diesen Bedingungen „Stabilität“ in
Europa in internationalen Krisen gewahrt und Kooperation mit Russland
möglich bleiben?
Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine von Russland und die komplizierte Interdependenz zwischen Russland als Erdgasexporteur, der Ukraine als Durchgangsland mit einem Röhrennetz nach Westen und den
europäischen Abnehmerländern, die in der neuerlichen Erdgaskrise zwischen Moskau und Kiew zum Jahreswechsel 2008/09 wieder offenkundig
wurden,13 verlangen nach einer übergreifenden europäischen Kooperation. Eine „Energie-NATO“ könnte dieser nicht dienen. Es handelt sich
nicht um einen Fall für das Bündnis. Die EU ist der geeignete Partner,
wenn auch nicht unbedingt der geeignete politische Rahmen, schon
wegen der ESVP und der Verbindung zur NATO. Energieversorgung und
Handel im Osten Europas müssen frei von Bündnisgrenzen und militärischen Sicherheitssystemen bleiben, wenn der freie Fluss der Energieströme unbehindert und in politischen Krisen Spielraum für pragmatische
Lösungen bleiben soll.
Dies trifft auch auf Georgien und im Übrigen auf Aserbeidschan am Kaspischen Meer mit der Ölküste zu. Die NATO muss die Rohrleitungen durch
Georgien nicht schützen, geschweige denn durch dort stationierte alliierte Streitkräfte abschirmen. Im Georgienkrieg des August 2008 haben
die russischen Truppen sich auf Distanz zur Erdölinfrastruktur Georgiens
gehalten und diese auch nicht aus der Luft angegriffen. Im Übrigen waren die Zerstörungen durch den russischen Gegenangriff, der im Westen
als „unverhältnismäßig“ (Merkel) bezeichnet wurde und dies nach den
Regeln des deutschen oder des britischen Polizeirechts auch war, sehr viel
weniger umfangreich als in Tiflis behauptet und nicht größer als die vom
georgischen Angriff in Südossetien angerichteten.14
5. In der Wahrnehmung Europas und des nordatlantischen Bündnisses
besteht eine politische Kontinuität zwischen der Sowjetunion und Russland über alle Unterschiede hinweg. Russland wird aus nachvollziehbaren Gründen historisch betrachtet, aber das vorläufige Resultat der russischen Geschichte im Bruch von 1991 wird strategisch und geopolitisch
wie psychologisch in den Folgen für das russische Bewusstsein und die
Moskauer Politik oft nicht realistisch bewertet. Der Verlust des russischen
Imperiums im Osten Europas und in Zentralasien hat die russische Macht
13
14
Dempsey, Judy: Can Ukraine leverage gas deal with Russia?, in: IHT, 22.1.2009.
Information des Verfassers nach inoffizieller Bewertung durch militärische Experten in Berlin im Dezember 2008.
Die Rolle Russlands als Faktor des transatlantischen Beziehungsgefüges
229
territorial und ökonomisch reduziert, den russischen Kernstaat nach 1991
für mehrere Jahre unter der Präsidentschaft Jelzins desorganisiert, die strategische Situation Russlands zum russischen Nachteil verändert wie die
allgemeine Korrelation der Kräfte und das militärische Kräfteverhältnis
zur Atlantischen Allianz und umso mehr zu Amerika.
Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Russland keine militärische Überlegenheit nach Umfang und Ausrüstung der konventionellen Streitkräfte gegenüber den Westmächten mehr. 1991 verlor es
das strategische Glacis, das politisch kontrollierte und militärisch besetzte
Vorfeld, im Westen seiner Grenzen und damit sein „äußeres Imperium“
in Osteuropa.
Russlands Grenzen sind im Westen und Süden etwa auf die des Großfürstentums Moskau Ende des 16. Jahrhunderts nach den Niederlagen
Iwans des Schrecklichen im ersten Nordischen Krieg gegen Schweden und
Polen-Litauen und im Süden gegen die Krimtataren zurückgefallen. Alle
Eroberungen und territorialen Gewinne Peters des Großen, Katharinas der
Großen im 18. und Nikolaus’ I. im 19. Jahrhundert sind verloren gegangen. Das NATO-Gebiet in Europa hat sich ab 1990 schrittweise um 800 bis
1.000 km nach Osten auf Russlands Grenzen zu erweitert.
Wie soll es also weitergehen? Kann und soll das euroatlantische Bündnis zwischen Konfrontation und Kooperation mit Russland schwanken,
zwischen Ausgrenzung oder „Einbindung“ Russlands, wie es in der ersten
Hälfte der 1990er Jahre in Brüssel hieß, manövrieren? Oder soll eine feste
Linie im Osten Europas gezogen werden, die als Grundlinie für Kooperation und gemeinsame Sicherheit dienen könnte, an die Moskau sich
halten müsste wie Washington und Brüssel? Wenn „Stabilität“ das Ziel
der westlichen Politik in Europa ist, wie soll es erreicht werden, wenn
die NATO ihre Bündnisgrenze für gemeinsame Verteidigung von Land zu
Land weiter nach Osten vorverlegt? Was kann man in Moskau unter einer
„Stabilisierung der Westflanke Russlands“ durch die „Öffnung der NATO“
nach Osten, wie die NATO-Sprache in den späteren 1990er Jahren lautete, verstehen? Soll dies heißen, dass künftig die Politik der Ukraine oder
Georgiens von Brüssel aus bestimmt und kontrolliert würde? Könnten sie
in einer Krise oder in einem Streit mit Russland im Nordatlantikrat überstimmt oder zu einem nach westeuropäischen Maßstäben richtigen Verhalten gegenüber Russland in einem Streit gezwungen werden? Mit der
proklamierten „souveränen“ Entscheidung jedes dieser Länder über seine
Politik, auch über seinen Beitritt zum Bündnis, wäre dies wohl schwerlich
vereinbar. Georgien hat 2008 das Problem exemplarisch vorgeführt, Washington und Brüssel haben zugesehen oder besser weggesehen.
230
Lothar Rühl
Die NATO muss lernen mit Provokationen anderer Länder in Europa
umzugehen, nicht nur mit russischen. Russland aber muss sich für
Kooperation mäßigen. Wie realistisch diese Forderung und die Erwartung
in ihre dauerhafte Erfüllung durch Moskau sind, kann nur ein Versuch
lehren. Einem solchen auf Kompromiss zielenden Versuch muss Zeit
gegeben werden. Russland ist ein Maßstab für Zeit wie China oder Indien.
Es wird als eine europäische Großmacht mit einer kontinentalen eurasischen Dimension und reichen Bodenschätzen in Europa selber der zentrale Gegenmaßstab zum transatlantischen Amerika bleiben. Es wird seine
Macht ausspielen, wie die Gelegenheiten sich ergeben und die Vorteile
sich bieten. Seine Schwächen werden es behindern und zu Misserfolgen
Moskaus beitragen. Politik kann nicht immer erfolgreich sein. Doch jeder
Konflikt muss wie jeder Krieg einmal ein Ende haben, und 1990/91 lehrt,
dass vermeintlich definitive Realitäten sich verändern oder auch plötzlich
in einem Umbruch aufgehoben werden können.
Für das euro-atlantische Bündnis und seine Regierungen, vor allem die in
Washington, von der auch in Zukunft die Führung ausgehen wird, bedeutet dies, dass die Akteure auf Aktionismus und auf die Addition ihrer Ziele
verzichten, stattdessen Prioritäten im Reich des Möglichen setzen müssen.
Die Grenzen des Möglichen im Osten aber bestimmt die Existenz Russlands, auch für Amerika. Russland bleibt in Schwäche wie in künftig möglicher Stärke die Großmacht im Osten Europas, die man weder einfach in
das euro-atlantische Bündnisgefüge oder eine europäische Sicherheitsorganisation wie die OSZE „einbinden“ noch ausgrenzen kann. Medwedjews
ungeeignete Vorschläge im Jahre 2008 für ein europäisches Sicherheitssystem mit einer möglichen eurasischen Dimension bis nach China und
Indien anstelle der NATO bedürfen mehr als nur einer Ablehnung.
Hier liegt ein objektives Plandatum für die Politik der USA auch unter
dem Präsidenten Obama und dessen Nachfolgern in der Zukunft. Die Zeit
des amerikanischen Triumphalismus über Moskau à la Reagan „I won the
Cold War“ ist mit dem Ende der Bush-II-Präsidentschaft Geschichte. Auch
für die Atlantische Allianz und für das Verhältnis Europas zu den USA
wie zu Russland ist ein Neuanfang unumgänglich, wenn europäische Interessen im atlantischen Verbund realistisch bestimmt und durch Politik
im strategischen Sinne, d.h. kontinuierlich und langfristig, gewahrt und
die überwiegend europäische Natur Russlands für gemeinsame Sicherheit
und Wohlfahrt genutzt werden sollen. Dann könnte sich auch die Politik
in Moskau ändern. Die Alternative, auf einen Regimewechsel in Russland
zu warten, ist von höherem Risiko und ebenso großer Ungewissheit.
Konstellationsanalysen der
amerikanischen
Außenpolitik im ostasiatischpazifischen Raum
Gottfried-Karl Kindermann
1. Machtexpansion und Prinzipien amerikanischer Politik im
Raum des Pazifik
In europäischen Perspektiven erscheinen die Vereinigten Staaten als primär atlantischer Staat. Und in der Tat, als solcher schlossen sich die dreizehn Gründerstaaten der USA 1787 an der Ostküste zusammen. Doch
die gewaltige Dynamik der transkontinentalen Westexpansion bewirkte,
dass die USA nach der Schlichtung eines Grenzstreits mit Großbritannien
schon 69 Jahre später mit dem sog. Oregon Country 1846 ihr erstes Gebiet am Pazifik erwerben konnten. Nur zwei Jahre später provozierten USStreitkräfte einen Krieg gegen Mexiko, als dessen Folge die USA Kalifornien annektieren konnten. Der von US-Außenminister Seward betriebene
Ankauf von Alaska und den Aleuten-Inseln von Russland 1867 für nur
7,2 Millionen US-Dollar erschien Kritikern zwar als „Seward‘s folly“. Wäre
Alaska in russischem Besitz geblieben und stellt man sich die geostrategische Lage der USA vor, so lässt sich Seward‘s Weitblick durchaus bewundern. Trotz ihres Gewinns riesiger Territorien an der Westküste Nordamerikas bewirkte Amerikas Westexpansion anschließend den Vorstoß in
den Pazifik. Noch im Jahr des Alaska-Ankaufs besetzte die Kriegsmarine
der USA die strategisch wichtigen Midway-Inseln, im Zweiten Weltkrieg
Schauplatz einer entscheidenden Seeschlacht. Zwanzig Jahre später annektierten die USA die Hawaii-Inseln im Zentralpazifik und ebenso die
Philippinen – Letztere als Folge des von den USA wegen Kuba geführten
Krieges mit Spanien. Somit waren die Vereinigten Staaten knapp vor Beginn des 20. Jahrhunderts auch zur Kolonialmacht in Südostasien geworden.
Die Diplomatie der USA befasste sich mit pazifischen Räumen sogar bereits
vor jeder Landnahme der USA an der Pazifikküste. So wandte sich die Monroe-Doktrin von 1821 nicht nur gegen jeden Versuch europäischer Mächte
zur Wiedergewinnung verlorener Kolonien in der westlichen Hemisphäre, sondern konkret auch gegen Vorstöße Russlands an der Nordwestküste
Nordamerikas mit dem Ziel, dort eine russische Einflusssphäre zu errichten.
232
Gottfried-Karl Kindermann
Geostrategisch verfestigten die USA ihre Positionen an der Westküste des
nordamerikanischen Kontinents einerseits durch den Bau von drei Atlantik und Pazifik verbindenden Eisenbahnen wie andererseits auch durch
den Bau des 1914 eröffneten Panama-Kanals. An der Jahrhundertwende
verkündeten die USA ein für das nächste Jahrhundert maßgebliches Leitinteresse in Ostasien. Es war das von Außenminister John Hay 1899 erstmals
bekanntgegebene Prinzip der „open door policy”. Dieses wandte sich gegen Erwägungen europäischer Kolonialmächte, China in Interessensphären aufzuteilen. Stattdessen forderte diese Doktrin der Offenen Tür gleiche
Chancen für alle am Chinahandel beteiligten Mächte und die Erhaltung
der staatlichen und territorialen Integrität des Chinesischen Reiches, das
allein im Jahr zuvor unverschuldet fünf chinesische Territorien an mit einander konkurrierende europäische Großmächte hatte abtreten müssen.
Gerade auch in diesem Zusammenhang bildete die machtpolitische Entwicklung Japans, das zuvor als Folge seines siegreichen Krieges gegen China 1894/95 Taiwan und früher bereits die Ryukyu-Inseln annektiert hatte,
eine definitive Sorge der amerikanischen Fernostdiplomatie. Es war insbesondere US-Präsident Theodore Roosevelt, der im russisch-japanischen
Krieg 1904/05 den Friedensvertrag von Portsmouth New Hampshire vermittelte, um in Nordostasien ein gewisses Gleichgewicht zwischen diesen
beiden Mächten zu erhalten. Kurz zuvor hatten Washington und Tokio
ein Geheimabkommen geschlossen, in dem Japan die Sicherheit des amerikanischen Protektorats auf den Philippinen zusicherte, während die USA
ihr Verständnis für Japans Interesse erklärten, seine Oberherrschaft über
Korea zu errichten. Japans Kriegserklärung an das Deutsche Reich 1914 ermöglichte es den Japanern, die deutscherseits von Spanien im Westpazifik
angekauften Marianen, Karolinen und Marshall-Inseln als Mandatsgebiete
zu erhalten und damit zu einem Machtfaktor auch in diesem Teil des Pazifik zu werden. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg waren die USA bemüht,
die Konstellation einer institutionalisierten Friedensordnung im Pazifik
zu schaffen. Diesem Zweck dienten drei Pazifik-Konferenzen, die 1921/22
in Washington abgehalten wurden. Der erste, sog. Vier-Mächte-Vertrag
beinhaltete die gegenseitige Anerkennung des insularen Besitzstandes der
Signatarmächte im Pazifik und sah Schlichtungsmethoden im Falle von
Streitigkeiten vor. Ein gleichzeitiger Fünf-Mächte-Vertrag beschloss, die
Flottenstärken von Großkampfschiffen im Pazifik auf ein Verhältnis von
5 (USA) zu 5 (Großbritannien) zu 3 (Japan) und zu 1,75 jeweils für Frankreich und Italien festzulegen und die Verwendung bestimmter Kampfmittel zu verbieten. Obwohl Japans Regierung zustimmte, nahmen nationalistische Kreise mit tiefer Empörung zur Kenntnis, dass Japan als einziger
exklusiv im Pazifik befindlicher Staat eine geringere Flottenstärke zugesprochen bekommen hatte als England und die USA. Der im November
1921 unterzeichnete Neun-Mächte-Vertrag entsprach aber voll und ganz
den Prinzipien der amerikanischen open door Politik bezüglich Chinas.
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
233
2. Der Kampf um die Vorherrschaft im Pazifik
Doch war dieser diplomatische Triumph der USA nicht von langer Dauer. Denn ein Jahrzehnt später zerbricht Japan den Status quo durch die
Eroberung der chinesischen Nordostprovinzen (Mandschurei), die es
anschließend in das Satelliten-Kaiserreich Mandschukuo verwandelt.
Die USA reagierten mit der sog. Stimson-Doktrin der Nichtanerkennung
gewaltsamer Veränderungen des Status quo. Eine Erklärung des japanischen Außenministeriums, die sich scharf gegen jede Hilfeleistung dritter Staaten für China wandte, die dieses bei seinem Widerstand gegen
Japans Hegemoniestreben unterstützen könne, bedeutete eine weitere
Absage Japans an die open door Politik der USA. Auch kündigte Japan
den Neun-Mächte-Vertrag zur Begrenzung der Flottenrüstung, wonach im
pazifischen Raum eine Phase hektischer Rüstung insbesondere auf Seiten
Japans und der USA begann. In China war es nach einem Jahrzehnt der
Anarchie und chaotischer Bürgerkriege der von Sun Yat-sen gegründeten
Kuomintang (Nationale Volkspartei) unter Chiang Kai-shek 1928 gelungen, eine, wenn auch prekäre, Wiedervereinigung Chinas zu bewirken
und im Jahr zuvor den ersten Versuch einer Machtergreifung der chinesischen Kommunisten abzuwehren.
Eine drastische Veränderung der Kräftekonstellation im Westpazifik ergab
sich aus dem Beginn des achtjährigen japanischen Angriffskrieges gegen
China im Juli 1937, der einerseits zur japanischen Eroberung Ostchinas
führte und andererseits zu der von Frankreichs Vichy-Regierung 1940
gestatteten Besetzung Nord-Vietnams durch die Japaner. Im September
gleichen Jahres entstand der Drei-Mächte-Pakt, durch den Deutschland
und Italien Japan die Führungsrolle bei der Schaffung einer Neuordnung
„Großostasiens“ zubilligten. Umgekehrt anerkannte Japan die „Führungsrolle“ Berlins und Roms bei der Schaffung einer Neuordnung Europas und
die drei Mächte sagten einander Beistand für den Fall zu, dass eine dritte Macht gegen einen von ihnen in den Krieg eintreten sollten – womit
die USA gemeint waren. Von den Amerikanern abgefangene Funksprüche deuteten auf Japans Absicht hin, die Kolonialherrschaft der „weißen“
Mächte in Südostasien zu brechen, um selbst zum Hegemon eines neuen
„Großostasiens“ zu werden.
Die USA reagierten einen Monat nach Beginn des deutsch-sowjetischen
Krieges mit der Initiierung eines umfassenden Wirtschaftskrieges gegen
Japan. Entgegen dem warnenden Rat seines Admiralstabes – dies werde
Krieg bedeuten – hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Juli 1941
gegen Japan ein Erdölembargo verhängt, dem sich das Britische Empire
und Niederländisch Indien anschlossen, und zusätzlich das Einfrieren
aller japanischer Guthaben in den USA verfügt, wodurch Japan von 75
Prozent seiner Einfuhren außerhalb des sog. Yen-Blocks abgeschnitten
234
Gottfried-Karl Kindermann
wurde. Da Japans Industrie und Streitkräfte jedoch von auswärtigen Erdölimporten abhängig waren, hatten sich verringernde Vorräte die Wirkung
einer Zeitbombe. Das Szenario eines deutschen Sieges in Europa und eines japanischen in Asien ließ die außenpolitische Führung der USA zu
der Überzeugung gelangen, die USA sollten aus Gründen ihrer Sicherheit
und trotz des immer noch starken Isolationismus zum frühest möglichen
Zeitpunkt in den Krieg eintreten. Angesichts einer immer schlechter werdenden Versorgungslage führten die monatelangen Verhandlungen zwischen Tokio und Washington zu keinem Ergebnis. Zwar hatte Japan in
der letzten Verhandlungsrunde einen Verzicht auf einen Vorstoß nach
Südostasien angeboten, doch die USA forderten einen kompensationslosen Rückzug Japans aus China, in dem Japan viereinhalb Jahre erfolgreich
Krieg geführt hatte. Die Forderung entsprach zwar dem Grundprinzip der
open door Doktrin. Doch keines der eingeweihten amerikanischen Regierungsmitglieder glaubte, dass Japans vom Militär geführte Regierung diese
Forderung annehmen würde. Vierzehn Tage vor Kriegsbeginn informierte Washington alle amerikanischen Militärposten im Pazifik, es bestehe
„höchste Kriegsgefahr“. Sollte es zu einem ersten Gefecht kommen, sei
darauf zu achten, dass die Japaner den „ersten Schuss“ abfeuerten. Am 7.
Dezember 1941 fielen japanische Bomben auf Pearl Harbor, wobei Japans
Kriegserklärung – von den Amerikanern schon Stunden zuvor entschlüsselt – durch ein technisches Versagen der japanischen Botschaft in Washington erst anderthalb Stunden nach dem Angriff überreicht werden
konnte. Nach dreieinhalb Jahren Krieg war Japan militärisch geschlagen.
Doch Washingtons Kriegsziel, eine „bedingungslose Kapitulation Japans“,
wurde nicht ganz erreicht, da die japanische Regierung – selbst nach dem
Abwurf von zwei Atombomben – zunächst mit der Frage reagierte, was
denn im Falle der Kapitulation mit dem Kaiserhaus geschehe. Die Kapitulation erfolgte dann nur bedingt, d.h. durch die vorherige Zusage der
Alliierten, die Zukunft des Kaiserhauses werde „vom japanischen Volk“
abhängen. Im Bereich praktischer Politik hatte das Atomzeitalter somit in
Ostasien in entsetzlichen Formen begonnen.
3. Die USA „verlieren“ China
In der frühen Nachkriegszeit schien sich die internationale Kräftekonstellation im ostasiatischen-pazifischen Raum eindeutig und fast überwältigend zugunsten der USA zu entwickeln. Sie allein beherrschten durch
ihre Besatzungsregime Japan – damals die einzige Industriemacht Asiens
– und Süd-Korea. Sie besetzten Taiwan und hatten die Philippinen zurückerobern können. Ein Befehl des japanischen Kaisers hatte die problemlose Kapitulation von Millionen japanischer Soldaten bewirkt. Sorgen bereiteten Washington nur die Entwicklungen in China. Gegen den
Widerstand sowohl Churchills als auch Stalins hatte Präsident Roosevelt
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
235
anlässlich der Gründung der Vereinten Nationen für China einen permanenten Sitz mit Vetomacht im UN-Sicherheitsrat durchsetzen können. In
China selbst war unmittelbar nach Kriegsende der Bürgerkrieg zwischen
Kommunisten und Nationalisten in weiten Teilen des Landes mit voller
Kraft entbrannt. Die Sowjetunion, die am Tag des Atombombenabwurfs
auf Nagasaki und somit nur wenige Tage vor Japans Kapitulation in den
Krieg gegen Japan eingetreten war, hatte Nordwestchina besetzt und rüstete die chinesischen Kommunisten mit riesigen, dort lagernden japanischen Waffenbeständen aus.
Angesichts dieser Lage entsandte Präsident Truman seinen Generalstabschef George C. Marshall nach China. Er war beauftragt, zwischen den
Bürgerkriegsparteien zu vermitteln, um eine politische und militärische
Reintegration Chinas durch die Schaffung einer demokratischen Koalitionsregierung zwischen der autoritären Kuomintang und der totalitären
Partei der chinesischen Kommunisten zu erreichen. An den Patriotismus
beider Parteien appellierend, stellten die USA Aufbauhilfe für das vom
Krieg zerstörte China nur für den Fall ihrer Einigung in dem von Washington gewünschten Sinne in Aussicht. Nach anfänglichen Scheinerfolgen
musste sich Marshall das seinerseits nur den Chinesen angelastete Scheitern seiner Vermittlungsmission eingestehen. Diese war der erste Versuch
der USA gewesen, Prozesse der politischen Systembildung in einem asiatischen Land im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen und Prinzipien von
außen her zu gestalten. In der amerikanischen Innenpolitik erregte die
demagogische Frage: „Who has lost China?“ die Gemüter.
Die Niederlage des mit Amerika in vielfacher Hinsicht eng verbundenen nationalchinesischen Systems und der Sieg der Kommunisten im
volkreichsten Land der Erde 1949 lösten in den USA einen landesweit
empfundenen Schock aus, der sich noch steigerte, als sich die neu gegründete Volksrepublik China im Februar 1950 mit der Sowjetunion verbündete. War doch dadurch ein von der Elbe bis zum Pazifik reichender
Block an Moskau orientierter Staaten entstanden, der die internationale
Kräftekonstellation zugunsten der Sowjetunion veränderte. Der mit einer
Blitzkriegoffensive des Nordens gegen den Süden in Korea beginnende
Krieg nötigte den USA eine Grundsatzentscheidung hinsichtlich ihrer Reaktion ab. Durchgesetzt hatte sich dabei nicht der von US-Außenminister
Dean Acheson empfohlene Rückzug der USA auf Japan und eine Kette
von Inseln im Pazifik, sondern die von George F. Kennan konzipierte
und von Präsident Truman übernommene Eindämmungsstrategie. Das
aber bedeutete in Korea, dem Angriffskrieg Nord-Koreas mit einer von
den Vereinten Nationen sanktionierten militärischen Gegenmacht zu begegnen. Sich auf die Fehler der Beschwichtigungspolitik im Europa der
dreißiger Jahre berufend, vertrat Truman als erster US-Präsident die sog.
„Domino-Theorie“. Ihr zufolge glaubten amerikanische Entscheidungs-
236
Gottfried-Karl Kindermann
träger, dass jeder passiv geduldete Akt der Aggression den Angreifer nicht
beschwichtigen, sondern – im Gegenteil – zu weiteren Aggressionen ermutigen werde. Pekings Ende 1950 erfolgender Eintritt in den Koreakrieg
konfrontierte Washington mit der Faktizität eines ersten Krieges zwischen
den USA und einem kommunistischen China, hinter dem als Verbündeter und Waffenlieferant die Sowjetunion stand. Der Krieg endete 1953 mit
einem Waffenstillstand, der bis zur Gegenwart die völkerrechtliche Basis
der unbeendeten Teilung Koreas bildet und der den Status quo ante auf
der koreanischen Halbinsel wieder herstellte. Ein erstes Mal hatten die
USA einen Krieg ohne Sieg beenden müssen.
4. Die Konstellation der peripheren Eindämmung
Auf die ab dem Koreakrieg perzipierte Gefahr einer Expansion der kommunistischen Mächte im ostasiatisch-pazifischen Raum reagierte die Truman-Regierung mit dem Aufbau einer zur Eindämmung bestimmten politisch-militärischen Abwehrfront. In diesem Sinne erließ Truman bereits
zwei Tage nach Kriegsbeginn drei Weisungen. Sie betrafen den Einsatz
von US-Streitkräften in Korea, die Abschirmung Taiwans durch die VII.
US-Kriegsflotte und die massive materielle Unterstützung für Frankreichs
Kolonialkrieg gegen die nationalkommunistischen Viet Minh in Vietnam
und im restlichen Indochina. Intensiv vorangetriebene Verhandlungen
führten 1951 zu einem milden Friedensvertrag und einem gleichzeitigen
Sicherheitspakt mit Japan, und das im Januar 1950 von den USA preisgegebene nationalchinesische System auf Taiwan erhielt ab Mitte 1951
amerikanische Rüstungs-, Wirtschafts- und Beraterhilfe. In Südostasien
betrachteten die USA das Königreich Thailand als primäres Bollwerk des
Westens, weshalb es ab 1950 in wachsendem Maße amerikanische Rüstungs-, Berater- und Wirtschaftshilfe erhielt. Allein der Wert amerikanischer Militärhilfe für Thailand betrug im Zeitraum zwischen 1950 und
1972 elf Milliarden US-Dollar. Mit seinem vormaligen Protektorat, den
ab 1946 selbstständig gewordenen Philippinen, schlossen die USA 1952
einen Verteidigungsvertrag.
Nach Frankreichs schwerer Niederlage in seinem achtjährigen Kolonialkrieg in Indochina verfügte die sog. Genfer Indochinakonferenz von
1954 die Teilung Vietnams in einen kommunistischen Norden und einen
pro-westlichen Süden. Kaum zwei Monate später initiierten die USA im
September 1954 die Gründung des Südostasienpaktes (SEATO), dem nur
drei asiatische Staaten (Thailand, Philippinen und Pakistan) angehörten.
Pekings Reaktion bestand in einer im folgenden Monat beginnenden Militäroffensive gegen eine Reihe nationalchinesischer unmittelbar vor der
Küste Festlandschinas gelegener Vorposteninseln. Noch im Verlauf dieser Kämpfe, bei denen die Nationalchinesen, von den USA nur materiell
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
237
unterstützt, die strategisch wichtigsten Inselgruppen (Quemoy oder Kin
Men und Matsu) behaupten konnten, schlossen die USA mit der Republik
China auf Taiwan im Dezember 1954 einen bilateralen Verteidigungspakt.
Ein solcher Pakt war zuvor nach Ende des Koreakrieges (1953) mit SüdKorea geschlossen worden. Insgesamt hatten die USA die Kräftekonstellation im Raum des Westpazifik dadurch verändert, dass sie in Reaktion
auf das Bündnis Moskau-Peking und den Angriffskrieg in Korea auf der
koreanischen Halbinsel zumindest den Status quo ante wieder herstellen, anschließend bilaterale Bündnisse mit Japan, Süd-Korea, Taiwan und
den Philippinen sowie ein Militärabkommen mit Thailand schließen und
ergänzend den Südostasienpakt begründen konnten. In die Gesamtkonstellation des westpazifischen Raumes hatten die USA somit ihre Politik
der „peripheren Eindämmung Chinas“ eingeführt. Eine neuerliche Militäroffensive der VR China gegen die erwähnten nationalchinesischen
Küsteninseln konnte von den Nationalchinesen 1958, wiederum von den
USA nur materiell unterstützt, erfolgreich abgewehrt werden.
5. Das Scheitern in und an Vietnam
Ein neuer Krisenherd von weltpolitischer Relevanz sollte sich jedoch in
Vietnam entwickeln. Das Land war nach Frankreichs Niederlage 1954 in
einen kommunistischen Norden und einen nichtkommunistischen Süden geteilt und insgesamt von französischer Kolonialherrschaft befreit
worden. Ab dem Rückzug Frankreichs hatten die USA mit einer gezielten
Unterstützung des südvietnamesischen Staatswesens begonnen. Insbesondere förderte Washington Aufbau, Ausrüstung und Ausbildung einer
südvietnamesischen Armee. Ab Mitte der fünfziger Jahre regierte in Saigon der zum Präsidenten gewählte Ngo Dinh Diem, der die USA in den
ersten Jahren seiner Regierung durch die Effizienz seiner Verwaltung und
seine pro-westliche Orientierung beeindruckte. Doch bei Diem, der aus einer katholischen Mandarinenfamilie stammte, machten sich im Lauf der
Zeit autokratische und nepotistische Züge seiner auch von religiöser Intoleranz und mangelnder Volksnähe gekennzeichneten Regierungspraxis
bemerkbar. Als Diem Maßnahmen zur Unterdrückung der buddhistischen
Bevölkerungsmehrheit ergriff, entzog ihm Kennedy seine Unterstützung
und Diem wurde im November 1963 auf Betreiben einer Militärclique
grausam ermordet. Im gleichen Jahr hatte die in Nord-Vietnam totalitär
regierende kommunistische Lao Dong Partei unter der Führung Ho Chi
Minhs beschlossen, ihre vorherige Neutralität im Konflikt zwischen Moskau und Peking aufzugeben, um nach dem Modell Mao Tse-tungs einen
totalen „Partisanen-Volkskrieg“ mit dem Ziel der Eroberung ganz Vietnams zu führen.
238
Gottfried-Karl Kindermann
Der Nachfolger Präsident Kennedys, der im gleichen Monat wie Präsident
Diem ermordet worden war, war Präsident Lyndon B. Johnson, und seine
Regierung sah sich mit bedrohlichen Infiltrationserfolgen der nationalkommunistischen Vietcong in Süd-Vietnam konfrontiert. Während eine
Gruppe von Beratern Johnson eine Entflechtung der USA von Vietnam
empfahl, betonten andere die Grundannahmen der „Domino-Theorie“.
Der Partisanenkrieg sei in Griechenland, Malaysia und den Philippinen
erfolgreich bekämpft worden, weshalb also nicht auch in Vietnam? Sollten die USA Vietnam preisgeben, würde das bei ihren Verbündeten einen unwiederbringlichen Vertrauensverlust bewirken und die Gegner zu
neuen Aggressionen ermutigen. Anfang August 1964 kam es im Golf von
Tonking zu einem ursächlich umstrittenen Seegefecht zwischen amerikanischen und nordvietnamesischen Seestreitkräften. Der US-Kongress verabschiedete daraufhin am 7. August 1964 mit großen Mehrheiten die sog.
„Tonkin Gulf Resolution“, die dem US-Präsident als Oberbefehlshaber
der US-Streitkräfte die Vollmacht erteilte, in Südostasien ihm erforderlich
scheinende Maßnahmen zu ergreifen, um etwaigen Feindseligkeiten gegen dortige US-Streitkräfte entgegenzutreten. In amerikanischer Darstellung erfolgten hiernach US-Bombenangriffe auf Nord-Vietnam. Als Folge
ergab sich ein ständig gesteigerter Einsatz von US-Bodentruppen, um den
Verbündeten Süd-Vietnam zu verteidigen. Doch in Süd-Vietnam waren
dem Mord an Ngo Dinh Diem keine populärere Regierung, sondern rivalisierende Militärjuntas gefolgt. Die nach amerikanischen Modellen ausgebildeten Streitkräfte waren folglich auf einen Partisanenvolkskrieg nicht
vorbereitet und Chinas Drohung, im Falle einer Invasion Nord-Vietnams,
dem Präzedenzfall des Koreakrieges entsprechend, in Vietnam einzugreifen, verhinderte eine Bodenoffensive gegen den vietnamesischen Norden.
Umgekehrt aber benutzten die Partisanen der Vietcong geheime Dschungelpfade im neutralen Kambodscha, um die Südvietnamesen in der Flanke anzugreifen. Angesichts ihrer wachsenden Schwierigkeiten versicherte
Johnson den Südvietnamesen: „We will not be defeated. We will not grow
tired. We will not withdraw, either openly or under the cloak of a meaningless agreement.” Wachsende US-Truppenstärken in Vietnam führten
jedoch zu keiner Besserung der Kriegslage. Als es dem Vietcong im Zuge
der sog. „TET-Offensive“ im Januar 1968 – wenn auch unter schwersten
Verlusten – gelang, fast alle Provinzhauptstädte Süd-Vietnams kurzfristig
zu erobern und selbst in Saigon einzudringen, begann sich in der USFührung die Überzeugung durchzusetzen, Süd-Vietnam könne auf Dauer
nicht gehalten werden. Der unter Einsatz gewaltiger Mittel nicht nur im
militärischen, sondern auch im wirtschaftlichen und politischen Sinne
unternommene Versuch einer Verteidigung und gleichzeitigen Neustrukturierung Süd-Vietnams war gescheitert.
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
239
6. Washingtons Détente mit der Volksrepublik China
Der neue Präsident der USA, der am 20. Januar 1969 angelobte Kalifornier
Richard M. Nixon, erstrebte durch eine Annäherung der USA an die VR
China, das perzipierte außenpolitische over-commitment der USA durch
eine neue Konstellation trans-pazifischer Entspannung entscheidend zu
reduzieren. In Peking mit Mao Tse-tung und Chou En-lai geführte Gespräche Nixons und Kissingers brachten primär drei Ergebnisse: ein Ende
des bilateralen Kalten Krieges im Pazifik, eine „Quasi-Allianz“ (Kissinger)
beider Mächte gegen die Sowjetunion und eine Minderung des US-Engagements zugunsten Taiwans. Allerdings weigerte sich Mao, die von Nixon
erbetene Vermittlerrolle zwischen den USA und Nord-Vietnam zu übernehmen. Nach mühsamsten Verhandlungen kam es im Januar 1973 dennoch zu einem Waffenstillstand in Vietnam, der real gesehen den Charakter einer verschleierten amerikanischen Kapitulation trug. Es war der erste
Krieg, den die USA verloren, und ein zweiter Fall eines gescheiterten Versuchs eines von außen gesteuerten nation-building in Asien seitens der
USA. Drei Monate später verließen die letzten amerikanischen Soldaten
Vietnam. Eine Großoffensive der Vietcong vom April 1975 führte in Vietnam zum Sieg der Kommunisten, zu deren Racheakten gegen ihre Gegner
und zur Wiedervereinigung Vietnams im Zeichen der vietnamesischen
Kommunisten. Drei Jahre später nur eroberte Vietnam das benachbarte
Kambodscha und vermochte es, als Hegemon aller Staaten Indochinas zu
agieren.
7. Ambivalenzen und Konstellationen der amerikanischen
Taiwanpolitik
Um das neue Verhältnis zwischen den USA und China zu verfestigen,
beschloss Nixons Nachfolger Jimmy Carter, die Normalisierung der Beziehungen zwischen Washington und Peking zu erwirken. Zu diesem Zweck
akzeptierte er kompensationslos drei Forderungen Pekings: Die USA sollten ihre diplomatischen Beziehungen zum nationalchinesischen System
der Republik China auf Taiwan abbrechen und keine Staatlichkeit der Republik China auf Taiwan anerkennen; sie sollten zweitens ihren Bündnisvertrag mit Taiwan kündigen und drittens restliche US-Militäreinheiten
von der Insel zurückziehen. Taiwans Präsident wurde nur wenige Stunden
vor Carters Bekanntgabe dieser Maßnahmen hiervon verständigt. Doch
in den USA erhob sich starke Kritik an Inhalt und Formen dieses Überraschungscoups. Entgegen dem Willen des Präsidenten verabschiedete
der US-Kongress den heute noch geltenden und im April 1979 in Kraft
getretenen „Taiwan Relations Act“. Dieser verpflichtet die USA, Taiwans
Sicherung gegen militärische oder wirtschaftliche Offensiven als regionales Eigeninteresse der USA zu betrachten und Taiwan daher weiter-
240
Gottfried-Karl Kindermann
hin Rüstungsgüter zu verkaufen. Dennoch hatte sich die US-Regierung
ab dem Nixon-Chou En-lai Kommuniqué von Schanghai 1972 stets zum
sog. „Ein China Prinzip“ bekannt. Trotz der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit Peking, der eine Fülle wirtschaftlicher Vernetzungen folgte, blieb die mit manchen Widersprüchen behaftete Taiwanfrage ein ungelöster und spannungsträchtiger Problembereich in der
Gesamtkonstellation amerikanischer Beziehungen zu China. Angesichts
der maoistischen Machtergreifung in Kontinentalchina hatte Chinas
zuvor amtierender Präsident Chiang Kai-shek 1949 einen Teil der politischen, kulturellen und technokratischen Elite Chinas mitsamt einem
Teil der Streitkräfte nach Taiwan verlagert. Diese „zugereisten“ Festländer
waren im Verlauf der Jahrzehnte gealtert und einheimische Taiwanesen
hatten viele ihrer Positionen übernommen. Die Aufhebung des Kriegsrechts 1987 hatte sowohl das Verbot der Neubildung politischer Parteien
als auch das Verbot von Reisen nach und Handel mit China außer Kraft
gesetzt. In Gestalt der Demokratischen Fortschrittspartei entstand ein politisches Instrument des taiwanesischen Separatismus. 1988 wurde erstmals ein Taiwanese, Dr. Lee Teng-hui, Präsident Taiwans und Vorsitzender
der Kuomintang (Nationalchinesische Volkspartei). Als Lee bei der ersten
allgemeinen Volkswahl eines Präsidenten 1996 kandidierte, führten Seeund Luftstreitkräfte der VR China militärische Drohmanöver knapp vor
den beiden Haupthäfen Taiwans durch, um vor der Wahl des Peking verhassten Lee zu warnen. US-Präsident Clinton entsandte daraufhin einen
Kampfverband der US-Kriegsmarine einschließlich eines Flugzeugträgers
in Gewässer nahe Taiwan und erließ mit Japans Ministerpräsident Hashimoto Ryotaro eine gemeinsame Erklärung über Sicherheitsinteressen beider Länder auch in Gebieten in der Nähe Japans (Taiwan). Die USA waren
nicht gewillt, sich durch China aus dem Westpazifik vertreiben zu lassen.
Trotz Pekings Einschüchterungsversuch wurde Lee Teng-hui mit großer
Mehrheit gewählt. Sorgen, wenn auch unterschiedlicher Art, bereiteten
in Washington wie auch in Peking, dass in den Jahren 2000 und 2004 bei
Präsidentschaftswahlen auf Taiwan jeweils der Führer der separatistischen
Fortschrittspartei Chen Shui-biän gewählt wurde. Obwohl Peking 2005
ein sog. „Anti-Sezessions-Gesetz“ mit einer Kriegsermächtigungsklausel
gegen Taiwan erlassen und mehr als 1.000 gegen Taiwan gerichtete Mittelstreckenraketen in Stellung gebracht hatte, beharrte Chen Shui-biän auf
dem Ziel einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans von China. Da seiner
Ansicht nach Taiwan de facto unabhängig und voll souverän sei, müsse
mit der Präsidentschaftswahl 2008 eine Volksbefragung darüber verbunden werden, ob Taiwan als souveräner Staat und unter seinem Namen
einen Antrag auf Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen stellen solle.
Diese Politik aber wurde von Washington mit präzedenzloser Schärfe kritisiert. Chen Shui-bäns Haltung –so hieß es – bilde eine unnötige und unrealistische Provokation, deren mögliche Folgen nicht nur Taiwan selbst
beträfen. Taiwan – so hieß es in Washington – sei in amerikanischer Sicht
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
241
weder ein eigener Staat noch aber auch ein Teil der Volksrepublik China,
sondern verkörpere ein noch unentschiedenes Problem. In der Tat hatte
Japan in seinem Friedensvertrag von 1951 zwar auf Taiwan verzichtet,
ohne jedoch anzugeben, zu wessen Gunsten der Verzicht erfolgt sei. Washington erteilte Taiwan den dringenden Rat, sich mit dem Status quo
seiner unbestreitbaren de facto Unabhängigkeit zu begnügen und nicht
den Status quo der bestehenden Dreieckskonstellation USA-Taiwan-China
zu erschüttern. Anlässlich eines Treffens in Sydney im September 2007
hatten sich die Präsidenten der USA und Chinas, George W. Bush und
Hu Jintao, betont kritisch zur separatistischen Politik Chen Shui-biäns
geäußert. Doch zur Erleichterung sowohl Washingtons als auch Pekings
vermochte die oppositionelle Kuomintang 2008 sowohl bei den Parlamentswahlen als auch bei der Präsidentenwahl Erdrutschsiege zu erzielen,
während Chen Shui-biäns Volksbefragung nicht die erforderliche Mehrheit erzielte. Der im März 2008 neu gewählte Präsident Ma Ying-jeou,
ein vormaliger Bürgermeister von Taipei, erklärte bei seinem Amtsantritt,
während seiner Amtsperiode werde es weder eine Wiedervereinigung mit
China geben noch auch eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans. Taiwan
wie auch China einigten sich auf eine Kompromissformel, nach der sich
beide Seiten zwar zum Prinzip des „einen China“ bekennen, jedoch mit
dem Recht der je eigenen Interpretation dieses Prinzips. In einem Glückwunschschreiben an Präsident Ma äußerte Barack Obama die Hoffnung,
dass China auf die Neuentwicklungen in Taiwan konstruktiv reagieren
werde. Seither wurden zwischen Taiwan und China mehrere Abkommen
zur Förderung des Verkehrs zwischen beiden Seiten abgeschlossen. Die
unmittelbare Krise wurde dadurch entschärft, doch liegt Taiwan langfristig gesehen weiterhin im Spannungsfeld zwischen Chinas Raketendrohung und der Schutzzusage der USA.
8. Problemstrukturen der nord-koreanischen Nuklearkrise
Eine zweite Krisenzone in der Kräftekonstellation des Westpazifik betrifft
das Verhältnis der USA und Süd-Koreas zu Nord-Korea und seiner Nuklearpolitik. Im Zusammenhang mit der Verletzung des internationalen
Nonproliferationsabkommens wie auch wegen Nord-Koreas Verweigerung legitimer Kontrollen war es Anfang der neunziger Jahre zu schweren Spannungen zwischen den USA, Süd-Korea und der Internationalen
Atomenergiebehörde einerseits und Nord-Korea andererseits gekommen.
Es bestand der Verdacht, dass Nord-Korea dabei sei, waffenfähiges Plutonium und gleichzeitig fortgeschrittene Raketensysteme zu entwickeln.
Zwischen Pjöngjang und Washington ausgetauschte Kriegsdrohungen
hatten diese Spannungen gefährlich eskalieren lassen, als ein inoffizielles
Gipfelgespräch zwischen US-Ex-Präsident Jimmy Carter und Kim Il Sung,
dem Diktator Nord-Koreas, zu einer in Genf im Juli 1994 stattfindenden
242
Gottfried-Karl Kindermann
amerikanisch-nord-koreanischen Konferenz führte. Hier wurde vereinbart, dass Nord-Korea seine gefährlicheren graphitmoderierten Reaktoren
abrüsten und mit amerikanischer Hilfe durch Leichtwasserreaktoren ersetzen werde. Bis zu deren Fertigstellung würden die USA Nord-Korea jährlich 500.000 Tonnen Schweröl liefern. Bei Ende der Amtszeit Präsident
Clintons schienen sich die bilateralen Beziehungen so weit gebessert zu
haben, dass Clinton den Oberkommandierenden der nord-koreanischen
Volksarmee, Marschall Jo Myong Rok, im Weißen Haus empfing und USAußenministerin Albright zu Begegnungen mit Nord-Koreas neuem Präsidenten Kim Jong Il nach Pjöngjang reiste. Zur zeitweiligen Entspannung
hatte auch der seit 1998 amtierende süd-koreanische Präsident Kim Dae
Jung beigetragen, dessen am Modell der Ostpolitik Willy Brandts orientierte „Sonnenscheinpolitik“ u.a. mit Erfolg bestrebt war, Nord-Koreas Beziehungen zum Süden durch großzügige materielle Vorleistungen aufzulockern, was auch in mancherlei Hinsicht gelang. Amerikas neuer Präsident
George W. Bush teilte jedoch Kim Dae Jungs Optimismus nicht, sondern
zählte Nord-Korea aufgrund seines rigoros totalitären Systems und seiner
Rüstung im Nuklear- und Raketenbereich zu den „gefährlichsten Systemen dieser Erde“. Doch auch dank chinesischer Kooperation gelang es
den USA ab August 2003, die Konstellation einer in Peking tagenden Dauerkonferenz von sechs Mächten (USA, Nord- und Süd-Korea, China, Japan
und Russland) in Gang zu bringen. Damit bewirkte die amerikanische Diplomatie die Institutionalisierung und Internationalisierung des Dialogs
mit Nord-Korea. Dessen ungeachtet feierte Nord-Korea mit Triumph seine
erste nukleare Explosion am 9. Oktober 2006 wie auch eine Serie von Raketenerprobungen im Juli des gleichen Jahres. Mit seiner in Entwicklung
befindlichen Taepodong-2-Rakete könnte Nord-Korea die Nordwestküste
der USA erreichen. Eine der Sorgen Washingtons betrifft auch Möglichkeiten einer nord-koreanischen Weitergabe nuklearer Techniken an islamische Staaten des Mittleren Ostens. Nord-Koreas Nukleardiplomatie gleicht
seit Jahren einem Nervenkrieg mit immer wieder gemachten und dann
teilweise oder ganz zurückgenommenen Zusagen. Eine der letzten Korea
betreffenden Maßnahmen der George W. Bush-Regierung war die Streichung Nord-Koreas von der Liste Terror unterstützender Staaten im Oktober 2008, wodurch sich für Nord-Korea wertvolle wirtschaftliche Zugänge
öffneten. Noch im Wahlkampf stehend, hat Barack Obama ein künftiges
Gipfeltreffen mit Nord-Koreas Diktator Kim Jong Il für nützlich erklärt,
während Außenministerin Hillary Clinton einen von Nord-Korea schon
lange begehrten Friedensvertrag mit den USA in Aussicht stellte. Doch
Nord-Koreas Ende Januar 2009 proklamierte Kündigung seiner Verträge
mit Süd-Korea und seine Ankündigung eines Satellitenstarts für Anfang
April 2009, hinter dem westliche und japanische Beobachter aber die Erprobung einer militärischen Langstreckenrakete vom Typ Taepodong 2
(Reichweite bis Alaska) vermuten, lassen vielerseits Skepsis hinsichtlich
einer baldigen Entspannung aufkommen.
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
243
9. Zur Konstellation amerikanischer Ostasienpolitik bei Beginn der Obama-Präsidentschaft
Zu Beginn der Präsidentschaft Barack Obamas ist die politische und geostrategische Konstellation des ostasiatisch-pazifischen Raumes weiterhin
von einem weit gespannten Fächer bilateraler amerikanischer Bündnisse
mit Staaten der Region geprägt, zu denen vorrangig Japan und Süd-Korea gehören, sodann die Philippinen, Thailand und Pakistan sowie – nur
aufgrund der unilateralen Schutzzusage der USA – auch Taiwan. Nach
Westen hin erweitert, gehört zu dieser Disposition amerikanischer Politik
auch die kriegsbedingte Präsenz der USA in Afghanistan und ebenfalls
Washingtons neu akzentuierte Annäherung an Indien. In westlicher Sicht
sind die USA das Zentrum und der Sicherheitsgarant dieses pazifischen
Beziehungsgeflechts. Dieser bündnispolitisch vernetzten Präsenz der USA
in östlichen Randgebieten Ostasiens stehen westlich davon als „single
players“ drei Mächte, nämlich China, Russland und Indien, gegenüber.
China insbesondere sieht in dieser Konstellation eine strukturelle Fortsetzung der amerikanischen Politik einer peripheren Eindämmung Chinas,
die jedoch im Gegensatz zum Kalten Krieg als solche nicht deklariert ist.
Dass Außenministerin Hillary Clinton Ostasien zum Ziel ihrer ersten offiziellen Auslandsreise machte, betont, wie sie selbst auch sagte, das Gewicht, das die Obama-Regierung der Rolle Ostasiens in ihrer strategischen
Planung beimisst. Japan, so erklärte Clinton in Tokio, sei der Eckpfeiler
der amerikanischen Asienpolitik. Allerdings traf ihr Wunsch nach stärkerem japanischen Engagement im Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf ein von den USA selbst verursachtes Hindernis. War doch
den Japanern 1946 durch die damalige US-Besatzung eine von Letzterer
konzipierte pazifistische Verfassung unter Drohungen gegen die Person
des Kaisers oktroyiert worden. Der international präzedenzlose Artikel 9
dieser Verfassung untersagt Japan Mittel und also auch Aktionen zur militärischen Selbstverteidigung, wodurch es im Sicherheitsbereich vom
Schutz der USA abhängig gemacht wurde. Zwar entstanden inzwischen
japanische Selbstverteidigungsstreitkräfte in Gestalt einer zahlenmäßig
kleinen und effizienten Berufsarmee, die jedoch zahlreichen strengen Beschränkungen unterliegt und die deshalb z.B. über keine Waffensysteme
verfügt, mit denen sie auf Angriffe auswärtiger Mächte mit Gegenschlägen auf deren Territorium reagieren könnte. Artikel 96 dieser oktroyierten Verfassung bestimmt zudem, dass Änderungen der Verfassung einer
zwei Drittel Mehrheit in beiden Häusern des Reichstages wie auch einer
einfachen Mehrheit einer Volksabstimmung bedürfen. Somit unterliegt
die einzige pro-westliche Industriemacht Asiens einer – wenn auch extern veranlassten – außergewöhnlichen Selbstbeschränkung ihrer sicherheitspolitischen Möglichkeiten. Zwar blieb Süd-Korea trotz vergangener
Dissonanzen mit der Bush-Regierung hinsichtlich seiner zeitweilig praktizierten „Sonnenscheinpolitik“ Nord-Korea gegenüber ein verlässlicher
244
Gottfried-Karl Kindermann
Verbündeter der USA. Doch konnte sich Nord-Korea im langjährigen Nuklearstreit mit den USA, ungeachtet mancher seiner Zugeständnisse, mit
seinem Willen durchsetzen, Nuklear- und Raketenmacht zu werden. Dies
zu verhindern ist Washington nicht gelungen. Doch wird die ObamaRegierung die durch die Diplomatie der George W. Bush-Ära begründete
Institutionalisierung der Korea betreffenden Sechs-Mächte-Gespräche in
Peking erhalten wollen.
Den primären Bezugspunkt der amerikanischen Ostasienpolitik bildet seit
Ende des Kalten Krieges zwischen Washington und Peking in den siebziger
Jahren die Volksrepublik China. Ihr stehen die USA mit einer Mischung
von Eindämmung (containment) und Einbindung (engagement) gegenüber, eine Ambivalenz, für die die zutreffende Bezeichnung „congagement“
gefunden wurde. In den dreißig Jahren seit Ende des selbstschädigenden
maoistischen Dogmatismus und Fanatismus hat sich als Leitprinzip chinesischer Außenpolitik ein pragmatischer Nationalismus entwickelt. Stark
geprägt von Chinas Geschichte hat dieser sich das Fernziel gesetzt, den
USA militärisch und wirtschaftlich wie auch hinsichtlich des globalen Einflusses ebenbürtig zu werden. China ist Atommacht und verfügt über ein
beträchtliches Raketenarsenal und ein eigenes Weltraumprogramm. Es ist
heute bereits nach den USA und der EU eines der größten Produktionszentren und einer der größten Absatzmärkte sowohl der Weltwirtschaft als
auch der USA. Seine steil steigenden, doch offiziell geschönten Militärausgaben wurden vom US-Verteidigungsministerium für 2007 auf maximal
139 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die konkrete Gestaltung seiner Rüstung ist – nach Sicht des Pentagon – eindeutig an der Möglichkeit eines
Konflikts mit den USA im Raum des Westpazifik orientiert.
Im Jahr 2007 war China der zweitgrößte Handelspartner der USA, jedoch
bei einem amerikanischen Handelsdefizit in Höhe von 258 Milliarden USDollar allein für die ersten sieben Monate des Jahres 2008. China verfügt
zur Zeit über die größten Hartwährungsreserven der Welt, wovon die Hälfte in US-Regierungsanleihen angelegt ist. Deutlicher als ihre Vorgängerin
wendet sich die Obama-Regierung gegen perzipierte chinesische Manipulationen zur Wertminderung der chinesischen Währung (Renminbi),
die der amerikanischen Wirtschaft schaden. Umgekehrt fühlt China seine Exporte von vernehmbar werdenden „buy American“-Forderungen in
den USA bedroht. Doch die in den ersten Monaten der Obama-Regierung
sowohl in Washington als auch in Peking prävalente Tendenz geht – ungeachtet mancher Spekulationen über das Kommen eines Wirtschaftskrieges – vorläufig dahin, die andere Seite eher als unvermeidlichen Partner
eines versuchten Krisenmanagements zu betrachten denn als Gegner. Als
Angriff auf die traditionelle Leitfunktion des US-Dollars wurde in den USA
allerdings Chinas Vorschlag gesehen, anstelle des Dollars eine neue internationale Leitwährung unter der Aufsicht des Internationalen Währungs-
Konstellationsanalysen der amerikanischen Außenpolitik
245
fonds zu schaffen. Zugleich bemühen sich die USA erneut um Chinas
Partnerschaft in den Bereichen des Umweltschutzes und der Vermeidung
schädlicher Formen der Energieproduktion.
Zur gegenwärtigen Konstellation der amerikanischen Ostasienpolitik im
weiteren Sinne gehört sehr wesentlich auch seine Annäherung an Indien,
weitgehend bewirkt durch die nicht unumstrittene amerikanische Anerkennung der indischen Nuklearpolitik seit 2005, ungeachtet der Weigerung Indiens, dem Nichtweiterverbreitungsvertrag beizutreten. Indien,
zahlenmäßig gesehen „die größte Demokratie der Welt“, hat sich seit dem
Ende seiner vormaligen bürokratisch-sozialistischen Wirtschaftspolitik zu
einer der führenden Wirtschafts- und Technologiemächte der gegenwärtigen Welt entwickeln können. Systemisch und machtpolitisch gilt es als
potenzielle Alternative zum benachbarten kommunistischen China. Unvergessen ist in Indien der es demütigende Blitzkrieg im Himalaya, mit
dem sich China 1962 in den Besitz aller wichtigen Grenzpässe entlang
den historisch umstrittenen Grenzen zwischen China und Indien versetzte. Indien ist Grenznachbar Pakistans, dessen politische Instabilität den
Amerikanern im Zusammenhang mit ihrem von Obama intensivierten
Kampf gegen Afghanistans Taliban und al-Quaida Elemente in wachsendem Maße Sorgen bereitet.
Insgesamt setzt sich auch zu Beginn der Obama-Präsidentschaft eine Konstellation der amerikanischen Politik im Pazifik fort, deren Kernelement
in der Ambivalenz einer amerikanisch-chinesischen Beziehung besteht,
die gleichzeitig von Interdependenz wie aber auch von Bedrohungsempfindungen beider Seiten gekennzeichnet ist. Der von Norden nach Süden
laufende Fächer trans-pazifischer Sicherheitspartnerschaften der USA mit
Staaten an der Peripherie Chinas – hier insbesondere mit Japan – sind
essenziell an dem Verhältnis USA-VR China orientiert, obwohl dieser Kernaspekt nur selten deutlich artikuliert wird. Der Norden der Konstellation
ist vom schwelenden Nuklearkonflikt mit Nord-Korea gekennzeichnet.
Nord-Koreas trotz Warnungen und UN-Resolutionen Anfang April 2009
durchgeführter Abschuss einer mehrstufigen Langstreckenrakete wird als
erprobende Provokation der neuen US-Regierung bewertet. Bezeichnenderweise wurden UN-Sanktionen von China und Russland verhindert. Im
Zentrum des Westpazifik hat sich die seit 1949 bestehende Spannung hinsichtlich der Taiwanfrage durch den dortigen Sieg der Kuomintang merklich entspannt. Zum vormaligen Kriegsgegner Vietnam konnten seitens
der USA ab 2006 normale Beziehungen und sogar Formen der militärischen Kooperation aufgebaut werden. Auch sind die USA zum Hauptabnehmer vietnamesischer Exporte geworden. Die China umgebende Kette
amerikanischer Sicherheitspartnerschaften mit asiatischen Ländern endet
im Westen mit der von China, vom Iran und von Russland mit Unbehagen betrachteten militanten Präsenz der USA in Afghanistan.
246
Gottfried-Karl Kindermann
Ungeachtet dieses geostrategisch beeindruckend wirkenden Engagements
der USA an der Peripherie der VR China gehen Beobachter davon aus, dass
sich das allgemeine Kräfteverhältnis zwischen den USA und China partiell
zugunsten des Letzteren verändert hat.
US-Militärinterventionen im
Ausland – Renaissance der
Powell-Doktrin?
Alexander Wolf
1. Einleitung
Dieser Beitrag befasst sich mit der Fragestellung, wann und wie militärische Interventionen unter Präsident Obama zu erwarten sind. Anhand
einer Darstellung der doktrinären Grundlagen amerikanischer Interventionspolitik der „Zwischenkriegsjahre“ (1990-2001)1 und der Amtszeit George W. Bushs (2001-2008), wird gezeigt werden, dass der „Smart
Power”-Ansatz der Regierung Obama vielmehr Kontinuität verspricht als
radikalen Wandel. Trotz einer liberal humanitären und somit prinzipiell interventionsfreundlichen Grundausrichtung wird Washington nur
aufgrund vitaler amerikanischer Interessen und angesichts unmittelbar
bevorstehender sicherheitspolitischer Bedrohungen den – notfalls auch
unilateralen und präemptiven – Einsatz seiner Streitkräfte erwägen. In
Verbindung mit dieser interessenbasierten Politik soll eine mögliche Renaissance der sogenannten Powell-Doktrin erörtert werden, welche sich
in besonderem Maße als erfolgversprechende „Rahmendoktrin” militärischer Interventionspolitik anbietet.
2. Amerikanische Interventionsdoktrin in den Zwischenkriegsjahren (1990 - 2001)
Die Politik der „Zwischenkriegsjahre“, die Zeitspanne zwischen dem Ende
des Kalten Krieges und der bipolaren Ordnung der internationalen Politik
und den Anschlägen des 11. September 2001 und dem Krieg gegen den
Terror, wurde von zwei Präsidentschaften gestaltet, der von George W. Bush
sen. (1989-1993) und von Bill Clinton (1993-2001). Beide Präsidenten sahen sich der Aufgabe gegenüber, festzulegen, wann und wozu der Einsatz
amerikanischer Streitkräfte im postsowjetischen Zeitalter gerechtfertigt
war. Diese Richtungsentscheidung stand dabei im größeren Kontext der
Neujustierung der Außenpolitik der „einzig verbliebenen Weltmacht“. In
1
Für eine brillante Darstellung dieses Zeitabschnitts siehe ausführlich: Chollet,
Derek/Goldgeier, James: America Between the Wars. From 11/9 to 9/11. The
Misunderstood Years Between the Fall of the Berlin Wall and the Start of the
War on Terror, New York 2008.
248
Alexander Wolf
welche Richtung eine doktrinäre Anpassung zu erfolgen hatte, war vielfach
umstritten und hing von den jeweiligen perzeptionsbedingten Erfahrungshintergründen sowie ideologisch-theoretischen Zukunftserwartungen der
Beobachter ab.2 Einig war man sich nur, dass mit dem Ende des Ost-WestKonflikts ein handlungsleitendes Paradigma verloren gegangen war.3
2.1 Bush sen. und die Powell-Doktrin
Präsident Bush sen., der realpolitisch denkende Staatsmann und Diplomat, betrachtete das Militär zweckrational als ein außenpolitisches Mittel
unter mehreren, welches jedoch möglichst sparsam und vernünftig anzuwenden sei:
„Using military force makes sense as a policy where the stakes warrant,
where and when force can be effective, where no other policies are likely
to prove effective, where its application can be limited in scope and time
and where the potential benefits justify the potential costs and sacrifice.
… But in every case involving the use of force, it will be essential to have
a clear and achievable mission, a realistic plan for accomplishing the mission, and criteria no less realistic for withdrawing U.S. forces once the
mission is complete. Only if we keep these principles in mind will the
potential sacrifice be one that can be explained and justified.”4
Diese vernünftigen, von Bush geforderten Kriterien sind vielleicht am besten in der Powell-Doktrin zusammengefasst. Peter Rudolf hat richtig darauf hingewiesen, dass die Powell-Doktrin nicht als deckungsgleich mit der
Weinberger-Doktrin gesehen werden darf.5 Denn während die WeinbergerDoktrin den Schwerpunkt auf die handlungsauslösenden „vitalen Interessen” des Staates legt, geht die Powell-Doktrin bereits von einer interessen2
3
4
5
Die Debatte über die Zukunftserwartungen für das postsowjetische Zeitalter
bewegte sich – stark verkürzt – zwischen den Vorstellungen eines „Endes der
Geschichte“, siehe Fukuyama, Francis: The End of History?, in: The National
Interest Sommer/1989, S.3-18 und einer „Rückkehr in die Zukunft“ machtpolitischen Nationalstaatsdenkens, siehe Mearsheimer, John J.: Back to the
Future: Instability in Europe after the Cold War, in: International Security
1/1990, S.5-56.
Vgl. Haass, Richard N.: Paradigm Lost, in: Foreign Affairs 1/1995, S.43-58.
Präsident George Bush sen., Remarks at the United States Military Academy
in West Point, New York, 5.1.1993, http://bushlibrary.tamu.edu/research/public_papers.php?id=5156&year=1993&month=01, Stand: 17.1.2009.
Die Powell-Doktrin weist jedoch eine inhaltliche und konzeptionelle Nähe zu
der Weinberger-Doktrin (Caspar Weinberger; Verteidigungsminister unter Ronald Reagan) auf, an deren Ausarbeitung Colin Powell ebenfalls beteiligt war,
siehe Rudolf, Peter: Friedenserhaltung und Friedenserzwingung: Militärinterventionen in der Amerikanischen Außenpolitik, in: Weltmacht ohne Gegner.
Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hrsg. von Peter
Rudolf und Jürgen Wilzewski, Baden-Baden 2000, S.297-334, hier S.301.
US-Militärinterventionen im Ausland
249
basierten Interventionsentscheidung aus und formuliert vielmehr einen
operationalen Kriterienkatalog für die „richtige” Durchführung einer Militärintervention.6 Das Militär soll demnach einzig dann eingesetzt werden,
wenn das nationale Interesse es erfordert (1), die Truppenstärke dem Auftrag entspricht (2), der Auftrag politisch und militärisch klar definiert ist
(3), Größe, Zusammensetzung und Disposition der Truppe stetig überprüft
werden (4), die amerikanische Bevölkerung und der Kongress das Unternehmen unterstützen (5) und eine klare Exitstrategie besteht (6).7
Die gemäß der Powell-Doktrin zu erfüllenden operationalen Kriterien
sollten eine Hürde für den allzu leichtfertigen Einsatz des Militärs in
schlecht durchdachten Szenarien darstellen und ein „mission creep”, also
eine ungewollte Konflikteskalation verhindern helfen.8 Als Paradebeispiel
einer militärischen Intervention gemäß Powell-Doktrin gilt allgemein die
im Auftrag der Vereinten Nationen und von den USA geführte Operation
Desert Storm zur Befreiung Kuweits im Jahr 1991.9
6
7
8
9
Zur Frage nach einem Kriterienkatalog für Militärinterventionen siehe auch:
Meier-Walser, Reinhard C.: Wann soll der Westen in Krisen intervenieren?
Globale Einsätze als mehrdimensionale Projekte, in: Neue Zürcher Zeitung,
20.11.2007.
Vgl. Powell, Colin L.: U.S. Forces: Challenges Ahead, in: Foreign Affairs 5/19921993, S.32-45.
Der klassische und für Colin Powell prägende Fall einer politisch unerwünschten Konfliktausweitung war der amerikanische Vietnamkrieg (1965-1972). Zu
Mission Creep und der Problematik schneller Exit-Strategien siehe Record, Jeffrey: Exit Strategy Delusions, in: Parameter US Army War College Quarterly
4/2001-2002, S.21-27.
Siehe Powell: U.S. Forces: Challenges Ahead; auch Rudolf: Friedenserhaltung
und Friedenserzwingung, S.302. Gegen die herrschende Meinung kann auch
die von Powell mitgeplante Operation Restore Hope (November 1993-März
1993) in Somalia als Beispiel gesehen werden, denn sie war in Zeit, Umfang
und Zielsetzung gemäß der Maßgaben der Powell-Doktrin ausgestaltet. Das
vorausgesetzte nationale Interesse war die aufgrund vieler Einzelfaktoren getroffene Entscheidung Präsident Bushs, in Somalia anstatt in Bosnien zu intervenieren. Die Gründe für das Nichteingreifen in Bosnien waren neben der von
Powell befürchteten Eskalationsgefahr die Stabilisierung der fragilen demokratischen Regierung des russischen Präsidenten Jelzin, welche durch ein amerikanisches Eingreifen in das von Moskau weiterhin (zumindest theoretisch)
beanspruchte Einflussgebiet geschwächt worden wäre. Da der gewählte Präsident Clinton und die Medien vehement ein Eingreifen in Bosnien forderten,
sah es Bush somit als vitales Interesse an, diese Intervention zu verhindern
oder zumindest hinauszuzögern. „Unable to control the spin on each crisis
and in response to the election of Bill Clinton, Bush and Powell concluded
that if the United States was going to intervene in response to a humanitarian
crisis, it would be in Somalia and not Bosnia.“; siehe hierzu Western, John:
„Sources of Humanitarian Intervention. Beliefs, Information and Advocacy in
the U.S. Decisions on Somalia and Bosnia“, in: International Security 4/2002,
S.112-142, hier S.118.
250
Alexander Wolf
2.2 Clinton und die schwierige Neuorientierung
Während in der Operation Desert Storm amerikanische Streitkräfte noch
in einem klassischen zwischenstaatlichen Konflikt eingesetzt waren, der einen nationalstaatlichen Akteur abschrecken bzw. in diesem Fall bestrafen
sollte, änderten sich Zielsetzung und Grundmuster amerikanischer Militärinterventionen unter Präsident Clinton deutlich. Interventionen waren
nicht mehr ein realpolitisches Instrument zur Abschreckung eines hochgerüsteten Feindes, sondern wurden vielmehr als ein Mittel zur Durchsetzung
politisch-ideologischer Zielsetzungen gesehen.10 Dieser Wandel wurde im
zu Beginn der ersten Amtszeit Clintons formulierten Konzept des „assertive
multilateralism” deutlich, dessen Zielsetzung die Verbreitung der Demokratie und Freiheit war, ein pragmatischer „Neo-Wilsonianismus”11. Dazu
sollten die USA sich verstärkt des Mittels multilateraler UN-Friedensmissionen bedienen, um nicht alleinverantwortlich vorgehen zu müssen. Diese
relative Orientierung am System kollektiver Sicherheit „war der Versuch,
die interventionistische Orientierung eines liberalen Internationalismus in
Einklang zu bringen mit der politischen Realität begrenzter Ressourcen und
innenpolitischer Restriktionen.”12 Der verstärkte Einsatz amerikanischen
Militärs zum allgemeinen Wohle der Menschheit und nicht aus vitalen
nationalstaatlichen Interessen war jedoch nicht mehr vereinbar mit der
Powell-Doktrin, welche für die liberale Regierung Clinton eine außenpolitische „Zwangsjacke” darzustellen schien. Doch Hans Morgenthau sollte
Recht behalten – Interventionen „... must be deduced not from abstract
principles which are incapable of controlling the actions of governments,
but from the interests of the nations concerned and from their practice of
foreign policy reflecting those interests”13.
Angesichts der ausgebliebenen „Friedensdividende”, der Rezession und
des Haushaltsdefizits zu Beginn der 1990er-Jahre schien das Interesse des
republikanisch dominierten Kongress und der amerikanischen Bevölkerung mehrheitlich „a new nationalism, a new patriotism, a new foreign
policy that puts America first and, not only first, but second and third as
well”14 zu sein.
Nach dem „Debakel von Mogadischu” im Oktober 1993, dem Tod und der
teilweisen Schändung 18 amerikanischer Soldaten in der misslungenen
10
11
12
13
14
Siehe Rudolf: Friedenserhaltung und Friedenserzwingung, S.298.
Siehe DeParle: The Man Inside Bill Clinton‘s Foreign Policy, in: The New York
Times Magazine, 20.8.1995, S.32-39, S.46, S.55-57, hier S.35.
Rudolf: Friedenserhaltung und Friedenserzwingung, S.303.
Morgenthau, Hans J.: To Intervene or Not to Intervene, in: Foreign Affairs
3/1967, S.425-436, hier S.429.
Buchanan, Patrick: America First – and Second, and Third, in: National Interest, Frühjahr 1990, S.79-82.
US-Militärinterventionen im Ausland
251
Aktion, den Kriegsfürsten Aidid gefangen zu nehmen, um den Wiederaufbauprozess Somalias voranzutreiben, geriet das Konzept des „assertive multilateralism” in derartige Kritik von Öffentlichkeit und Kongress,
dass die Clinton Administration von diesem relativ schnell abließ und
sich mit der Strategy of Engagement and Enlargement eine neue außenpolitische Doktrin gab.15 Deren Kernpunkte zielten auf die Verbreitung
demokratischer und marktwirtschaftlicher Systeme bei einer tendenziellen Abkehr vom Multilateralismus, eine neue Selektivität hinsichtlich des
außenpolitischen Krisenmanagements und die effektive Nutzung positiver Globalisierungserscheinungen zur Wiederherstellung amerikanischer
Wirtschaftskraft.16 Zusätzlich wurden mit der Presidential Decision Directive 25 (PDD 25) von Mai 1995 die Kriterien für eine amerikanische Beteiligung an multilateralen Friedensoperationen (friedensschaffende und
friedensbewahrende) derart streng gesetzt, dass – wie Rudolf und Daalder
richtig erkennen – in ihr unverkennbar die Weinberger-Powell-Doktrin
wieder zum Ausdruck kommt.17
2.3 Außen- und innenpolitische Determinanten der
Zwischenkriegsjahre
Die amerikanischen Präsidenten der Zwischenkriegszeit vermochten es
nicht, an das Beispiel der Operation Desert Storm anzuknüpfen. Aufgrund
der fundamentalen sicherheitspolitischen Veränderungen, die mit dem
Ende des Ost-West-Konflikts einhergingen, der informationstechnologischen Revolution, die eine an Einfluss gewinnende Zivilgesellschaft zunehmend politisieren konnte und einer fortschreitenden Fragmentierung traditioneller internationaler Machtstrukturen, waren sowohl George Bush sen.
als auch Bill Clinton in der Durchsetzung ihrer präsidentiellen Prärogative
in der Außenpolitik vielfach gehindert. Durch diese postsowjetische Diversität verschoben sich auch die ideologischen Grenzen der amerikanischen
Innenpolitik und veränderte sich der politische Diskurs über amerikanische
Interventionspolitik.18 „A generation was coming of age in the Congress
who cared less about foreign affairs, elected by a generation of voters who
cared less, and reported on by a media that paid less attention.”19
15
16
17
18
19
Siehe Delaney, Douglas E.: Cutting, Running, or Otherwise? The US Decision
to withdraw from Somalia, in: Small Wars and Insurgencies 3/2004, S.28-46.
Siehe Keller, Patrick: Von der Eindämmung zur Erweiterung: Bill Clinton und
die Neuorientierung amerikanischer Außenpolitik, Bonn 2008, S.92-95.
Siehe Rudolf: Friedenserhaltung und Friedenserzwingung, S.305-306 sowie
ebd., Fn.29.
Siehe Rosati, Jerel/Twing, Stephen: The Presidency and U.S. Foreign Policy
after the Cold War, in: After the End. Making U.S. Foreign Policy in the PostCold War World, hrsg. von James M. Scott, Durham u.a. 1998, S.29-56.
Halberstam, David: War in A Time of Peace. Bush, Clinton, and the Generals,
New York u.a. 2001, S.75.
252
Alexander Wolf
Militärische Interventionen waren zwischen der Beendigung des „idealistischen Experiments” in Somalia im Mai 1994 und den Terroranschlägen des 11. September 2001 regelmäßig Gegenstand innenpolitischer,
überwiegend parteipolitisch aber auch institutionell motivierter Debatten
zwischen dem Präsidenten und dem U.S. Kongress. Während die öffentliche Meinung und der U.S. Kongress (meist das Repräsentantenhaus) der
überwiegenden Mehrzahl an Interventionen ablehnend gegenüberstand,
muss jedoch auch konstatiert werden, dass der Kongress sich vielfach aus
innenpolitischem und wahltaktischem Kalkül erst nach Interventionsentscheidungen öffentlich gegen diese stellte.20 Die Interventionsentscheidungen der Jahre 1994 bis 2001 müssen daher im Lichte der Strategy of
Engagement and Enlargement und der PDD 25 gesehen werden, die eine
strikte Interessenabgrenzung hinsichtlich der Interventionsziele vornahmen und den Kampfeinsatz amerikanischer Bodentruppen prinzipiell fast
unmöglich machten. Diese Clinton-Doktrin „read more like a statement
of when and why the United States would not intervene militarily than a
delineation of when and why it would.”21
Die Folge war, dass Washington selbst in Fällen wie dem Genozid in Ruanda
ein militärisches Engagement kategorisch ablehnte. Diese mangelnde Bereitschaft, amerikanische Bodentruppen in Konflikten einzusetzen, minderte jedoch auch die abschreckende Wirkung militärischer Drohgebärden
der USA, wie die Fälle Bosnien 1995 oder Kosovo 1999 belegen. Kritiker
haben aufgrund dieser Entwicklung zu Recht das späte Erreichen von
Verhandlungslösungen auf Kosten ziviler Kriegs- und Völkermordopfer
beklagt und größtenteils mit Luftschlägen durchgeführten Interventionen wie der Operation Allied Force 1999 keinen Präzedenzstatus
zugerechnet.22
„The advent of the modern media and … a change in generational attitudes … in a country in which foreign policy hardly mattered”23, beeinflussten die amerikanische Interventionspolitik in den Zwischenkriegsjahren
enorm und führten zu einer immer stärkeren Zurückhaltung der USA hinsichtlich des Einsatzes ihres Militärs. Dieses Muster änderte sich mit den
Terroranschlägen des 11. September 2001 auf New York und Washington
D.C., als die amerikanische Bevölkerung schmerzlich erfuhr, dass „Security is like oxygen: easy to take for granted until you begin to miss it …”24.
20
21
22
23
24
Siehe Rudolf: Friedenserhaltung und Friedenserzwingung, S.325, S.329-330.
Jentleson, Bruce W.: American Foreign Policy. The Dynamics of Choice in the
21st Century, New York u.a. 2000, S.298.
Siehe Daalder, Ivo M./O’Hanlon, Michael E.: „Unlearning the Lessons of Kosovo“, in: Foreign Policy, Herbst 1999, S.128-140.
Halberstam: War in A Time of Peace, S.496.
Nye, Joseph: Understanding International Conflict. An Introduction to Theory and History, New York u.a., 6.Aufl., 2007, S.205.
US-Militärinterventionen im Ausland
253
3. Amerikanische Interventionsdoktrin in der Ära Bush jun.
(2001-2008)
In den Zwischenkriegsjahren hatte amerikanische Interventionspolitik – wie
gezeigt wurde – mehrere Ziele. Das änderte sich mit den Terroranschlägen des
11. September 2001. Dieser „transformatorische Moment„25 hatte immense
Auswirkungen auf das kollektive Bewusstsein der amerikanischen Nation. Zuletzt im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) wurden so viele U.S. Bürger
an einem einzigen Tag getötet und seit dem Krieg von 1812 war die amerikanische Hauptstadt nicht mehr angegriffen worden. Der Angriff auf Pearl Harbor war ein rein militärischer gewesen.26 Die gezielte Tötung von Zivilpersonen erschütterte nicht nur das Gefühl territorialer Sicherheit, sie stellte auch
eine Kampfansage an universelle, pluralistisch-demokratische Werte dar.27
Die Ereignisse des 11. September 2001 veränderten die amerikanische Interventionspolitik schlagartig und radikal. Die sogenannte Bush-Doktrin, die
maßgeblich die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der Vereinigten Staaten
von 2002 prägte (oder auch verkörperte), setzte sich aus folgenden Elementen
zusammen: Erstens stellt die Bekämpfung des internationalen Terrorismus das
alles dominierende Ziel amerikanischer Außen- und Interventionspolitik dar.
Zweitens ist dies kein kurzfristig zu erreichendes Ziel, sondern eine über Jahre
zu sehende Aufgabe.28 Drittens ist es aufgrund der Natur der Bedrohung zwingend notwendig, das vollständige Machtpotenzial der Vereinigten Staaten zu
aktivieren, was nur – und dies ist der zentrale Punkt der NSS von 2002 – bei
Sicherstellung präemptiver Handlungsfreiheit gewährleistet ist. 29
25
26
27
28
29
Nicht namentlich genannter „senior official„; Zitat nachgewiesen in Rudolf,
Peter: Imperiale Illusionen. Amerikanische Außenpolitik unter Präsident
George W. Bush, Baden-Baden 2007, S.7.
Siehe Jentleson, Bruce W.: American Foreign Policy. The Dynamics of Choice
in the 21st Century, New York, 3.Aufl., 2007, S.359f.
Siehe ausführlicher Mayer, Tilman: Patriotismus und Nationalbewusstsein in
den USA seit dem 11. September, in: Politische Studien 406/2006, S.15-23.
Der Krieg gegen den Terrorismus „… will not end until every terrorist group of
global reach has been found, stopped and defeated.“; Präsident George Bush
in: Address Before a Joint Session of the Congress on the United States Response to the Terrorist Attacks of September 11, 20.9.2001, http://www.presidency.
ucsb.edu/ws/index.php?pid=64731&st=&st1=, Stand: 18.2.2009.
„For much of the last century, America‘s defense relied on the cold war doctrines of deterrence and containment, in some cases, those strategies still apply, but new threats also require new thinking. Deterrence – the promise of
massive retaliation agajust nations – means nothing against shadowy terrorist
networks with no nation or citizens to defend. Containment is not possible when unbalanced dictators with weapons of mass destruction can deliver
those weapons on missiles or secretly provide them to terrorist allies. We cannot defend America and our friends by hoping for the best.“ Präsident George Bush, Commencement Address at the United States Military Academy in
West Point, New York, 1.6.2002, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/index.
php?pid=62730&st=&st1=, Stand: 18.1.2009.
254
Alexander Wolf
3.1 Präemption und Unilateralismus: Die Prinzipien der
Bush-Doktrin
Es war die Überzeugung der Bush-Regierung, dass sich die amerikanische
Nation nur dann wieder sicher fühlen könne, wenn der globale Terrorismus, aber auch die Gefahr nuklearer Anschläge von „Rogue states“
vollständig beseitigt werde. Präemptive Interventionen wurden dadurch
legitimiert, dass „defending against terrorism and other emerging 21st
century threats may well require that we take the war to the enemy. …
The best, and in some cases the only defense, is a good offense.“30
Und „security will require all Americans … to be ready for preemtive action
when necessary to defend our liberty and to defend our lives“31. Präemption, die antizipatorische Selbstverteidigung angesichts einer unmittelbar bevorstehenden bedrohlichen Handlung eines anderen Akteurs, war in Bezug
auf terroristische Anschläge auch wenig umstritten. „Law enforcement, covert operations, and intelligence gathering have always sought to preempt
terrorist attacks, and such preemptive activities are well-established in international law. … The debate in the United States has always been about
whether the U.S. government is doing enough to stop terrorists preemptively, not whether it has to wait for them to attack before acting.”32
In Bezug auf „Rogue States” stellte der Kern der sogenannten „new doctrine called preemtion” aber eine gefährliche und radikale Änderung des
außenpolitischen Kurses der Vereinigten Staaten dar.33 Denn die NSS
von 2002 fordert einerseits ein präemptives Handlungsrecht für die USA,
wenn drei Faktoren zusammenfallen: (1) ein „Rogue State” muss (2) Massenvernichtungswaffen besitzen oder versuchen, in deren Besitz zu gelangen und (3) internationale Terrorgruppierungen beherbergen oder unterstützen. Aufgrund der hegemonialen Stellung der USA im internationalen
System erkennt Werner Link in der präemptiven/präventiven Selbstverteidigung zutreffenderweise ein neues ordnungspolitisches Element. „Das
Prinzip der souveränen Gleichheit und Nebenordnung der Staaten, das
das bisherige Staatensystem seit dem Westfälischen Frieden – trotz aller
Relativierung – bestimmt hat und auch der UN-Ordnung ausdrücklich zu30
31
32
33
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld: 21st Century Transformation of U.S.
Armed Forces, National Defense University, Washington D.C., 31.1.2002,
http://www.defenselink.mil/speeches/speech.aspx?speechid=183,
Stand:
18.1.2009.
Präsident George Bush: Commencement Address at the United States Military
Academy in West Point, New York, 1.6.2002.
Daalder, Ivo/Lindsay, James M./Steinberg, James B.: The Bush National Security Strategy: An Evaluation, The Brookings Institution, Policy Brief 109/2002,
S.6.
Siehe Daalder, Ivo/Lindsay, James M.: America Unbound. The Bush Revolution in Foreign Policy, Washington D.C. 2003, S.122.
US-Militärinterventionen im Ausland
255
grunde liegt, soll durch ein System der Über- und Unterordnung abgelöst
werden, in dem die USA (und sie allein) nach eigenem Ermessen entscheiden, ob Staaten ihre Souveränität verwirkt haben und eine amerikanische
Militärintervention zum Regierungssturz und zur besatzungspolitischen
Neuordnung statthaft ist.”34
Zwar waren in der Doktrin nur Nordkorea und der Irak namentlich erwähnt, die Kriterien hätten sich aber je Interpretation auf weitere Staaten
anwenden lassen. Auch wenn man der Auslegung Daalders, Lindsays und
Steinbergs folgt und keine spezifischen Kriterien für präemptive Handlungsfreiheit in der NSS 2002 erkennt35, so wird dennoch ein weiteres
Problem deutlich, auf das Henry Kissinger hinwies: „It cannot be in either
the American national interest or the world’s interest to develop principles that grant every nation an unfettered right of preemption against its
own definition of threats to its security.”36 Bruce Jentleson fügt diesem
Kritikpunkt noch die zwei weiteren Punkte hinzu: die Verletzung internationaler Gesetze und Normen sowie eine fragwürdige Effizienz präemptiver Interventionen.37 Ausschlaggebend für die Kritik an dem Prinzip der
Präemption ist der Umstand, dass es auf ausführliche und gesicherte Erkenntnisse über den tatsächlichen Bedrohungsstand ankommt. Wird eine
präemptive Handlung nicht durch das Vorhandensein einer unmittelbaren Bedrohung ex post legitimiert, so war die Handlung keine Präemption, sondern völkerrechtswidrige Prävention.
Präemtion und Unilateralismus wurden jedoch erst mit der amerikanischen Invasion des Irak 2003 zu einem größeren internationalen Problem. Die amerikanische Intervention in Afghanistan 2001 war noch
mithilfe einer von ihrer Legitimation überzeugten Koalition aus mehr als
170 Staaten geführt worden.38 Zwar wurde bereits zu diesem Zeitpunkt
deutlich, dass die Mission die Koalition bestimme und nicht umgekehrt39,
34
35
36
37
38
39
Link, Werner: Hegemonie und Gleichgewicht der Macht, in: Sicherheit und
Frieden zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hrsg. von Mir A. Ferdowsi, München,
3. aktualisierte und erweiterte Aufl., 2004, S.43-60, hier S.59.
Siehe Daalder/Lindsay/Steinberg: The Bush National Security Strategy, S.6.
Kissinger, Henry: Preemption and the End of Westphalia, in: New Perspectives Quarterly 4/2002, http://www.digitalnpq.org/archive/2002_fall/kissinger.
html, Stand: 23.2.2009.
Internationales Recht wird durch die Missachtung des Art. 51 UN Charta
(Selbstverteidigung nur, „if an armed act occurs“) verletzt. Die Effizienz sieht
Jentleson deswegen gemindert, da Interventionen einer Unmenge an Informationen bedürfen sowie eine zuverlässige Planung voraussetzen, siehe Jentleson: American Foreign Policy, S.371.
Siehe Ebd., S.365.
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Annual Report to the President
and the Congress, 15.8.2002: „… wars are best fought by coalitions of the
willing – but they should not be fought by committee. The mission must determine the coalition. The coalition must not determine the mission.“, S.30.
256
Alexander Wolf
die Aussage Präsident Bushs, „Either you are with us, or you are with the
terrorists”40, entwickelte aber erst während der konstruierten Rechtfertigung des Irakkriegs 2002/03 ihre volle Wirkungskraft und spaltete die
transatlantische Gemeinschaft und ihre Institutionen in Befürworter und
Gegner eines Regimesturzes.
3.2 „Mission accomplished:
Unlearning the lessons of Mogadishu“
Der Krieg gegen den Terror war nicht alleine aufgrund des amerikanischen Sicherheitsbedürfnisses geführt worden, sondern ebenso aufgrund
des Anspruchs, der Freiheit zu seinem Recht zu verhelfen.41 Denn ganz
wie ihre ideologische Verwandtschaft der liberalen Humanitaristen ging
es den neokonservativen Kreisen der Bush-Regierung um die Durchsetzung einer normativ höherwertigen Weltordnung, in der die USA ihrem
Exeptionalismus entsprechen müssen.42
Nachdem die Taliban-Regierung und deren al-Qaida-Kämpfer mithilfe afghanischer Warlords vertrieben waren, spätestens als Präsident Bush auf
der USS Abraham Lincoln landete und die Kampfhandlungen im Irak für
abgeschlossen erklärte, offenbarte sich das Problem, dass scheinbar keine
oder nur unzureichende Planungen für eine Besatzungszeit angestellt worden waren.43 Warnungen, wie die des Heereschefs General Eric Shinseki,
dass mehrere hunderttausend Soldaten zur Stabilisierung und Sicherung
40
41
42
43
Präsident George Bush: Address Before a Joint Session of the Congress on the
United States Response to the Terrorist Attacks of September 11, 20.9.2001.
Stellvertretender Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, Interview on NBC
Meet the Press, 27.6.2003: „… the battle to secure the peace in Iraq is now
the central battle in the global war on terror, and those sacrifices are going
to make not just the Middle East more stable, but our country safer … We‘re
pursuing and finding leaders of the old regime who will be held to account
for their crimes. The transition from dictatorship to democracy will take time,
but it is worth every effort. Our coalition will stay until our work is done.
And then we will leave, and we will leave behind a free Iraq.“, http://www.defenselink.mil/transcripts/transcript.aspx?transcriptid=2909, Stand: 18.1.2009.
Siehe Smith, Tony: Wilsonianism after Iraq, in: The Crisis of American Foreign
Policy, hrsg. von G. John Ikenberry, Thomas J. Knock, Anne-Marie Slaughter
u.a., Princeton 2008, S.53-88. Zu neokonservativer Politik siehe umfassend
Keller, Patrick: Neokonservatismus und amerikanische Außenpolitik. Ideen,
Krieg und Strategie von Ronald Reagan bis George W. Bush, Paderborn 2008.
Vizepräsident Dick Cheney, Interview on NBC Meet the Press 14.9.2003: „My
belief is we will, in fact, be greeted as liberators.“, http://www.msnbc.msn.
com/id/3080244/, Stand: 18.1.2009; Stellvertretender Verteidigungsminister
Paul Wolfowitz, Interview on NBC Meet the Press, 27.6.2003: „There‘s a basic
point to make about planning that people need to understand. You can‘t write
a plan for a military situation, and this is basically a military situation. That is
like a railroad time table. There are too many things that you learn as you go.“
US-Militärinterventionen im Ausland
257
des besetzten Irak notwendig seien, wurden von Regierungsmitgliedern
als Fehleinschätzungen öffentlich verworfen.44
Hier zeigte sich, dass die „Bush-Doktrin” Interventionen zwar aufgrund
(neokonservativ ausgelegter) vitaler Interessen durchführte, im Gegensatz
zur Powell-Doktrin aber keinerlei Exit-Strategie beinhaltete. Als sich an
den Interventionsorten gewaltsame Aufstände gegen die amerikanischen
Besatzungstruppen entwickelten und ein effektiver Wiederaufbauprozess
damit verhindert war, wurde deutlich, dass die „Shock and Awe”-Taktik
des amerikanischen Militärs zwar geeignet ist, einen militärischen Gegner
durch schnelle und harte Luftschläge gleich zu Beginn der Kampfhandlungen zu lähmen und seiner Moral zu berauben, ein Management des
besetzten Gebietes mit dieser Fähigkeit jedoch keinesfalls zu bewerkstelligen war. Denn für einen extern herbeigeführten Staatsaufbau ist laut
Carlo Masala die Akzeptanz der Besatzungstruppen durch die Zivilbevölkerung, ein Umfeld „wohlgesonnener” Nachbarstaaten sowie ein nur
temporärer Besatzungszustand und Souveränitätsverlust entscheidend.45
Solchen Punkten hatte die Bush-Regierung vor den Interventionen wenig
Gewicht beigemessen, weswegen die unilateral-präemptive NSS von 2003
keinen Weg aus diesem Dilemma aufzeigte.
Folglich musste die Bush-Regierung politische und operationale Antworten auf die prekären Sicherheitslagen in Afghanistan und im Irak finden.
Mit der NSS von 2006 wurde der unilaterale, präemptive Charakter der
amerikanischen Außenpolitik revidiert und verstärkt auf diplomatische
und multilaterale Initiativen gesetzt, auch um die notwendige Unterstützung verbündeter Nationen zu erhalten. Das neokonservative Sendungsbewusstsein und die Ziele der Verbreitung von Demokratie, Freiheit und
Menschenrechten blieben jedoch weiterhin gültig. Ivo Daalder ist zuzustimmen, wenn er bemerkt, dass die NSS von 2006 sich demnach nicht
mehr viel von der Strategy of Engagement and Enlargement der Clinton
Regierung unterscheidet.46
Auf operationaler Ebene wurde 2007 unter der Federführung des heutigen
Kommandeurs des Central Command General David Petraeus das erste
44
45
46
Stellvertretender Verteidigungsminister Paul Wolfowitz: „the notion that it
will take several hundred thousand U.S. troops to provide stability in postSaddam Iraq, [is] wildly off the mark.“, Department of Defense Budget Priorities for Fiscal Year 2004, Hearing before the House Committee on the Budget,
S.8, http://frwebgate.access.gpo.gov/cgi-bin/getdoc.cgi?dbname=108_house_
hearings&docid=f:85421.pdf, Stand: 23.2.2009.
Siehe Masala, Carlo: Managing Protektorate: Die vergessene Dimension, in:
Politische Studien 411/2007, S.49-55.
Siehe Daalder, Ivo: Statement on the 2006 National Security Strategy, http://
www.brookings.edu/opinions/2006/0316diplomacy_daalder.aspx,
Stand:
18.1.2009.
258
Alexander Wolf
„counterinsurgency field manual„ seit dem Vietnamkrieg ausgearbeitet.
Fick und Nagl fassen die Hauptaussagen folgend zusammen: „Focus on
protecting civilians over killing the enemy. Assume greater risk. Use minimum, not maximum force.“47 Dass diese neuen Maßgaben, als eine fast
totale und weiterhin umstrittene Neuformulierung amerikanischer Militärdoktrin, im Rahmen des „Surge”, der massiven Truppenverstärkung
für die Stabilisierung der Sicherheitslage im Irak verantwortlich waren,
ist ebenso zutreffend wie die Tatsache, dass die gleiche Taktik nicht unbedingt in Afghanistan zum Erfolg führen wird.48
4. „Smart-Power“:
Inhaltliche Kontinuität bei Wandel des Stils?
Im Wahlkampf vermittelte sich Beobachtern der Eindruck, dass Barack
Obama „den Einsatz militärischer Macht … nicht auf den Schutz der amerikanischen Bevölkerung und vitaler Interessen in Fällen eines tatsächlichen oder unmittelbar bevorstehenden Angriffs beschränken [will]; über
die Selbstverteidigung hinaus sollte der Einsatz militärischer Gewalt auch
im Dienste ‚gemeinsamer Sicherheit‘ erwogen werden, die der globalen
Stabilität zugrunde liege. Als Maxime für den Einsatz der Streitkräfte jenseits der Selbstverteidigung fordert er, dass in diesen Fällen alle Anstrengungen unternommen werden sollten, die Unterstützung und Teilnahme
anderer Staaten zu gewinnen.“49
Washington hat mit den Interventionsfolgen in Afghanistan und dem Irak
die Grenzen ihrer vormals grenzenlos scheinenden Macht erfahren und
ist sich mittlerweile bewusst, dass „America cannot meet the threats of
this century alone, but the world cannot meet them without America.”50
Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass die USA ihre grundlegenden außenpolitischen Ziele verändern werden: Die Förderung von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand für das amerikanische Volk als Selbstzweck sowie als
47
48
49
50
Fick, Nathanial C./Nagl, John A.: Counterinsurgency Field Manual. Afghanistan Edition, in: Foreign Policy Jan.-Feb./2009, S.42-47, hier S.43.
Ebd., S.43-44.
Rudolf, Peter: US-Außenpolitik und transatlantische Sicherheitsbeziehungen
nach den Wahlen, SWP-Aktuell Juni/2008, S.2.
Präsident Barack Obama Address to Joint Session of Congress, 24.2.2009, http://
www.whitehouse.gov/the_press_office/Remarks-of-President-Barack-ObamaAddress-to-Joint-Session-of-Congress/, Stand: 25.2.2009; Auch Vizepräsident
Joseph R. Biden in seiner Rede auf der 45. Münchner Sicherheitskonferenz,
7.2.2009: „America needs the world just as the world needs America.“, http://
www.securityconference.de/konferenzen/rede.php?menu_2009=&menu_kon
ferenzen=&sprache=en&id=238&, Stand: 19.2.2009.
US-Militärinterventionen im Ausland
259
Grundlage für eine gerechte und stabile internationale Ordnung51 werden
auch in Zukunft die außenpolitische Agenda der Vereinigten Staaten bestimmen.
Zur Durchsetzung dieser Ziele wird die Obama-Regierung verstärkt auf
„Smart Power”, eine Mischung aus militärischer „Hard Power” und diplomatischer „Soft Power” setzen. Dieser Ansatz könnte sich zur Grundlage einer neuen Doktrin entwickeln und basiert auf den folgenden drei
Prinzipien:52
− Erstens, bedingt Amerikas Ansehen in der Welt die Sicherheit und das
Wohlergehen der USA,
− zweitens, kann gegenwärtigen Herausforderungen nur mit fähigen
und willigen Partnern begegnet werden und
− drittens, können zivile Instrumente die Legitimität, Effektivität und
Nachhaltigkeit amerikanischen Handelns steigern.
Barack Obama steht vor unglaublichen innen- und außenpolitischen Herausforderungen. Dass er bezüglich militärischer Interventionen weiterhin
auf einen konstanten „rally-round-the-flag” Effekt in der amerikanischen
Öffentlichkeit hoffen kann, scheint äußerst unwahrscheinlich. Denn obwohl weiterhin ein relativ großes Interesse der Bevölkerung für außenpolitische Angelegenheiten, insbesondere für die Terrorismusbekämpfung
besteht, sagen 71 Prozent aller Amerikaner, dass Präsident Obama sich
auf innenpolitische Belange konzentrieren solle, im Gegensatz zu nur elf
Prozent, die eine außenpolitische Orientierung befürworten.53 Will der
Präsident nicht schon zu Beginn seiner Amtszeit seine innenpolitischen
Ziele gefährden, so benötigt er weiterhin die Unterstützung der öffentlichen Meinung, vor allem aber ist er auf konstruktive Beziehungen zur
demokratischen Kongressmehrheit angewiesen, die überwiegend eine
Ausweitung diplomatischen Vorgehens anstatt militärischer Interventio51
52
53
Diese Ziele formuliert das als „Blaupause„ für die NSS der Regierung Obama
geltende Papier „Strategic Leadership„: „Our core goals today are the same
ones envisaged by our founding fathers: the resolute pursuit of security, liberty, and prosperity both for our own people and as the basis for a just and
stable international order„, siehe Slaughter, Anne-Marie/Jentleson, Bruce W./
Daalder, Ivo H. u.a.: Strategic Leadership. Framework for a 21st Century National Security Strategy, Washington D.C. 2008.
Siehe Armitage, Richard L./Nye, Joseph S.: Implementing Smart Power: Setting
An Agenda for National Security Reform, http://foreign.senate.gov/testimony/2008/NyeTestimony080424a.pdf, S.3, Stand: 1.4.2009.
Umfrage des Pew Research Center: On Obama‘s Desk: Economy, Jobs Trump
All Other Policy Priorities, 22.1.2009, http://pewresearch.org/pubs/1087/economy-jobs-top-public-priorities-2009, Stand: 19.2.2009.
260
Alexander Wolf
nen im Kampf gegen den Terror befürwortet.54 Für den Fall jedoch, dass
Washington beispielsweise einen nuklear bewaffneten Iran oder eine weitere Destabilisierung und fundamentalislamische Radikalisierung des Nuklearwaffenstaates Pakistan nicht akzeptieren kann, können militärische
Interventionen prinzipiell nicht ausgeschlossen werden. Ivo Daalder hat
Recht, wenn er anmerkt, „some situations will require the threat or use
of military force – and when they do, the use of force early is likely to be
more effective and less costly than waiting until it is a last resort. Preemption, in other words, is here to stay.”55
In der Interventionspolitik Präsident Obamas wird eine Kontinuität sowohl zum liberalen Internationalismus der Clinton-Jahre als auch zur NSS
von 2006 zu erwarten sein. Dies mag möglicherweise allzu idealistische
Erwartungen vieler Unterstützer Barack Obamas diesseits und jenseits des
Atlantiks enttäuschen.56 Diese militärische Zurückhaltung der USA muss,
um gegenüber der Vielzahl an sicherheitspolitischen Herausforderungen
Wirksamkeit entwickeln zu können, zwei Voraussetzungen erfüllen. Erstens muss das „Smart Power”-Konzept mit den Maßgaben der PowellDoktrin korreliert werden, um somit über die Interessenbindung und die
Exitstrategie die Unterstützung der amerikanischen Öffentlichkeit und
des Kongresses sicherzustellen sowie über die entsprechende materielle
und operationale Ausgestaltung gleichzeitig die Erfolgschancen potenziell
notwendiger Interventionen zu steigern. Und zweitens – dieser Punkt sollte mittlerweile selbstverständlich sein – müssen die Verbündeten der USA,
insbesondere die im Afghanistaneinsatz beteiligten Staaten, ihre eigenen
Anstrengungen vor allem im zivilen Bereich ausweiten, um durch ein gerechtes „burden sharing” Washington zu unterstützen. Das ist kein Gebot
des Anstands und auch keine Steigerung des Multilateralismus zu einem
„Zweck an sich”. Dieser Zwang zur Kooperation ist einzig der Tatsache
geschuldet, dass es im 21. Jahrhundert keine nationalstaatliche, sondern
nur noch eine gemeinsame, vernetzte Sicherheit aller Staaten geben kann.
Der potenziell fatale Charakter mancher Sicherheitsrisiken des globalisierten Nuklearzeitalters erfordert jedoch auch eine Akzeptanz und rechtliche
Verregelung des weiterhin umstrittenen Prinzips der Präemption.
54
55
56
In einer Umfrage des Pew Research Center von Februar 2009, ob eher militärische Operationen oder diplomatisches Vorgehen geeignet seien, terroristischen Gefahren vorzubeugen, sprachen sich 57 % der Demokraten für diplomatisches Vorgehen, 28 % für militärisches Vorgehen, 15 % für beide/keines
aus; „Democrats favor increased diplomatic efforts over expanded military
operations.“, siehe: Obama Faces Familiar Divisions Over Anti-Terror Policies,
18.2.2009, http://pewresearch.org/pubs/1125/terrorism-guantanamo-torturepolling, Stand: 19.2.2009.
Daalder, Ivo (Hrsg.): Beyond Preemtion. Force and Legitimacy in a Changing
World, Washington 2007, S.16.
Siehe Brose, Christian: The Making of George W. Obama,in: Foreign Policy
Jan.-Feb./2009, S.53-55.
US-Militärinterventionen im Ausland
261
Richard Haass ist zuzustimmen, wenn er schreibt, dass die Fragen, „wann”,
„wo” und „wie” militärisch zu intervenieren sei, immer auch zwangsläufig die Frage nach den amerikanischen Interessen weltweit berührt sei
und somit auch die Frage, was die USA bereit sind, für deren Wahrung
zu tun.57 Auf die Fragen, „wann”, „wo” und „wie” zu intervenieren sei,
kann die Powell-Doktrin überzeugende Antworten bieten. Die Frage nach
den handlungsauslösenden Interessen ist aber eine politische Frage, über
die sich die jeweils betroffene Gesellschaft verständigen muss. Angesichts
globaler sicherheitspolitischer Herausforderungen müssen jedoch globale
Lösungen gefunden werden.
57
Siehe Haass, Richard N.: Intervention. The Use of American Military in the
Post-Cold War World, Washington D.C., überarbeitete Aufl., 1999, S.2.
Dollar und Euro im Umbruch
des Weltwährungssystems
Jens van Scherpenberg
„… some extraordinary reversals have happened. Washington is lecturing the
world on the dangers of fiscal prudence. The IMF is begging Asia for money.
And Mr Brown is prioritising European unity. These are strange times indeed.“
Alan Beattie, Financial Times1
1. Erschütterung alter Gewissheiten
Was als Subprime-Krise in den USA begann und sich über eine Krise des
globalen Finanzsystems zu einer Weltwirtschaftskrise fortentwickelte, die
wenn nicht in ihrer Tiefe, so doch in ihrer globalen Reichweite die Krise
von 1930 übertrifft, das entwickelt sich im Jahr 2009, dem dritten Krisenjahr, nicht nur zu einer Kredit- und Währungskrise ganzer Staaten fort. Die
Krise wird auch die monetären Kräfteverhältnisse zwischen den großen
Weltwirtschaftsmächten verändern. Letztlich ist zu fragen, ob die Stellung
des US-Dollar als Welt-, Leit- und Reservewährung und damit als das neben der US-Militärmacht wichtigste hegemoniale Instrument einer von
den USA geführten Weltordnung die gegenwärtige Krise überstehen wird.
Noch 2007 schien es kaum vorstellbar, dass der Euro – trotz seiner Wechselkursstärke gegenüber dem Dollar – dessen Stellung als Weltreservewährung ernsthaft in Frage stellen könnte. Und auch 2009 scheint wenig für
einen solchen Rollenwechsel zu sprechen. Das liegt allerdings weniger
an der Unerschütterlichkeit des Vertrauens in den US-Dollar als an der
Universalität der Krise und der hohen Dynamik ihrer Entfaltung, die es
bislang nicht erlauben, klare Gewinner und Verlierer unter den großen
Wirtschafts- und Währungsmächten auszumachen.
Zwei Aspekte sind allerdings evident. Erstens lässt die Krise die Stärken
wie Schwächen der einzelnen großen Währungen, namentlich des USDollar und des Euro, aber auch des britischen Pfund, des japanischen Yen
und des chinesischen Renminbi besonders deutlich zutage treten. Und
zweitens scheinen die politischen Führer der großen Wirtschaftsmächte
1
Beattie, Alan: The gap of twenty, in: Financial Times, 13.3.2009, www.FT.com,
Stand: 17.3.2009.
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
263
sich der Risiken wie der Chancen einer tiefgreifenden Veränderung der
internationalen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse bewusst zu sein: Sie
setzen in ihren Konjunkturanreiz- und Subventionsprogrammen zunehmend auf Maßnahmen, die darauf berechnet sind, den eigenen Wirtschaftsstandort zu Lasten anderer gestärkt aus der Krise hervorgehen zu
lassen. Der Wirtschaftsnationalismus im Sinne Gilpins,2 das Setzen auf
den relativen Vorteil gegenüber den anderen, scheint in der Krise gegenüber dem Wirtschaftsliberalismus, der Kooperation zur allseitigen Schadensminimierung, die Oberhand zu gewinnen.
Zwar wird von vielen Politikern eine verstärkte internationale Kooperation nicht nur bei der (Re-)Regulierung der Finanzmärkte, sondern auch in
der Währungspolitik gefordert. Doch muss angesichts des in der Krise manifest werdenden Endes der hegemonialen institutionellen Ordnung erst
eine neue Basis für internationale Kooperation gefunden werden. Ob dies
in den Konferenzen auf IWF-Ebene und im Rahmen der G20 (die immer
mehr den Platz der G7 als Verhandlungsort für globale Steuerungsversuche
einnimmt) gelingt, muss sich zeigen. Sicher scheint allerdings jetzt schon
zu sein, dass die bisherige Dollar-dominierte Weltwährungsordnung und
der Internationale Währungsfonds als von den USA dank Sperrminorität
von 17% und von den EU-Staaten dank ihrer üppigen Stimmenquote von
32% kontrollierte globale Leitinstitution der internationalen Finanzordnung kaum unversehrt aus der Krise hervorgehen werden.
Als Grundlage aller Überlegungen dazu, wie die beiden führenden Weltwährungen Dollar und Euro aus der Krise herauskommen werden, sind
zunächst die sehr unterschiedlichen Positionen darzustellen, von denen
aus sie in die Krise eingetreten sind. Und angesichts der säkularen Bedeutung der gegenwärtigen Krise ist es angebracht, dabei etwas weiter auszuholen zu den großen währungspolitischen Brüchen der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Der darauffolgende Abschnitt beleuchtet die Situation
von Dollar und Euro in der Krise, der abschließende Abschnitt gilt den
Interessenlagen und daraus abzuleitenden Perspektiven für die transatlantische und internationale wirtschafts- und währungspolitische Koordination bei der Krisenbewältigung.
2. Die Ära der Dollardominanz
Für die USA war die Stellung des Dollar als der dominanten Weltwährung
seit der Errichtung des Währungsregimes von Bretton Woods im Jahr
1944, mit der die in der Weltwirtschaftskrise faktisch verloren gegangene
Leitwährungsposition des Britischen Pfund auch formell auf den Dollar
2
Gilpin, Robert: The Political Economy of International Relations, Princeton
1987, S.31ff.
264
Jens van Scherpenberg
überging, das wirtschaftliche Kernelement ihrer Hegemonie. Am 15. August 1971 jedoch kündigte die Regierung Nixon angesichts des zunehmenden Drucks im Ausland umlaufender Dollarforderungen die garantierte Goldparität von 35 Dollar, die Einlösungsgarantie des Dollar gegen
Gold, und damit das Kernstück des Bretton Woods Regimes fester Wechselkurse auf. Die Welt-Leitwährung – und mit ihr alle anderen bislang
an sie gebundenen Währungen – wurde zu einer „fiat currency“, einer
Währung, deren Wert und damit Tauglichkeit als Wertaufbewahrungsmittel allein in der Kreditwürdigkeit des sie emittierenden Staates begründet
liegt. Das Bretton Woods System fester Wechselkurse wurde im Februar
1973 durch ein Regime flexibler Wechselkurse abgelöst. Damit allerdings
ging bekanntlich die Rolle des US-Dollar als dominanter internationaler
Leit- und Reservewährung keineswegs zu Ende, im Gegenteil! Es ist einer
der faszinierendsten Aspekte der Währungsgeschichte der letzten 50 Jahre, mit welcher Leichtigkeit der US-Dollar seine Dominanz auch über das
Ende des Bretton Woods Regimes hinaus fortsetzen, ja von den Beschränkungen dieses Regimes befreit sogar ausbauen konnte.
Sei es durch politische Koinzidenz oder als Ergebnis weitsichtiger politischer Planung:3 Die Vervierfachung des Ölpreises während der ersten
Ölkrise vom Herbst 1973 bewirkte eine enorme Zunahme der internationalen Nachfrage nach Dollar als der Währung, in der Öl gehandelt
wurde. Diese Nachfrage wurde vor allem durch die großen US-Banken
als Kreditgeber befriedigt, die sich zu den führenden Finanzinstitutionen
für das „Petrodollarrecycling“, die Rückführung der drastisch gestiegenen
Dollarerlöse der Öl exportierenden Länder in die internationalen Kapitalmärkte, entwickelten.
Der hohen, in wachsendem Maße über Dollarkredite befriedigten internationalen Nachfrage nach Dollar als Transaktions- wie als Anlagewährung
kam nun entgegen, dass die US-Handelsbilanz 1971 und die gesamte Leistungsbilanz erstmals einen negativen Saldo aufwiesen, der für die Handelsbilanz seit 1976, für die Leistungsbilanz seit 1982 permanent geworden ist, mit stark zunehmender Tendenz.4
3
4
Die Ereignisse des Schlüsseljahres 1973 sind Gegenstand mannigfacher Publikationen von wissenschaftlichen Analysen bis hin zu Verschwörungstheorien, die sich vor allem um das informelle Zusammentreffen namhafter
Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft der westlichen Industriestaaten
in Saltsjöbaden in Schweden im Mai 1973 drehen. Vgl. dazu u.a. Engdahl,
William: A Century of War. Anglo-American Oil Politics and the New World
Order, revised edition, London 2004. Engdahl ist ein gutes Beispiel dafür, wie
aufbauend auf einer großenteils soliden und instruktiven Faktenbasis durch
Hinzufügen einiger unbewiesener Behauptungen und Andeutungen dem Lauf
der Geschichte ein verschwörungstheoretischer Hintersinn angedichtet wird.
Der Saldo der US-Leistungsbilanz erreichte nur 1991 noch einmal einen knapp
positiven Wert, dank der Tributzahlungen Japans, Deutschlands, Kuwaits und
anderer Golfstaaten im Zusammenhang mit dem Golfkrieg von 1991.
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
265
Die zweite Ölkrise von 1979/80 und die von dem 1979 ins Amt berufenen
neuen Fed-Chef Paul Volcker5 implementierte Hochzinspolitik zur Inflationsbekämpfung gaben der internationalen Nachfrage nach Dollar zusätzlichen Auftrieb. Vor allem der Zufluss an privaten Direkt- und Portfolioinvestitionen in die USA stieg stark an. Die geld- und währungspolitische
Koordination im Rahmen der G7, vor allem im Plaza-Abkommen von
1985 zur Absenkung des Dollarkurses und dem Louvre-Abkommen von
1987 zu dessen Stabilisierung, tat ein Übriges, die Kapitalzuflüsse in die
USA zu sichern. In diesen beiden Abkommen konnten die USA noch einmal erfolgreich erheblichen Koordinationsdruck auf ihre wichtigsten Alliierten, die europäischen G7-Staaten mit Deutschland an der Spitze und
vor allem Japan ausüben.6 Der daraus resultierende Überschuss der Kapitalbilanz7 erleichterte es der Regierung von Ronald Reagan (1981-1988),
gleichzeitig die Steuern drastisch zu senken und die staatlichen Ausgaben
vor allem für Verteidigung massiv anzuheben, sodass der Bundeshaushalt
tief ins Minus geriet und es erstmals zu der Konstellation des „Twin Deficit“, des Zwillingsdefizits von Budget und Leistungsbilanz, kam, das auch
die Regierungszeit von George W. Bush zwanzig Jahre später prägen sollte.
In der Tat muss die Phase marktliberaler Reformen, die unter Reagan angestoßen wurde, als Auftakt der weltweiten Liberalisierung der Kapitalmärkte nach dem Ende des Kalten Krieges in den 90er-Jahren unter dem
Leitmotiv der „Globalisierung“ gesehen werden.
Die Abwicklung der Finanzkrise asiatischer Länder und Russlands 1997/98
unterstreicht diesen Prozess, festigte sie doch zunächst die globale Dominanz des US-Dollar und des amerikanischen Finanzmarktes. Nicht nur
war er von der Krise weitgehend ungeschoren geblieben8 und bestätigte
damit den Ruf der USA als des letzten wirklichen „sicheren Hafens“ in
stürmischen Zeiten der Weltwirtschaft. Die Reaktion der asiatischen Länder, voran Chinas, auf die Krise – der Aufbau enormer vor allem in Dollar
5
6
7
8
Der mittlerweile über 80-jährige Paul Volcker ist derzeit wieder einer der wichtigsten Wirtschaftsberater von Barack Obama.
Die in diesem Zusammenhang vor allem von Japan auf Verlangen der USA
betriebene Niedrigzinspolitik trug wesentlich zur Aufblähung und zum anschließenden Platzen der japanischen „Bubble“ Anfang der 90er-Jahre bei.
Dazu trugen auch die enormen offiziellen Kapitalexporte aus lateinamerikanischen Ländern infolge der ihnen auferlegten Sanierungsprogramme nach der
Schuldenkrise von 1982 ebenso wie die Kapitalflucht aus diesen Ländern bei.
Die Rettung des wegen Fehlspekulationen bei Zinsderivaten vom Zusammenbruch bedrohten amerikanischen Hedge Funds LTCM durch eine von der Fed
kurzfristig am 23.9.1998 zusammengetrommelte Rettungsaktion von neun
amerikanischen und fünf europäischen privaten Großbanken der westlichen
Industrieländer, die 3,75 Mrd. $ als Eigenkapitalverstärkung bereitstellten,
blieb hinsichtlich des US-Finanzmarktes bis zur Finanzkrise von 2007 die Ausnahme – und der Betrag des Stützungskredits mutet aus heutiger Sicht fast als
„peanuts“ an.
266
Jens van Scherpenberg
gehaltener Währungsreserven – erhöhte zunächst zusätzlich die Nachfrage nach rentablen Dollaranlagen. Diese wurde mit den steigenden Ölpreisen ab 2004 zusätzlich verstärkt durch die wachsenden Dollarüberschüsse
der arabischen Öl exportierenden Staaten. Aus US-Sicht erschien diese
Konstellation als ein Überangebot von in Dollar als der maßgeblichen
Reservewährung gehaltenen globalen Ersparnissen – ein „global savings
glut“, wie ihn der frühere Ökonomieprofessor der Princeton University
und heutige Vorsitzende des Federal Reserve Board, Ben Bernanke, noch
2006 in einer Rede als Mitglied des Federal Reserve Board charakterisierte. Dieses ausländische Ersparnis-Überangebot suche zwangsläufig nach
rentablen Investments in den USA und finanziere damit zugleich, quasi
als Nebeneffekt, das Defizit der Leistungsbilanz. Sollten sich aus einem
solchen Zustrom „asset bubbles“, also spekulative Übertreibungen bei bestimmten Vermögenswerten, ergeben, so sei es nicht Aufgabe der Zentralbank, diese Spekulationsblasen durch geldpolitische Maßnahmen zum
Platzen zu bringen.9
Diese Sichtweise passte nicht nur nahtlos zur marktliberalen Wirtschaftspolitik der Regierung von George W. Bush.10 Sie reflektierte auch die Finanzmarktpraxis einer immer stärkeren spekulativen Überhöhung des
Angebots neuer derivativer Finanzprodukte, mit dem amerikanische Finanzinstitutionen den globalisierten Kapitalmarkt bis 2007 dominierten
– und dem Dollar so seine weltweite Attraktivität als Reservewährung sicherten. Die großen amerikanischen Geschäfts- und Investmentbanken
entwickelten angesichts der durch den Kapitalzustrom in die USA niedrigen Zinsen auf Standardanlagen wie US-Treasuys immer neue Finanzprodukte mit höheren Erträgen (und Risiken), die in großem Stil an europäische Banken verkauft und im Folgenden von diesen imitiert wurden. Sie
vermittelten den neuen Großakteuren der internationalen Finanzmärkte,
den Staatsfonds Asiens und der Golfstaaten profitable Anlagemöglichkeiten, etwa in den großen Private Equity Funds. Und sie trugen auf diese
Weise wesentlich bei zu dem enormen Liquiditätsschub, der Banken und
Unternehmen in vielen aufstrebenden Staaten die zinsgünstige Verschuldung auf den internationalen Kapitalmärkten gestattete. In diesem Sinne
waren sie die „masters of the universe“, wie sich die Investmentbanker
selbst nur halb im Scherz nannten.
9
10
Bernanke, Ben: The Global Saving Glut and the U.S. Current Account Deficit, Rede gehalten vor der Virginia Association of Economics, Richmond,
Virginia, am 10.3.2005, http://www.federalreserve.gov/boarddocs/speeches/2005/200503102/, Stand: 17.3.2009.
George W. Bush hat sich, was die Wirtschafts- und Finanzpolitik seiner Regierung
anbetraf, explizit als Vollstrecker des Erbes von Reagan gesehen, ermächtigt durch
die republikanische Mehrheit im Kongress, die Reagan versagt geblieben war. Vgl.
dazu van Scherpenberg, Jens: Der geborgte Aufschwung. Die wirtschaftspolitische
Bilanz der Regierung Bush 2001-2004, SWP-Studie S 40, Berlin 2004.
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
267
Die amerikanische Volkswirtschaft profitierte von der dominanten Stellung des Dollar doppelt: zum einen durch den Seigniorage-Effekt – den
Zinsgewinn aus den vom Federal Reserve System in Umlauf gebrachten
Dollarbeständen, die einem zinslosen Kredit der Abnehmer an die Fed
und – soweit sie im Ausland umlaufen – an die amerikanische Volkswirtschaft entsprechen; zum anderen durch das sogenannte „exorbitant privilege“ der USA – ihre Fähigkeit, sich als die „Banker der Welt“ ständig
durch Dollaremission kurzfristig zu geringsten Zinskosten im Ausland zu
verschulden und zugleich ihrerseits mit ihren Dollar hochprofitable Investments im Ausland zu tätigen.11
Dass die Kapitalimporte, die das amerikanische Leistungsbilanzdefizit finanzierten, im Unterschied zu den 1990er-Jahren immer weniger durch
einen Importüberschuss privaten Anlagekapitals, sondern zunehmend,
seit 2006 schließlich zu über zwei Dritteln, durch Dollaranlagen ausländischer Zentralbanken finanziert wurden, erschütterte diese Sichtweise
nicht. Dieses neue Arrangement gab allerdings Anlass zum Versuch, die
darin zum Ausdruck kommende Interdependenz, ja Symbiose auf unmittelbar staatlicher Ebene vor allem zwischen der chinesischen Zentralbank
als der größten Käuferin von US-Schatzanleihen und den USA zu analysieren. In einem vielzitierten Beitrag wurde dieses quasi-politische Arrangement, zu dem die einseitige Bindung des chinesischen Renminbi an
den US-Dollar gehörte,12 als „Bretton Woods II“-System bezeichnet.13 Allerdings ist dies, wie zu zeigen sein wird, wenig passend, da das als „Bretton Woods II“ charakterisierte System eben nicht wie „Bretton Woods“
ein hegemoniales Regime bezeichnet, sondern eher eine delikate politökonomische gegenseitige Abhängigkeit zwischen China und den USA.
Wie bereits 2005 von Nouriel Roubini, dem späteren „Dr. Doom“ der Fi11
12
13
Das zeigt sich unter anderem daran, dass der Saldo der Bilanz der Kapitaleinkommen bis 2007 noch immer knapp positiv war, obwohl die USA längst zum
größten Schuldner der Welt geworden waren, mit einer Nettoverschuldung
gegenüber dem Ausland von 2,5 Billionen Dollar. Siehe Bureau of Economic
Analysis, International Investment Position at Yearend 2007, www.bea.gov.
Die Dollarbindung des Renminbi wurde von China allerdings zum 1.7.2005
zugunsten der Bindung an einen Währungskorb aufgegeben. Dessen Zusammensetzung wurde – wie in den meisten anderen Staaten mit WährungskorbWechselkursbindungen (pegs) – nicht veröffentlicht. Es ist aber davon auszugehen, dass in dem betreffenden Korb, ähnlich wie für die Zusammensetzung
der Währungsreserven Chinas geschätzt wird, der Dollar ein Gewicht von 70%
hat, während die übrigen 30% überwiegend auf den Euro und in geringerem
Maße (unter 10%) auf den japanischen Yen entfallen. Seit Chinas Übergang
zu einer Korbbindung hat der Renminbi gegenüber dem Dollar um etwa 25%
ausgewertet.
Dooley, Michael P./Folkerts-Landau, David/Garber, Peter: An Essay on the
Revived Bretton Woods System, NBER Working Paper 10332, March 2004,
http://www.nber.org/papers/w9971 und http://www.frbsf.org/economics/
conferences/0502/w9971.pdf, Stand: 6.3.2009.
268
Jens van Scherpenberg
nanzkrise, kritisch antizipiert wurde,14 zeigt sich diese nicht-hegemoniale
gegenseitige Abhängigkeit nun deutlich in der Krise.
3. Der Aufstieg des Euro
Die Errichtung der Europäischen Währungsunion mit dem Euro als einheitlicher Währung war nicht nur ein großer Schritt im europäischen
Integrationsprozess. Sie war auch unmittelbare Folge der disruptiven
Wirkungen auf den europäischen Integrationsprozess, die seit den 1970erJahren immer wieder von den Wechselkursschwankungen des Dollar gegenüber der Deutschen Mark als europäischer Leitwährung ausgegangen
waren, Schwankungen, die ihre Ursache vor allem im „bening neglect“
der internationalen makroökonomischen Wirkungen der amerikanischen
Wirtschaftspolitik hatten. Dem berüchtigten Spruch des Finanzministers
von Richard Nixon, John Connally, aus dem Jahr 1971, dem Jahr der Aufkündigung der Goldparität des Dollar, an die Adresse der Europäer – „The
dollar is our currency and your problem“ – sollte endlich der Boden entzogen werden.
Noch bis zwei Jahre vor ihrem Inkrafttreten war die Europäische Währungsunion in den USA als ein hochgradig konfliktträchtiges, wenn nicht
zum Scheitern verurteiltes Projekt gesehen worden,15 soweit sie überhaupt
ernst genommen wurde.16
Und der Kursverfall des Euro gegenüber dem Dollar in den ersten Jahren
nach seiner Einführung trug zunächst nicht dazu bei, diese Einschätzung
zu korrigieren, auch wenn Fred Bergsten, der Direktor des Institute for International Economics in Washington, frühzeitig einen transalantischen
„Zusammenprall der Titanen“ kommen sah.17
Mit der Stabilisierung des Eurokurses ab 2002 zeigte sich aber, dass der
Euro zumindest auf dem internationalen Markt für längerfristige Anlei14
15
16
17
Roubini, Nouriel/Setser, Brad: Will the Bretton Woods 2 Regime Unravel Soon?
The Risk of a Hard Landing in 2005-2006. Paper written for the Symposium
on the „Revived Bretton Woods System: A New Paradigm for Asian Development?“, organized by the Federal Reserve Bank of San Francisco and UC, February 2005, http://www.frbsf.org/economics/conferences/0502/Roubini.pdf,
Stand: 6.3.2009. Die „harte Landung“ kam zwei Jahr später, dafür umso härter.
Vgl. Feldstein, Martin S.: EMU and International Conflict, in: Foreign Affairs
6/1997, S.60-73.
Vgl. hierzu auch van Scherpenberg, Jens: Transatlantische Asymmetrien, in:
Europa und die USA. Transatlantische Beziehungen im Spannungsfeld von
Regionalisierung und Globalisierung, hrsg. von Reinhard C. Meier-Walser und
Susanne Luther, München 2002, S.161-171, 167ff.
Bergsten, C. Fred: America and Europe: Clash of the Titans?, in: Foreign Affairs
2/1999.
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
269
hen (Bonds) privater und öffentlicher Schuldner zu einer bedeutenden
Alternative zum Dollar wurde. Fast 50% aller international aufgelegten
Anleihen lauteten im Jahr 2007 auf Euro.18
In seiner Stellung als maßgebliche Reservewährung der Welt hat der USDollar bislang zwar nur geringe Einbußen hinnehmen müssen. Sein Anteil an den Weltwährungsreserven fiel von 1999, dem Jahr der Einführung
des Euro, bis Mitte 2008 von 71% auf 63%, der Anteil des Euro stieg im
selben Zeitraum von 18% auf 27%.19 Bei genauer Betrachtung der Daten
zeigt sich jedoch auch hier, dass der Anstieg des Euro-Anteils an den Weltwährungsreserven zu Lasten des Dollar mit dem Jahr 2002, dem Jahr der
Stabilisierung des Eurokurses, einsetzt und seitdem graduell fortschreitet.
Diese neuere Entwicklung seit 2002 gab der wissenschaftlichen und politischen Debatte neuen Auftrieb, ob der Euro mit dem Dollar als Welt-Reservewährung gleichziehen oder ihn gar in dieser Rolle ablösen könne (wie
der Dollar in den 1930er-Jahren das britische Pfund abgelöst hatte). Menzie Chinn und Jeffrey Frankel fassen in einem viel beachteten Aufsatz von
2008 noch einmal die wesentlichen ökonomischen Argumente für die Stellung einer nationalen Währung als globaler Reservewährung zusammen:20
1. Größe der betreffenden Volkswirtschaft, ihr BIP und ihr Anteil am Welthandel: Was das BIP und die Anteile am Welthandel angeht, herrscht in
etwa Parität zwischen den USA und der Eurozone. Wichtiger aber dürfte
sein, in welcher Währung der Welthandel abgewickelt wird, worauf Chinn
und Frankel nicht eingehen. Und in dieser Hinsicht hat der Dollar einen
18
19
20
Vgl. European Central Bank, The International Role of the Euro, Frankfurt/M.,
July 2008, http://www.ecb.int/pub/pdf/other/euro-international-role200807en.
pdf. Die ECB unterscheidet hier zwischen einer „engen“ Betrachtung, die nur
solche Anleihen einbezieht, die von einem Emittenten in einer anderen als der
Heimatwährung aufgelegt wurden (hier ist das Verhältnis 32% Euro-, 43% Dollaranleihen), sowie einer „weiten“, die auch in der Heimatwährung aufgelegte,
aber auf dem internationalen Kapitalmarkt zur Zeichnung angebotene Anleihen einbezieht (hier ist das Verhältnis 48% Euro-, 35% Dollaranleihen).
Daten errechnet aus: International Monetary Funds, Currency Composition
of Official Foreign Exchange Reserves (COFER) Database, Stand 31.12.2008.
Die Daten für 2008 beziehen sich auf den Stand zum 30.9.2008. In der COFER Database sind jedoch die Reserven Chinas und einiger anderer asiatischer
Länder nicht nach einzelnen Währungen aufgeschlüsselt; ihr Anteil betrug
zum 30.9.2008 immerhin 37% der gesamten Währungsreserven aller IWFMitglieder. Die Aufteilung der Währungsreserven auf die einzelnen Länder
kann also nur aus den zuletzt 63% der Reserven errechnet werden, für die
aufgeschlüsselte Angaben vorliegen. Als Schätzwert wird davon ausgegangen,
dass auch die Währungsreserven Chinas und der anderen Länder, die keine
Angaben zur Zusammensetzung ihrer Reserven machen, sich in etwa an dem
Aufteilungsschlüssel für den Rest der Welt orientieren.
Chinn, Menzie/Frankel, Jeffrey: Why the Euro Will Rival the Dollar, in: International Finance 1/2008, S.49-73, S.56ff.
270
Jens van Scherpenberg
deutlichen Vorsprung.21 Dieser ist zum einen darauf zurückzuführen, dass
die großen asiatischen Handelsnationen den größten Teil ihres Handels
in Dollar und nur einen sehr kleinen Teil – im einstelligen Prozentbereich
– in Euro abwickeln. Zum anderen stützt die Fakturierung von Rohöl in
Dollar dessen Dominanz als internationale Handelswährung.
2. Größe und Tiefe des Finanzmarkts: Angesichts der führenden Stellung
des New Yorker Finanzmarktes und der großen Rolle des Londoner Finanzmarktes bei Dollar-basierten Finanztransaktionen sehen Chinn und
Frankel hier einen klaren Vorsprung für die USA, zumindest so lange
Großbritannien nicht der Eurozone beitritt.
3. Vertrauen in die Stabilität der Währung als Wertaufbewahrungsmittel:
Dies ist für Chinn und Frankel trotz der guten Inflationsdaten der USA in
den letzten Jahren ein Faktor, der gegen den Dollar spricht: „Even if the
Federal Reserve never succumbs to the temptations or pressures to inflate
away the US debt, the continuing US current account deficit is always a
likely source of downward pressure on the dollar.“22
4. Netzwerkeffekte, also der Vorteil für den einzelnen Nutzer einer Ware, der
daraus entsteht, dass viele andere diese ebenfalls nutzen, er sich also ihres
dauerhaften Nutzens relativ sicher sein kann: Dieser Netzwerkeffekt gilt auch
für Staaten als Halter von Währungsreserven. Damit diese ihren Zweck als
– liquide – Reserve erfüllen, sollten sie auch von möglichst vielen anderen
Staaten in nennenswertem Umfang als Reserve gehalten und damit nachgefragt werden. Dieser Effekt begünstigt derzeit noch eindeutig den Dollar.
Von diesen Kriterien stellt vor allem der letztgenannte Netzwerkeffekt ein
zugunsten des Dollar wirkendes retardierendes Element für einen möglichen strukturellen Umbruch im internationalen Währungssystem dar.
Hinsichtlich der drei erstgenannten Kriterien hingegen sind bereits jetzt
Entwicklungen zu Lasten der Dollardominanz erkennbar:
Zu 1. Die Rolle einer globalen Wachstumslokomotive werden die USA voraussichtlich für die kommenden Jahre verlieren, auch wenn es noch offen
ist, ob der Rückgang der Wirtschaftsleistung dort stärker ausfällt als in
der Eurozone. Auch im Handel könnte die Rolle des Dollar in dem Maße
abnehmen, wie die amerikanischen Importe einbrechen und die USA ihre
Rolle als „consumer of last resort“ verlieren. Zudem verstärkte insbesondere China Ende 2008/Anfang 2009 erfolgreich seine Bemühungen, einen
21
22
Vgl. Kamps, Annette: The Euro as invoicing currency in international trade,
in: European Central Bank Working Paper 665/2006. Siehe dazu auch den im
Dezember 2009 erscheinenden Artikel von Carla Norloff: Key Currency Competition: The Euro versus the Dollar, in: Cooperation and Conflict 4/2009.
Chinn/Frankel: Why the Euro Will Rival the Dollar, S.58.
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
271
wachsenden Teil seines Handels mit seinen ost-/südostasiatischen Handelspartnern in seiner eigenen Währung, dem Renminbi, abzuwickeln.
Zusätzlich gewinnt der Renminbi an regionaler Attraktivität durch seine
kontinuierliche leichte Aufwertung gegenüber dem Dollar seit Mitte 2005.
Scheinbar unerschütterlich ist demgegenüber die Rolle des Dollar als Handelswährung im internationalen Ölhandel. Das liegt zum einen an der dominierenden Rolle der beiden großen Ölbörsen, der New York Mercantile
Exchange (NYMEX) und der Londoner International Petroleum Exchange
(IPE), beide von amerikanischen Banken und großen Ölfirmen kontrolliert. Über sie wird vor allem der umfangreiche, auf Rohöl und Mineralölprodukten basierende Termin- und Derivatehandel abgewickelt, selbstverständlich in Dollar. Dabei kommt ihnen der Netzwerkeffekt zugute, der
es sehr schwierig macht, alternative, nicht dollarbasierte Handelsplätze
für Rohöl zu etablieren. Ein iranischer Versuch einer eigenen Ölbörse,
die nach langer Verzögerung im Frühjahr 2008 endlich ihre Geschäfte
aufnahm, beschränkt sich bislang auf den lokalen Produktenhandel und
wickelt noch nicht einmal den iranischen Rohölexport ab.
Allerdings ist festzustellen, dass einige Rohölexporteure, darunter Russland und auch der Iran, dazu übergegangen sind, ihre längerfristigen
Ölliefervereinbarungen angesichts der hohen Schwankungen des Dollarkurses auf Zahlung in anderen Währungen, den Euro oder auch den
Renminbi, umzustellen.23 In einer viel beachteten Rede auf einem von
der spanischen Regierung einberufenen Fachkongress zur künftigen internationalen Rolle des Euro sprach der damalige Leiter des Petroleum
Market Analysis Dept. der OPEC, der Iraner Javad Yarjani, über die Wahl
der Währung für die Fakturierung von Öl.24 Er nannte für den Übergang
der OPEC auf die Fakturierungswährung Euro drei Kriterien:
–
–
–
Preisfestsetzung und Handel des norwegischen Brent-Öls,
den Beitritt Großbritanniens zum Euro und
den erfolgreichen Abschluss des (Ost-)Erweiterungsprozesses der EU.
23
Dass die von Saddam Hussein im Jahr 2000 mit Zustimmung der UNO und der
USA beschlossene Umstellung der Fakturierung seiner begrenzten Ölexporte
im Rahmen des von der UNO kontrollierten Oil for Food-Programms auf Euro
eine wichtige Rolle bei der amerikanischen Entscheidung für den Irakkrieg
von 2003 gespielt hätte, ist ein zwar weit verbreitetes, aber keineswegs fundiertes Internet-Gerücht.
Yarjani, Javad: The Choice of Currency for the Denomination of the Oil Bill,
Vortrag gehalten auf der Konferenz „The International Role of the Euro“, veranstaltet durch den spanischen Wirtschaftsminister im Rahmen der spanischen EU-Präsidentschaft am 14.4.2002 in Oviedo, Spanien. Das Dokument
ist auf der OPEC-Website nicht mehr greifbar. Es ist im Internet aufrufbar,
unter:
http://www.kritische-wirtschaftswissenschaften.de/Material/YarjaniRole-of-the-Euro.txt, Stand: 17.3.2009.
24
272
Jens van Scherpenberg
Von diesen Bedingungen ist allein die dritte bislang zweifelsfrei erfüllt
– auch wenn die Osterweiterung gegenwärtig durch die krisenbedingten
Verschuldungsprobleme mehrerer osteuropäischer EU-Mitglieder einer
gewissen Belastung ausgesetzt ist. Gegen eine Erfüllung des erstgenannten Kriteriums sprechen vor allem die erwähnten Netzwerkeffekte der Abwicklung des Ölhandels in Dollar. Und ob die internationale Finanzkrise
Großbritannien einem Euro-Beitritt näher bringt, ist nach wie vor sehr
fraglich.
Ein anderer von Yarjani 2002 nicht angesprochener Faktor ist aber die
währungspolitische Integration der Golfstaaten. Dass sie in jüngster Zeit
erhebliche Fortschritte macht, liegt nicht nur an der hohen Volatilität
sowohl des Dollarkurses wie des Ölpreises in den letzten Jahren, sondern
auch daran, dass die Golfstaaten ihre Importe in einem wachsenden Maße
aus dem Euro-Raum beziehen und auch in Euro bezahlen müssen.
Im Dezember 2008 hat der schon 2003 gefasste Plan, bis zum Jahr 2010
eine gemeinsame Währung der Golfstaaten zu schaffen, unter dem Eindruck der Finanzkrise auf einer Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten
des Gulf Cooperation Council (GCC)25 starke neue Impulse erhalten.
Auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass dieser ehrgeizige Plan
angesichts der noch ungelösten Fragen innerhalb des laufenden Jahres
fristgemäß realisiert wird,26 dürfte doch in wesentlichen Fragen der währungspolitischen Kooperation bis hin zum Wechselkursregime der künftigen Währungsunion – Dollarbindung, flexibler oder an einem Korb mehrerer großer Währungen statt ausschließlich am US-Dollar orientierter
Wechselkurs – eine Entscheidung näher rücken. In einer solchen Währungsunion mit flexiblem oder korbbasiertem Wechselkursregime würde
die Fakturierung des zu exportierenden Öls in Dollar weniger attraktiv für
die Förderländer werden. Allerdings sollte die sehr starke politische und
ökonomische Bindung des Hauptförderlandes und dominierenden GCCMitglieds Saudi-Arabien an die USA, die sich bereits in der Bewältigung
der Ölkrisen von 1973/74 und 1980 bewährte, nicht unterschätzt werden,
wie zu Punkt 3 angesprochen wird.
Zu 2. Größe und Tiefe des US-Finanzmarkts: Dies war noch das ganze Jahr
2006 hindurch gegenüber den bereits erkennbaren Anzeichen der heranziehenden Immobilienkrise in den USA das entscheidende Argument
auch unabhängiger Finanzexperten für die Krisenresistenz des amerikani25
26
Mitglieder des GCC sind: Bahrain, Katar, Kuweit, Oman, Saudi-Arabien und
die Vereinigten Arabischen Emirate.
Vgl. Deutsche Bank Research, GCC Monetary Union: More political will, but
don‘t expect any major results, 19.1.2009, www.dbresearch.com, sowie Efforts
on to form GCC monetary union by 2010, Khaleej Times, 4.3.2009, http://
www.khaleejtimes.com/biz/inside.asp?xfile=/data/business/2009/March/business_March148.xml
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
273
schen Finanzsektors.27 Es ist unter den von Chinn/Frankel genannten vier
Kriterien sicher dasjenige, hinsichtlich dessen die Finanzkrise die Stellung
des Dollars am stärksten diskreditiert hat.
Auch die Erweiterung des Euro zumindest um Dänemark und Schweden,
aber selbst ein Beitritt Großbritanniens haben im Jahr 2009 einen deutlich höheren Wahrscheinlichkeitswert als noch 2007.
Zu 3. Vertrauen in die Stabilität der Währung als Wertaufbewahrungsmittel: Hier stehen die von Chinn und Frankel angeführten, bereits erwähnten Negativa gegen die noch immer bestehende „safe haven“-Eigenschaft
des Dollar. Einerseits wurde angesichts der seit 2003 wachsenden Leistungsbilanzdefizite der USA ein erheblicher Abwertungsdruck auf den
Dollar vor allem im Verhältnis zum Euro antizipiert, und dieser realisierte
sich ja auch bis ins Jahr 2008 hinein mit einem Anstieg des Dollar-EuroWechselkurses bis auf 1,60$/1€. Andererseits aber kam in dem Maß, wie
die Finanzkrise sich zu einer globalen Wirtschaftskrise ausweitete, die
„safe haven“-Qualität des Dollar wieder zur Geltung, auch im Anstieg
seines Wechselkurses. Sie hat mindestens so sehr politische wie ökonomische Gründe. Schließlich sind die USA als Nation nicht nur die größte
Wirtschafts-, sondern vor allem auch die größte Militärmacht. Ihrer Fähigkeit, Sicherheit in anderen Regionen zu garantieren und aktive Gegner
der von der USA garantierten regionalen Sicherheitsordnungen durch den
Einsatz militärischer Gewalt in die Schranken zu weisen oder auszuschalten, kommt kein anderes Land gleich. Dies spielt vor allem im Nahen Osten eine entscheidende Rolle. Als Garantiemacht der innen- und außenpolitischen Stabilität und Sicherheit der maßgeblichen Staaten des Nahen
Ostens – Saudi-Arabien, die kleineren Golfstaaten, Ägypten und natürlich
allen voran Israel – sind die USA in der Lage, von diesen Staaten einen
politischen und wirtschaftlichen Preis für diese Leistung einzufordern.
Ähnliches gilt in Ostasien für Japan und Südkorea. Auch hier kann von
einem klaren hegemonialen Quid-pro-Quo von militärischer Sicherheitsgarantie und Stützung des Dollar gesprochen werden.
Demgegenüber steht hinter dem Euro keine eigene politische Macht, da
diese weiterhin bei den Mitgliedstaaten liegt. Als „Währung ohne Regierung“, aber mit einer sehr unabhängigen, ja in den Augen vieler Kritiker
unzureichend politisch verantwortlichen Zentralbank repräsentiert der
Euro ein neues Modell, dem andere Staaten trotz seiner Stabilität bei ihrer
27
Vgl. Mühleisen, Martin: Home Mortgages and the Attractiveness of U.S. Financial Markets, in: Sharing the Growing Economic Burden of World Order,
hrsg. von Jens van Scherpenberg und Katharina Plück, Berlin 2006, Stiftung
Wissenschaft und Politik, http://www.swp-berlin.org/common/get_document.
php?asset_id=3355, S.48-56. Martin Mühleisen, Internationaler Währungsfonds, war 2006 stellvertretender Leiter der North America Division des IWF.
274
Jens van Scherpenberg
Reservenallokation zunächst nicht das gleiche Vertrauen entgegenbringen wie der Währung der Weltmacht Nr. 1.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Attraktivität des Euro als Handels- und Reservewährung vor dem vollen Ausbruch der internationalen
Finanz- und Wirtschaftskrise im September 2008 zwar gestiegen, die Dominanz des US-Dollar in dieser Rolle jedoch noch keineswegs gebrochen war.
Ob sich daran noch etwas ändert, wird der weitere Verlauf der Krise zeigen.
4. Dollar und Euro in der Krise
Die gegenwärtige globale Finanz- und Wirtschaftskrise stellt die genannten Kriterien des bisherigen Kräfteverhältnisses der Währungen und die
bisherigen Abwägungen zwischen Dollar und Euro auf fundamentale
Weise in Frage, ohne dass bereits klare Kriterien für ihr künftiges Verhältnis zueinander erkennbar sind.
So können an dieser Stelle nur die erheblichen neuen Unsicherheitsfaktoren genannt werden, deren weitere Entfaltung einen noch längst nicht
absehbaren Einfluss auf die künftige Rangfolge der großen Weltwährungen haben wird.
4.1 Die riskante Strategie von US-Regierung und Fed
Die USA als das „Mutterland der Krise“ haben seit Amtsantritt der Regierung Obama mit außerordentlicher Entschlossenheit und hoher Risikobereitschaft den Weg einer konsequenten schuldenfinanzierten Nachfragebelebung eingeschlagen. Der Kongress verabschiedete im Februar 2009 ein
Konjunkturprogramm von fast 800 Mrd. $ und damit über 6% des BIP, deren größter Teil im laufenden Haushaltsjahr 2009 (1.10.2008 – 30.9.2009)
und im kommenden Haushaltsjahr 2010 ausgegeben werden soll. Nach
Verabschiedung eines Nachtragshaushaltes und unter Berücksichtigung
der wegbrechenden Steuereinnahmen schätzt das Office of Management
and Budget (OMB) des Weißen Hauses das Defizit für das laufende Haushaltsjahr auf 1.752 Mrd. $. Das ist das Vierfache des Defizits von 459 Mrd.
$ in 2008 und entspricht einem Anteil von 12,5% des BIP – ein Wert,
der zuletzt im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs erreicht wurde. Auch
der Budgetentwurf für das Haushaltsjahr 2010, den die Regierung Obama
Ende Februar 2009 vorlegte, geht von einem Defizit von fast 1.200 Mrd. $
aus – bei eher optimistischen Wachstumsannahmen.
Diese Zahlen übersetzen sich in eine gewaltige Inanspruchnahme des internationalen Kapitalmarktes durch amerikanische Staatsschuldpapiere
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
275
in Höhe von netto etwa drei Billionen Dollar in den nächsten beiden
Jahren. Von den Staatsanleihen (Treasurys) zur Finanzierung der Defizite
der letzten Jahre wurden nur etwa die Hälfte auf dem Kapitalmarkt an
private in- und ausländische Investoren abgesetzt, die andere Hälfte übernahmen ausländische – vor allem asiatische – Zentralbanken. Bei einem
vervierfachten Defizit müssten diese, selbst wenn man eine Verdoppelung
des Absatzes an private Investoren annimmt, ihre Treasurys-Käufe um das
Siebenfache steigern – eine offensichtlich absurde Perspektive. Tatsächlich dürften Japan und China als die beiden größten ausländischen Käufer
von Treasurys diese Käufe schon wegen des Rückgangs ihrer Exporte in die
USA und damit ihrer Dollareinnahmen deutlich reduzieren. Zudem steigt
gerade auf chinesischer Seite die Sorge vor einem drastischen Wertverlust der eigenen Dollaranlagen.28 Und diese ist nicht unberechtigt, da die
amerikanische Fed inzwischen begonnen hat, selbst langlaufende Treasurys anzukaufen, um den Kapitalmarkt zu entlasten – eine Operation, die
man gemeinhin als Gelddrucken bezeichnet: Dem Staat wird durch die
Zentralbank neues Geld zur Verfügung gestellt, das aus der Wirtschaft, sei
es über Steuern, sei es durch Verschuldung auf dem Kapitalmarkt, nicht
mehr zu holen ist. Die Bilanzsumme der Fed, die bis Mitte 2008 noch
unter 1 Billion Dollar betrug, bis Ende 2008 aber bereits auf 2,3 Billionen
angewachsen war, soll sich im Jahr 2009 noch einmal auf 4 Billionen $
verdoppeln.
Die Regierung Obama und die Fed setzen damit bewusst die überlegene
Kreditwürdigkeit der USA und die Rolle des Dollar als führende Transaktions- und Reservewährung der Welt als Instrument der Krisenbewältigung ein – in der Hoffnung, damit den entscheidenden Anstoß zur Überwindung der Krise in den USA zu geben, bevor der Dollar durch diese
riskante Strategie seine Führungsposition verliert. Letzteres hätte allerdings einschneidende Konsequenzen, wie Chinn und Menzel bereits vor
der Krise betonten:
„If the dollar does indeed lose its role as leading international currency,
the cost to the United States would probably extend beyond the simple
loss of seigniorage narrowly defined. We would lose the exorbitant privilege of playing banker to the world, accepting short-term deposits at low
interest rates in return for long-term investments at high average rates of
return. When combined with other political developments, it might even
spell the end of economic and political hegemony. These are century-long
advantages that are not to be cast away lightly.“29
28
29
Vgl. „Wen Voices Concern Over China’s U.S. Treasurys“, Wall Street Journal
Online, 13.3.2009, http://online.wsj.com/article/SB123692233477317069.
html, Stand: 14.3.2009.
Chinn/Frankel: Why the Euro Will Rival the Dollar, S.69.
276
Jens van Scherpenberg
Aber nicht nur die Stellung des US-Dollar als Weltwährung steht in Frage.
Auch dem Euro steht die ernsteste Bewährungsprobe seiner jungen Geschichte bevor.
4.2 Europa im Strudel drohender Staatsbankrotte?
Derzeit ist nicht zu erkennen, dass die Staaten der Eurozone oder die EUStaaten generell und mit ihnen der Euro stärker aus der Krise hervorgehen
als die USA und der Dollar. Zu tief waren ihre Finanzinstitutionen in den
von den US-Finanzinvestmentbanken kreierten Derivatemarkt integriert
und zu schwer sind sie daher durch die Krise in Mitleidenschaft gezogen
worden.
Das gilt in hohem Maße für Großbritannien, das mit dem Finanzplatz
London einen der beiden Hauptschauplätze der für die Krise verantwortlichen rapiden Aufblähung von Kreditpapieren durch die großen Investmentbanken stellt. Um mehr Geld in die Wirtschaft zu schleusen, aber
möglicherweise auch, um der explodierenden britischen Staatsverschuldung einen allzu harten Test auf dem internationalen Kapitalmarkt zu ersparen, hat die Bank of England noch vor der Fed begonnen, in größerem
Umfang unmittelbar langfristige Staatsanleihen anzukaufen, also Geld zu
drucken. Zugleich hat die Krise den Wechselkurs des britischen Pfundes
zum Euro bis an die 1:1-Parität fallenlassen.
Gravierender noch sind jene kleineren europäischen Staaten betroffen,
deren Finanzsektoren tief in die internationalen Finanzmärkte integriert,
dabei aber ebenso wie Teile des Nicht-Finanz-Unternehmenssektors in hohem Maße im Ausland verschuldet waren und nun fällige Kredite nicht
mehr bedienen, geschweige denn refinanzieren können. Neben Island
sind dies bislang Ungarn, Lettland und Litauen. Hier musste sich der Staat
für die Vermeidung eines völligen Zusammenbruchs seines Finanzsektors
so stark verschulden, dass er selbst vor der eigenen Zahlungsunfähigkeit
stand, die nur durch konzertierte Rettungsaktionen des IWF, zum Teil unterstützt durch die EU, und verbunden mit einschneidenden Auflagen,
abgewendet werden konnte.
Aber auch Staaten der Eurozone wie Griechenland und Portugal und das
bisherige Wirtschaftswunderland Irland, ja wegen der hohen Kredite seiner Banken an osteuropäische Schuldner selbst Österreich, sind unter
Druck geraten – abzulesen an den „Spreads“, der Differenz des Zinssatzes,
zu dem sie ihre Staatsschuldpapiere auf dem Kapitalmarkt unterbringen
können, zu dem Zinssatz, zu dem Deutschland als das kreditwürdigste
Land der Eurozone sich verschuldet.
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
277
Dementsprechend wuchsen die Zweifel auf den internationalen Finanzmärkten am Euro und am Zusammenhalt der Eurozone, ja der EU, wie
sich am Eurowechselkurs Anfang 2009 ablesen ließ.30 Nachdem die EUStaats- und Regierungschefs auf ihrem Sondergipfel am 1. März 2009 jedoch erkennen ließen, dass die EU im Einzelfall und unter Auflagen von
der Zahlungsunfähigkeit bedrohten Mitgliedstaaten helfen werde, hat
diese Sorge abgenommen. Wahrscheinlicher dürfte es nun sein – und das
wäre die gute Nachricht in der Krise –, dass die EU bzw. die Staaten der Eurozone über der Notwendigkeit zu solidarischem Handeln untereinander
in der Krise zu einer zumindest ansatzweisen Behebung des Geburtsfehlers des Euro gelangen: der völlig unzureichenden fiskalpolitischen Flankierung der Währungsunion, nicht zuletzt, weil der EU die Gefahr und
die Kosten eines Rückschlags bei der währungspolitischen Integration so
deutlich wie nie vor Augen geführt wurden.
4.3 Ein dritter Weltwährungs-Pol?
Es wäre allerdings ein Fehler, mit einem allzu atlantikzentrierten Blick die
internationalen Währungsentwicklungen im Zuge der Wirtschafts- und
Finanzkrise zu betrachten. Die Bestrebungen der im Gulf Cooperation
Council zusammengeschlossenen arabischen Ölexportländer wurden bereits angesprochen. Bei weitem gewichtiger aber sind die Fortschritte der
währungspolitischen Integration in Asien. Unter dem traumatisch nachwirkenden Eindruck der asiatischen Finanzkrise von 1997/98 hatte sich in
Ostasien bereits im Jahr 2000 die Chiang Mai Initiative der „ASEAN plus
3“-Staaten (die zehn ASEAN-Staaten plus China, Japan und Südkorea)
konstituiert als eine Vereinbarung zur währungs- und finanzpolitischen
Kooperation und zur gegenseitigen Liquiditätsunterstützung der Zentralbanken im Krisenfall durch bilaterale Swap-Vereinbarungen. Diese Initiative ist inzwischen im Grundsatz zu einem gemeinsamen asiatischen
Währungsfonds „multilateralisiert“ worden, auch wenn noch eine Reihe
von Einzelheiten zu vereinbaren ist.31
Bemerkenswert am hier erreichten Fortschritt ist, dass nunmehr neben
Japan auch China die ökonomische Führungsrolle beansprucht. Grundlage hierfür ist nicht nur das seit der Asienkrise enorm gewachsene Ge30
31
Auch einer der führenden amerikanischen Euro-Skeptiker, Martin Feldstein,
rechnet mit einem Auseinanderfallen der Eurozone. Vgl. Feldstein, Martin
S.: Reflections on Americans‘ Views of the Euro Ex Ante, NBER Working Paper 14696/2009, http://www.voxeu.org/index.php?q=node/2867, Stand:
13.3.2009.
Vgl Henning., C. Randall: The Future of the Chiang Mai Initiative: An Asian Monetary Fund?, Peterson Institute for Inernational
Economics,
Policy
Brief
PB
09-5,
February
2009,
www.iie.com/publications/pb/pb09-5.pdf, Stand: 16.3.2009.
278
Jens van Scherpenberg
wicht Chinas als Wirtschafts- und Handelsmacht,32 sondern auch die zunehmende Bedeutung des chinesischen Renminbi als Handelswährung
in der Region. China hat seit Dezember 2008 Swap-Abkommen mit den
Zentralbanken von Malaysia, Süd Korea, Hong Kong, Belarus, Indonesien und Argentinien über die Verwendung des Renminbi im bilateralen
Handel abgeschlossen. Die Rivalität zwischen Japan und China wird zwar
weitere substanzielle Fortschritte in der währungspolitischen Integration
in Ostasien noch längere Zeit behindern – auch wenn die Chiang-MaiStaaten eine Währungsunion analog derjenigen der EU als anzustrebendes Fernziel bezeichnen. Allerdings schwächt die Finanzkrise Japan stärker als China und verschiebt damit das Kräfteverhältnis beider weiter zu
Ungunsten Japans. Und vor allem: Die USA und der Dollar können von
der chinesisch-japanischen Rivalität nicht mehr wie noch während der
Asienkrise profitieren.33
Es ist sicher noch zu früh für die Prognose eines entstehenden währungspolitischen Multipolarismus, zumal es für die längerfristige Stabilität eines
solchen multipolaren Modells auf der Grundlage von Fiat-Währungen,
also ohne Goldfundierung, kein historisches Vorbild gibt. Orientierung
für die künftigen Verschiebungen im Kräfteverhältnis der Weltwährungen
könnten aber die anstehenden Bestrebungen zur Neuordnung der institutionalisierten Beziehungen unter den führenden Wirtschaftsmächten
sowie in den internationalen Finanzinstitutionen, namentlich dem IWF,
bieten.
5. Perspektiven transatlantischer und
internationaler Kooperation
Seit im Herbst 2008 anlässlich der Finanzkrise erstmals die Gruppe der 20
führenden Industrie- und Schwellenländer auf Gipfelebene zusammentrat, wird die Unerlässlichkeit enger internationaler Kooperation bei der
Bewältigung der Krise betont. Dabei hat es sich schnell gezeigt, dass die
bisherige Gruppe der 7 (in Finanz- und Währungsfragen) bzw. 8 wichtigsten Industriestaaten, die G7/8, nur noch eine untergeordnete Rolle spielt,
dass vielmehr die G20, in der auch China sowie große Schwellen- und
Ölexportländer wie Indien, Brasilien und Saudi-Arabien vertreten sind,
zum wichtigsten politischen Koordinationsort in der Krise geworden ist.
Dem 2. Gipfeltreffen der G20 am 2. April 2009 in London folgte im selben
Monat die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank in Washington. Ihre
32
33
Vgl. Shambaugh, David: China Engages Asia: Reshaping the Regional Order,
in: International Security 3/2004, S.64-99.
Vgl. hierzu ausführlich Dieter, Heribert: Lehren aus der Asienkrise. Neue Formen der finanzpolitischen Kooperation in Südost- und Ostasien, SWP-Studie
S 33, Berlin 2008.
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
279
Handlungsfähigkeit hängt ebenfalls stark von der Kooperationswilligkeit
der neuen Wirtschaftsmächte ab.
Die Aussichten für eine wirtschafts- und währungspolitische Kooperation
bei der Überwindung der Krise sind jedoch – auch wenn die Communiqués der internationalen Krisenkonferenzen des Jahres 2009 ein möglichst positives Bild zu malen versuchen – nicht gut. Zu weit auseinander
liegen die Interessen der Beteiligten.34 Dabei geht es zum einen um die
Kräfteverhältnisse in den wichtigsten internationalen Finanzinstitutionen, dem IWF und der Weltbank, zum anderen um wirtschaftspolitisches
„burden sharing“, um die Verteilung der Kosten der Krisenbewältigung.
5.1 Aufstockung der IWF-Mittel
Der IWF schien noch Mitte 2008 als nicht zum Mitwirken eingeladener
Akteur unfreiwillig unbeteiligt am Rand der Krise zu stehen, die zu dem
Zeitpunkt noch auf den privaten Bankensektor der westlichen Industriestaaten beschränkt war. Die Nachfrage nach Stützungskrediten war minimal, die eingeräumten Kredite beliefen sich Ende August 2008 gerade einmal auf 1,2 Mrd $. Seitdem jedoch ist der IWF in seiner Rolle als „lender
of last resort“ ins Zentrum des Geschehens gerückt, da die Krise nach dem
Zusammenbruch der Lehmann-Bank am 15. September 2008 immer mehr
Staaten angesichts der riesigen Stützungskosten für ihren Finanzsektor
und ihrer wachsenden Probleme, sich selbst auf dem internationalen Kapitalmarkt weiter zu verschulden, in akute Zahlungsnöte bringt. Um den
Staatsbankrott abzuwenden, muss der IWF ihnen mit großen Stützungskrediten beispringen, die zudem anders als sonstige kurzfristige Zahlungsbilanzstützungsmaßnahmen längerfristig vergeben werden müssen. Allein
von September 2008 bis März 2009 sind elf Ländern Stützungskredite in
Höhe von fast 67 Mrd. Dollar (44 Mrd. SZR) eingeräumt worden.35 Damit
drohte die Ausleihfähigkeit des IWF selbst auf dem Spiel zu stehen. Seine
disponiblen Mittel betrugen per Ende Februar 2009 noch 150 Mrd. $.
Umso dringender fordert der IWF eine Aufstockung seiner Mittel, und
diese wurden ihm von der G20-Gipfelkonferenz von London am 2. April
2009 auch in Höhe von 500 Mrd. $ zugesagt. Davon entfallen je 100 Mrd.
$ auf Japan, USA und EU, 10 Mrd. $ auf Kanada und eventuell 40 Mrd.
$ auf China. Um 250 Mrd. $ soll der IWF zudem die Ausgabe von Sonderziehungsrechten (SZR) aufstocken können – möglicherweise eine erste
34
35
Vgl. Beattie, Alan: The gap of twenty.
Es handelt sich um Belarus, El Salvador, Georgien, Ungarn, Island, Lettland,
Pakistan, Rumänien, Serbien, Seychellen, Ukraine. Vom Gesamtbetrag von 67
Mrd. $ entfallen allein 57 Mrd. $ auf Pakistan, Rumänien, Ungarn und Ukraine, weitere 5,4 Mrd. $ auf Belarus, Island und Lettland.
280
Jens van Scherpenberg
Konzession an China, das vor der G20-Konferenz vorgeschlagen hatte, die
künstliche Korbwährung SZR als neue internationale Leitwährung anstatt
des Dollar zu etablieren. China versucht zudem, wie auch Saudi-Arabien,
sein Stimmengewicht im IWF deutlich zu erhöhen. Dem wurde Rechnung
getragen durch das Vorziehen des ursprünglich für 2013 geplanten Termins zur Neufestsetzung der Quoten auf Januar 2011. Letztlich dürfte China daran interessiert sein, dass die Quote der USA bei einer Quotenneuverteilung unter die Sperrminorität von 15% (zurzeit halten sie 17% im IWF)
absinkt und so der IWF aufhört, ein Instrument der amerikanischen hegemonialen Ordnung zu sein. Insbesondere wird in China übelgenommen,
dass die USA den IWF gegen die Wechselkurspolitik des Landes und dessen
vorgebliches Währungs-Dumping in Stellung brachten und damit explizit
für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisierten.36
5.2 Konjunkturprogramme
Bei der Frage, in welchem Ausmaß die führenden Industriestaaten durch
schuldenfinanzierte staatliche Nachfrageexpansion die Krise bekämpfen
sollten, hat sich vor allem zwischen den USA und den Europäern eine
deutliche Kluft aufgetan.37 Die Regierung Obama, die selbst ein Konjunkturprogramm in Höhe von über 6% des BIP aufgelegt hat, fordert von
den EU-Staaten ein Programm in annähernd gleicher Höhe, und sie tut
dies – etwa durch den früheren Finanzminister unter Präsident Clinton
und heutigen Chef des National Economic Council im Weißen Haus,
Lawrence Summers – in gewohnt drängender Weise,38 vehement unterstützt durch den Wirtschaftsnobelpreisträger und New York Times-Kolumnisten Paul Krugman.39
Da aber eine Reihe von EU-Ländern bereits jetzt an die Grenzen ihrer
Verschuldungsfähigkeit zu geraten droht (oder diese erreicht hat), müsste
ein überproportional hoher Anteil eines solchen zusätzlichen Programms
von den noch verschuldungsfähigen großen EU-Staaten, also vor allem
Deutschland und Frankreich, übernommen werden. Diese wiesen daher
den Vorstoß von Summers mit klaren Worten zurück.
Der amerikanische Druck auf die Europäer, sich für größere Konjunkturprogramme ebenfalls stärker zu verschulden, sowie die Zurückhaltung in
36
37
38
39
Vgl. Beattie, Alan: Geithner looks for a trade-off over IMF, Financial Times
FT.com, 12.3.2009.
Vgl. Stokes, Bruce: Balance of Payments: Europe on the Side, in: Congressional
Daily, 5.3.2009.
So in einem Interview mit der Financial Times. Vgl. Summers calls for boost to
demand, Financial Times FT.com, 9.3.2009.
Vgl. zuletzt Krugman, Paul: A Continent Adrift, in: New York Times, 16.3.2009,
http://www.nytimes.com/2009/03/16/opinion/16krugman.html
Dollar und Euro im Umbruch des Weltwährungssystems
281
Europa gegenüber solchen Forderungen aus den USA verdanken sich den
spezifischen Lastenverteilungen und Lastenverschiebungsbestrebungen,
die mit diesen Maßnahmen bzw. ihrer Unterlassung verbunden sind. Auf
der einen Seite ist es für einen Staat, etwa die USA, ohne den Rückfall auf
extremen Protektionismus kaum möglich zu verhindern, dass die eigenen Konjunkturprogramme zur Nachfragesteigerung nicht nur im Inland,
sondern auch im Ausland führen, also aus seiner Sicht Trittbrettfahrer begünstigen. Auf der anderen Seite beeinträchtigt eine extreme Anhebung
der Staatsverschuldung durch milliardenschwere Konjunkturprogramme
letztlich immer auch die Kreditwürdigkeit der eigenen Ökonomie und ihrer Währung – und zwar umso mehr, je stärker der Schuldenanstieg im
Vergleich zu dem anderer Staaten ausfällt. Im Wissen um diesen Zusammenhang setzt zumal die deutsche Bundesregierung auf Zurückhaltung
bei der Verschuldung – im Interesse einer künftigen stärkeren Stellung
des Euro.
Die Aussichten für einen engen transatlantischen Schulterschluss bei der
Bekämpfung der Krise sind also nicht gut, so wenig wie die Aussichten,
auf globaler Ebene im Rahmen der G20 zu wirksamer wirtschaftspolitischer Koordination zu finden. Der Druck der Krise kann sowohl zum
Geburtshelfer für die Institutionen und Steuerungsmechanismen einer
künftigen nicht-hegemonialen multipolaren internationalen Wirtschaftsordnung werden als auch zur Triebkraft eines tiefen Rückfalls in den Wirtschaftsnationalismus.
Die Bekenntnisse des G20-Gipfels von London am 2. April 2009 zu Freihandel und Zusammenarbeit bei der Krisenbewältigung müssen sich erst
noch in der konkreten Umsetzung gegenüber widrigen Realitäten und
konkreten Interessendivergenzen bewähren.
Gemeinsame Herausforderungen
– gemeinsame Lösungen?
Die USA und Europa angesichts der neuen globalen Sicherheitsrisiken und der Notwendigkeit
einer Grand Strategy
Ralph Rotte / Christoph Schwarz
1. Einleitung: Wie viel Wandel ist realistisch?
Walter Russell Mead stellt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit
Geschichte und Gegenwart amerikanischer Außenpolitik fest, dass die
grand strategy der Vereinigten Staaten nicht in Strategiedokumenten
oder Reden hochrangiger Regierungsvertreter gefunden werden könne.
Ursächlich hierfür sei, dass in derartigen Stellungnahmen lediglich Ziele
und Hoffnungen zum Ausdruck gebracht, jedoch keine Aussagen darüber
getroffen würden, wie die USA in einer konkreten Entscheidungssituation
tatsächlich handelten. Verhaltensmuster aus der Vergangenheit sind nach
seiner Ansicht eher geeignet, Aufschluss über die höhere Strategie der USA
zu gewinnen. Angesichts der Vielzahl der Einflussfaktoren sind Aussagen
über die zukünftige Richtung der Außenpolitik jedoch mit beträchtlichen
Unsicherheiten behaftet1 – und folglich mit Vorsicht zu genießen. Zwar
kann man das von Mead impliziert formulierte anspruchsvolle Anforderungsprofil an eine grand strategy kritisch betrachten: Andere Autoren
verweisen gerade auf die richtungsgebende Funktion als primäre Aufgabe
der höheren Strategie, welche die verschiedenen Instrumente der Sicherheitsvorsorge entsprechend der außen- und sicherheitspolitischen Zielsetzungen eines Staates oder eines Bündnisses integriert und koordiniert.2
Ungeachtet dieser unterschiedlichen Auffassungen über Funktion und
Aufgabe der grand strategy stellt die Beobachtung Meads einen geeigneten Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag dar, der sich mit
der Frage nach den Perspektiven für gemeinsame transatlantische Anstrengungen zur Bewältigung der vielfältigen neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und Gefahren am Ende der ersten Dekade des
1
2
Mead, Walter Russell: Power, Terror, Peace and War. America’s Grand Strategy
in a World at Risk, New York 2005, S.19f.
Vgl. hierfür z.B. Liddell, Hart/Basil, Henry: Strategie, Wiesbaden 1955 oder
Beaufre, André: Totale Kriegskunst im Frieden. Einführung in die Strategie,
Berlin 1963.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
283
21. Jahrhunderts befasst: Erstens ist Meads Verweis auf die Komplexität
des Strategiefindungsprozesses geeignet, die in den vergangenen Monaten insbesondere hierzulande zu beobachtende Obamania3 dahingehend
zu relativieren, dass der 44. Präsident der USA trotz seiner weitgehenden
Befugnisse gerade im Bereich der Außenpolitik keineswegs autonom seine Agenda verfolgen kann. Ganz im Gegenteil ist er in ein komplexes
Beziehungs- und Interessengeflecht zwischen Kongress, Medien, Lobbygruppen und politischer Kultur der USA eingebunden. Es bleibt vor diesem Hintergrund abzuwarten, wie sich Barack Obama in verschiedenen
Sachfragen abschließend positioniert und vor allem, ob er hierbei den
im Wahlkampf verkündeten Positionen treu bleibt bzw. bleiben kann.4
Diese Zustandsbeschreibung gilt übrigens in gleichem, wenn nicht sogar
in noch höherem Maße für die europäischen Regierungen. Wenn aus der
Betrachtung der Vergangenheit Einsicht in Gegenwart und Zukunft des
außenpolitischen Verhaltens der USA zu erlangen sind, wie dies Mead behauptet, dann darf mit Fug und Recht zweitens ein erhebliches Maß an
Kontinuität bezüglich der determinierenden Faktoren in Gestalt von Werten, Selbstverständnis und Interessen für dieses Politikfeld unterstellt werden.5 Diese gerade in Europa häufig nur unzureichend wahrgenommenen
und gewürdigten Elemente der Kontinuität sind geeignet, die derzeitige
Euphorie für den proklamierten change zeitnah zu relativieren, weil dieser
eher gradueller Natur sein und keine fundamentale Abkehr von der bisherigen Politik der Bush-Administration markieren dürfte. Damit einher
geht die Beobachtung, dass das bisherige grundsätzliche Konfliktpotenzial
im transatlantischen Verhältnis mit dem Amtsantritt Obamas keineswegs
verschwunden ist. Vielmehr dürfte das Gegenteil der Fall sein: Bereits zum
jetzigen Zeitpunkt zeichnen sich neue mögliche Konflikte ab.6 Drittens ist
an die Bedeutung situativer Einflüsse als handlungsleitende Faktoren zu
erinnern. Diese können, unabhängig von der vorherigen Positionierung
einer Administration, einen prägenden Einfluss und eine totale Revision, zumindest aber eine veränderte Gewichtung verschiedener Politikfelder zur Folge haben. Ohne den 11. September 2001 ist George W. Bushs
3
4
5
6
Vgl. für die weltweit insgesamt hohe Erwartungshaltung an den neuen Präsidenten: Global Public Opinion in the Bush Years (2001-2008), hrsg. von The
Pew Global Attitudes Project, Washington D.C. 2008, http://pewglobal.org/
reports/pdf/263.pdf, S.15, Stand: 10.2.2009.
Vgl. Braml, Josef/Sandschneider, Eberhard/Koschut, Simon: Netzwerke entscheiden. Nicht alles wird gut nach den US-Wahlen im November, DGAPStandpunkt, 11.11.2008.
Vgl. Hacke, Christian: Im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel. Herausforderungen an Präsident Obama, in: Die Politische Meinung 54/2009,
S.10-16.
Vgl. Braml/Sandschneider/Koschut: Netzwerke entscheiden; siehe auch Haftendorn, Helga: Die außenpolitischen Positionen von Obama und McCain,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37-38/2008, S.35-40; Rudolf, Peter: USAußenpolitik und transatlantische Sicherheitsbeziehungen nach den Wahlen,
SWP-Aktuell 64/2008.
284
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
Selbstverständnis als War President nicht denkbar, vor allem aber deutete
im Vorfeld der verheerenden Anschläge vom 11. September nichts darauf
hin, dass der Global War on Terror der prägende Gegenstand seiner beiden Amtszeiten werden würde.
Dementsprechend erscheint es geboten, eine skeptische Haltung gegenüber jeglichen Erwartungen an eine Kehrtwende in der amerikanischen
Außenpolitik unter Präsident Obama im Verhältnis zur Amtsführung seines Vorgängers zu erwarten. Gleichzeitig ist ein gradueller Wandel bereits
in den programmatischen Äußerungen des damaligen Präsidentschaftskandidaten deutlich erkennbar.7 Diese Veränderungen betreffen gerade
jene neuen globalen Sicherheitsrisiken, die auch von der Europäischen
Union unter dem Etikett „neue Herausforderungen“ ins Zentrum ihrer
2003 erstmals veröffentlichten Europäischen Sicherheitsstrategie gestellt wurden: den inter- bzw. transnationalen Terrorismus, die mit der
anhaltenden Proliferation von Massenvernichtungswaffen verbundene
Bedrohung der transatlantischen Sicherheit sowie schließlich die von
sogenannten „failed states“ ausgehenden Gefahren.8 Letztere sind insbesondere bei der Diskussion um wirksame Instrumente zur Stabilisierung
der Lage im Irak stets präsent. Diese drei Themenkomplexe, die lediglich
einen Bruchteil der unter dem erweiterten Sicherheitsbegriff subsumierten potenziellen Bedrohungen repräsentieren, werden im Folgenden in
vergleichender Perspektive näher betrachtet.
Dabei ist zu betonen, dass Aussagen über die Kooperationsmöglichkeiten
und Konfliktpotenziale zwischen den USA und Europa noch keine Angaben darüber enthalten, wie effektiv die Anstrengungen zur Bewältigung
der in Angriff genommenen Risiken und Gefahren sein werden. In diesem
Zusammenhang ist auf das in den vergangenen Jahren in erster Linie mit
Blick auf die Politik der Bush-Administration wiederholt beklagte Strategiedefizit – genauer: die fehlende Verknüpfung von (politischem) Zweck
und (militärischen etc.) Mitteln im Clausewitz’schen Sinne – zu verweisen.9 Eine derart mangelhafte zweckrationale Ausrichtung als Grundlage
für die Anwendung des außen- und sicherheitspolitischen Instrumentariums kann allerdings gleichermaßen auch der EU und ihren Mitgliedstaaten
7
8
9
Vgl. Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs
4/2007, S.2-16.
Vgl. Solana, Javier: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel 2003,
S.4ff.
Vgl. Strachan, Hew: The lost meaning of strategy, in: Survival 3/2005, S.33-54;
Ders.: Making strategy: Civil-military relations after Iraq, in: Survival 3/2006,
S.59-82.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
285
zum Vorwurf gemacht werden.10 Mithin geht es nicht nur um einen grundlegenden strategischen Konsens, der zweifelsohne von fundamentaler Bedeutung ist, sondern um die instrumentelle und effektive, möglicherweise
gar arbeitsteilige11 Anwendung begrenzter Ressourcen zur Realisierung eines gemeinsamen politischen Zwecks. Eine derart angeleitete Evaluierung
des Kooperationspotenzials der USA und Europas könnte die Grundlage
eines strategischen Dialogs zwischen beiden Seiten bilden, der mit Blick auf
den gemeinsam verfolgten Zweck die beiderseitig verfügbaren Instrumente
bestmöglich einzusetzen und nicht zuletzt auch zu würdigen versteht.
2. Neue Sicherheitsbedrohungen in den internationalen
Beziehungen und die strategischen Antworten der
USA und Europas
Es ist inzwischen politisches und politikwissenschaftliches Allgemeingut
geworden, dass sich mit dem Wegfall des bipolaren Systemantagonismus
1989/90 auch das internationale Bedrohungsgefüge entscheidend verändert hat. Nicht mehr die Gefahr eines von antagonistischen Bündnissystemen unter Einsatz von Atomwaffen ausgetragenen zwischenstaatlichen Krieges beherrschte in der Folgezeit die Bedrohungswahrnehmung,
vielmehr traten neue Herausforderungen als Sicherheitsrisiken sowie
Konflikt- und Kriegsursachen hinzu.12 Das erweiterte Verständnis von
Sicherheit trägt dieser Entwicklung durch die Integration einer Vielzahl
nicht-militärischer Faktoren sowie neuer Formen militärischer Bedrohungen Rechnung, die neben die „klassischen“ staatszentrierten militärischen
Szenarien treten. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass diese
traditionellen Bedrohungsmuster beispielsweise in Gestalt zwischenstaatlicher Kriege zunehmend an Bedeutung verlieren13, hat sich gerade im
Verlaufe der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts das genaue Gegenteil als
zutreffend herausgestellt: Aktuell kann man daher mit Fug und Recht davon sprechen, dass „klassische“ und neue Bedrohungen nationaler und
internationaler Sicherheit parallel existieren.
10
11
12
13
Mit Blick auf Deutschland vgl. z.B. Krause, Joachim: Auf der Suche nach einer
grand strategy. Deutsche Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung, in: Internationale Politik 8/2005, S.16-25 sowie Rotte, Ralph/Schwarz, Christoph:
Wo ist die Strategie? Anmerkungen CDU/CSU-Entwurf „Eine Sicherheitsstrategie für Deutschland“, in: Liberal 3/2008, S.36-41.
Bahr, Egon: Plädoyer für eine transatlantische Arbeitsteilung, in: Transatlantische Beziehungen. Sicherheit – Wirtschaft – Öffentlichkeit, hrsg. von Thomas
Jäger, Alexander Höse und Kai Oppermann, Wiesbaden 2005, S.489-496.
Vgl. Frank, Hans: Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, in: Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, hrsg. von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Hamburg u.a. 2001, S.15-30, hier Abb.3 auf S.26.
Vgl. Münkler, Herfried: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006, S.27ff.; ähnlich auch Etzersdorfer, Irene: Krieg. Eine
Einführung in die Theorien bewaffneter Konflikte, Wien u.a. 2007, S.7.
286
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
Fällt das Aufkommen des erweiterten Sicherheitsverständnisses zeitlich
mit dem Ende des Kalten Krieges zusammen, so ist es nicht unproblematisch, die damit an Bedeutung gewinnenden sicherheitsrelevanten Entwicklungen weiterhin als „neu“ zu bezeichnen. Neu sind keinesfalls die
Bedrohungen an sich – Terrorismus ist als Gewaltphänomen bereits aus
dem Altertum bekannt.14 Was sich in der Tat verändert hat, ist einerseits
die Qualität der Bedrohung, beispielsweise die am 11. September 2001
nachdrücklich demonstrierte Fähigkeit terroristischer Akteure zur fast simultanen, massenhaften Vernichtung von Menschenleben. Daraus resultiert andererseits eine Akzentverschiebung hinsichtlich der Prioritäten nationaler und internationaler Sicherheitspolitik: Als Folge von 9/11 ist der
inter- bzw. transnationale Terrorismus als eine der zentralen, wenn nicht
die herausragende Sicherheitsbedrohung identifiziert worden..15 Schließlich zählen die vielfach zu beobachtenden Interdependenzen zwischen
den verschiedenen Sicherheitsrisiken – beispielsweise zwischen organisierter Kriminalität und Terrorismus – zu den zentralen Merkmalen der
aktuellen Entwicklung.
Insbesondere der letztgenannte Aspekt führt direkt zu einem Problemkomplex, dem in der bisherigen Rezeption des erweiterten Sicherheitsbegriffs
und der dabei geäußerten Kritik zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
Es handelt sich um das Problem der Operationalisierung, hier verstanden
als Schwierigkeit der Anpassung der strategischen Ausrichtung nationaler und internationaler Außen- und Sicherheitspolitik an das erheblich
komplexere Bedrohungsumfeld. Auch wenn die entsprechenden Primärdokumente staatlicher Akteure und internationaler Organisationen wie
z.B. der NATO das veränderte Bedrohungsumfeld würdigen, so bleiben
sie in der Regel den Nachweis der Verknüpfung dieser veränderten Rahmenbedingungen mit dem praktizierten operativ-taktischen Vorgehen16
schuldig. Anders ausgedrückt unterstreicht die erheblich komplexere Bedrohungslage nach dem Ende der Blockkonfrontation die Notwendigkeit
für eine verstärkte Anwendung des Konzepts der grand strategy, also einer
Außenpolitik, die das gesamte Mittelspektrum der Sicherheitsvorsorge in
Abhängigkeit von einem klar definierten, richtungsgebenden Zweck einsetzt.
14
15
16
Mead: Power, Terror, Peace and War, S.3.
Vgl. The National Security Strategy of the United States of America, hrsg.
von The White House, Washington 2002; The National Security Strategy of
the United States of America, hrsg. von The White House, Washington 2006;
Solana: Ein sicheres Europa; The National Security Strategy of the United Kingdom.
Security in an interdependent world, hrsg. von Cabinet Office, London
2008; schließlich: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik der Bundesrepublik
Deutschland und zur Zukunft der Bundeswehr, hrsg. vom Bundesministerium
der Verteidigung, Berlin 2006.
Dieses wird hier nicht im rein militärischen Sinne verstanden, sondern in
Übereinstimmung mit der Auffassung Beaufres für den gesamten militärischen und nicht-militärischen Bereich außenpolitischen Handelns.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
287
Dieser Aspekt macht die Kritik an der amerikanischen Außenpolitik bis
zum 11. September 2001 verständlich, wie sie Walter Russell Mead in seiner Etikettierung der Dekade als „verlorene Jahre“ unmissverständlich
formuliert.17 Auch für die Zeit nach den Anschlägen von New York und
Washington gilt die von Joseph Nye gemachte Beobachtung, dass die
USA es nicht verstanden hätten, „hard“ und „soft power“ ausgewogen zur
Anwendung zu bringen.18 Unmittelbar an diesen Punkt knüpft auch die
Kritik Barack Obamas an der Anti-Terror-Politik seines Amtsvorgängers
an, wenn er schreibt: „The Bush administration responded to the unconventional attacks of 9/11 with conventional thinking of the past, largely viewing problems as statebased and principally amenable to military
solutions.“19 Obama selbst, aber auch die Europäer, werden sich daran
messen lassen müssen, in wieweit sie, ausgehend von einer hinreichenden Analyse des Bedrohungsumfeldes bzw. der berechtigten Kritik an der
Politik der Bush-Administration, die richtigen Schlüsse für ihre außenund sicherheitspolitische Praxis im Umgang mit neuen Herausforderungen in den kommenden Jahren ziehen werden.
Anhand der drei bereits angesprochenen Themenkomplexe – der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die von „failed states“ und
schließlich von der Proliferation von Massenvernichtungswaffen ausgehenden Gefahren – lässt sich das Kooperations-, aber auch das Konfliktpotenzial in den transatlantischen Beziehungen in den kommenden Jahren
exemplarisch untersuchen. Die Verknüpfung des jeweiligen sicherheitspolitischen Themenfeldes mit einem konkreten Fallbeispiel erleichtert es
hierbei, konkreten Handlungsbedarf zu identifizieren: So stellt Afghanistan unzweifelhaft den Hauptschauplatz in der Auseinandersetzung mit
dem transnationalen Terrorismus dar. Die nach wie vor nicht vollständig
und dauerhaft stabilisierte Lage im Irak lässt plastisch die aus Staatszerfall
resultierenden Gefahren deutlich werden. Schließlich dokumentiert das
anhaltende Bestreben der iranischen Regierung, trotz des Widerstandes
der internationalen Gemeinschaft in den Besitz von Nuklearwaffen zu
gelangen, nachdrücklich die Notwendigkeit einer effektiven Nichtverbreitungspolitik.
17
18
19
Mead: Power, Terror, Peace and War, S.3.
Nye, Jose ph S. Jr.: Soft Power and Smart Power. The United States has forgotten how to use soft power, in: Internationale Politik, Transatlantic Edition,
3/2006, S.10-13.
Vgl. Obama: Renewing American Leadership, S.4.
288
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
3. Afghanistan und die Auseinandersetzung mit dem
transnationalen Terrorismus
Der Kollaps der New Yorker Zwillingstürme markierte den definierenden
Moment der beiden Amtszeiten George W. Bushs.20 Die Bekämpfung des
transnationalen Terrorismus stand fortan nicht nur unumstritten im Zentrum der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik, als Konsequenz
der Anschläge vom 11. September 2001 erfolgte insgesamt „a fundamental reorientation of foreign policy“21, in den Augen Ivo Daalders und
James Lindsays gar eine „Bush-Revolution“22, die mit den zentralen traditionellen Eckpunkten für das internationale Engagement der USA brach.
Die anfängliche weltweite Solidarität mit den USA wich in zunehmendem
Maße Skepsis, die sich schließlich im Vorfeld des Irakkrieges von 2003
aufseiten der Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking in Fundamentalopposition verwandelte. Ursache und gleichzeitiger Gegenstand der seinerzeitigen
Auseinandersetzung waren jedoch nicht in erster Linie die bereits deutlich gewordenen strategischen Defizite des Konzepts eines „global war on
terror“23, vielmehr dominierten die unterschiedlichen Vorstellungen über
die Ausgestaltung der internationalen Ordnung die politische Agenda.
Nicht zuletzt spielte seitens der genannten Staaten auch das Gefühl einer
machtpolitischen Marginalisierung angesichts einer augenscheinlich entfesselten „Hypermacht“ USA eine Rolle. Zweifelsohne war die Kritik an
der Verknüpfung des Kriegs gegen den internationalen Terrorismus mit
dem Bestreben eines Regimewechsels in Bagdad aufgrund der nicht vorhandenen Verbindungen Saddam Husseins zum Terrornetzwerk Osama
bin Ladens berechtigt. Gleichzeitig ist jedoch festzuhalten, dass sich das
„alte Europa“ dem notwendigen Diskurs über strategische Fragen nicht
in ausreichendem Maß gestellt hat – dies gilt sowohl für die Debatte zwischen den transatlantischen Partnern als auch für die innereuropäische
und schließlich auch für die innergesellschaftliche Diskussion in den genannten Staaten.24
Die notwendige transatlantische Grundsatzdebatte, wie die Auseinandersetzung mit dem transnationalen Terrorismus zu führen ist, lässt bis heute
20
21
22
23
24
Vgl. Staack, Michael: Die Außenpolitik der Bush-Administration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37-38/2008, S.7.
Ikenberry, G. John.: American Grand Strategy in the Age of Teror, in: Survival
4/2001, S.19.
Daalder, Ivo/Lindsay, James: America Unbound. The Bush Revolution in Foreign Policy, Washington 2003.
Vgl. hierzu z.B. Howard, Michael: What’s in a Name? How to Fight Terrorism,
in: Foreign Affairs 1/2002, S.8-13.
Vgl. Jäger, Thomas: Ordnung, Bedrohung, Identität: Grundlagen außenpolitischer Strategien, in: Die Sicherheitsstrategie Europas und der USA. Transatlantische Entwürfe für eine Weltordnungspolitik, hrsg. von Thomas Jäger,
Alexander Höse und Kai Oppermann, Baden-Baden 2005, S.24.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
289
auf sich warten. Dies muss vor allem angesichts des nahezu einmütigen
Bekenntnisses in fast allen relevanten Primärdokumenten verwundern,
die sämtlich im Terrorismus eine der, wenn nicht gar die zentrale sicherheitspolitische Herausforderung der Gegenwart sehen. Zudem sind auch
die Europäer seit Jahren in beachtlichem Maße materiell und personell
in der Bekämpfung des Terrorismus engagiert und tragen dabei zum Teil
erhebliche Kosten, nicht zuletzt in Bezug auf eigene militärische Verluste. Den Kern des überfälligen strategischen Diskurses sollten Fragen danach bilden, in welchem Verhältnis militärische und zivile Mittel zur Anwendung kommen sollen, was der eigentlich determinierende politische
Zweck ist, den es zu erreichen gilt, und schließlich, wer der eigentliche
Gegner ist. In all diesen Punkten hat die Politik der Bush-Administration
gravierende Defizite erkennen lassen. Nicht nur wurde dem Phänomen
Terrorismus und nicht einer oder mehreren terroristischen Organisationen der Krieg erklärt, wobei zwangsläufig unklar bleiben musste, wie der
zu erringende Sieg aussehen sollte.25 Auch in Bezug auf die avisierte breitgefächerte Anwendung des staatlichen Instrumentariums zur Bekämpfung des Terrorismus blieb die amerikanische Regierung vieles schuldig
– nicht zuletzt aufgrund der selbst verschuldeten Eröffnung einer „zweiten Front“ im Irak, die diesen entgegen den Behauptungen des Präsidenten und seiner Vertrauten erst mit der Intervention einer „Koalition der
Willigen“ zum Schauplatz der Auseinandersetzung werden ließen. Diese
Fehleinschätzungen und Versäumnisse erscheinen gerade vor dem Hintergrund der Kernaufgabe strategischen Handelns, die in der Herstellung
einer Balance zwischen verfolgtem Zweck und verfügbaren Ressourcen
besteht, als unentschuldbar.
Im Fall der Europäer stellt sich die Problematik genau umgekehrt dar:
Zwar sind ihre zivilen Fähigkeiten und das Bewusstsein um die Notwendigkeit eines das gesamte Mittelspektrum integrierenden Vorgehens ausgeprägter, als dies bei den USA in den vergangenen Jahren der Fall war.
Gleichzeitig lassen die militärischen Projektionsfähigkeiten der europäischen Streitkräfte nach wie vor zu wünschen übrig. Das stellt auch das
Europäische Parlament in seiner Entschließung zur Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) fest.26 Schwer wiegt auch die unzureichende Verknüpfung von Bedrohungsanalyse und Mittelansatz in der ESS: Eine kohärente
Umweltanalyse gibt keine Antwort auf die Frage, wann die Bedingungen
für ein Eingreifen erfüllt sind, noch darüber, gegen wen sich ein derartiges
Vorgehen richtet und an welchem Ort es erfolgt. Schließlich bedarf es einer konzisen Interessendefinition als Messgröße für Erfolg und Misserfolg
25
26
The National Security Strategy of the United States of America, hrsg. von The
White House, Washington 2002, S.5ff.
Vgl. P6_TA-PROV(2008)255, S.8f; Merkel, Angela/Sarkozy, Nicolas: Wir Europäer müssen mit einer Stimme sprechen, in: Süddeutsche Zeitung, 4.2.2009, S.9.
290
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
eines Engagements, die man in der ESS ebenfalls vergeblich sucht.27 Insgesamt offenbaren Europa und die USA in Bezug auf die Verknüpfung von
Zweck und Mitteln in den vergangenen Jahren ähnliche Defizite, wie ein
Blick auf die beiden unter George W. Bush veröffentlichten Nationalen
Sicherheitsstrategien belegt.28
Mit dem Amtsantritt Obamas scheinen auf den ersten Blick die Grundlagen für eine Annäherung hinsichtlich der Strategie und insbesondere der
Taktiken zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus gegeben. Der
neue amerikanische Präsident sieht in Afghanistan und Pakistan die entscheidenden Orte der Auseinandersetzung29, eine Einschätzung, welche
die Europäer teilen. Auch versteht Obama die Notwendigkeit, eine Strategie zu entwickeln, die sich in Abhängigkeit von der zu bewältigenden
Herausforderung des gesamten staatlichen Mittelspektrums bedient.30
Diese Einschätzung hat auch bereits ein Echo beim einzig verbliebenen
Minister der Bush-Administration im neuen Kabinett gefunden: So betont
Verteidigungsminister Gates in einem bemerkenswerten Beitrag folgenden Sachverhalt: „[...] What the military calls kinetic operations should be
subordinated to measures aimed at promoting better governance, economic programs that spur development, and efforts to address the grievances among the discontended, from whom the terrorists recruit.“31 Neben
dieser Aufwertung nicht-militärischer Instrumente plant die neue Administration in Bezug auf Afghanistan unter anderem eine Truppenaufstockung durch eine schrittweise Verlegung von Kontingenten aus dem Irak,
einen forcierten Aufbau afghanischer Sicherheitsbehörden sowie schließlich eine stärkere Inanspruchnahme Pakistans zur Unterstützung des Anti-Terror-Kampfes.32
Während diese Maßnahmen auch vonseiten der Europäer mitgetragen
werden können, enthält die von Vizepräsident Biden auf der Münchener
Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2009 zum wiederholten Mal geäußerte Forderung der USA33 nach Aufgabe nationaler Vorbehalte seitens
verschiedener NATO-Staaten beträchtliches Konfliktpotenzial. In diesem
27
28
29
30
31
32
33
Vgl. ebd., S.4f.
Vgl. Daalder, Ivo H./Lindsay, James M./Steinberg, James B.: The Bush National
Security Strategy: An Evaluation, in: Die Sicherheitstrategien Europas und der
USA. Transatlantische Entwürfe für eine Weltordnungspolitik, hrsg. von Thomas Jäger, Alexander Höse und Kai Oppermann, Baden-Baden 2005, S.27.
Vgl. Obama: Renewing American Leadership, S.9.
Vgl. ebd., S.11.
Gates, Robert M.: Balanced Strategy. Reprogramming the Pentagon for a New
Age, in: Foreign Affairs 1/2009, S.28-40, hier S.30.
Vgl. Rudolf, Peter: Amerikas globaler Führungsanspruch. Außenpolitik unter
Barack Obama, SWP-Aktuell 77, November 2008, S.7.
Vgl. Frankenberger, Klaus-Dieter: Neuanfang über den Atlantik hinweg, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.2.2009, S.1.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
291
Punkt wird sich zeigen, ob die Europäer und hier vor allem Deutschland
zu einer Enttabuisierung des Diskurses in Bezug auf den Einsatz militärischer Mittel zur Realisierung politischer Ziele, mithin zu einer wirklichen
strategischen Diskussion, willens und fähig sind. Angesichts der bereits
im Vorfeld des Irakkrieges von 2003 deutlich gewordenen unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen, vor allem jedoch der divergierenden
Bereitschaft in der amerikanischen und europäischen Bevölkerung, auftretenden Bedrohungen präventiv und vor Ort zu begegnen, ist hier prinzipiell Skepsis angebracht. Das post-heroische Element scheint entgegen
einer in der Forschung wiederholt implizit unterstellten gleichen Qualität34 in Europa tendenziell stärker ausgeprägt zu sein als in den USA. Sollte
sich diese Einschätzung bewahrheiten, läuft das „alte Europa“ tatsächlich
mittelfristig Gefahr, endgültig zu einem nachrangigen Partner der USA
in Fragen internationaler Krisen- und Konfliktbearbeitung zu werden.
Paradoxerweise könnte damit eine Befürchtung, die bereits während der
Amtsjahre von Präsident Bush jr. kursierte, unter dem hoffnungsfroh erwarteten Barack Obama bittere Wahrheit werden.
4. Irak und die Gefahren im Zusammenhang mit
„failed states“
Eines der Kernelemente der Nationalen Sicherheitsstrategien von Präsident Bush war es, die „Infrastruktur der Demokratie“35 weltweit auszubauen. Zumindest mit Blick auf die aktuelle Lage im Irak und in Afghanistan
ist zu sagen, dass der Demokratieexport mittels eines militärisch durchgesetzten Regimewechsels die erhoffte Wirkung bisher verfehlt hat. Dieses
Urteil gilt zumindest dann, wenn man unter Demokratisierung mehr versteht als die Durchführung nationaler Wahlen. Mehr noch: Der Krieg gegen den Irak hat wie kein Ereignis in den vergangenen Jahrzehnten dazu
beigetragen, das amerikanische Ansehen in der Welt zu unterminieren,
hat darüber hinaus mit Blick auf das regionale Gleichgewicht den Iran
nachdrücklich gestärkt36 und Ressourcen vom eigentlichen Kampf gegen
den transnationalen Terrorismus abgezogen sowie zu einem handfesten
Streit mit den traditionellen Hauptverbündeten jenseits des Atlantiks
geführt. Dies sind nur einige der Kollateralschäden, die mit der Ausnutzung des durch 9/11 gewährten „moment of opportunity“ (George W.
Bush) verbunden sind.37 Unter der hier untersuchten Fragestellung sticht
34
35
36
37
Vgl. Münkler: Der Wandel des Krieges, S.310ff.
The National Security Strategy of the United States of America, 2002, S.21.
Carpenter, Ted Galen/Innocent, Malou: The Iraq War and Iranian Power, in:
Survival 4/2007-08, S.67, ähnlich auch Staack: Die Außenpolitik der BushAdministration, S.11.
Vgl. Allin, Dana H.: American Power and Allied Resraint: Lessons of Iraq, in:
Survival 1/2007, S.128.
292
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
insbesondere der Punkt ins Auge, dass durch den Sturz des despotischen
Regimes Saddam Husseins und des darauffolgenden katastrophalen Missmanagements des Wiederaufbaus seitens der USA38 der Irak nach wie vor
Gefahr läuft, zu einem weiteren Fallbeispiel für einen „failed state“ zu
werden. Gerade wenn man gewillt ist, der Theorie eines „positiven Dominoeffekts“ im Nahen und Mittleren Osten als Folge einer Demokratisierung des Irak Glauben zu schenken, muss die Lageentwicklung im Zweistromland bis zur zumindest temporären Stabilisierung durch die massive
Truppenaufstockung im Jahre 2007 und den Seitenwechsel lokaler Clanchefs als eindrücklicher Nachweis strategischer Inkompetenz seitens der
amerikanischen Führung erscheinen.
Mit Barack Obama sehen sich die Europäer nun einem Präsidenten gegenüber, der wie die meisten der „alten Europäer“ von Anfang an gegen
den Irakkrieg votierte. Daher überrascht es nicht, dass es das erklärte Ziel
Obamas ist, diesen Krieg zu beenden.39 Im Zentrum der betreffenden Planungen steht die schrittweise Verlegung amerikanischer Streitkräfte vornehmlich nach Afghanistan. Auf diese Weise soll Druck auf die irakischen
Behörden und die verschiedenen ethnischen Gruppen ausgeübt werden,
eine tragfähige politische Ordnung zu etablieren. Bei einem planmäßigen
Verlauf könnte die Truppenverlegung bis 2010 beendet sein, es verblieben
lediglich einige Einheiten zur Terrorismusbekämpfung.40
Auch wenn die Einsicht, dass es keine rein militärische Lösung der Situation im Irak geben kann, plausibel ist, beinhaltet das skizzierte Vorgehen
fundamentale Risiken mit Blick auf die (In-)Stabilität des Irak nach dem
Ende der amerikanischen Präsenz. Zwar hat sich Obama die Möglichkeit
vorbehalten, die Stationierungspraxis bei einer Verschlechterung der Situation vor Ort neu auszurichten. Toby Dodge hat jedoch in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass dieser Vorbehalt in erster Linie amerikanischen Interessen und nicht etwa der Stabilität des Irak geschuldet sei.
Damit besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Irak in einer neuerlichen
Welle ethnischer Gewalt versinken könnte und im Ergebnis ein „failed
state“ ohne Zentralgewalt und Kontrolle der Regierung über weite Landesteile entsteht.
Angesichts dieser zumindest im Bereich des Möglichen liegenden Entwicklung erscheint das bisherige Schweigen der Europäer verwunderlich,
insbesondere wenn man bedenkt, dass „gescheiterte Staaten“ in der ESS
38
39
40
Vgl. Ricks, Thomas: Fiasco. The American Military Adventure in Iraq, London/New York 2006; Woodward, Bob: Die Macht der Verdrängung. George W.
Bush, das Weiße Haus und der Irak. State of Denial, München 2008.
Vgl. Dodge, Toby: Iraq and the Next American President, in: Survival 5/2008,
S.45.
Vgl. Obama: Renewing American Leadership, S.5.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
293
gemeinsam mit Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen zu den herausragenden neuen Bedrohungen gezählt werden.
Explizit wird in der ESS darauf verwiesen, dass sich aus der Verbindung
von Terrorismus, der Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen und
scheiternden Staaten eine „sehr ernste Bedrohung“41 für Europa ergeben
könne. Auch im „Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie“ werden die aus fragiler Staatlichkeit resultierenden Gefahren neuerlich betont.42 Warum, so ist an dieser Stelle zu fragen, wird der
Irak nach wie vor als ein rein amerikanisches, vielleicht noch britisches
Problem betrachtet, wenn auch die europäischen Staaten gleichermaßen
von negativen Effekten eines gescheiterten Wiederaufbaus betroffen wären? Zugegeben, die EU hat sich beispielsweise im Rahmen der Mission
EUJUST LEX am Wiederaufbau beteiligt. Aber dies reicht schwerlich aus,
um für die Zukunft eine funktionierende Staatlichkeit im Irak zu gewährleisten.
Begrenzte Ressourcen einerseits und die potenzielle Unmöglichkeit, ein
verstärktes Engagement im Irak nach der Opposition gegen das Vorgehen
der seinerzeitigen amerikanischen Regierung innenpolitisch zu rechtfertigen, sind sicherlich gewichtige Erklärungsfaktoren für das passive Verhalten der europäischen Regierungen. Gleichzeitig verweist die Tatsache,
dass zusätzliche Anstrengungen seitens dieser Staatengruppe nicht einmal zur Debatte stehen, auf ein mangelhaftes Verständnis der strategischen Problemdimension: Zwar sind die USA und ihre Koalitionspartner
die Verursacher der derzeitigen Instabilität und der daraus resultierenden
Gefahren, aber die Folgen werden Urheber und Unbeteiligte gleichermaßen zu tragen haben. Folglich sollten beide Akteursgruppen bestrebt sein,
ihre Fähigkeiten zur Abwehr der Gefahr anzuwenden. Gerade im Falle des
Irak könnten sich die von der EU nach Ansicht verschiedener Autoren
in die Waagschale zu werfenden Fähigkeiten gewinnbringend auswirken.
Letztere umfassen neben den ausgeprägten zivilen Fähigkeiten einen Legitimitätszuwachs für das Wiederaufbauprojekt, der bereits aus der bloßen
Teilhabe der Europäischen Union resultiert, sowie schließlich die aus der
Partizipation resultierende Möglichkeit, Einfluss auf die USA auszuüben.43
Angesichts der unsicheren Erfolgsaussichten der aktuellen amerikanischen Planungen erscheint es dringend angezeigt, sich die Möglichkeit
zu einem strategisch ausgerichteten Dialog mit Washington zu erhalten,
wenn nötig auch durch Engagement in einem Projekt, dem man von Anfang an ablehnend gegenüberstand.
41
42
43
Vgl. Solana: Ein sicheres Europa, S.6.
Vgl. Solana, Javier: Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie. Sicherheit schaffen in einer Welt im Wandel, S407/08, Dezember
2008, S.8.
Vgl. Allin: American Power, S.133.
294
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
5. Iran und die Zukunft der Nichtverbreitungspolitik
In Afghanistan besteht ein signifikantes Konfliktpotenzial zwischen Europa und den USA, mit Blick auf den Irak ist eine engere Zusammenarbeit der transatlantischen Verbündeten mit dem gemeinsamen Ziel der
dauerhaften Stabilisierung des Landes nicht in Sicht. Wie steht es um die
Kooperationsmöglichkeit und -wahrscheinlichkeit in Bezug auf das letzte
hier betrachtete Problemfeld der Proliferation nuklearer Waffen und Trägersysteme?
Kaum ein Begriff dokumentiert die anhaltende Relevanz nuklearer Waffensysteme als Instrument staatlicher Sicherheitsvorsorge und damit
gleichzeitig die Bedeutung von Anstrengungen zur Begrenzung und Abrüstung in diesem Bereich nachdrücklicher als jener des „Second Nuclear Age“.44 Atomare Waffen sind entgegen vielfacher Hoffnungen mit
dem Ende des Kalten Krieges keineswegs obsolet geworden: Die langsam,
aber stetig zunehmende Zahl nuklear bewaffneter Staaten und das damit einhergehende wachsende Proliferationsrisiko, welches es als möglich erscheinen lässt, dass terroristische Akteure in den Besitz derartiger
Waffensysteme gelangen, sowie die insgesamt schleppende Abrüstung
der existierenden Arsenale lassen die Frage der Zukunft der Nichtverbreitungspolitik vielmehr aktueller denn je erscheinen.45 Das Streben des Iran,
selbst zur Nuklearmacht zu avancieren, steht gegenwärtig im Zentrum der
internationalen sicherheitspolitischen Agenda.
Auch in diesem Politikfeld fällt die Bilanz der aus dem Amt geschiedenen amerikanischen Regierung nach Ansicht deutscher Kommentatoren
vernichtend aus. Harald Müller spricht angesichts der amerikanischen
Rüstungsanstrengungen zur Aufrechterhaltung einer „full spectrum dominance“ vom „amerikanischen Überlegenheitswahn“46, Michael Staack
stellt in seiner kurzen außenpolitischen Bilanz der Bush-Administration
für den Bereich der Rüstungspolitik ebenfalls ein vernichtendes Zeugnis
aus, wenn er schreibt: „Bush [strebte, R.R/C.S.] nach umfassender militärischer, insbesondere nuklearer Überlegenheit als Grundlage der unipolaren Machtstellung der USA, löste sich von Verträgen, die diesem Ziel
entgegenstanden, und wollte die Proliferation von Massenvernichtungswaffen mit allen Mitteln verhindern.“47 So berechtigt die Kritik an der
einseitigen Kündigung des ABM-Vertrags oder den doppelten Standards
44
45
46
47
Gray, Colin S.: The Second Nuclear Age, Boulder CO 1999.
Vgl. Baylis, John: The Role of Nuclear Weapons in Contemporary Strategic
Thought, in: International Security and War. Policy and Grand Strategy in the
21st Century, hrsg. von Ralph Rotte und Christoph Schwarz, New York 2009
(i.E.).
Müller, Harald: Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine
nachhaltige Politik, Bonn 2008, S.182.
Staack: Die Außenpolitik der Bush-Administration, S.11.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
295
hinsichtlich der Interpretation des Nichtverbreitungsvertrags sein mag,
sie verstellt zumindest teilweise den Blick auf Kontinuitätselemente in
der amerikanischen Nuklearstrategie, vor allem den ungebrochen hohen
Stellenwert atomarer Waffen während der gesamten Phase nach der Zeitenwende von 1989/90. Zudem zeichnet sich gerade die Diskussion um
die amerikanischen Stationierungspläne eines Raketenabwehrschirms in
Europa durch eine merkwürdige Asymmetrie aus, welche die russischen
Vorbehalte gegenüber einem derartigen System nicht mit den machtpolitischen Motiven Moskaus verknüpft, sondern vornehmlich auf die Aufhebung der bisherigen Abschreckung abstellt.48
Unter strategischen Gesichtspunkten hat sich die amerikanische Politik
zur Eindämmung der Proliferation atomarer Waffensysteme allerdings
in der Tat nicht bewährt: Auch wenn man im Falle Libyens argumentieren kann, dass die nachdrückliche Demonstration des amerikanischen
Willens zu militärischer Intervention an Hand des Irakkrieges von 2003
eine Rolle bei der Suspendierung des libyschen Atomprogramms gespielt
hat, so bietet sich in Bezug auf Nordkorea und den Iran ein anderes Bild.
Die Botschaft scheint zu lauten, so schnell als möglich in den Besitz von
Atomwaffen zu gelangen, während die USA noch an anderen Schauplätzen gebunden sind. Der Irakkrieg hat sich gerade im Hinblick auf das Ziel,
einen nuklear bewaffneten Iran zu verhindern, nachteilig ausgewirkt.
Ohne den Nachbarstaat wird kaum eine tragfähige Lösung im Zweistromland zu erreichen sein, daher wird die Führung in Teheran bestrebt sein,
Kooperationsbereitschaft mit Blick auf den Irak mit Forderungen nach
Akzeptanz seines Nuklearprogramms zu verknüpfen.49
Vergleicht man die Positionen des neuen amerikanischen Präsidenten
mit denen der transatlantischen Verbündeten, so wird schnell klar, dass
im Politikfeld Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungspolitik das größte
Maß an Übereinstimmung in Bezug auf die hier betrachteten Fallbeispiele
herrscht. Obamas Pläne sind insgesamt als äußerst ehrgeizig zu bewerten:
Die Sicherstellung sämtlicher nuklearer Materialien, die sich im Umlauf
befinden, innerhalb von vier Jahren sowie das Bestreben, die gesamte Welt
zur atomwaffenfreien Zone zu machen, stellen Ziele dar, die kaum höher
gesteckt sein könnten. Selbst nachdrückliche Verfechter einer vollständigen Abschaffung derartiger Waffensysteme wie der bereits angesprochene Harald Müller betonen den langfristigen Zeithorizont eines derartigen
Projekts, der selbst zwei mögliche Amtszeiten des Präsidenten Obama bei
48
49
Vgl. Bitter, Alexander: „Star Wars„ revisited? The Impact of Missile Defense
on Strategic Thinking, in: International Security and War. Policy and Grand
Strategy in the 21st Century, hrsg. von Ralph Rotte und Christoph Schwarz,
New York 2009 (i.E.).
Vgl. Carpenter/Innocent: The Iraq War, S.71f.
296
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
Weitem überschreitet.50 Darüber hinaus dürften die Europäer mit Genugtuung die avisierten Bestrebungen der neuen amerikanischen Regierung
registrieren, die Bedeutung des Nichtverbreitungsvertrags neuerlich zu
stärken. Über das Politikfeld der Rüstungskontrolle hinaus weckt diese Absicht Hoffnung darauf, dass die Stellung des internationalen Rechts und
internationaler Institutionen durch die jetzige amerikanische Regierung
allgemein gestärkt wird.
Herrscht beiderseits des Atlantiks Einigkeit über die grundsätzlichen Ziele
der Rüstungskontrollpolitik – auch wenn die abschließende Haltung der
europäischen Nuklearmächte, insbesondere Frankreichs, zu einer völligen
atomaren Abrüstung erst noch zu klären wäre –, so kann auch in Bezug
auf den Umgang mit dem Iran ein hohes Maß an Übereinstimmung festgestellt werden. Vor dem Hintergrund der fortgesetzten Weigerung Teherans, seine Bemühungen um die Nutzung der Kernenergie strikt auf zivile
Zwecke zu beschränken, haben auch die europäischen Regierungen trotz
des grundsätzlichen Festhaltens an einer diplomatischen Lösung eine
Verschärfung des Sanktionsregimes angedroht. Auch wenn der gegenwärtige Zustand insgesamt „eine unhaltbare Situation“ darstellt, haben
die Europäer bisher nicht offen mit der Androhung militärischer Gewalt
gedroht.51 Anders die amerikanische Regierung, die sich nach wie vor die
Möglichkeit eines Waffengangs offenhält, um einen nuklear bewaffneten
Iran zu verhindern. Tatsächlich kann es sich Präsident Obama leisten, in
erster Linie eine Verhandlungslösung anzustreben und im Verhältnis hierzu die Drohkulisse verhältnismäßig klein zu halten. Ursächlich hierfür
ist die Gewissheit, dass Israel unter keinen Umständen einen iranischen
Atomstaat zulassen wird und über die hierfür notwendigen militärischen
Projektionsfähigkeiten verfügt. Indes stellt die amerikanische Bereitschaft,
Gespräche mit Teheran ohne Vorbedingung aufnehmen zu wollen, eine
auch vonseiten der Europäer begrüßte Kursänderung dar, die zudem geeignet ist, die iranische Regierung unter Druck zu setzen. In diesem Sinne kann man dieses Angebot auch als Testballon der US-amerikanischen
Führung verstehen, die einerseits die Verhandlungsbereitschaft Teherans,
andererseits die prinzipielle Eignung multilateraler Verfahren zur Erzielung einer diplomatischen Lösung prüfen will.
Insgesamt deutet sich damit für den Bereich der Nichtverbreitungspolitik ein verändertes Sicherheitsverständnis seitens der USA an, demzufolge
Sicherheit durch eine schrittweise Verringerung der Bedrohung mittels
wechselseitiger Abrüstung und nicht länger durch einen uneinholbaren
qualitativen und quantitativen Vorsprung im Bereich der militärischen
Rüstung erreicht werden soll – auch wenn die Bereitschaft zur Aufgabe
der Nuklearwaffen nicht nur an die praktisch schwierig herzustellende
50
51
Vgl. Müller: Wie kann eine neue Weltordnung ausssehen?, S.183.
Vgl. Merkel/Sarkozy: Wir Europäer müssen mit einer Stimme sprechen, S.9.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
297
verlässliche, d.h. verifizierbare Gegenseitigkeit aller Staaten gebunden
wäre, sondern sich implizit auch auf das gewaltige konventionelle Übergewicht der USA gegenüber allen anderen Akteuren des internationalen
Systems stützt. Es wäre jedoch ein Fehlschluss, wenn man diesen change
als prinzipielle Hinwendung zum Multilateralismus interpretieren würde.
Es handelt sich auch in diesem Fall vielmehr um einen instrumentellen
Multilateralismus, der auf der Annahme wechselseitiger Zugeständnisse
aufbaut. Wird diese Erwartung enttäuscht, wird Washington seine handlungsleitenden Interessen auf anderen Wegen verfolgen.
6. Fazit: Skepsis ist angebracht – vorsichtige Zuversicht auch
Hinsichtlich des transatlantischen Kooperations- und Konfliktpotenzials
mit Blick auf die Bewältigung neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen und Bedrohungen fällt das Ergebnis ambivalent aus. Zwar besteht aufgrund des in Umrissen bereits erkennbar graduellen Wandels die
Möglichkeit einer neuerlichen Annäherung zwischen den Verbündeten.
Gleichzeitig darf das teils beträchtliche Konfliktpotenzial nicht übersehen
werden, das erst als Folge des Amtsantritts Obamas und dem darauffolgenden Politikwechsel entsteht. Dieser Zusammenhang wird am Beispiel
der anstehenden Diskussion um eine Anpassung der transatlantischen
Lastenteilung in Afghanistan deutlich. Die bekannten gesellschaftlichen
und politischen Vorbehalte gegenüber einem noch weiter gehenden Engagement am Hindukusch in einigen Mitgliedstaaten der NATO sowie die
offensichtlich unzureichenden Fähigkeiten dieser Akteure richten den
Blick auf das derzeitige Kernproblem der transatlantischen Partnerschaft:
Trotz einer nahezu gleichlautenden Bedrohungsanalyse durch die Politik
sieht sich diese einerseits als Folge der divergierenden innenpolitischen
Bedrohungswahrnehmung in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Die Auffassung des damaligen Verteidigungsministers Struck,
dass Deutschland am Hindukusch verteidigt wird, hat sich bisher in der
deutschen Öffentlichkeit nicht durchsetzen können.52 Andererseits differieren bei weitgehender Kohärenz in Bezug auf die zentralen Ziele die
Vorstellungen darüber, mit welchen ordnungspolitischen Instrumenten
diese realisiert werden sollen. Joachim Krause hat hier auf den zentralen
Unterschied hinsichtlich der Bewertung des Multilateralismus in den USA
und im „alten Europa“ hingewiesen. Während Ersteren eine Kosten-Nutzen-Analyse als Bewertungsgrundlage dient, bedingen im Falle Letzterer
strukturelle und historische Aspekte einen deutlich stärker ausgeprägten
52
Für eine kritische politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem
Konzept vgl. Greven, Michael Th.: Militärische Verteidigung der Sicherheit
und Freiheit gegen Terrorismus? Überlegungen zur neuen militärpolitischen
Doktrin, in: Sicherheit und Freiheit. Außenpolitische, innenpolitische und
ideengeschichtliche Perspektiven, hrsg. von Thomas Jäger u.a., Festschrift für
Wilfried von Bredow, Baden-Baden 2004, S.10-21.
298
Ralph Rotte/Christoph Schwarz
prinzipiellen Stellenwert multilateraler Verfahren.53 Dieser schwerwiegende Unterschied schmälert die Aussichten auf einen tatsächlichen strategisch ausgerichteten Dialog zwischen den Akteuren auf beiden Seiten des
Atlantiks. Man muss an dieser Stelle nicht so weit gehen wie der britische Historiker Niall Ferguson, der die Schuld für den transatlantischen
Streit im Vorfeld des Irakkrieges von 2003 eindeutig aufseiten Frankreichs
und Deutschlands sah.54 Es gilt jedoch festzuhalten, dass auch die betreffenden Staaten in Folge ihrer mangelnden Dialogbereitschaft ihren Teil
an der zumindest temporären Zerrüttung des Verhältnisses zu den USA
tragen. Wenn sich an diesem Punkt keine Änderung einstellt, sind auch
nach dem Amtsantritt Barack Obamas neuerliche Streitigkeiten vorprogrammiert. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass die USA ihren Führungsanspruch auch unter dem neuen Präsidenten nachdrücklich unterstreichen. Zudem steht Obama angesichts der nach wie vor herrschenden
Fragmentierung der amerikanischen Gesellschaft und der gravierenden
Finanz- und Wirtschaftskrise vor einer kolossalen Herausforderung, eine
grand strategy mit innenpolitischer Integrationswirkung vorzulegen. Die
Binnenperspektive als gewichtiger Faktor des amerikanischen Strategiebildungsprozesses darf keineswegs unterschätzt werden.55
Eine weitere zentrale Herausforderung, denen sowohl die USA als auch die
europäischen Staaten gegenüberstehen, ist die Verknüpfung von Zweck
und Mitteln in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik. Die Bilanz der BushRegierung fällt in dieser Hinsicht in der Tat verheerend aus. Gleichzeitig
sind die Versäumnisse der Europäer nicht minder schwer, nur weil sie
kein strategisches Missmanagement in der Dimension des amerikanischen Versagens im Nachkriegsirak demonstriert haben. Die Anwendung
des gesamten verfügbaren Mittelspektrums und die, falls nötig, Entwicklung benötigter Fähigkeiten zur Realisierung politischer Zielsetzungen
sind ein erster notwendiger Schritt. Beiderseits des Atlantiks ist in diesem
Zusammenhang auch der Blick für die Verhältnismäßigkeit von Zweck
und Mitteln zu schärfen: Im Kern geht es darum, zu erkennen, welche
Mittel notwendig sind, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen. Strategisches Handeln ist demnach interdependent, jede der beiden Ebenen
muss die Forderungen, aber auch die Möglichkeiten der jeweils anderen
angemessen berücksichtigen. Insgesamt zeigt ein kritischer Blick auf die
ESS, den im vergangenen Jahr erschienenen Bericht zu ihrer Umsetzung
sowie die Stellungnahme des Europäischen Parlaments, dass die Euro53
54
55
Vgl. Krause, Joachim: Amerikanische und europäische Konzepte zur internationalen Ordnung, in: Transatlantische Beziehungen. Sicherheit – Wirtschaft –
Öffentlichkeit, hrsg. von Thomas Jäger, Alexander Höse und Kai Oppermann,
Wiesbaden 2005, S.53.
Vgl. Ferguson, Niall: Nicht Amerika, Europa ist schuld!, in: Cicero 3/2005,
S.54-57.
Vgl. hierzu Kupchan, Charles A./Trubowitz, Peter L.: Grand Strategy for a Divided America, in: Foreign Affairs 4/2007, S.71-83.
Gemeinsame Herausforderungen – gemeinsame Lösungen?
299
päische Union hier den weiteren Weg vor sich hat. In den USA geht es
primär darum, das unter den Paradigmen des Global War on Terror und
des Long War deutlich gewordene Ungleichgewicht auszugleichen und
die Eckpunkte der amerikanischen Strategie neu zu vermessen. Hingegen
fehlt in Europa immer noch die konzeptionelle Grundlage für eine kohärente Strategie, namentlich die Definition gemeinsamer europäischer Interessen als Ausgangspunkt kohärenten globalen Agierens. Gelingt es den
transatlantischen Verbündeten, diese jeweiligen Defizite erfolgreich zu
beseitigen, wären die notwendigen Grundlagen für einen echten strategischen Dialog gelegt, der die Kooperationsmöglichkeiten als Grundlage eines gemeinsamen internationalen Handelns ebenso freilegt wie Bereiche,
in denen die Intentionen differieren und folglich alternative Wege der
Interessenverfolgung gegangen werden müssen. Bis dahin ist es allerdings
noch ein weiter Weg.
Die Rolle von Ideen, Normen
und Interessen in der
transatlantischen Integration
Tilman Mayer
1. Ideen
Analysen während einer enormen weltwirtschaftlichen Krisenphase zu
entwickeln, das ist nicht einfach. Alles ist in Bewegung, vieles ist möglich.
Aufmerksamkeit finden diejenigen, die von der Krise profitieren. So könnte es sein, dass von der Schwäche der USA viele Rivalen gerne profitieren
würden – seien es China oder Russland – aber auch diese Länder befinden
sich ihrerseits im Strudel der weltkapitalistischen Entwicklung. Sie können
sich nicht separieren, sie sitzen im gleichen Boot und müssen stillhalten.
Doch wer steuert es, und wer rudert?
In der Krise zeigt sich, wer trotzdem über Kapazität verfügt. Insofern kann
man – Anfang 2009 – festhalten, dass in der Polaritätsdiskussion – unipolare, multipolare, nonpolare Strukturen – die USA nach wie vor den gewichtigsten Pol im Mächtespiel darstellen. Die USA haben die Air Force
One und sie haben die Vormacht auch sonst inne – auch in der Krise! Die
USA befinden sich nicht einmal in einer Ordnung, die ein Gleichgewicht
darstellt, sondern ihr massives Gewicht dominiert eindeutig.1 Von Gleichgewicht zu sprechen ist dann euphemistisch. Eine nonpolare Ordnung anzunehmen bedeutet allenfalls eine diplomatische Höflichkeitsformel, um
Rivalen nicht verbal deklassieren zu müssen. Nein, in den USA begangene
Fehler erschüttern den Planeten nachhaltig, aber eben damit erweist sich
erneut, welche zentrale Rolle die USA innehaben – und wie sie gefordert
sind, weltwirtschaftlich und weltpolitisch restrukturierend und resilient
zu wirken. Die USA müssen die Kraft aufbringen, durch die Krise hindurch
Bewältigungsstrategien für sich und die Welt durchzusetzen. Begleitende
Mächte wie die UNO oder die EU sind sicherlich mehr als früher gebeten
mitzuwirken, und sie bringen etwa in der Gestalt der EU einiges mit. Doch
ohne die weltpolitische Zentralmacht kann keine Sanierung stattfinden.2
1
2
Buzan, Barry: The United States and the Great Powers. World Politics in the
21st Century, Cambridge 2004; Joffe, Josef: Die Hypermacht. Warum die USA
die Welt beherrschen, Bonn 2006.
Vgl. auch Rühle, Michael: Keine Alternative zur globalen Rolle der USA. Von
Europa bis Asien dominiert die amerikanische Sicherheitspolitik, in: NZZ online, 24.2.2009.
Die Rolle von Ideen, Normen und Interessen
301
Die transatlantische Zivilisation, die USA und Europa, mögen sich im Moment in einer Krisenphase befinden. Vielleicht gar in einer Zerstörungsphase, wie sie Joseph Schumpeter als letztlich konstruktiv angesehen hat.
Aber ihre planetarisch gesehen führende Rolle bleibt unbestritten. Auch
die sinische Welt kann noch bei weitem keine Konkurrenz formieren, will
das auch nicht.3
Die transatlantische Zivilisation4 ist ein geopolitisches, geoökonomisches
und geostrategisches Bündnis, das auf einer sicherheitspolitischen Partnerschaft ruht und eine derartige Kapazität hat, dass in den vergangenen
Jahren darüber nachgedacht wurde, aus ihm einen geoökonomischen,
einheitlichen Markt zu bilden. Diese Idee ist gegenwärtig nicht aktuell,5
zeigt aber die Bedeutung dieses Bündnisses, dass es noch nicht am Endpunkt seiner Möglichkeiten angekommen ist. In diesem Bündnis stellen
die USA nach wie vor eben nicht nur militärisch eine Supermacht dar,
sondern ihr Charakter als Softpower pulsiert nach wie vor, und der überall anzutreffende Antiamerikanismus der letzten Jahre dürfte eher als Antibushismus charakterisiert werden können, als eine prinzipielle Ablehnung der USA bedeuten. Insofern sind die Europäer in einer privilegierten
Lage, dass sie diesem transatlantischen Kommunikationsraum angehören
dürfen, auch wenn sie notorisch dazu neigen, sich selbst zu überschätzen.
Die Idee, eine wertorientierte, stabile Gemeinschaft in Opposition zur
kommunistischen Welteroberungsstrategie der Nachkriegszeit zu schaffen, hat sich zwar bewährt und wurde durch den Untergang der Sowjetunion bestätigt, aber derartige Ideen sind keine ewigen, sondern solche
auf Zeit. Insofern muss man die Alternativen bedenken und ihr Entstehen
beobachten.
Das transatlantische Bündnis bedeutet für die Amerikaner, den Blick nach
Osten zu richten. Man kann ihn aber auch nach Westen richten und insofern einen pazifischen Raum ernster als bisher nehmen mit der Konsequenz, dass pazifische Partnerschaften an die Stelle des transatlantischen
in den Blick kommen. Diese Idee hat deshalb besonderen Sinn, weil aus
Sicht der USA auch hinter der transatlantischen Zivilisation ein Integrationsgedanke steht, nämlich Partner zu finden, die die eigene Macht
absichern, bestätigen bzw. Konkurrenten einbinden.
In dem Maße, in dem das Mittelmeer auch in der transatlantischen Kommunikation in Gestalt eines Raumes mit terroristischen Bestrebungen auf
3
4
5
De Burg, Hugo: China Friend or Foe?, Cambridge 2006.
Miliopoulos, Lazaros: Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis. Politische Idee und Wirklichkeit, Wiesbaden 2007.
Deutsch, Klaus: Transatlantische Integration – jetzt oder nie, in: Deutsche
Bank Research, Aktuelle Themen 421, 17.6.2008.
302
Tilman Mayer
sich aufmerksam macht, kann die transatlantische Integrationsbewegung
mit einer weiteren Integrationsaufgabe versehen werden, die die Präsenz
der USA erforderlich macht,6 auch wenn sie gerade in diesem Kulturraum
nicht unproblematisch ist. Die Idee, einen Greater Middle-East zu schaffen gemeinsam mit den Europäern und deren Mittelmeerunion, von der
bisher wenig zu hören ist, könnte transatlantisch belebend wirken.
2. Normen
Der Transatlantizismus verträgt es nur schwer, wenn unilaterale Politik
betrieben wird bzw. wenn man als Europäer den Eindruck hat, nur Befehlsempfänger zu sein. Insofern liegt es in der Natur der Sache, dass die
engen Beziehungen zwischen den USA und den Europäern, die schließlich auch zu einer institutionellen Ordnung in Gestalt der NATO geführt
haben, bilateralen bzw. multilateralen Charakter annehmen. Diese Norm
der internationalen Politik, Multilateralismus, wird jedenfalls vonseiten
Europas über Parteigrenzen hinweg erwartet. Von europäischer Seite aus
gesehen, und eher aus einer europa-euphorischen Warte, sieht man das
transatlantische Bündnissystem in politischer Art als gegen niemand gerichtet an, man wünscht es konsensual gelenkt. Aus dieser Darstellung
ergibt sich notwendigerweise auch eine zum Teil recht scharfe Kritik an
einem händlerartigen pazifistischen Gebaren der Europäer, die deshalb
auch als kriegsunfähig gelten.
Dagegen wird man einwenden müssen, dass die Europäer immerhin auf
dem Balkan – zwar mehr schlecht als recht – aber doch gezeigt haben,
dass es auch für sie Gewalt als ultima ratio gibt, und auch ihre Präsenz in
Afghanistan demonstriert, dass sie erkennen, dass sie eigentlich auch eine
weltpolitische Rolle spielen müssten.
Die Vereinigten Staaten und die Europäer teilen sicherlich sehr viele Normen und Werte, insbesondere im Vergleich zu anderen Kulturräumen.
Man sollte einerseits diese Wertegemeinschaft nicht unterschätzen, und
zwar deshalb nicht, weil andererseits zunehmend Mächte an Gestalt gewinnen, die jenseits dieser Werte angesiedelt sind und trotzdem Erfolg
haben und insofern sich anschicken, eine Konkurrenz zum transatlantischen Normen- und Wertesystem weltweit zu vermitteln suchen, und sei
es bisher allein durch ihre Präsenz.
Vielleicht ist eine Demokratie zu haben nicht nötig? Kann man nicht
trotzdem in Wohlstand leben? Wenn diese Botschaft weltweit akzeptiert
würde, wäre es erneut höchst dringlich, einen Kampf um die Verteidigung
6
Luttwak, Edward: Er hat die Welt sicherer gemacht, in: WamS, 24.8.2008, S.8081; vgl. auch Gaddis, John Lewis: Das Ende der Tyrannei, in: IP 1/2009, S.70-82.
Die Rolle von Ideen, Normen und Interessen
303
der Demokratie zu führen. Von der Liga der Demokratien war 2008 in den
USA schon die Rede.7
Jedenfalls kann man von einem neuen Systemwettbewerb ausgehen, der
die Normen und Werte der transatlantischen Zivilisation durch die Werte
einer z.B. chinesischen sogenannten „harmonischen Gesellschaft“ in Frage stellt. Dieser neue Systemwettbewerb wird noch nicht richtig ernst genommen, zumal nicht in der gegenwärtigen Krise.8 Wir wissen auch nicht,
wie die chinesische Gesellschaft die Krise überstehen wird. Tut sie es, wird
auch rein demographisch bedingt der Systemwettbewerb an Intensität zunehmen. Die Demographie wirkt sich nicht zugunsten des Westens aus.
Für die westlichen Werte und Normen muss geworben werden. Die Wahrnehmung eines Wettbewerbs der Kulturen und Zivilisationen liegt noch
etwas im Argen. Die Abwehr gegen Samuel Huntingtons Thesen ist zu
einfach, die kompetitive Struktur der kulturellen, zivilisatorischen Entwicklung sollte besser wahrgenommen werden, und diese Konstellation
bedeutet auch eine demokratiewissenschaftliche Herausforderung.
3. Interessen
Die wichtigste Basis des transatlantischen Kommunikationsraumes sind
die Interessen. Es gab in den vergangenen Jahrzehnten beiderseits des Atlantiks das Interesse, im Ost-West-Konflikt zu kooperieren. Insofern hat die
eine die andere Macht auf jeweils ihre Art unterstützt. Im 21. Jahrhundert
könnte es, wie oben angedeutet, passieren, dass dieser Raum weltpolitisch
peripher wird, und zwar deshalb, weil die amerikanische Supermacht an
ihm vorbei planetar Politik in Räumen betreibt, die wichtiger geworden
sind.
Betrachten wir die US-Interessen. An erster Stelle wird man sagen können, dass die USA daran interessiert sind, ihre Stärke zu behalten, ihre
Rivalen einzudämmen und aufstrebende Mächte für sich einzunehmen
oder niederzuhalten. Aus europäischer Sicht sind die Interessen sicherlich andere, das Verhältnis der Europäer zur Machtpolitik ist nach wie vor
objektiv schwierig,9 weil viele größere Nationalstaaten eine Rolle spielen,
aber auch deshalb schwierig, weil sich diese Nationalstaaten untereinander kaum zugestehen, Führungspositionen einzunehmen.
7
8
9
Vgl. aber auch Ikenberry, John G.: The Rise of China and the Future of the
West: Can the Liberal System Survive?, in: Foreign Affairs 1/2008.
Kremp, Herbert: Konturen einer neuen Welt, in: Die Welt, 21.10.2008, S.7.
Mayer, Tilman: Realpolitik redivivus, in: Außenpolitik und Staatsräson. Festschrift für Christian Hacke zum 65. Geburtstag, hrsg. von Volker Kronenberg,
Jana Puglierin und Patrick Keller, Baden-Baden 2008.
304
Tilman Mayer
Dass Rivalen eingedämmt werden sollen, liegt ebenfalls außerhalb des
Horizonts der Europäer, einfach weil Europäer zu stark selbstbezogen
handeln, jedenfalls in einem überwiegend europanahen Raum sich nur
entfalten und sich mit sich selbst beschäftigen.10 Die Politik einzelner größerer europäischer Nationalstaaten außerhalb Europas steht dazu nicht
im Widerspruch. Europa ist zu klein, um aufstrebenden Mächten Paroli
bieten zu wollen. Die Europäer sind vielmehr daran interessiert, auch diese Mächte als Handelspartner zu gewinnen. In diesem Bestreben geraten
sie zum Teil mit den amerikanischen Interessen in Widerspruch, weil vonseiten Amerikas Handelsbeziehungen sicherheitspolitisch nicht an erster
Stelle stehen können.
Die Europäer erlauben sich eher nach dem Modell des Trading State zu
handeln,11 während die Amerikaner durchaus militärische Stärke in den
Vordergrund stellen müssen. Es wird vonseiten Europas viel zu wenig honoriert, dass es allein die Amerikaner sind, die den weltkapitalistischen
Globalisierungsprozess machtpolitisch dadurch absichern, dass sie den
Planeten mit Dutzenden von Stützpunkten markiert haben und so für die
notwendige Sicherheit des Handelsverkehrs sorgen.
Europa profitiert vom amerikanischen Stützpunktsystem, ohne wie die
USA Weltmacht und Seemacht12 und eine luft- und weltraumgestützte
Macht zu sein oder sein zu wollen. Allein im Ansatz der Interessenslagen
finden sich gravierende Unterschiede zwischen Europa und Amerika. Das
muss keinen Gegensatz bedeuten. Wir haben ja bereits gesehen, dass geoökonomisch ein transatlantischer Wirtschaftsraum noch besser als bisher
entwickelbar wäre und insofern den transatlantischen Integrationszusammenhang stärken würde. Das Interesse des transatlantischen Verteidigungsbündnisses in der nördlichen Hemisphäre ist ein über diesen Raum
hinaus strahlendes Bündnis, das seinen Wert in sich hat, stabilisierend
wirkt und Amerikanern und Europäern auch deshalb dient, weil autoritäre Kräfte im Umfeld des Bündnisses balanciert werden können. Insofern
gibt – in Friedenszeiten sich befindlich – eben dieses militärische Bündnis
die zentrale Stütze der transatlantischen Integration wider, und zwar in
einer ähnlichen Funktion wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als es auf eine
starke Herausforderung eine Antwort darstellte.
In diesem Militärbündnis müsste klar sein, dass unterschiedliche Mächte
zu einer Kooperation zusammenkommen, die sich zuerst und vor allem
10
11
12
Dieser EU-Egoismus – eine Art Nationalismus – wird in der Literatur schon lange tabuisiert. Es gehört zum guten Ton, das als selbstverständlich anzusehen.
Rosecrance, Richard: The Rise of the Trading State (1986), deutsch: Der neue
Handelsstaat: Herausforderungen für Politik und Wirtschaft, Frankfurt 1987.
Vgl. auch Qi, Xu: Maritime Geostrategy and the Development of the Chinese
Navy in the 21st Century, in: Naval War College Review, Autumn 2006.
Die Rolle von Ideen, Normen und Interessen
305
durch ihre Größe unterscheiden: eine Banalität, über die nicht gesprochen werden müsste, wenn nicht die Europäer notorisch unter dieser
Asymmetrie zu leiden beliebten. Die hegemoniale Struktur der amerikanischen Macht wird noch von den Europäern mitgetragen, sie gelten doch
in globaler Sicht als Teil der dominanten westlichen Welt. Sie begleiten
das weltweite Auftreten der Amerikaner, etwa im Irak, in Afghanistan und
andernorts. Natürlich gibt es Unterschiede im Auftreten von Amerikanern und Deutschen, etwa in Afghanistan. Trotzdem: Das Bedürfnis der
Europäer, sich von den Amerikanern abgrenzen zu müssen, weist auf ein
Rollenverhalten hin, das noch nicht als besonders reif bezeichnet werden
kann. In diesem Kontext wird auch zu beobachten sein, ob die Wiederannäherung Frankreichs an die NATO etwas zum Reifungsprozess beiträgt.
Man könnte auch sagen, dass die Europäer zu einer Art Hochstaplertum
neigen, weil sie beanspruchen, auf Augenhöhe mit den Amerikanern
verhandeln zu können. Die Rolle des definitiv bestehenden Juniorpartners wird strikt abgelehnt. Man verfällt daher in die peinliche Rolle der
Selbstüberschätzung. Insofern wäre die sogenannte Huckepack-Strategie13
durchaus eine humorvolle Möglichkeit, das Bündnis augenzwinkernd als
europäisch gesteuert auszugeben, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Man verspielt
andererseits sonst die kreative Idee der transatlantischen Integration, die
mit der Idee der europäischen Integration in diesem Punkt ganz konform
geht, dass die eigene Stärke in einem gemeinsamen Pool einzubringen allen Beteiligten nutzt,14 selbst wenn die eingebrachten Beträge deutlich unterschiedliche sind. Die helfende Hand der Amerikaner, nach dem Zweiten
Weltkrieg durchaus nicht überall gerne angenommen, ergab ein solidarisches Verhalten, der Schutz erzeugte und allen nützte, eben auch den Amerikanern, die damit ihrerseits ihre Hemisphäre besser absichern konnten.
Man muss vielleicht das Interesse der Europäer gegen EU-enthusiastische
Perspektiven stärker im ökonomischen Bereich suchen. Jedenfalls wird
man an diesem gemeinsamen Interesse eher fündig als in sonstigen Gemeinsamkeiten. In der Ökonomie liegt ein gemeinsames Interesse transatlantischer Art.
Unangenehm bleibt weiterhin die ungeklärte Institution und Ordnung
Europas, welche seit Jahrzehnten eine Baustelle darstellt und zu einer
Selbstbeschäftigung der Europäer führt. Eine Finalisierung des europäischen Integrationsprozesses ist längst überfällig. Weniger ist mehr. Aber
13
14
Bierling, Stephan: Die Huckepack-Strategie. Europa muss die USA einspannen,
Hamburg 2007.
„In einer Welt, in der die Grenzen durchlässiger sind als je zuvor, muss Amerika internationale Koalitionen schmieden und Institutionen aufbauen, damit
globale Bedrohungen gemeinsam gemeistert werden können.“, so Nye, Joseph
S.: Nie mehr allein. Amerika bleibt Supermacht. Aber ihre Probleme wird die
Welt nur gemeinsam lösen können, in: Die Zeit, 8.1.2009, S.38.
306
Tilman Mayer
noch haben europa-euphorische Integrationisten die Oberhand, auch
wenn die momentane tschechische EU-Ratspräsidentschaft Wasser in den
Wein gibt.
Gemeinsame Interessen von Amerikanern und Europäern können zu einer Agenda führen, auf der die Aufgabe steht, dass das Umfeld der EU
arrondiert werden muss. So etwa steht die Frage der Integration der Türkei an, weitere Staaten im Mittelmeerumfeld sind beachtenswert, und in
einer kühnen Perspektive könnte der israelisch-palästinensische Raum als
Sonderentwicklungsfeld betrachtet werden, womit man sich eine Konflikt
mindernde Perspektive versprechen könnte.
Zu befürchten ist, dass die Europäer lieber im oben genannten Sinne sich
mit sich selbst beschäftigen als im Sinne der helfenden Hand der Amerikaner ihrerseits helfend sich im 21. Jahrhundert einbringen wollen.
An sich haben die Europäer drei Perspektiven, sich strategisch auszurichten: einmal bezogen auf den russischen Raum, aus dem heraus aber seit
Jahren eine Politik betrieben wird, die hauptsächlich energiepolitischer
Natur ist und insofern nicht das Format abgibt für eine eigentliche strategische Partnerschaft, zumal ihr vonseiten Russlands, was Normen und
eine Wertegemeinschaft betrifft, es an Unterfütterung fehlt.15
Die größere eurasische Perspektive über Russland hinweg ein Bündnis mit
China einzugehen, also geopolitisch weit auszuholen, würde bedeuten,
sich gegen die USA zu stellen, die wiederum geopolitisch gesehen gerade diese eurasische Landmasse stark beeinflussen wollen. Insofern ist die
transatlantische Perspektive der Europäer unersetzbar, und daraus ergeben
sich auch Perspektiven auf die neue amerikanische Administration 2009.
Die neue amerikanische Administration ist im demokratischen Mainstream gut verankert, transatlantisch gesehen hat sie noch kein besonderes Profil eingenommen. Der neue amerikanische Präsident teilt sicherlich
die europäischen Werte im Allgemeinen.16 Aber die europäischen Interessen sind für ihn sicherlich nur einige unter vielen globalen Interessen, die
es vonseiten Amerikas zu beachten gilt. Es bedarf keiner Phantasie, dass
die euphorische Stimmung bezüglich des neuen Präsidenten bald einer
15
16
Dagegen Rahr, Alexander: Kein Europa ohne Russland. Moskau muss über
eine strategische Partnerschaft in ein europäisches Bündnis eingeschlossen
werden, in: IP 1/2009, S.45-50.
Asmus, Ronald D./Lindberg, Tod: Rue de la Lois: The Global Ambition of the
European Project, Stanley Foundation, Working Paper, September 2008, www.
stanleyfoundation.org/publications/other/EuropeanProject.pdf
Die Rolle von Ideen, Normen und Interessen
307
Ernüchterung weichen wird.17 Fast könnte man sagen, die Administrationen kommen und gehen, aber die Interessen bleiben bestehen. Die Problemfelder der neuen amerikanischen Administration liegen jedenfalls
nicht in Europa,18 und insofern wird die Aufmerksamkeit viel stärker auf
den Iran, auf Palästina/Israel, Pakistan, Afghanistan, Irak gelenkt sein.
Im Windschatten dieser Entwicklung liegt Europa. Es ist wie eh und je in
ökonomischer Perspektive, zumal in einer Weltwirtschaftskrise gefragt. In
dieser Rolle muss es sich bewähren. Damit wäre schon viel erreicht. Dass
die gegenseitigen Erwartungen darüber hinausgehen, steht zwar fest. Aber
realistischerweise ist gerade in einer derartig spektakulären Krisenphase
das ökonomische Fundament zuerst gefragt.
17
18
Wenn man vielleicht auch nicht gleich so weit gehen muss wie Norman Podhoretz: „Obama ist der erste amerikanische Demagoge seit den Dreißigerjahren“, in: Die Welt, 18.3.2008.
Vgl. auch das pragmatische militärisch-zivile Programm in dem von William Caldwell entwickelten Heereshandbuch „Stability Operations“, FM 3-07,
2008.
Strukturelle Probleme
im transatlantischen
Beziehungsgefüge
Helga Haftendorn
Am 20. Januar 2009 wurde in Washington der 44. Präsident der Vereinigten
Staaten vereidigt. Mit dem Versprechen eines grundlegenden politischen
Wandels hatte Barack Obama, der erste afroamerikanische Präsidentschaftskandidat in der Geschichte der USA, einen überzeugenden Wahlsieg über
seinen republikanischen Gegenkandidaten und Senatorkollegen, George
McCain, errungen. In einer stimulierenden Antrittsrede verwies Obama auf
die großen Herausforderungen, mit denen die USA konfrontiert seien, zeigte sich aber zuversichtlich, dass sie diese meistern würden.1
1. Moralische statt machtpolitische Führung
Obama trat sein Amt in der Überzeugung an, dass Amerika mit Staatskunst und
moralischer Überzeugungskraft seinen Einfluss in der Welt zurückgewinnen
könnte. Bereits im Wahlkampf beanspruchte er eine auf eine bessere globale
Zukunft gerichtete Führungsrolle der USA – eine „visionary leadership“.2
Sein langfristiges Ziel ist die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit und des
Ansehens der USA. Die Führung, die Obama ausüben will, orientiert sich an
einem Weltordnungsentwurf, der auf Franklin D. Roosevelt und die von ihm
verkündeten „Vier Freiheiten“ zurückgeht. Danach wollen sich die USA dafür einsetzen, „dass jene, die heute Furcht und Not leiden, morgen in Würde
und mit Chancen leben können“.3 In einer Rede im Juli 2008 in Berlin hatte
Obama die Völker der Welt beschworen, bei der Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zusammenzustehen. Keine Nation, egal wie
groß oder wie mächtig sie sei, könne den internationalen Terrorismus allein besiegen oder die Weiterverbreitung von Kernmaterial- und Waffen, die
globale Klimakatastrophe oder die ethnischen Konflikte in Afrika verhindern. Nur wenn Europäer und Amerikaner partnerschaftlich kooperierten,
1
2
3
„Barack Obama’s Inaugural Address”, Transcript, 20.1.2009, www.nytimes.
com/2009/01/20/us/politics/20text-obama.htlm
Reiss, Mitchell B.: Restoring America’s Image: What the Next President Can
Do, in: Survival, Okt./Nov. 2008, S.99-114.
Rudolf, Peter: Amerikas neuer globaler Führungsanspruch. Außenpolitik unter
Barack Obama, in: SWP-Aktuell 2008/A77, hrsg. von Stiftung Wissenschaft
und Politik, November 2008, S.2.
Strukturelle Probleme im transatlantischen Beziehungsgefüge
309
könne die gemeinsame Sicherheit erhalten und menschlicher Fortschritt
erreicht werden.4
Das Weltbild Obamas unterscheidet sich grundlegend von dem seines
Vorgängers. George W. Bush glaubte wie seine neokonservativen Berater
an ein „Manifest Destiny“, eine göttliche Mission Amerikas. Nach dem
Kollaps der Sowjetunion hatte Charles Krauthammer den Beginn eines
unipolaren Zeitalters angekündigt, in dem die USA als globaler Hegemon
in einer weitgehend anarchischen Welt wirken und die globale Agenda
bestimmen könnten.5 Das Kernstück amerikanischer Hegemonialpolitik
war die „Freiheits- und Demokratie-Agenda“. Herausgefordert durch die
Attentate des „9/11“, erklärte die Bush-Administration dem internationalen Terrorismus den „Krieg“ (War on Terror).6 Er richtete sich gegen die
Unterstützer des Terrors, die Washington vor allem in Afghanistan vermutete, wo die Taliban das Terrornetzwerk der Al Qaida beherbergt hatten.
Aber auch die „Schurkenstaaten“ der „Achse des Bösen“ – Irak, Iran und
Nordkorea – sollten bekämpft werden.
Heute ist der Schock des Systembruchs von 1989-91 überwunden. Der
neue Präsident hat erkannt, dass die Vereinigten Staaten ihre Rolle als globaler Hegemon eingebüßt haben. Der Irak-Krieg hat ihr internationales
Ansehen beschädigt, die Glaubwürdigkeit der Freiheits- und DemokratieAgenda unterminiert und wesentlich zu ihrer politischen Schwächung
beigetragen. Als Folge der Globalisierung sind neue Mächte – China, Indien, Brasilien und Südafrika – zu Weltmächten aufgestiegen und haben
entsprechende Ansprüche entwickelt.7 Sinnfällig kam dies in der Sitzordnung beim Weltwirtschaftsgipfel in Washington im November 2008 zum
Ausdruck. Im Zentrum saßen die mächtigen Schwellenländer, während
die Europäer an die Tischenden verbannt waren.
2. Die USA in einer multipolaren Welt
Die Globalisierung hat zur Entwicklung von weltweiten transgesellschaftlichen Strukturen geführt und nicht-staatliche Akteure – von internationalen Organisationen über transnationale Konzerne bis zu autonomen
Terrorgruppen – aufgewertet. Die aktuelle Wirtschaftskrise wirkt ebenfalls
als ein großer ökonomischer und politischer Gleichmacher. Von ihr sind
4
5
6
7
Obama’s Speech in Berlin, 24.7.2008, www.nytimes.com/2008/07/24/us/
politics/24text-obama.htlm?ref=politics&pag
Krauthammer, Charles: The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs 1/1991,
S.23-33.
Rede von Präsident George W. Bush am 20.9.2001 („Bush Doktrin”), www.
whitehouse.gov./news/releases/2001/09/20010920-8.html
Vgl. Global Trends 2025: A Transformed World, hrsg. von National Intelligence Council, 2008, www.dni.gov/nic/NIC_2025_project.htlm, S. VI f.
310
Helga Haftendorn
alle Industriestaaten und Schwellenländer – mittelbar auch die Entwicklungsländer – in gleicher Weise betroffen. Mit großer Wahrscheinlichkeit
werden sich die USA ebenso wie Westeuropa von dieser Krise wieder erholen; die tiefe Rezession wird jedoch noch nicht abschätzbare Spuren
in ihren Gesellschaften hinterlassen. Noch weitreichender könnte ihre
Wirkung aber in den neuen Großmächten sein, da deren ökonomische
Stärke und politische Stabilität zu einem großen Teil auf ihren hohen
wirtschaftlichen Wachstumsraten beruhen, die von den nachlassenden
Rohstoff- und Warenimporten der Industrieländer abhängig sind.
In der Welt hat sich ein multipolares System herausgebildet, das durch
ein Netz von asymmetrischen Beziehungen geprägt ist und in dem Macht
nicht automatisch Einfluss gewährt. Die Entkoppelung von Macht und
Einfluss erschwert eine erfolgreiche Diplomatie. In dem neuen System gibt
es keine „Nr. 1“ mehr und es fehlen eindeutige multipolare Machtzentren.8 Die Folge sind ausgeprägte Rivalitäten zwischen den Zentren und
insgesamt größere Instabilitäten sowie ein Verlust an Berechenbarkeit.
Die Asymmetrien zwischen Europa und Amerika und die daraus resultierenden strukturellen Spannungen sind auch nach dem Regierungswechsel in Washington erhalten geblieben. Die USA beanspruchen weiterhin
die Definitionsmacht für die transatlantischen Beziehungen, während die
Europäer durch ihre Handlungsschwäche Amerika nicht mit einem ähnlichen Anspruch gegenübertreten können.
In den transatlantischen Beziehungen ist die in der Bipolarität des Kalten
Krieges wirksame „Pax Americana“, die Westeuropa Schutz und Ansehen
bot, unwirksam geworden. Außerdem hat Amerika seine Funktion als „regional balancer“ verloren. Nur allmählich und widerwillig akzeptiert es
seine gewandelte internationale Rolle. Ungeachtet der internen Differenzen und ihrem Unvermögen, zu einem akzeptierten Akteur auf der Weltbühne zu werden, sieht sich die Europäische Union aber als eine eigenständige weltpolitische Kraft und beansprucht eine Mitsprache in globalen
Fragen. In seiner Berliner Rede bezeichnete Obama Europa seinerseits als
den besten Partner, den Amerika besitze. Er erklärte, dass er die Brücken
über den Atlantik festigen und die Europäer mit Respekt behandeln wolle.
Ein verantwortungsvolles und kooperatives Amerika erwarte aber im Gegenzug, dass diese ihrer Verantwortung in Afghanistan, in Bezug auf den
Iran, bei der Bekämpfung des Terrorismus, in Afrika und bei der Schonung
der Umwelt nachkämen.9 Trotz mancher Divergenzen teilten Amerikaner
und Europäer gemeinsame Werte und verfolgten ähnliche Interessen, so
dass es keine Alternative zu einer engen Zusammenarbeit gebe.
8
9
Richard Haas spricht nicht von einem multipolaren, sondern einem nichtpolaren System, vgl. The Age of Nonpolarity: What Will Follow United States
Dominance?, in: Foreign Affairs 3/2008, S.44-56.
Vgl. Obama’s Speech in Berlin, 24.7.2008.
Strukturelle Probleme im transatlantischen Beziehungsgefüge
311
Trotz des Bekenntnisses zu Europa hat dieses für die USA viel von seiner
alten strategischen Bedeutung verloren; stattdessen beansprucht der rohstoffreiche Krisenbogen des Mittleren Ostens maßgeblich die Aufmerksamkeit der neuen Administration. Auch für Europa sind die USA nach
dem Wegfall der Pax Americana nicht mehr „the indispensible nation“,
welche die damalige Außenministerin, Madeleine Albright, beschworen
hat.10 Im Unterschied zu der Zeit des Ost-West-Konflikts sehen sich die
Europäer – zumindest die Westeuropäer – nicht mehr als militärisch bedroht an. Sie glauben, den atomaren Schutzschirm der USA und die Präsenz ihrer Streitkräfte nicht mehr zu benötigen. Sie legen größeren Wert
auf Eigenständigkeit als auf eine enge Bindung an die Vereinigten Staaten. Europa möchte als ein gleichberechtigter Partner behandelt werden,
träumt sogar davon, eines Tages ein Gegengewicht zu den USA zu bilden. Wenn die traditionelle strategische Partnerschaft zwischen Europa
und Amerika fortbestehen soll, muss sie daher an die Bedingungen des
21. Jahrhundert angepasst werden.11
3. Ziele der Obama-Administration
Obama hat sich ähnlich wie sein großes persönliches Vorbild, Abraham
Lincoln, das Ziel gesetzt, das Land zu versöhnen und die innenpolitische
Spaltung zu überwinden. Vor allem will er das amerikanische Volk wieder
mit Hoffnung und Zuversicht erfüllen. Noch mehr als für seinen demokratischen Vorgänger gilt aber für ihn das Wort Clintons: „It’s the economy,
stupid.“ Wenn Obama nicht gleich zu Beginn seiner Amtszeit scheitern will,
muss er Amerika rasch aus der Rezession herausführen. Bereits vor seiner
Vereidigung kündigte er daher ein Konjunkturpaket im Umfang von 825
Mrd. Dollar an, das vor allem Investitionen in die Infrastruktur, in das Gesundheits- und Schulsystem sowie in erneuerbare Energien vorsieht. Außerdem sind Steuererleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen sowie
für die meisten Bürger vorgesehen. Hauptzweck ist die Erhöhung der Kaufkraft und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.12 Das Programm wird allerdings
zu einem Rekorddefizit im US-Haushalt führen und hat bereits im Kongress
Widerstand ausgelöst. Ein erster Test steht Obama daher in der Frage bevor,
ob er sich gegenüber den Interessen der Volksvertreter durchsetzen kann.
10
11
12
Madeleine Albright in einem Gespräch mit der Washington Post am
5.12.1996,
www.washingtonpost.com/wp-srv/politics/govt/admin/stories/
albright120696.htm
Ikenberry, G. John: Explaining Crisis and Change in Atlantic Relations: An
Introduction, in: The End of the West? Crisis and Change in the Atlantic Order, hrsg. von Jeffrey Anderson, G. John Ikenberry und Thomas Risse, Ithaca/
London 2008, S.1-27, bes. S.5.
„Obama Speech on Economic Crisis”, 8.1.2009, Transcript, www.inqusitr.
com/14074/obama-speech-january-8-video-transcriptp/
312
Helga Haftendorn
Bereits am Tag nach seiner Amtseinführung hat der Präsident sein Wahlversprechen eingelöst und die Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo auf Kuba innerhalb eines Jahres verfügt. Sämtliche Terrorverfahren
sollten für 120 Tage auf Eis gelegt und bis dahin geklärt werden, wie die
nachweisbar Schuldigen rechtsstattlich einwandfrei angeklagt werden
können. Die anderen Gefangenen sollten freigelassen werden. Er ordnete
ferner an, alle CIA-Lager im Ausland zu schließen und künftig auf die
Anwendung harscher Verhörmethoden zu verzichten. Obama sagte, dass
sich die USA auch beim Kampf gegen Gewalt und Terrorismus an die Regel halten müssten, dass sie nicht folterten.13
Zu seiner Außenministerin ernannte Obama seine Gegnerin im Vorwahlkampf, die frühere First Lady Hillary Clinton. Er tat dies auch, um eine
mögliche einflussreiche Opponentin in die Kabinettsdisziplin einzubinden.
Bei den Anhörungen zu ihrer Bestätigung als Secretary of State bezeichnete
Frau Clinton robuste Diplomatie und nachhaltige Entwicklung als die besten Mittel, um die Zukunft der USA zu sichern. Sie versprach, sich verstärkt
um eine Lösung der Konflikte im Nahen Osten und um die Befriedung Afghanistans zu bemühen. Sie will sich ferner für die Verbesserung der Beziehungen zu den Partnern in Lateinamerika einsetzen und die Rüstungskontrollverhandlungen mit Russland wiederbeleben.14 Die Vertrautheit Obamas
und Clintons mit dem Senat als dessen ehemalige Mitglieder hat die rasche
Bestätigung der wichtigsten Regierungsmitglieder erleichtert.
Ursprünglich wollte der neue Präsident den Fehler seines demokratischen
Vorgängers vermeiden und nicht zu viele Projekte zu rasch in Angriff nehmen. Der Krieg im Gaza-Streifen zwang ihn jedoch zu schnellem Handeln.
Obama kündigte daher neue Initiativen zur Lösung des arabisch-israelischen
Konfliktes an und ernannte den in der Streitschlichtung erfahrenen ehemaligen Senator George Mitchell zum Sonderbotschafter für Nahost. Neben diesem Konflikt hat die Stabilisierung Afghanistans auf der außenpolitischen
Agenda der Administration höchste Priorität. Hier ernannte Obama den bewährten Diplomaten Richard Holbrooke zum Sonderbotschafter für Afghanistan und Pakistan. Er kündigte an, dass die USA ihre Truppen dort um
17.000 Mann verstärken werden und forderte in einer Botschaft an die NATO
auch von dieser ein stärkeres Engagement.15 Schon zuvor hatte der Präsident
Verteidigungsminister Robert Gates und seinen Sicherheitsberater, General
James Jones, angewiesen, einen raschen Abzug der amerikanischen Kampftruppen aus dem Irak in die Wege zu leiten. Einige dieser Maßnahmen erläuterte Obama in einer Rede anlässlich der Amtseinführung von Frau Clinton
13
14
15
Rüb, Matthias: Obama ordnet Schließung von Guantanamo und CIA-Gefängnissen an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 23.1.2009, S.6.
Ders.: Die harte mit der weichen Macht verbinden, in: FAZ, 14.1.2009, S.7.
Nüsse, Andrea: Obama schickt Beauftragte in Krisengebiete, in: Tagesspiegel,
24.1.2009, S.6; Dies.: Obama: Die NATO muss mehr tun, in: FAZ, 24.1.2009, S.6.
Strukturelle Probleme im transatlantischen Beziehungsgefüge
313
im State Department und signalisierte damit, dass er in Abstimmung mit dieser handelt und eine Konkurrenzsituation zwischen einem außenpolitisch
aktiven Präsidenten und einer ehrgeizigen Außenministerin vermeiden will.
Wird er aber sein Versprechen eines grundlegenden Wandels einlösen
können? Die Ernennung des Trios Clinton, Gates und Jones hat Frankenberger ein „realpolitisches Dementi des Großen Wandels“ genannt.16 Die
Erwartung, Obama werde und könne schon bald eine Politik aus einem
Guss betreiben, übersehe jedoch die inneren und äußeren Beschränkungen und ignoriere „ein ehernes politisches Gesetz“: Noch jeder Präsident
sei bisher von Krisen überrascht worden; erst durch diese Herausforderungen habe sich so etwas wie ein Regierungsprogramm herauskristallisiert.
4. Instrumente amerikanischer Führung
Wie und mit welchen Mitteln wird der neue Präsident führen? In einer
außenpolitischen Grundsatzrede vor dem Chicago Council on Global Affairs beschrieb der damalige Präsidentschaftsbewerber diese Führung so:
„Wir müssen führen, nicht im Geiste eines Patrons, sondern im Geiste eines Partners“.17 Die Führungsrolle Amerikas gründe sich nicht primär auf
militärische Macht, sondern vor allem auf „soft power“, d.h. auf Diplomatie und Überzeugung. Sie beruhe auf der Erkenntnis, dass gemeinsame
Sicherheit vor allem ein Verständnis von gemeinsamer Menschlichkeit
(common humanity) voraussetze.18 Er werde die Konflikte entideologisieren und den Dialog auch mit den Feinden Amerikas suchen. Vor dem Einsatz der Streitkräfte – die modernisiert und einsatzfähig gehalten werden
müssten – werde er aber dann nicht zurückschrecken, wenn alle anderen
Mittel versagt hätten und dies zum Schutz der USA und zur Verteidigung
ihrer nationalen Interessen erforderlich sei.19
Von Obama ist daher ein zurückhaltender Umgang mit militärischer
Gewalt als Mittel zur Konfliktregulierung zu erwarten. Dies gilt auch für
seine Außenministerin. Bei der Senatsanhörung erläuterte Frau Clinton ihr
außenpolitisches Leitmotiv der „smart power“: Danach soll „kluge Macht“
das Potenzial der „harten Macht“ militärischer Stärke mit der „weichen
Macht“ der kulturell-politischen Anziehungskraft Amerikas verbinden.20
16
17
18
19
20
Frankenberger, Klaus-Dieter: Obamas realpolitisches Dementi, in: FAZ,
5.12.2008, S.1.
Remarks of Senator Obama to the Chicago Council on Global Affairs,
24.4.2007, www.realclearpolitics.com/printpage/?url=http://realclearpolitics.
com/ari...
Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs 4/2007,
S.2-16.
Ebd., S.7.
Vgl. Rüb: Die harte mit der weichen Macht verbinden.
314
Helga Haftendorn
Neue politische Ansätze sind vor allem in der Politik gegenüber dem Iran
zu erkennen. Obama sieht in dem Regime der Mullahs eine der größten Herausforderungen für die USA. Es müsse sowohl vom Erwerb von
Kernwaffen abgehalten als auch ein Ende der Unterstützung radikaler islamischer Gruppen gemacht werden. Er werde sich aber nicht scheuen,
persönlich mit der iranischen Führung zu sprechen, wenn das Erfolg verspreche. Vermutlich könne der Iran eher mit vertrauensbildenden Maßnahmen zur Kooperation gewonnen werden als mit der bisher praktizierten Containment-Politik.21
Der Präsident will eine aktive Führungsrolle auch in der Energie- und Klimapolitik ausüben. Er hat bereits erste Schritte zur Förderung alternativer
Energien angekündigt, um die Abhängigkeit der USA von ausländischem
Öl zu verringern.22 Im Gegensatz zu den europäischen Prioritäten hat für
die USA die Energiepolitik Vorrang vor der Ökologie. Sie wollen diese aber
mit dem Einstieg in eine nachhaltige Umweltpolitik verbinden, die z.B.
auf die Erschließung neuer Öl- und Gasquellen in ökologisch sensiblen
Gebieten verzichtet und stattdessen auf eine größere Wirksamkeit der
fossilen Brennstoffe setzt. Kernpunkte des Umweltprogramms sind die
verstärkte Nutzung alternativer Energien und drastische Reduzierungen
der Emissionen von Kohlenwasserstoffen. Obama will in der Klimapolitik
aber nicht nur das eigene Haus in Ordnung bringen, sondern sich auch
intensiv um ein Nachfolgeabkommen für das 2012 auslaufende KyotoProtokoll bemühen. Diese Absicht findet den Beifall der Europäer. Um die
Schwellenländer in der Klimapolitik mit ins Boot zu holen, strebt Obama
eine Vorbildfunktion der USA an und will ein „Global Energy Forum“, bestehend aus den G-8-Staaten sowie China, Indien und Brasilien einberufen. Es ist jedoch eine offene Frage, welche Beschränkungen der Industrie
der Kongress akzeptieren wird. Dieser hat bei der Umweltgesetzgebung
ein entscheidendes Wort mitzusprechen.
Der Präsident und seine Außenministerin haben sich mehrfach für die
Wiederaufnahme der Abrüstungsverhandlungen ausgesprochen und als
Fernziel für eine Abschaffung der Kernwaffen („Global Zero“) plädiert. Sie
können sich dabei auf den Vorschlag der „Vierer-Bande“ – George Shultz,
William Perry, Henry Kissinger und Sam Nunn – für eine Welt ohne Nuklearwaffen stützen.23 Dazu soll der Rüstungskontroll-Dialog mit Russland
wiederbelebt werden. Aus Sicht der USA ist neben der Revitalisierung des
Vertrages über nukleare Nichtverbreitung die Aushandlung eines Nach21
22
23
Obama: Interview mit ABC am 11.1.2009, www.haaretz.com/hasen/apages/1054461.htlm
Barack Obama on climate change, in: Physics Today Campaign 2008 – Where
do they stand on Science?, http://blogs.physicstoday.org/politics08/2008/01/
where_do_you_stand_on_climate_7
Vgl. Daalder, Ivo/Lodal, Jan: The Logic of Zero: Toward a World Without Nuclear Weapons, in: Foreign Affairs 6/2008, S.80-95.
Strukturelle Probleme im transatlantischen Beziehungsgefüge
315
folge-Abkommens für den START-Vertrag vordringlich, der Ende 2009
ausläuft; Moskau fordert aber seinerseits den Verzicht auf das in Polen
und Tschechien geplante Raketenabwehrsystem. Nachdem sich Obama
während des Wahlkampfes für ein Raketenabwehrsystem ausgesprochen
hat, ist offen, wie er sich in dieser Frage verhalten wird. Die Europäer begrüßen zwar die Absicht neuer bilateraler Rüstungskontrollbemühungen,
drängen aber gleichzeitig auf eine Ratifizierung und Anpassung des multilateralen Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (A-KSE).
Russland hat in den letzten Jahren an Selbstbewusstsein gewonnen. Gestützt auf seine reichen Energieressourcen fordert es das Recht auf einen
eigenen Entwicklungsweg ebenso wie auf eine Mitsprache in weltpolitischen Fragen „auf gleicher Augenhöhe“. Im Gegensatz zu John McCain,
seinem Mitbewerber um die Präsidentschaft, vertritt Obama die Auffassung, dass ein Gegner nicht niedergerungen oder ausgegrenzt, sondern
durch eine Strategie des „engagements“ eingebunden und sein Verhalten
verändert werden soll. Die Administration behandelt daher Russland mit
einer Mischung aus Kooperation und Containment. Sie hat erkannt, dass
eine Stabilisierung der Kaukasus-Region und des Mittleren Ostens sowie
die Verhinderung eines nuklear gerüsteten Iran ohne russische Unterstützung keinen Erfolg haben werden. Der Wunsch nach Zusammenarbeit
mit Russland entspricht auch den Interessen Deutschlands, das in hohem
Maße von Öl- und Gaseinfuhren aus Sibirien angewiesen ist und sich um
einen kooperativen – allerdings nicht unkritischen – Umgang mit Moskau
bemüht. In der Vergangenheit war es deshalb scharfer amerikanischer Kritik ausgesetzt.
Die Administration will auch verstärkt mit China kooperieren und dieses
in regionale Sicherheitsstrukturen einbeziehen. Voraussetzung ist aber,
dass sich die Volksrepublik an die Spielregeln hält und es nicht zu einem
Konflikt über Taiwan kommt oder durch grobe Verletzungen der Menschenrechte die Öffentlichkeit der USA gegen China aufgebracht wird.
5. Transatlantische Meinungsverschiedenheiten
Die Mehrzahl der Europäer knüpft große Hoffnungen an die neue Administration. Obamas Ankündigung, Guantanamo zu schließen, die Truppen aus dem Irak abzuziehen, eine neue Klimapolitik zu initiieren und
die multilateralen Institutionen zu stärken, sind in Europa enthusiastisch
begrüßt worden und haben große Erwartungen geweckt. Es wäre aber voreilig, von der neuen Administration fundamentale Änderungen in der Außenpolitik zu erwarten. Nicht alle im Wahlkampf gemachten Versprechen
dürfen auf die Goldwaage gelegt werden, da im Frühjahr 2008 weder die
Wirtschaftskrise noch der Gaza-Krieg abzusehen waren.
316
Helga Haftendorn
Ein Hauptproblem ist die auch bei der neuen Administration sichtbare Tendenz zum einseitigen Vorgehen. Um seine Entschlossenheit zum
Handeln zu demonstrieren, kündigte der Präsident seine ersten außenpolitischen Maßnahmen ohne Konsultationen mit den Partnern an. Bei
der neuen Nahostinitiative war von einer Einbeziehung des „Quartetts“
– neben den USA Russland, die UN und die EU – nicht die Rede. In seiner
ersten Botschaft an die NATO forderte er die Partner zu einem stärkeren
Engagement in Afghanistan auf. Er lud sie aber nicht ein, zusammen mit
Washington über eine geeignete Strategie nachzudenken.
Auch in vielen Sachfragen wird es weiterhin zwischen Amerikanern und
Europäern (aber auch unter den Europäern) unterschiedliche Einschätzungen geben. Bisher gibt es keinen Konsens über das Vorgehen in Afghanistan. Zwar sieht Obama – nun ähnlich wie die Europäer – in der
Intensivierung der Anstrengungen beim zivilen Wiederaufbau und in regionalen Verhandlungen mit den Nachbarn sowie den Taliban wichtige
Voraussetzungen für eine nachhaltige Stabilisierung des Landes. Zunächst
setzt er aber auf eine Verstärkung der Kampfeinsätze und fordert von den
Allianzpartnern ein größeres Engagement und die Aufhebung von Dislozierungsbeschränkungen. Die kriegsmüden Europäer drängen dagegen
auf eine Verhandlungslösung unter Einbeziehung der Nachbarstaaten
und die Entwicklung einer „Exit-Option“ für Afghanistan.
Weitere transatlantische Konflikte sind in der Handelspolitik zu erwarten. Im Wahlkampf hat sich Obama kritisch über das nordamerikanische
Freihandelsabkommen (NAFTA) geäußert und eine Überprüfung der Abkommen mit verschiedenen Staaten, z.B. Kolumbien, gefordert. Diese Äußerungen lassen sich zwar als Wahlkampfrhetorik abtun; die akuten wirtschaftlichen Schwierigkeiten könnten aber vor allem den Kongress dazu
verleiten, die Rezession mit protektionistischen Maßnahmen zu bekämpfen. Gerade unter den demokratischen Kongressmitgliedern gibt es viele
Befürworter eines handelspolitischen Kurses, der die einheimische Industrie schützt und die Arbeitsplätze sichert. Ein erfolgreicher Abschluss der
Doha-Runde ist unter diesen Bedingungen kaum zu erwarten, auch wenn
die meisten Regierungsmitglieder Befürworter einer liberalen Außenwirtschaftspolitik sind.
Es ist aber zu erwarten, dass diese und andere „Knackpunkte“ zwischen
den USA und den Europäern konsensualer als zu Zeiten der Bush-Administration geregelt werden können. Es wird dabei darauf ankommen,
welche Bedeutung Washington multinationalen Institutionen und dem
internationalen Recht beimisst. Im Wahlkampf hat sich Obama für eine
Stärkung der UN ausgesprochen, die er allerdings eher als ein nützliches
Instrument amerikanischer Politik denn als eine übernationale Organisation mit auch für die USA bindenden Beschlüssen sieht.
Strukturelle Probleme im transatlantischen Beziehungsgefüge
317
Für die Europäer steht an erster Stelle die Frage, welche Rolle die NATO
haben wird. Obama betrachtet diese als eine Institution, mit der die USA
sowohl die Sicherheit ihres Landes als auch die der Welt fördern können.
Im Wahlkampf hat er darauf hingewiesen, dass Amerika und Europa aufgrund geteilter Verantwortung und gemeinsamer Werte Demokratie und
Stabilität in Europa verankern sowie ihre Interessen und Werte weltweit
verteidigen könnten. Die USA erwarten daher von ihren Verbündeten,
dass sie ihrer Verantwortung gerecht werden, sich den Herausforderungen
der Stunde stellen und zur Lastenteilung bereit sind.24
Wird die Obama-Administration sie aber als Partner behandeln und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen, durch die Glaubwürdigkeit
und Effektivität der Atlantischen Allianz erhöht werden können? Auf dem
NATO-Gipfel im April 2009 sind dazu noch keine konkreten Vorschläge
zu erwarten. Zunächst muss die Administration eine neue nationale Sicherheitsstrategie entwickeln; sie wird dabei auch die NATO auf den Prüfstand stellen und deren Nutzen für die Bündnispolitik bewerten. Dann
wird sie daran gehen, mit den Verbündeten über ein neues Allianzkonzept
nachzudenken und, darauf gestützt, Reformen der Organisation und der
militärischen Fähigkeiten der Allianz in Angriff nehmen. Inzwischen hat
die Obama-Administration allerdings daran zu zweifeln begonnen, dass die
europäischen NATO-Partner in der Lage und bereit sind, globale Verantwortung zu übernehmen.25 Sie setzt daher verstärkt auf Koalition der Willigen („coalitions of the willing“), wobei diese Tendenz zu einem weiteren
Verlust an Kohäsion in der Allianz führen dürfte.
6. Die Koordinierung transatlantischer Politik
Erst nach einer Reform des Bündnisses wird abzuschätzen sein, ob die
NATO künftig wieder als Koordinierungsrahmen für die transatlantischen
Beziehungen dienen kann. Die Allianz würde davon profitieren, wenn die
Zusammenarbeit in enger Abstimmung mit der EU erfolgen würde. Dies
wird aber bislang durch das Zypern-Problem erschwert, das der Türkei als
Vorwand dient, um eine formale Zusammenarbeit zwischen NATO und
EU abzulehnen, so lange Zypern nicht wiedervereinigt ist. Durch eine engere Abstimmung zwischen beiden Organisationen könnten auch Nichtmitglieder wie Schweden, Finnland und Irland in den Dialog einbezogen
und die Gefahr innereuropäischer Blockaden vermindert werden.
24
25
Obama, Barack: Statement, 3.3.2008, http://advanced.jhu.edu/academic/government/new-president/foreign-policy-issues/in
Dempsey, Judy: U.S. and NATO allies facing hard questions, in: International Herald Tribune, 18.3.2009, in: www.iht.com/bin/printfriendly.
php?id=20896764
318
Helga Haftendorn
Bereits in seiner Berliner Rede hat Obama versprochen, dass er mit der
Europäischen Union partnerschaftlich zusammenarbeiten wolle. Doch
was beinhaltet dieses Versprechen? Bei allem Lob für die EU dürfen sich
ihre Mitglieder nicht der Illusion hingeben, dass die USA sie als einen
Partner von Gewicht betrachtet. In Amerika wird die EU von vielen als
„ein humpelnder Riese“ angesehen, der aufgrund nationaler Idiosynkrasien und interner Zerwürfnisse unfähig ist, seine wirtschaftliche Macht in
diplomatische oder militärische Stärke umzusetzen.26 Aber selbst wenn es
den Europäern gelänge, eine gemeinsame Position zu vertreten, so fehlt
ein geeigneter institutioneller Rahmen für die Zusammenarbeit über den
Atlantik hinweg. Die EU-USA-Gipfel haben sich in der Vergangenheit als
wenig effektiv erwiesen. Sie sollten daher durch die Schaffung eines geeigneten organisatorischen Unterbaus aufgewertet werden. Von Fall zu
Fall könnten sie ergänzt werden durch kleinere funktionale Gremien, in
denen die USA und die Europäer sachbezogen zusammen arbeiten. Als
Vorbilder bieten sich die Vierer-Gruppe, die Library-Group oder die diversen Kontaktgruppen an, die in der Vergangenheit eine erfolgreiche Abstimmung im kleinen Kreis ermöglicht haben.
Ursprünglich dienten die von Frankreich und Deutschland in den siebziger Jahren initiierten Weltwirtschaftsgipfel diesem Zweck; sie sind jedoch
zu Medienspektakeln degeneriert, die kaum noch einen vertraulichen
Meinungsaustausch erlauben. Angesichts der strukturellen Veränderungen im internationalen System entsprechen sie heute weder als G-7 der
großen Industriestaaten noch als G-8 unter Mitwirkung Russlands den
machtpolitischen Realitäten. Dies wurde beim Wirtschaftsgipfel der
Zwanzig Ende November 2008 in Washington deutlich. Künftig werden
viele der globalen Probleme – nicht nur die ökonomischen, sondern auch
die politischen – im Kreis der 20 besprochen werden müssen. Diese Treffen bedürfen auch eines institutionellen Rahmens und der sorgfältigen
Vorbereitung, wenn ihr Ergebnis über Absichtserklärungen und ein Gruppenfoto hinausgehen soll.
Auch wenn die USA weiterhin das einflussreichste Land der Welt sind,
so haben sie ebenso wie die Staaten Europas den Zenit ihrer Macht überschritten. Der westliche Ordnungsentwurf stößt zunehmend auf selbstbewusst vertretene, autoritäre Gegenmodelle. Um deren Dominanz zu
verhindern, ist eine enge europäisch-amerikanische Zusammenarbeit unerlässlich. Aber diese allein ist nicht mehr ausreichend, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.27 Hinzukommen muss
die Kooperation mit anderen Nationen. Die Entwicklung gemeinsamer
Lösungsansätze wird aber durch Unsicherheiten in der Einschätzung des
26
27
„Global Trends 2025”, S.32.
Frankenberger, Klaus-Dieter: Ein Unterbau für den Westen, in: FAZ, 26.11.2008,
S.1.
Strukturelle Probleme im transatlantischen Beziehungsgefüge
319
Partners belastet. Noch sind das Misstrauen der Europäer wegen der hegemonialen Ambitionen der USA und in Amerika die Zweifel an der Verlässlichkeit der Europäer nicht überwunden.
Bei der Gestaltung der transatlantischen Beziehungen kommt Deutschland eine besondere Verantwortung als „Zentralmacht Europas“28 zu. Für
das Land in der Mitte Europas gibt es keinen nationalen oder gar „deutschen Weg“29, weder in den transatlantischen Beziehungen noch in der
Außenpolitik insgesamt. Doch wird es dieser Rolle gerecht? Angesichts
der militärischen Selbstbindung Deutschlands und des vielen zu zögerlich erscheinenden Vorgehens bei der Bekämpfung der globalen Rezession
wird in Washington bezweifelt, dass Berlin eine Führungsrolle ausüben
kann. Die Bundesregierung sollte sich daher in Abstimmung mit ihren
europäischen Partnern um die Erneuerung einer starken gemeinsamen
Stimme bemühen, wenn Deutschland nicht sukzessive an politischer
Relevanz verlieren will. Außerdem sollte sie über geeignete multilaterale
transatlantische Prozesse und Strukturen zur Konfliktregelung nachdenken. Die in den letzten Jahren präferierten bilateralen Kontakte bergen
die Gefahr neuer Spannungen. Sie könnten eine über die Langsamkeit
der Entscheidungsprozesse frustrierte amerikanische Administration dazu
veranlassen, die Europäer auseinanderzudividieren. Noch abträglicher
wäre es, wenn Washington, trotz aller anderslautenden Bekenntnisse, in
den Unilateralismus der Bush-Administration zurückfiele.
28
29
Schwarz, Hans-Peter: Die Zentralmacht Europas auf Kontinuitätskurs. Deutschland stabilisiert den Kontinent, in: Internationale Politik, 11/1999, S.1-10.
Rede des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zum SPD-Wahlkampfauftakt in
Hannover am 5.8.2002, www.wahlkampf2002.net/redendokumente.htlm
Berlin – Washington:
Nucleus einer gemeinsamen
euro-atlantischen Strategie
Thomas Jäger
1. Auf dem Weg zur post-amerikanischen Welt?
Auch wenn es über die konkrete Ausgestaltung der internationalen Ordnung, die aus dem „unipolaren Moment“, wie es Charles Krauthammer
nannte, eine auf Dauer gestellte Dominanz der USA hervorbringen sollte,
und es insbesondere über die beziehungsreiche Formation zwischen uniund multilateralen Elementen in der Abfolge der Präsidentschaften nach
dem Ost-West-Konflikt von Bush über Clinton zu Bush keinen Konsens
gab, sondern verschiedene Strategien der Dominanz gewählt wurden, so
blieb das Ziel, die USA als mächtigsten Staat in einer für alle wichtigen
Fragen zentralen Rolle zu halten, doch gleich.1 Hegemonie, die Anerkennung ihrer Führungsrolle, konnten die USA in der Zeit nach 1991 von den
übrigen Großmächten nicht in gleichem Maß erwarten wie zuvor von
den westeuropäischen Staaten. Von diesen nicht, weil sie sich in dem veränderten Umfeld nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neu finden und
politisch aufstellen mussten und ihren politischen Anspruch in der Einführung einer gemeinsamen Währung ausdrückten. Aber auch die asiatischen Staaten, insbesondere China und Indien, sahen sich selbst eher auf
dem Weg zu mehr internationalem Einfluss und mithin in einer kalkulierten Kooperation mit den USA. Aus diesem Blickwinkel nahm die Kraft der
Westernisierung ab.2 Die Konsequenzen aus amerikanischer Sicht: So wie
durch die ökonomische Macht der EU schon Bipolarität auf dem Gebiet
der Wirtschaft hergestellt sei, würden auch in anderen Bereichen die USA
ihre herausgehobene Stellung verlieren und in der post-amerikanischen
Welt nurmehr ein wichtiger Staat unter anderen sein, die militärische
Macht einstweilen ausgenommen.3 Auf dem Gebiet der militärischen Sicherheit erwartet die chinesische Regierung hingegen in naher Zukunft
intensiveren Wettbewerb.4 Die amerikanischen Dienste selbst prognos1
2
3
4
Haley, Edward P: Strategies of Dominance. The Misdirection of U.S. Foreign
Policy, Washington D.C./Baltimore 2006.
Mahbubani, Kishore: The New Asian Hemisphere. The Irresistible Shift of Global Power to the East, New York 2008.
Zakaria, Fareed: The Post-American World, New York/London 2008.
Information Office of the State Council of the People´s Republic of China:
China´s National Defense in 2008, Beijing 2009, S.4.
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen euro-transatlantischen Strategie
321
tizierten zwar, dass die USA auch noch 2025 die militärisch dominante
Macht sein werden. Allerdings könnte ihre Fähigkeit zur Machtprojektion
durch neue Nuklearwaffenstaaten eingeschränkt werden. Israel und Japan
würden auch deshalb an Sicherheit einbüßen können. Doch bleiben es
die USA, so die Globalen Trends 2025, die bis zu diesem Jahr die Entwicklung der internationalen Ordnung stärker prägen werden als irgendein
anderer Staat, auch wenn sie in der heraufziehenden multipolaren Welt
nie mehr den Einfluss erreichen würden, den sie in den letzten Jahren
gehabt hätten.5
2. Anfang und Ende der Dominanz?
Die große Dominanz der USA in den internationalen Beziehungen nach
1991 ist für die deutsch-amerikanischen Beziehungen und das Verhältnis
zwischen Europa und den USA eine sehr schwierige Zeit gewesen. Diese verdeutlicht ein knapper Vergleich des Endes der Präsidentschaft von
George H.W. Bush mit dem Anfang der Präsidentschaft von Barack Obama. Unter Präsident Bush (41) hatten die USA, vollständig jedenfalls in
ihrer Selbsteinschätzung und vornehmlich in jeder Beurteilung, den militärisch hochgefährlichen Konflikt mit der Sowjetunion friedlich beilegen
können. Es war nicht zur von vielen befürchteten militärischen Auseinandersetzung gekommen, als die zweite Weltmacht in sich zusammenbrach. Auf ökonomischem Gebiet wurde der Sieg des Kapitalismus über
den Kommunismus als Durchsetzung des wirtschaftlich effektivsten und
sozial gerechtesten, gleichzeitig besonders flexiblen und anpassungsfähigen Systems gefeiert. Die freie Marktwirtschaft hatte sich damit weltweit
(mit Ausnahme einiger Pariahstaaten) durchgesetzt. Chinas Entwicklung
bestätigte dies nachdrücklich. Die Beziehungen zu Deutschland hatte Präsident Bush im Mai 1989 während seines Besuches als Partnerschaft in
der Führung (partnership in leadership) beschrieben und damit die Rolle
Deutschlands in den transatlantischen Beziehungen hervorgehoben.
Zu Beginn der Amtszeit von Präsident Obama sehen auf allen drei Gebieten
die Bedingungen grundlegend anders aus. Zwar sind die USA die stärkste Militärmacht der Welt, doch gerät ihre militärische Handlungsfähigkeit
an die Grenze. Die beiden Kriege in Irak und Afghanistan konnten in den
letzten Jahren nicht gewonnen werden. Die Lage im Irak wurde stabilisiert,
nachdem sich die USA zur Zusammenarbeit mit den Milizen, die sie zuvor
bekämpft hatten, entschlossen hatten. Für Afghanistan wird von General
Petraeus derzeit eine parallele Strategie ausgearbeitet. Die USA stehen nicht
als die Macht dar, die im Bewusstsein militärischer Stärke politisch zurückhaltend agiert, sondern als mit hohen Verlusten Krieg führende Macht.
5
National Intelligence Council: Global Trends 2025. A Transformed World,
Washington D.C. 2008, S.93ff.
322
Thomas Jäger
Mit dem endgültigen Ausbruch der Finanzkrise hat die kapitalistische
Wirtschaftsordnung bewiesen, dass sie sich selbst zu ruinieren in der Lage
ist. Damit erlebt die Diskreditierung dieses Wirtschaftssystems, die zuvor
schon, unter den Präsidenten Clinton und Bush (43) mit dem drastischen
Auseinanderklaffen der Einkommen eingesetzt hatte, einen weiteren
Schub. Dies schlug derart heftig auf das transatlantische Verhältnis durch,
dass Kooperation mit drastischen Warnungen eingefordert wurde.6 Nicht
mehr das Gefühl vom Ende der Geschichte, sondern die Suche nach einem neuen ordnungspolitischen Anfang ist weit verbreitet.
Schließlich haben sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht
zur Führung in der Partnerschaft entwickelt, sondern erreichten in den
Jahren 2002 und 2003, im Vorfeld des Irakkrieges, einen historischen
Tiefpunkt. Sicherheitspolitisch sind sie seither nicht produktiv geworden
und mit der Ausweitung des Krieges in Afghanistan und Pakistan steht
ein neuer Konflikt an. Ökonomisch gab es tiefe Verstimmungen gerade
zwischen der demokratischen Seite der USA und der Großen Koalition
zu Beginn der Finanzkrise, deren öffentliche Austragung beweisen, wie
wenig belastbar die Beziehungen derzeit sind.7
3. Was wird aus der westlichen Allianz?
Das spiegelt sich in der öffentlichen Wahrnehmung. Seit 2004 fordern
rund drei Viertel der Deutschen, dass sich die EU als ein den USA gleichwertiger internationaler Akteur konstituieren sollte und insbesondere,
dass die EU der primäre Kooperationsrahmen deutscher Sicherheitspolitik sein solle. Die NATO wird auch von den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages als für die deutsche Außenpolitik nur von nachrangiger Bedeutung angesehen.8 Auch wenn sich die internationalen und inneren
Verhältnisse in den letzten Jahren drastisch geändert haben, bleibt Henry
Kissingers Frage „Was wird aus der westlichen Allianz?“ für die Diskussion
6
7
8
Boone, Peter/Johnson, Simon: The Next World War? It Could Be Financial,
in: The Washington Post, 21.10.2008, B01, http://www.washingtonpost.
com/wp-dyn/content/article/2008/10/10/AR2008101002441_pf.html, Stand:
24.1.2009.
Krugman, Paul: The economic consequences of Herr Steinbrueck, in:
The New York Times, 11.12.2008, unter: http://krugman.blogs.nytimes.
com/2008/12/11/the-economic-consequences-of-herr-steinbrueck/,
Stand:
29.1.2009.
Jäger, Thomas/Oppermann, Kai/Höse, Alexander/Viehrig, Henrike: Die Salienz außenpolitischer Themen im Bundestag. Ergebnisse einer Befragung der
Mitglieder des 16. Deutschen Bundestages, in: Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Außenpolitik (AIPA) 4/2006. Die zweite Befragung 2007
bestätigte dieses Ergebnis. Siehe hierzu Dies: The Salience of Foreign Affairs
Issues in the German Bundestag, in: Parliamentary Affairs 3/2009.
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen euro-transatlantischen Strategie
323
des transatlantischen Verhältnisses zentral.9 Seine Antworten sind nicht
in allen Teilen überholt, stehen bleibt: „Vielleicht gibt es für die Länder
des Westens keine dringlichere Frage als die nach dem Bilde, das sie sich
von ihrer Zukunft machen.“ Das Management der transatlantischen Beziehungen selbst ist dann die vorherrschende Aufgabe der Regierungen
und Gesellschaften.10 Hierfür lässt sich eine Reihe von Gründen anführen,
insbesondere, dass beide Seiten miteinander besser die Wohlfahrt ihrer
Gesellschaften sicherstellen können, dass die USA für die sicherheitspolitische Entwicklung Europas noch immer eine wichtige Rolle spielen, vor
allem aber, dass beide zusammen handlungsmächtiger für internationale
Sicherheit sorgen können.11 Dabei liegt die Betonung nicht nur auf handlungsmächtiger, sondern insbesondere auf zusammen. Denn internationale Sicherheit, so hatte Peterson in realistischer Tradition argumentiert,
setzt die Dominanz von Status quo-Mächten voraus. 1996 war noch nicht
abzusehen, dass sich die USA kurze Zeit später von einer Status quo-Macht
zu einer quasi-revolutionären Macht in den internationalen Beziehungen
entwickeln würden. Sie strebten zwar nicht die Veränderung der internationalen Ordnung an, wollten aber regionale Ordnungsstrukturen, insbesondere im Nahen und Mittleren Osten, mit Gewalt ändern.
4. Das Ende der Westernisierung ist nicht das
Ende des Westens
Die Entwicklungen in den USA und Europa waren nie gleichförmig, der
Westen war stets ein heterogenes Gebilde und keine einheitliche Formation. Viele der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die beide Seiten des Atlantiks voneinander trennen, sind älter
als die bisher angesprochenen Gründe, die in den Veränderungen der
internationalen Ordnung zu suchen sind.12 Und sicherlich wird in den
nächsten Monaten und Jahren angesichts der finanziellen und ökonomischen Probleme eine Verschiebung der Prioritäten zu beobachten sein. Ob
hieraus eine höhere Heterogenität der westlichen Industriegesellschaften
oder eine stärkere Angleichung resultiert, bleibt abzuwarten. Die Verlautbarungen in den USA deuten auf die letztere Entwicklung hin, als Verlaut9
10
11
12
Kissinger, Henry: Was wird aus der westlichen Allianz?, Wien/Düsseldorf 1965,
das folgende Zitat dort S.293.
Diesen Gedanken habe ich an anderer Stelle ausgeführt. Jäger, Thomas: Die
Entwicklung der transatlantischen Beziehungen unter den Bedingungen
machtpolitischer Asymmetrie und kultureller Differenz, in: Transatlantische
Beziehungen. Sicherheit – Wirtschaft – Öffentlichkeit, hrsg. von Thomas Jäger,
Alexander Höse und Kai Oppermann, Wiesbaden 2005, S.13-33.
Peterson, John: Europe and America. The Prospects for Partnership, London/
New York 1996, S.2, 8f.
Kopstein, Jeffrey/Steinmo, Sven (Hrsg.): Growing Apart? America and Europe
in the Twenty-First Century, Cambridge 2008.
324
Thomas Jäger
barung nicht zum ersten Mal. Die Politik der Selbstvergewisserung wird
in naher Zukunft in den USA eine höhere Bedeutung erlangen.13 Über
das veränderte Verhältnis von Religion und Politik ist nach deren konservativer Instrumentalisierung schon eine breite Debatte ausgebrochen14,
ebenso über die Einwanderung.15 Auch in der Europäischen Union wird
die Diskussion über Grenzen und Identität mit Blick auf die Türkei und
die Ukraine neu entfacht werden.
Welche Entwicklung die USA gesellschaftlich nun nehmen, ist ein wichtiger Faktor für die Bestimmung der zukünftigen amerikanischen Interessen. Denn die jetzt sich neu organisierenden Interessen werden ihren
Einfluss mittelfristig geltend machen. Für die kurze Frist stehen aber drei
andere grundlegende Fragen der Veränderung an, die davon geleitet sind,
dass die jeweilige Regierung und der jeweilige Präsident eine bedeutende Rolle bei der Politikgestaltung spielen. Neben diesen eher kurz- und
mittelfristig wirkenden Faktoren sollten die langfristigen nicht übersehen werden. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die Entwicklung der
deutsch-amerikanischen Beziehungen von den folgenden drei Fragen intensiv beeinflusst wird.
5. Der Obama-Faktor
Präsident Obama hat seinen Wahlkampf so geführt, dass die politischen
Inhalte und die bewegungspolitische Aufbereitung zentral auf seine Person bezogen waren. Das verwundert in einem Präsidentschaftswahlkampf
nicht, war aber schon früher die Handschrift seines Wahlkampfstrategen
David Axelrod. Da Axelrod im Weißen Haus eine ähnlich herausgehobene Stellung einnimmt, wie sie bisher nur Karl Rove zukam, kann erwartet werden, dass er Obama auch als Präsidenten so gestalten wird, dass
die Wahlen 2012 gewonnen werden können. Obama muss in den USA
kommunizierbar bleiben. Hierzu ist notwendig, über die Bewegung von
2008 hinaus Wählerkoalitionen aufzubauen, die auch angesichts der zu
erwartenden Schwierigkeiten stabil gehalten werden können. Dies wird
parallel zur Bearbeitung der anstehenden Aufgaben erfolgen, policy und
politics werden, wie in den letzten acht Jahren, Hand in Hand gehen.16
Deshalb stellt sich die Frage, welche öffentliche Ausgestaltung Obama als
13
14
15
16
Schuck, Peter H./Wilson, James Q. (Hrsg.): Understanding America. The Anatomy of an Exceptional Nation New York 2008. Die ethnische Dimension dieser Entwicklung hatte Samuel Huntington thematisiert.
Dionne, E.J. Jr.: Souled out. Reclaiming Faith and Politics After the Religious
Right, Princeton/Oxford 2008.
Barone, Michael: The New Americans. How the Melting Pot can Work Again,
Washington D.C., 2.Aufl., 2006.
Moore, James/Slater, Wayne: The Architect. Karl Rove and the Dream of Absolute Power, New York 2006.
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen euro-transatlantischen Strategie
325
Präsident erfahren wird. Das lässt sich nach den ersten Wochen noch nicht
vollständig absehen. Es kommen gemischte Signale. Das Konjunkturpaket
beispielsweise enthielt deutlich mehr Anteil an Steuersenkungen, als die
Demokraten im Kongress befürworteten, und auch hinsichtlich der Steuergesetzgebung waren die ersten Äußerungen Obamas dazu angetan, republikanische Positionen zu integrieren. Auch beim Kampf gegen den Terror,
der weiter unten ausgeführt wird, war dieses Doppelspiel zu beobachten.
Für die Einschätzung der deutsch-amerikanischen Beziehungen der
nächsten acht Jahre ist nicht unerheblich, welcher Präsident Obama sein
wird. Je nach thematischen und symbolischen Schwerpunkten könnte
Deutschland ein eher wichtiger oder ein eher nachrangiger Partner werden. Der Präsident hat seine Prioritäten noch nicht gesetzt. Sie werden
ihm teilweise von außen aufgezwungen werden, aber er wird sie in einer
Weise öffentlich interpretieren, die es ihm erlaubt, sich als erfolgreich darzustellen. Dies wird genau zu beobachten sein, um die deutschen Einflusschancen zu erkennen. Denn im Verhältnis der beiden steht fest, wer sich
in die Prioritäten des anderen einfinden muss, soll es zu einer Revitalisierung des transatlantischen Verhältnisses kommen.
6. Die Stellung der Exekutive in den USA
Die Entwicklung des politischen Systems der USA hatte unter der Präsidentschaft Bush/Cheney eine Konzentration der Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit auf Seiten der Exekutive erfahren.17 Je nach politischer
Intention ist von einer neuen Phase der imperialen Präsidentschaft gesprochen worden18 oder von der dunklen Seite der Macht.19 Die Regierung
hatte aufgrund eigener rechtlicher Expertise den Kongress aus einer Reihe
von zentralen Entscheidungen ausgeschlossen, nicht informiert und auf
Nachfrage das Recht, bestimmte Informationen zu erhalten, bestritten.
Sie ist dafür sogar von eigenen Juristen heftig kritisiert worden.20
Für die nahe Zukunft stellt sich die Frage, ob das Verhältnis zwischen
Präsident und Kongress in der unter Präsident Bush ausgebildeten Form
bestehen bleibt oder ob es dem Kongress gelingt, Partizipations- und Kontrolloptionen zurückzuholen. Das ist für die Gestaltung der bilateralen
und transatlantischen Beziehungen wichtig, um die Diskussion in den
17
18
19
20
Gellman, Barton: Angler. The Cheney Vice Presidency, New York 2008.
Cohen, Adam: Just What the Founders Feared: An Imperial President
Goes to War, in: The New York Times, 23.7.2007, http://www.nytimes.
com/2007/07/23/opinion/23mon4.html, Stand: 12.1.2009.
Mayer, Jane: The Dark Side. The Inside Story of How the War on Terror Turned
into a War on American Ideals, New York 2008.
Goldsmith, Jack: The Terror Presidency. Law and Judgement Inside the Bush
Administration, New York 2007.
326
Thomas Jäger
USA richtig einschätzen und politisch die relevanten Verbündeten identifizieren zu können. Die bisherigen Hinweise auf das Programm von Präsident Obama lassen darauf schließen, dass er versuchen wird, die herausgehobene Stellung der Exekutive zu bewahren. Erstens wird immer wieder
darauf hingewiesen, dass sein deutlicher Wahlsieg eine eigenständige Legitimation zur Führung des Landes bedeute; zweitens laufen alle Programme, insbesondere die über 1.500 Milliarden schweren Konjunktur- und
Unterstützungsgesetze, auf eine zumindest pekuniär unvergleichliche
Handlungsmacht der Regierung hinaus; drittens sehen die Reformen insbesondere im Gesundheitsbereich eine größere Rolle des Staates vor. Alle
Pläne der Demokraten,21 aber auch die der Reform-Republikaner22 sehen
für die Zukunft kein small government in den USA. Für die Überlegungen zu einer gemeinsamen transatlantischen Strategie und der Rolle, die
Deutschland darin einnehmen kann, ist es von Bedeutung, über welchen
Handlungsspielraum die amerikanische Exekutive in ihrer Beziehung
zum Kongress verfügt. Dieser stellt zwischen den Wahlen den einzigen
Vetospieler im politischen System der USA dar. Die öffentliche Meinung,
der zweite Vetospieler, der allerdings nur bei Wahlen wirklich relevant ist,
wird von der Administration Obama sicherlich anders und klüger gesteuert werden, als dies der Administration Bush nach 2004 gelang. Sie wird
zudem derzeit nicht fürchten müssen, dass die Medien sie ähnlich kritisch
begleiten, wie dies in der zweiten Amtszeit von Bush der Fall war. Das deutet auf eine starke Stellung der Exekutive der USA hin.
7. Neue amerikanische Außenpolitik?
Zur Entfremdung zwischen den USA und Europa hatte wesentlich die Außenpolitik von Präsident Bush beigetragen, die es als unerheblich ansah,
die hegemoniale Stellung der USA im Westen aufrechtzuerhalten. Die eigenen Fähigkeiten wurden als ausreichend angesehen, die Erfahrungen
der Koalitionskriegsführung aus dem Kosovokrieg sprachen ebenfalls für
autonomes Handeln, und die Terroranschläge vom 11. September 2001
statteten die Administration mit einem dicken Legitimationspolster bei
der eigenen Bevölkerung aus. Und nur die amerikanische Bevölkerung
war in der Einschätzung der USA für die Legitimation wichtig.23 Hier hatte
sich die Beurteilung seit dem ebenfalls ohne UN-Mandat geführten Kosovokrieg gewandelt.
21
22
23
Emanuel, Rahm/Reed, Bruce: The Plan. Big Ideas for America, New York 2006.
Frum, David: Comeback. Conservatism That Can Win Again, New York 2008.
Jäger, Thomas: Die Rolle der amerikanischen Öffentlichkeit im unipolaren System und die Bedeutung von Public Diplomacy als strategischer und taktischer
Kommunikation, in: Die amerikanische Regierung gegen die Weltöffentlichkeit? Theoretische und empirische Analysen der Public Diplomacy zum Irakkrieg, hrsg. von Thomas Jäger und Henrike Viehrig, Wiesbaden 2008, S.15-38.
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen euro-transatlantischen Strategie
327
Als die amerikanische Bevölkerung ihrer Regierung die Unterstützung für
die Außenpolitik versagte und bei den Wahlen 2006 die damalige Opposition wählte, gelangte diese Form des Unilateralismus an ihr Ende. Die
unilaterale Handlungsoption stand nun nicht mehr an erster Stelle, sondern war die Möglichkeit des stärksten Staates der Welt, auch wenn alle
anderen sich versagten, alleine bestimmte Ziele zu verfolgen. In dieser
Interpretation hatte schon Präsident Clinton unilaterale Politik betrieben.
Noch ist nicht abzusehen, welchen Stellenwert unilaterale Handlungen
für die Administration Obama haben. Wenig deutet darauf hin, dass die
Erwartung eines umfassenden Multilateralismus erfüllt werden wird, auch
wenn dies zum außenpolitischen Kanon aller Kandidaten im Wahlkampf
2008 gehörte.24
Die Entscheidungen, die amerikanischen Truppen aus dem Irak abzuziehen, den Krieg in Afghanistan und Pakistan zu intensivieren, Nuklearwaffen im Iran mit allen Mitteln zu verhindern oder die eigenen Nuklearwaffen zu modernisieren, werden alle von der amerikanischen Regierung
getroffen. Mitentscheidungen anderer Regierungen sind nicht vorgesehen. Die Frage wird sein, wie sich die amerikanischen, europäischen und
deutschen Interessen in einzelnen Konflikten verbinden lassen, ob sie
parallel oder gegensätzlich wirken und wer am Ende mit seiner Politik
erfolgreich sein wird. Nicht immer muss der stärkste Staat Erfolge erzielen;
kein anderer kann ihn daran hindern, Fehler zu begehen.
8. Nukleare Modernisierung
Mit der Ankündigung neuer Abrüstungsgespräche mit Russland und der
Beschreibung der Vision einer nuklear-waffenfreien Welt nimmt die Nuklearpolitik der Administration Obama erste Konturen an. Schon Senator
Kerry hatte zum Antritt seines Amtes als Vorsitzender des Auswärtigen
Ausschusses des Senats die parallel mit Russland vorzunehmende Reduzierung auf tausend Sprengköpfe propagiert. Damit griff er eine Diskussion um nukleare Abrüstung auf, die hochrangig geführt wird.25 Der von
Präsident Obama im Amt behaltene Verteidigungsminister Gates hat auf
die Notwendigkeit hingewiesen, eine ausreichende Abschreckungskapazi-
24
25
Jäger, Thomas: Kann die neue amerikanische Administration Hegemonie provozieren? Nach George W. Bush zeichnet sich ein neuer außenpolitischer Konsens ab, in: Sicherheit und Frieden 3/2008, S.119-126.
Shultz, George P./Perry, William J./Kissinger, Henry A. u.a.: Toward a Nuclear-Free World, in: The Wall Street Journal, 15.1.2008, http://online.wsj.com/
article/SB120036422673589947.html?mod=opinion_main_commentaries,
Stand: 16.1.2009.
328
Thomas Jäger
tät aufrechtzuerhalten,26 und das bedeutet, die Nuklearwaffen zu modernisieren, wie es das Reliable Replacement Warhead Program vorsieht. Hier
wird es noch zu Auseinandersetzungen in der Administration kommen
und noch ist die politische Linie nicht zu erkennen. In Deutschland wird
sie hingegen vorweggenommen, indem Präsident Obama auf das Interesse an weiterführenden Abrüstungsschritten festgelegt wird. Aus dem State
Department wurde hiervor gewarnt, weil dies eine den amerikanischen
Prioritäten nicht angemessene Einschätzung sein könnte.27 Insbesondere
wird auch von der neuen Administration der Nexus zwischen terroristischen Vereinigungen und Massenvernichtungswaffen betont. „The gravest threat that America faces is the danger that weapons of mass destruction will fall into the hands of terrorists.”28 Solange dieser Zusammenhang
als größte Gefahr für die amerikanische Sicherheit gesehen wird und das
strategische Denken anleitet, ist nicht zu erkennen, wie der Kampf gegen
den Terror, der genau auf diesem Nexus aufbaut, beendet werden kann.
9. Afghanistan und Pakistan
Die neue amerikanische Administration beabsichtigt, den Krieg gegen den
Terror, zu dessen Hauptschauplatz die Regierung Bush den Irak erklärt hatte,
in Afghanistan zu intensivieren. Dies schließt das Grenzgebiet zu Pakistan
mit ein. Präsident Obama hat, wenige Tage im Amt, weitere zwei Angriffe mit Drohnen in Pakistan befohlen. Anders als für Guantanamo, dessen
Schließung am ersten Tag verkündet wurde, wurde für das fast dreimal größere Gefängnis in Bagram nahe Kabul nur eine Überprüfungskommission
eingesetzt, die innerhalb der ersten sechs Monate einen Bericht vorlegen
soll. Diese Zweigleisigkeit verdeutlicht, dass auch unter Präsident Obama
der Krieg gegen den Terror weitergeführt wird.29 Deutlich wurde dies auch
im Zusammenhang des Gazakrieges, der noch vor die Amtseinführung Obamas fiel. Hillary Clinton hatte in ihrer Anhörung vor dem Senat erklärt,
dass auch die neue Administration keine Gespräche mit der Hamas führen
werde, solange diese sich nicht von ihrem Programm distanziert.
26
27
28
29
Gates, Robert M.: A Balanced Strategy. Reprogramming the Pentagon for a
New Age, in: Foreign Affairs, Januar/Februar 2009, http://www.foreignaffairs.
org/20090101faessay88103-p10/robert-m-gates/a-balanced-strategy.html,
Stand: 17.1.2009.
Guevara, Hugo: Germany´s Transatlantic Agenda: Recipe for Disappointment,
AICGS 19.9.2008. Das Dokument wurde nach einigen Tagen von der Homepage genommen und ist derzeit im Netz nicht zu finden.
Senate Confirmation Hearing: Hillary Clinton, in: The New York Times,
13.1.2009, http://www.nytimes.com/2009/01/13/us/politics/13text-clinton.
html, S.14ff., Stand: 14.1.2009.
Eine andere Einschätzung über die strategische Ausrichtung der amerikanischen Politik vertritt Roger Cohen: After the War on Terror, in: The New York
Times, 29.1.2009, http://www.nytimes.com/2009/01/29/opinion/29cohen.
html?_r=1&ref=opinion, Stand: 29.1.2009.
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen euro-transatlantischen Strategie
329
Dieser langanhaltende Krieg, der möglicherweise einen neuen Namen bekommen wird, soll in Afghanistan intensiviert werden. Der Druck auf die
afghanische Regierung soll erhöht und die Distanz zu Präsident Karzai,
dem entscheidenden Verbündeten von Präsident Bush in Afghanistan,
hergestellt werden. Parallel zur militärischen Aufrüstung um mehrere
zehntausend Soldaten deutet sich an, dass die amerikanische Regierung
das Konzept des Irakkrieges nach Afghanistan transferieren möchte: Koalitionen mit lokalen Machthabern eingehen, um das Land zu befrieden.
Dieser Strategiewechsel stand hinter dem Erfolg der surge im Irak. Allerdings weist der Irak eine andere ethnische Struktur als Afghanistan auf,
weshalb hier aus dem gleichen amerikanischen Verhalten ein Bürgerkrieg
gegen die Paschtunen, die Hauptträger der Taliban, resultieren könnte.
Die Gefahren sind für das afghanische Territorium schon enorm, sie
potenzieren sich, wenn die Kampfhandlungen nach Pakistan ausgeweitet
werden. In ihrer Anhörung vor dem Senat hat die neue amerikanische
Außenministerin Clinton den Konflikt schon unter Nennung beider Staaten beschrieben, und im amerikanischen Jargon bildet sich die Bezeichung
„Af Pak“ heraus.30
Hier ergeben sich möglicherweise sehr bald unterschiedliche Einschätzungen zwischen Washington und Berlin, da die amerikanische Regierung für
den Kampf in Afghanistan frische Truppen und mehr Geld benötigt und
die Bundesregierung beides nicht zur Verfügung stellen will. Es mag sich
dann als Nachteil erweisen, die letzten Jahre in Deutschland nicht intensiver dafür genutzt zu haben, über eine alternative Strategie für diesen
Konflikt nachgedacht zu haben. Denn der seitens der Bundesregierung
betonte Ansatz, einen Staat samt Zivilgesellschaft aufbauen zu wollen,
hat bisher eher geringe Erfolge gezeitigt und wirkte eher verhüllend als
aufklärend. Die Vermeidung kognitiver Dissonanzen führt häufig in tiefere Probleme. Die mangelhafte politische und strategische Abstimmung
könnte nun die Kosten für alle Beteiligten erhöhen, wenn die amerikanische Regierung diesen Krieg intensivieren will.
10. Nuklearmacht Iran?
Mit allen diesen Fragen hängt die regionale und internationale Rolle des
Iran zusammen, manche Beobachter sehen in der iranischen Regierung
sogar einen Schlüssel, die verschiedenen Probleme zu lösen. Das mag
übertrieben sein. Richtig aber ist, dass die iranische Regierung die USA
und ihre Verbündeten, insbesondere Israel, an verschiedenen Standorten
im Nahen und Mittleren Osten verletzen kann. Möglicherweise hat diese
30
Senate Confirmation Hearing: Hillary Clinton, in: The New York Times,
13.1.2009, S.14ff.
330
Thomas Jäger
Form der Abschreckung durch asymmetrische Kriegsführung dazu beigetragen, dass die Administration Bush keinen militärischen Schlag gegen
Iran geführt hat, wie es Vizepräsident Cheney gefordert und die israelische Regierung angeboten hat.
Auch die Administration Obama verfolgt das Ziel, dem Iran mit allen
Mitteln Nuklearwaffen zu verweigern. Dass dies nun auf diplomatischem
Weg möglich sein soll, wird von vielen bezweifelt. Allerdings mangelt es
an Ideen, wie der Iran anders davon abgehalten werden kann. Vielleicht
muss man eingestehen, dass dies nicht gelingen wird.
11. Das Ende der externen Demokratisierung?
Es gibt in den USA eine breite Unterstützung für die Demokratisierung anderer Staaten. Sie reicht von der demokratischen Partei bis zur Idee einer
Liga der Demokratien bei John McCain. Präsident Bush, der 2001 mit großen Vorbehalten gegen Projekte des nation-building ins Amt kam, übernahm die Perspektive der Demokratisierung und fügte diese idealistische
Komponente seiner Außenpolitik zu. Die Unterstützung demokratischer
Entwicklungen lag auch jeweils im Interesse der europäischen Staaten,
doch gab es einen kategorialen Unterschied. Während die europäischen
Staaten hier einen bottom-up-Ansatz verfolgen, der den Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen anstrebt, aus denen später ein demokratisches System erwachsen soll, ging es im amerikanischen Verständnis um
Demokratisierung von oben: Elitentausch, Regimewechsel und eine veränderte Anreizstruktur. Die intellektuelle Herkunft solcher Konzepte ist in
ökonomischer Literatur leicht zu finden.
Präsident Obama hat in seinem ersten Interview, das er einem ausländischen Sender gab, gegenüber Al-Arabiya erklärt: „To the Muslim world,
we seek a new way forward, based on mutual interest and mutual respect.“ Dies wurde in den USA als Abkehr von dem Ziel der Demokratisierung verstanden und entsprechend kommentiert.31 Ob damit wirklich die
Diplomatie der Freiheit an ihr Ende gekommen ist, wird man abwarten
müssen. Jedenfalls lassen sich Zeichen dafür erkennen, dass der von Präsident Bush gewählte Ansatz einer offenen und robusten Demokratisierung
nicht mehr die Außenpolitik der USA bestimmen wird.
31
Ajami, Fouad: Obama Tells Arabia´s Despots They`re Safe, in: The Wall Street
Journal, 28.1.2009, http://online.wsj.com/article/SB123310499999722371.
html, Stand: 29.1.2009.
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen euro-transatlantischen Strategie
331
12. Militärische Prävention
Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Doktrin der militärischen Prävention, die Präsident Bush nach der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2002
eingeführt hatte, von Präsident Obama aufgehoben werden wird.32 Die
Bush-Doktrin war ein Symbol für die unilaterale Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik, weil sie das militärische Handeln der USA außerhalb von internationalem Recht ansiedelte. Restriktionen, die für andere
Staaten gelten sollten, wurden für die USA abgelehnt. Zwar wurden die
internationalen Normen auch früher missachtet, beim Kosovokrieg beispielsweise, aber die Regierungen bemühten sich erstens dies zu bedauern
und zweitens zu heilen. Das Recht auf antizipatorische Selbstverteidigung
sollte den USA hingegen aus eigenem Recht, d.h. aus eigener Macht zustehen.
Auch ist nicht zu erkennen, dass die amerikanische Art, Krieg zu führen,33
und die damit verbundene Transformation der Streitkräfte aufgehoben
werden wird. Die grundlegenden Herausforderungen für die Neuordnung der Sicherheitsinstitutionen haben sich nicht geändert und die im
Wahlkampf von Präsident Obama angekündigten Vorhaben deckten sich
schon damals passgenau mit den Planungen von Verteidigungsminister
Robert Gates.
13. Deutschland und Europa
Kann die Bundesregierung ausreichend Einfluss in der EU entfalten, um
als Vorreiter einer neuen transatlantischen Agenda erfolgreich agieren zu
können? Es ist noch nicht die Frage, ob sie es will, nur, ob sie es kann. Die
deutsche Präsidentschaft liegt erst kurze Zeit zurück und sie wurde hierfür
nicht verwendet. Die Finanzkrise hat offen gelegt, dass sehr unterschiedliche wirtschaftliche Interessen bestehen und divergierende Lösungen zu
ihrer Überwindung beschlossen wurden, und zwar nicht nur zwischen
der EU und den USA, sondern auch innerhalb der EU. Über die Irakpolitik
bestand von Beginn an Uneinigkeit und die Afghanistanpolitik hat tiefe
Gräben zwischen den NATO-Mitgliedstaaten dokumentiert. Die Energiepolitik weist äußerst unterschiedliche Strategien sowohl innerhalb der EU
(etwa am Beispiel der Kernenergie) als auch zwischen den USA und der EU
aus. Die Russlandpolitik ist zwischen den EU-Staaten und im transatlan32
33
Jäger, Thomas/Höse, Alexander/Oppermann, Kai (Hrsg.): Die Sicherheitsstrategien Europas und der USA. Transatlantische Entwürfe für eine Weltordnungspolitik, Baden-Baden 2005.
Boot, Max: The New American Way of War, in: Foreign Affairs, Juli/August
2003,
http://www.foreignaffairs.org/20030701faessay15404/max-boot/thenew-american-way-of-war.html, Stand: 18.1.2009.
332
Thomas Jäger
tischen Verhältnis umstritten. Einzig in der Klimapolitik sind Beschlüsse
gefasst worden, die eine größere Übereinstimmung mit der neuen amerikanischen Regierung erwarten lassen. Doch wird hier die Finanzkrise
dahingehend Spuren hinterlassen, dass das Thema an Priorität einbüßt
und eine erfolgreiche amerikanische Umweltpolitik Exportkonkurrenz
auslösen könnte.
Die derzeit sichtbaren amerikanischen Prioritäten sind nicht die deutschen und umgekehrt. Und wo die gleichen Prioritäten bestehen, etwa
bei der Stabilisierung der Welthandelsordnung, existieren unterschiedliche Interessen. Die geld- und handelspolitische Konkurrenz könnte in
kurzer Frist verschärft werden. Darauf, wie auf die Intensivierung der Kriege, die seitens der USA und der NATO gerade geführt werden, wird die
Bundesregierung vorbereitet sein. Jedenfalls sollte das Nachdenken über
die Zukunft der transatlantischen Beziehungen einen hohen Stellenwert
in der Regierung einnehmen. Die EU-Mitgliedstaaten nehmen auf den
wichtigen Gebieten unterschiedliche Positionen ein und stehen bei der
Festlegung der transatlantischen Agenda in Konkurrenz zueinander.
14. Deutschland und die USA
Es ist fraglich, ob es in den zentralen Herausforderungen zu Beginn des
Jahres 2009, so wie sie von den Regierungen wahrgenommen und interpretiert werden, ausreichend Übereinstimmungen zwischen der amerikanischen und deutschen Auffassung gibt, um in den bilateralen Beziehungen den Kern einer neuen transatlantischen Agenda ausarbeiten zu
können. Diese setzt voraus, dass die gleichen Herausforderungen wahrgenommen werden, dass diese Herausforderungen und die möglichen Lösungen kompatibel interpretiert und bewertet werden, dass über die Prioritätenliste Einigkeit besteht und schließlich ein Modus zur Verteilung
von Kosten und Gewinnen gefunden werden kann, dem alle Beteiligten
zustimmen können.
Angesichts der Bedeutung, die die USA für Deutschland und die europäische Entwicklung immer noch haben, angesichts ihrer überragenden Stellung in den internationalen Beziehungen und der Tatsache, dass größere
Konflikte ohne sie nicht produktiv bearbeitet werden können, ist es keine
gute Ausgangslange, wenn die Prioritäten zwischen Deutschland und den
USA inkompatibel und die politischen Interessen disparat sind. Die Arbeit am transatlantischen Verhältnis beginnt für beide zu Hause. Für die
USA, weil sie zur Wiedererlangung ihrer hegemonialen Stellung im Westen auf die politischen Prioritäten ihrer Verbündeten Rücksicht nehmen
müssen. Für Deutschland, weil es, um Einfluss gewinnen zu können, die
politischen Prioritäten der USA berücksichtigen muss. Derzeit aber schei-
Berlin – Washington: Nucleus einer gemeinsamen euro-transatlantischen Strategie
333
nen beide Staaten zu sehr mit eigenen Schwierigkeiten konfrontiert, um
sich dieser Aufgabe widmen zu können. Dabei stellt die Gestaltung der
internationalen Ordnung in sicherheits- und wirtschaftspolitischer Hinsicht die primäre, andere Herausforderungen beeinflussende Aufgabe dar.
In den USA sieht man dies aufgrund der eigenen Größe hin und wieder
nicht, in Deutschland wegen der Orientierung auf die EU nicht. Das wäre
aber nicht nur ein Rezept für Enttäuschungen, sondern in der gegebenen
Lage eine katastrophale Entwicklung.
15. Fazit
Deutschland ist auf ein stabiles Umfeld in Europa und der Welt angewiesen. Sicherheitspolitische Stabilität und offene Märkte haben die Entfaltung Deutschlands in den letzten Jahrzehnten ermöglicht. An den grundlegenden Bedingungen, die für eine erfolgreiche Entwicklung benötigt
werden, hat sich nichts geändert.
Kein anderer Staat prägt die Umwelt für deutsche Außenpolitik so stark
wie die USA und die amerikanische Position ist für die Gestaltung der
regionalen und internationalen Ordnung von großer Bedeutung. Deshalb
wäre es den deutschen Interessen förderlich, wenn es eine große Überschneidung mit amerikanischen Interessen geben würde. Das ist derzeit
nicht zu beobachten, im Gegenteil bilden sich seit einigen Jahren Indifferenzen und Rivalitäten aus. Das lässt sich unter den gegebenen Bedingungen nur schwer ändern. Die Bundesregierung sollte deshalb Felder der
intensivierten Kooperation identifizieren, auf denen gesellschaftliche Interessengruppen parallelen Nutzen erarbeiten können. Dies kann dann eine
gute Grundlage für die Verständigung über politische Ordnungsmodelle
sein. Bis dahin gilt: Ein Imperativ für deutsche Außenpolitik ist, nicht in
diametralen Gegensatz zu den USA zu geraten und die Balance der transatlantischen Beziehungen zur europäischen Entwicklung zu halten.
Die deutsch-amerikanische
Sicherheitspartnerschaft
Christian Schmidt
Die zentrale Bedeutung und der hohe Stellenwert der sicherheitspolitischen Partnerschaft Deutschlands mit den USA lassen sich im Kern mit
drei grundlegenden gemeinsamen Zielen umschreiben: Wahrung der Freiheit, Erhalt der demokratischen Werte und Sicherung des Wohlstands.
Die Bedeutung und Aktualität dieser Inhalte wird im Wesentlichen vor
dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts für Deutschland
wie für die gesamte Welt deutlich. Der Wiederaufbau Deutschlands, unsere Verankerung in die westliche Wertegemeinschaft und nicht zuletzt die
friedliche Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wären ohne amerikanische Hilfe nicht möglich gewesen.
Die so geschaffenen Grundlagen einer bei allen Schwankungen und Bewährungsproben doch stets verlässlichen Zusammenarbeit und Sicherheitspartnerschaft zwischen den USA und Deutschland tragen uns noch
heute, auch wenn sich die Rahmenbedingungen nach Ende des Kalten
Krieges schwieriger und unübersichtlicher gestalten. Im Zeitalter der Globalisierung und komplexer Herausforderungen hat unilaterales staatliches Handeln kaum Aussicht auf Erfolg.
Das Handeln im Rahmen von multinationalen Organisationen und
Bündnissen, zuallererst in NATO, Europäischer Union und den Vereinten Nationen, ist daher für Deutschland zentrales Element außen- und
sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit. Dies ist der Rahmen, in dem
wir unsere Freiheit und unseren Wohlstand erhalten sowie wirksame Politik betreiben können.
Bi- und multilaterale Partnerschaften und Bündnisse bleiben nur dann
effektiv, wenn sie gepflegt werden und sich an veränderte Herausforderungen anpassen. Wie jede Partnerschaft sind sie Schwankungen unterworfen. Dies gilt in ganz besonderem Maße für die Freundschaft und
die sicherheitspolitische Partnerschaft mit den USA und damit in einem
größeren Kontext auch für die transatlantische Partnerschaft zwischen
Nordamerika und Europa. In einer Partnerschaft gilt es auch, die gebotene Offenheit und Ehrlichkeit an den Tag zu legen: Das aktuelle deutschamerikanische Verhältnis ist verbesserungsbedürftig. Unterschiedliche
Auffassungen zum Krieg im Irak und fortgesetzte Diskussionen über
Die deutsch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft
335
eine gerechte Lasten- und Risikoverteilung in aktuellen NATO-Einsätzen
haben das Klima auf beiden Seiten teilweise emotionalisiert.
Mit der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der USA und seinem Amtsantritt verbindet sich die Hoffnung auf eine Belebung unserer Zusammenarbeit und die Erwartung, dass sich die strategische Partnerschaft mit
neuem Leben füllt. Dabei ist es wahrscheinlich, dass die USA Deutschland
und Europa nicht mehr als den bevorzugten Partner, sondern als eine unter vielen Regionen betrachten. Natürlich bleibt Europa ein wichtiger und
willkommener Partner, aber es gibt keinen Automatismus. Wenn wir also
mit den USA zusammenarbeiten wollen, müssen wir etwas dafür tun.
Barack Obama und die Demokraten feierten einen großen Wahlsieg. Seit
dem Triumph Lyndon B. Johnsons über Barry Goldwater 1964 hat kein
Demokrat mehr derart überlegen gewinnen können. Dass dies dem ersten
afro-amerikanischen Präsidenten in der Geschichte der USA gelungen ist,
verleiht der Wahl zweifellos das Etikett „historisch„. Man kann die Wahl
und ihre zu erwartenden Auswirkungen mit den Umbrüchen von 1932
(Roosevelt und der „New Deal„) und von 1980 (Reagan und „Reagonomics„) vergleichen. Barack Obama erreichte nicht nur eine klare Mehrheit
bei den Wahlmännern, sondern auch mehr als 50 Prozent aller Stimmen
der Bevölkerung. Von Präsident Obama wird nun erwartet, dass er sein
Versprechen zur überparteilichen Zusammenarbeit einlöst. Er wird von
vielen im In- und Ausland fast als Heilsbringer wahrgenommen. Dennoch
gilt es, die Erwartungen an ihn realistisch zu gestalten. Nachdem die USA
unter der Präsidentschaft George W. Bushs psychologisch, wirtschaftlich
und in ihrer internationalen Anerkennung ein historisches Tief erreicht
haben, steht der neue Präsident vor drei zentralen Herausforderungen:
–
–
–
Versöhnung der tief verunsicherten und polarisierten amerikanischen
Gesellschaft,
Umkehrung des wirtschaftlichen und außenpolischen Niedergangs
sowie
Reduzierung des Glaubwürdigkeitsverlustes der USA im internationalen Kontext. In den nächsten Wochen werden die Versprechen des
Wahlkampfes in konkrete Politikpläne transformiert.
Innenpolitisch werden von der neuen US-Administration schnelle Erfolge
in den Bereichen Wirtschaft, Gesundheit, Bildung sowie Klima und Einwanderungspolitik erwartet. Außenpolitisch drängt eine Reihe weiterer
Herausforderungen: Zu nennen sind hier unter anderem der Rückzug der
Truppen aus dem Irak, das iranische Nuklearprogramm, ein Neuansatz
im Nahost-Friedensprozess angesichts der Kämpfe im Gaza-Konflikt, eine
konstruktivere Ausgestaltung der Beziehungen zu Russland, die Verstärkung des internationalen Engagements in Afghanistan sowie die Stabili-
336
Christian Schmidt
sierung Pakistans. Aber auch die Fragen nach der amerikanischen Haltung
zur Energie- und Klimaschutzpolitik sowie nach der Möglichkeit, die protektionistische Grundstimmung der US-Gewerkschaften mit dem internationalen Freihandel in Einklang zu bringen, werden zu beantworten sein.
Das übergeordnete Ziel Obamas wird es sein, die „Marke„ USA durch eine
Politik des Multilateralismus (unter Führung der USA) in ein positiveres
Licht zu rücken. Unverändert gilt für die neue US-Administration, dass Inneres und Äußeres eng miteinander verknüpft sind und eine ausgreifende
Außenpolitik nur durch die Wähler unterstützt wird, wenn es zu einem
wirtschaftlichen Aufschwung im Inneren kommt.
1. Die deutsch-amerikanischen sicherheits- und
militärpolitischen Beziehungen
Die sich abzeichnende Ausgangsposition der neuen US-Administration
mit Blick auf die deutsch-amerikanischen, aber auch auf die europäischen
Beziehungen (einschließlich NATO) dürfte wohl weitgehend identisch
mit der Linie der alten Administration sein und damit auch zukünftig bei
folgenden Themen für Auffassungsunterschiede sorgen und damit Diskussionen anregen:
–
–
–
Weiterentwicklung der NATO zu einer global handlungsfähigen Allianz,
Fähigkeitenaufbau und generelle Erhöhung der Verteidigungsausgaben,
Forderung nach Übernahme größerer Lasten und Risiken durch die
europäischen Partner, insbesondere auch Deutschlands, zumindest
im „Soft-Power-Bereich„, entweder durch Kräfte- und Fähigkeitenbeiträge oder größere finanzielle Leistungen.
Für die anstehenden Herausforderungen ist Präsident Obama auf Mitstreiter jenseits seiner Partei und Bewegung angewiesen – auf moderate Republikaner ebenso wie auf Verbündete in Europa und anderswo. Klar ist,
dass die Europäer nur insoweit miteinbezogen werden, wie sie auch bereit
sind, auf die Erwartungen und Forderungen der USA einzugehen.
Die transatlantische Beziehung ist unverändert zentrales Element unseres
innen- und außenpolitischen Selbstverständnisses sowie unserer sicherheits- und verteidigungspolitischen Praxis. In diesem Sinne wird es zukünftig besonders darauf ankommen, konsensfähige Elemente einer USamerikanischen Politik und Führungsrolle in jeder Hinsicht – auch bei
unseren EU-Partnern – nachhaltig zu unterstützen. Gleichzeitig sollten
aber weiterhin die Bestandteile einer USA-Politik, die unseren oder auch
europäischen Interessen widersprechen, im Geiste einer engen, traditionell offenen Partnerschaft auch deutlich angesprochen und diskutiert
werden. Einen wichtigen Beitrag für eine vertrauensvolle Zusammenar-
Die deutsch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft
337
beit leistet das über Jahrzehnte entwickelte militärpolitische und militärische bilaterale Netzwerk, das sich in Zeiten der gegenseitigen Irritationen und Missverständnisse als besonders belastbar erwiesen und bewährt
hat. Deshalb liegt es in unserem Interesse, die bilateralen Kontakte und
gemeinsamen Aktivitäten mit den USA, gerade wegen der Reduzierung
der US-amerikanischen Streitkräfte in Deutschland, auf einem möglichst
hohen Niveau zu halten und – wo möglich – weiter auszubauen. Die gegenseitige Nutzung von Ausbildungseinrichtungen, Ausbildungs- und
Lehrgangsangeboten sowie gemeinsame Übungen sind ein wesentliches
Element für die enge Abstimmung im Transformationsprozess und verhindern ungewünschte Abkopplungen.
2. Perspektiven und Chancen
An die neue US-amerikanische Regierung ist eine hohe Erwartungshaltung
geknüpft, die vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme nicht in jeder
Hinsicht einzuhalten sein wird. Dennoch scheint es, dass sich hier neue
Möglichkeiten für die Ausgestaltung der transatlantischen Beziehungen
zwischen Deutschland und den USA ergeben werden. Für diese Partnerschaft gibt es einen neuen Rückhalt in der deutschen Bevölkerung. Nach
den Ergebnissen verschiedener Umfragen zu urteilen, hätten zwischen 70
und 80 Prozent der Deutschen Barack Obama ebenfalls gewählt. Unter den
jungen Deutschen ist der Zuspruch für Präsident Obama sogar noch größer,
und der unerwartet hohe Zuspruch mit ca. 200.000 Besuchern beim Redeauftritt des damaligen Präsidentschaftskandidaten an der Berliner Siegessäule am 24. Juli 2008 unterstreicht diese Einschätzung. Ein Grund hierfür ist,
dass Amerika künftig nicht mehr nur Macht, sondern auch wieder Vorbild
und Idee sein will. Nach dem Irakkrieg mit seinen Begleiterscheinungen
Abu Ghraib und der Diskussion um Guantanamo sowie der gegenwärtigen
Finanzkrise soll Amerika nach dem Willen der neuen Administration seine moralische und politische Autorität wiedergewinnen. So wird der neue
Präsident die amerikanischen Truppen schrittweise aus dem Irak abziehen,
das Gefangenenlager Guantanamo schließen und die internationalen Partner stärker in die Stabilisierung regionaler Konflikte und die Bewältigung
globaler Probleme einbeziehen. Eine verantwortungsvolle Reduzierung
der amerikanischen Truppen im Irak (Abzug aller Kampftruppen binnen
18 Monaten, Abzug aller Truppen bis Ende 2011) soll es den USA auch
ermöglichen, sich verstärkt in Afghanistan und Pakistan zu engagieren.
Flankiert wird der Truppenabzug von verstärktem zivilen Engagement im
Irak sowie politischem und diplomatischem Engagement mit allen Staaten
der Region, namentlich auch mit Iran und Syrien. Wir erwarten, dass Präsident Obama pragmatisch an die anstehenden Themen herangehen wird.
Viele politische Ansätze der alten Administration stehen zurzeit auf dem
Prüfstand. Nicht alles wird verändert werden, aber die Schwerpunktsetzung
338
Christian Schmidt
Präsident Obamas und seiner Berater entspricht in vielen Punkten eher den
Prioritäten der Europäer: Fortschritte beim Klimaschutz und der Entwicklung einer nachhaltigen Energiepolitik, Stabilisierung der internationalen
Finanzmärkte und der Weltwirtschaft, neue Initiativen in der Abrüstung
und Rüstungskontrolle und die Bewältigung von regionalen Krisen, vor allem im Nahen Osten. Zudem hat Präsident Obama versprochen, der Diplomatie und dem multilateralen Handeln eine größere Chance zu geben,
als dies die Bush-Administration tat. Dies stimmt uns hoffnungsvoll. Allerdings sollten wir uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Amerika eine
Weltmacht bleibt und dass auch dem Multilateralismus eines Präsidenten
Obama Grenzen gesetzt sein werden. Nie wird der Multilateralismus für
Amerika die gleiche Rolle spielen wie für uns Deutsche. Amerikaner und Europäer vertreten in vielen Bereichen ähnliche Interessen und Sichtweisen.
Aber wie jeder andere amerikanische Präsident wird auch Präsident Obama
dort, wo Europa und die USA sich unterscheiden, in erster Linie amerikanische Interessen und Sichtweisen vertreten und weiterhin die Führungsrolle für die USA in der Welt beanspruchen. Er hat im Wahlkampf deutlich
gemacht, dass auch er das Militär unverändert als Mittel der Außen- und
Sicherheitspolitik einsetzen wird. Sollten amerikanische Sicherheitsinteressen bedroht sein, werden der Einflussnahme von Partnern weiterhin Grenzen gesetzt sein. Dennoch scheinen eine größere Transparenz und Einbindung aller Beteiligten bei der Stabilisierung regionaler Konfliktsituationen
wieder greifbarer zu werden. So hat Obama im Vorfeld angedeutet, dass
seine Administration direkte Gespräche mit Staaten wie Iran und Syrien
führen wird, um Verhandlungsspielräume auszuloten und möglicherweise
auch realistischere Ziele zu setzen, als dies unter Bush der Fall war. So soll
für den Krisenherd Afghanistan eine neue regionale Strategie entwickelt
werden, welche den benachbarten Schlüsselstaat Pakistan, aber auch den
Iran mit einbezieht. Zudem heißt es im Beraterumfeld Obamas, dass dieser
dem möglichen Dialog der afghanischen Regierung mit eventuell verhandlungsbereiten Teilen der Taliban aufgeschlossen gegenüberstehe. Dies sind
alles unterstützenswerte Ansätze, die sich mit unseren Ideen decken.
Aber auch der Betonung und Umsetzung der weltweiten Abrüstung und
Rüstungskontrolle als zentralem Anliegen Deutschlands und Europas wird
zukünftig ein größeres Augenmerk geschenkt werden. Präsident Obama
hat sich zu dem Ziel einer deutlichen Verringerung der Kernwaffenarsenale und langfristig sogar zum grundsätzlichen Ziel vollständiger nuklearer
Abrüstung bekannt, auch wenn er sich im Wahlkampf gegen unilaterale
Abrüstungsschritte ausgesprochen hat. Damit soll auch die Glaubwürdigkeit der Nichtverbreitungspolitik der USA wiedergewonnen werden.
Für neue weltweite Abrüstungsinitiativen, Lösungsansätze für Regionalkonflikte, aber auch Klimaschutzvereinbarungen und die Sicherung der
Energieversorgung muss freilich auch Russland gewonnen werden. Die
Die deutsch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft
339
Einstellung gegenüber Russland ist nicht nur bei den Republikanern, sondern auch in Teilen der demokratischen Partei und des Kongresses sehr
negativ. Präsident Obama hat sich bislang zu diesem Thema, auch während des Georgienkonfliktes im August, zurückhaltend geäußert. Daher
besteht die Hoffnung auf eine künftige amerikanische Politik, die gegenüber Russland bei aller Deutlichkeit der Kritik an dortigen Entwicklungen
nach möglichst viel partnerschaftlicher Zusammenarbeit strebt und es bei
der Lösung drängender internationaler Probleme einbeziehen und nicht
ausgrenzen will.
3. NATO
Die Nordatlantische Allianz war, ist und bleibt Basis der transatlantischen
Beziehungen. Sie ist bewährte Grundlage der kollektiven Verteidigung
und stärkster Anker unserer Sicherheit. Die NATO bietet ein einzigartiges transatlantisches Konsultationsforum und bleibt erste Anlaufstelle für
militärische Operationen europäischer und amerikanischer Verbündeter.
Gegenwärtig wird die Arbeit im transatlantischen Bündnis neben den laufenden Operationen von mehreren Kernthemen dominiert, die teilweise
auch kontrovers mit den USA diskutiert werden.
Der Gipfel anlässlich des 60. Jahrestages der NATO im April 2009 wird
mit der Annahme der „Declaration on Alliance Security„ nicht nur zur
Bilanzierung der bisherigen Leistungen des Bündnisses dienen, sondern
zugleich mit der Begrüßung des neuen amerikanischen Präsidenten in
Europa eine passende Gelegenheit bieten, die atlantische Sicherheitspartnerschaft im Verhältnis zu einer stärkeren europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik zu definieren. Gegebenenfalls wird ein neues Strategisches Konzept beauftragt werden, das die Entwicklungen nach 1999 besser reflektiert und die Erfahrungen der letzten zehn Jahre auf die künftige
Ausrichtung des Bündnisses projiziert. Die USA stehen als Führungsmacht
der Allianz vor dem Hintergrund langfristiger Machtverschiebungen im
internationalen System und neuer globaler Risiken vor der Herausforderung, die von ihnen geschaffenen multilateralen (aber in letzter Zeit nachrangig genutzten) Strukturen einem sich wandelnden transatlantischen
Bündnis anzupassen, um dadurch den eigenen Führungsanspruch zu
wahren. Präsident Obama will dazu die bestehenden Strukturen stärken,
Prozesse vereinfachen und durch eine starke Einbindung anderer Staaten
einen Teil der mit der amerikanischen Führungsrolle verbundenen Kosten
und Verpflichtungen mit diesen teilen. Deutschland wird sich weiterhin
einer fortgesetzten Diskussion bezüglich einer angemessenen Lasten- und
Risikoteilung im Bündnis ausgesetzt sehen, wobei unter der neuen Administration eine Verlagerung des Schwerpunkts auf die Bereitstellung von
zivilen Fähigkeiten speziell in Afghanistan erfolgen könnte.
340
Christian Schmidt
Neben den laufenden Operationen werden die zahlreichen politischen
und militärischen Transformationsthemen weiter zu diskutieren sein. Für
die Fortsetzung der Transformation des Bündnisses hat der NATO-Generalsekretär eine ambitionierte, von den USA in weiten Teilen initiierte
„Roadmap„ vorgelegt, die auf die Weiterentwicklung des Fähigkeitsprofils
(Missile Defence, Zukunft der NATO Response Force, NATO-Kommandostruktur, multinationale Fähigkeitsentwicklung) und auf den Abschluss
von Reformen im Bereich des NATO-Hauptquartiers und der NATO-Verteidigungsplanung abzielt. In Zeiten, in denen die Wirtschaftskrise die
Haushalte der NATO-Mitgliedstaaten massiv belastet, werden sich allerdings auch die USA gemäßigtere Ziele für den zukünftigen Fähigkeitserwerb setzen müssen bzw. auf multinationale Zusammenarbeit angewiesen sein. Da die NATO aber weitaus mehr als ein rein militärisches
Verteidigungsbündnis ist und sich im Kern als ein politisches Bündnis
von Staaten gemeinsamer Werte definiert, muss parallel zu der fortschreitenden militärischen Transformation auch die politische Umgestaltung
des Bündnisses vorankommen. Deutschland hat deshalb unverändert ein
hohes Interesse daran, alle sicherheitspolitischen Probleme ohne Tabus
im NATO-Rahmen zu diskutieren. Für uns ist es wichtig, zu einem transatlantischen Konsens zu finden, ohne den die großen Herausforderungen dieser Zeit nicht erfolgreich zu bewältigen sein werden: Gemeinsam
analysieren, im Konsens entscheiden und dann gemeinsam entschlossen
handeln – das sind die zentralen Maxime, die das Bündnis zukünftig weiter leiten müssen.
Am deutlichsten manifestiert sich die enge sicherheitspolitische Partnerschaft gegenwärtig in den NATO-geführten Operationen. Hier muss sich
diese Partnerschaft erneut bewähren. ISAF stellt dabei die größte Herausforderung für die Allianz dar. Die USA leisten in Afghanistan einen zentralen Beitrag. Gemeinsames Ziel ist es, im Rahmen des internationalen Engagements die afghanische Regierung zu befähigen, eigenverantwortlich
dauerhaft zur Stabilität in einer kritischen Region der Welt beizutragen
und eine friedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung Afghanistans
zu ermöglichen. Die USA werden dabei weiterhin auf eine faire Teilung
von Risiken und Lasten des militärischen Engagements drängen. Aufbau,
Ausbildung und Finanzierung der afghanischen Armee, Absicherung der
Wahlen in Afghanistan in 2009, die Verbesserung der Sicherheitslage
und die Unterstützung der Gesamtoperation ISAF bieten hier zahlreiche
Anknüpfungspunkte. Darüber hinaus muss der Konsens über den einzuschlagenden Weg erhalten bleiben und gemeinsam entschieden werden,
wie der für Afghanistan vereinbarte umfassende Ansatz konkret weiter
ausgestaltet werden soll.
Neben ISAF gilt es, den KFOR-Einsatz nicht aus den Augen zu verlieren.
Auch in dieser Region sind die USA zentraler Partner. Angesichts der Bin-
Die deutsch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft
341
dung von US-Kräften an anderen Krisenschauplätzen könnten hier jedoch
im Sinne von Lastenteilung und Verantwortungsübernahme die Europäer
eine stärkere Rolle übernehmen.
Im Wahlkampf hatte Präsident Obama, als Ablösung einer Politik der selektiven Kooperation, die Entwicklung einer umfassenden Strategie gegenüber Russland angekündigt. Ausgelöst durch den Georgien-Konflikt
Anfang August 2008 sind die Beziehungen der NATO zu Russland allerdings belastet. Die Erklärung der NATO-Außenminister vom August 2008
zum Konflikt hat unter maßgeblicher Führung der USA gegenüber Russland ein einvernehmliches Zeichen der Entschlossenheit gesetzt. Nach
der zukunftsgerichteten Entscheidung der NATO-Außenminister bei ihrem Treffen Anfang Dezember 2008 zur Wiederaufnahme der Gespräche
gilt es jetzt wieder, eine verlässliche Partnerschaft aufzubauen.
Im Focus steht daneben die Erweiterungspolitik der Allianz. Der sicherheitspolitische Horizont des Bündnisses hat spätestens mit dem Konflikt
in Georgien eine vermeintlich bündnispolitische Grenze erfahren, die
speziell die Ambitionen der von amerikanischer Seite geförderten Kandidaten Georgien und Ukraine für einen Mitgliedschaftsaktionsplan (MAP)
relativiert hat. Schon beim Gipfeltreffen in Bukarest im Jahre 2008 hatten
sich nach intensiver Diskussion die Staats- und Regierungschefs darauf
geeinigt, der Ukraine und Georgien langfristig eine Beitrittsperspektive zu
bestätigen. Dazu stehen wir. Aus deutscher Sicht erscheint die politische
Reife für eine Aufnahme in einen MAP, entsprechend den Beschlüssen
des NATO-Außenministertreffens im Dezember 2008, für beide Staaten
aus unterschiedlichen Gründen jedoch aktuell nicht gegeben. Gerade
aus diesem Grund bleibt der MAP weiterhin ein unverzichtbarer Schritt
zur Aufnahme in die Allianz. Die Schaffung der neuen NATO-GeorgienKommission und die stärkere Nutzung der bestehenden NATO-UkraineKommission sollen den MAP nicht ersetzen, sondern vielmehr der Ausgestaltung des Heranführens an die Allianz dienen und den Reformprozess
der beiden Nationen aktiv begleiten. Wir werden beide Nationen sowohl
seitens der NATO als auch bilateral weiterhin zielgerichtet unterstützen.
Die NATO hat immer wieder erfolgreich die politischen und konzeptionellen Schlussfolgerungen aus dem veränderten sicherheitspolitischen Umfeld
gezogen und sich durch ihre militärische und politische Transformation
den Herausforderungen im 21. Jahrhundert angepasst. Mit Amtsantritt des
neuen amerikanischen Präsidenten sind neue Impulse zu erwarten, welche
die Zukunftsperspektive des Bündnisses und dessen Rolle als Eckpfeiler in
der transatlantischen Sicherheitsarchitektur beeinflussen werden.
Wir stehen für eine behutsame Weiterentwicklung der NATO sowohl in
funktionaler (Konsultation und Kooperation) als auch in geographischer
342
Christian Schmidt
Hinsicht (immer mit Bezug zur transatlantischen Sicherheit). Dabei gilt,
dass die NATO ein Spieler und nicht der Spieler bei internationaler Krisenreaktion im Sinne vernetzter Sicherheit ist, jedoch der Kern der Verteidigungspolitik in Europa bleibt.
4. Europäische Union
Mit der 2003 verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS)
hat sich die Europäische Union (EU) zum Ziel gesetzt, ihre internationale Verantwortung aktiv wahrzunehmen. 2003 war auch das Jahr, in dem
die EU erstmalig eine militärische Operation durchführte. Damit sind die
treibenden Kräfte bei der Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (ESVP) benannt: Zum einen ist dies der politische
Wille der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EU, diese zu
einem vollwertigen Akteur in der internationalen Politik zu entwickeln,
der neben seinem beträchtlichen wirtschaftlichen Gewicht auch seinen
Beitrag zur Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Welt leistet.
Zum anderen ist es die steigende Nachfrage nach einem Engagement der
EU in verschiedenen Konfliktregionen, sei es in zivilen Missionen oder
militärischen Operationen. Dieses umfassende Engagement, das von Europa über Afrika bis nach Zentralasien und in den Kaukasus reicht, ist
Ausdruck des in der ESS ausgedrückten Strebens nach einer aktiven, kohärenten und handlungsfähigen Europäischen Union, die konstruktiv mit
Partnern zusammenarbeitet.
Ein für Deutschland besonders wichtiger Aspekt ist die zivile Komponente
der ESVP. Der integrierte zivil-militärische Ansatz der EU zeigt sich nicht
zuletzt darin, dass es gelungen ist, das militärische und das zivile Planziel
zeitlich zu synchronisieren und damit einen ersten Schritt hin zu einer
übergreifenden zivil-militärischen Fähigkeitsplanung zu machen. Darüber hinaus ist durch die Schaffung einer zivilen Planungs- und Führungsfähigkeit unter der Führung eines für alle Missionen zuständigen Leiters
eine deutliche Verbesserung europäischer ziviler Fähigkeiten erreicht
worden. Mit der nun vom Hohen Repräsentanten/Generalsekretär des
Rats, Javier Solana, angekündigten Schaffung eines Direktorats zur strategischen zivil-militärischen Planung wird die EU einen weiteren Schritt
zur praktischen Umsetzung des «vernetzten Ansatzes» leisten und damit
weiter Vorreiter auf diesem Feld sein.
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist lange Zeit von
den USA mit einem durchaus auch kritischen Blick verfolgt worden. Es bestanden Befürchtungen, dass der Ausbau der ESVP zu einer Schwächung
der NATO führen könnte, was aus amerikanischer Sicht unbedingt zu vermeiden war. Diese Haltung kann heute als überwunden gelten. Die prak-
Die deutsch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft
343
tische Erfahrung der vergangenen Jahre hat bewiesen, dass eine Stärkung
Europas auch der NATO zugute kommt. Während des NATO-Gipfels in
Bukarest im April 2008 unterstrich Präsident Bush in einer bemerkenswerten Positionsänderung, dass aus amerikanischer Sicht eine starke Allianz auch eine starke europäische Verteidigungsfähigkeit voraussetze.
Noch expliziter hatte dies vorher die amerikanische NATO-Botschafterin
in Vorträgen in Paris und London formuliert: Eine ESVP, die sich auf „soft
power“ beschränke, sei nicht genug. Damit ist der Mythos von den konkurrierenden Organisationen endgültig ad acta zu legen. Komplementarität, nicht Konkurrenz, prägt das Zusammenspiel beider Organisationen.
5. Vereinte Nationen
Deutschlands Sicherheit war, ist und bleibt untrennbar mit der politischen Entwicklung Europas und der Welt und damit auch Amerikas verbunden. Neben NATO und EU sind die VN wichtiges „drittes Standbein”
der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Seit dem Beitritt im Jahr
1973 engagiert sich Deutschland mit stetig steigender Tendenz im System
der VN.
Die VN sind die einzige internationale Organisation mit universellem
Charakter. Ihre Charta bildet den grundlegenden völkerrechtlichen Rahmen für die internationalen Beziehungen. Der VN-Sicherheitsrat trägt
die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und die internationale Sicherheit. Wie kaum eine andere Organisation stehen die
VN für die Umsetzung einer vernetzten Sicherheit, für die Sicherung des
Friedens, die Abwehr globaler Bedrohungen, die Förderung von Demokratie und Menschenrechten, eine nachhaltige Entwicklung und kooperative
Sicherheit. Durch die unter ihrer Führung stattfindenden Friedensmissionen genießen die VN im Vergleich zu anderen Organisationen in vielen
Regionen der Welt größere politische Akzeptanz und Glaubwürdigkeit bei
Konfliktparteien und der Bevölkerung, da die VN nahezu alle Staaten dieser Erde einbinden.
Deutschland setzt sich im Rahmen der VN dafür ein, dass auch die VNFriedenssicherung in ein effektives System der politischen und entwicklungspolitischen Begleitung zur Lösung von Konflikten eingebettet ist,
denn Friedensmissionen allein schaffen keinen dauerhaften Frieden. Jedoch kann Militärpräsenz günstige Rahmenbedingungen und damit eine
Basis für eine zivile Mission und einen erfolgreichen politischen Prozess
schaffen. Friedensmissionen müssen eingebettet sein in frühzeitige außen- und entwicklungspolitische Maßnahmen. Politische Stabilität und
wirtschaftliche Konsolidierung schaffen auch die Voraussetzungen für
eine erfolgreiche und nachhaltige Beendigung von Friedensmissionen.
344
Christian Schmidt
Hier wäre es in unserem Sinne, wenn die neue US-Administration ihre angekündigte stärkere Berücksichtigung von multilateralen Strukturen bei
der Konfliktprävention und -reaktion auch im Rahmen und unter Nutzung der Vereinten Nationen umsetzen würde.
6. Rüstungskontrolle
Auf Basis eines überwältigenden nuklearen und konventionellen Übergewichts konnten die USA sich ein geringeres Engagement in diesem Bereich erlauben, ohne die eigenen sicherheitspolitischen Interessen kurzund mittelfristig zu vernachlässigen. Ergebnis bisheriger Politik waren
Enttäuschung und Vertrauensverlust nicht nur auf russischer Seite, sondern auch bei den Partnern innerhalb der Allianz.
Im Bereich der nuklearen Rüstungskontrolle dagegen haben die USA, vor
dem Hintergrund der bekannten Proliferationsfälle und einer daraus resultierenden, stetig wachsenden Bedrohung auch des USA-Territoriums,
in ihrem Engagement nicht nachgelassen und sich aktiv an der Proliferationsbekämpfung beteiligt. Wesentliche Grundlage einer funktionierenden, sich den sicherheitspolitischen Verhältnissen anpassenden Rüstungskontrolle ist gegenseitiges Vertrauen. Dies gilt sowohl gegenüber
den eigenen Partnern als auch gegenüber anderen an Rüstungskontrollregimen beteiligten Staaten.
Eben dieses Vertrauen hat in den vergangenen Jahren erheblich Schaden
genommen und ist auf russischer Seite einem tiefgreifenden Misstrauen
gewichen. Die derzeitige KSE-Krise ist unter anderem auch zu großen Teilen auf dieses gewachsene Misstrauen zurückzuführen. Zu dieser Entwicklung haben auch die USA in erkennbarem Umfang beigetragen.
Wesentliche Herausforderung für die Rüstungskontrollpolitik in der nahen Zukunft wird es sein, die Folgen der oben genannten Enttäuschung
zu beseitigen und das Vertrauen Russlands wiederzugewinnen. Gelingt
dies, ist eine wichtige Voraussetzung für die Lösung bestehender Probleme erfüllt und gleichzeitig die Basis gelegt für eine erforderliche Weiterentwicklung der Rüstungskontrolle, z.B. zur Eindämmung kleinerer,
regionaler Konflikte oder global verbindlicher Regeln für Waffenexporte.
Der neuen US-Administration kommt hierbei eine herausragende Rolle
zu. Im Prozess einer neuen Vertrauensbildung zwischen Russland und den
USA kann Deutschland eine besondere Mittlerrolle spielen, die auch positiv auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen ausstrahlen und diese
wieder im Sinne einer „Partnership in Leadership„ stärken kann.
Die deutsch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft
345
Erste Signale aus den USA stimmen hoffnungsfroh und machen deutlich,
dass die neue US-Administration das Thema Rüstungskontrolle wieder
stärker in das Zentrum sicherheitspolitischer Überlegungen zu rücken
beabsichtigt. Dies gilt sicherlich vornehmlich für die nukleare Rüstungskontrolle, insbesondere für die anstehenden START-Folgeverhandlungen.
Es ist davon auszugehen, dass die USA sich zukünftig auch der konventionellen Rüstungskontrolle zuwenden werden.
Vor zu großer Euphorie und unrealistischen Erwartungen muss dennoch
gewarnt werden. Der Präsidentenwechsel wird im Bereich der Sicherheitspolitik zu keiner Neudefinition amerikanischer Interessen führen und die
USA werden auch unter Präsident Obama nicht gegen die eigenen Interessen handeln. Dies wird aus seinen Äußerungen zum Thema „global
zero„ deutlich, in denen er zwar das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt
unterstreicht, aber gleichzeitig hervorhebt, dass die USA solange über Nuklearwaffen verfügen werden, wie es anderswo auf der Welt noch solche
Waffen gibt. Diese Aussage ist auf einer Linie mit dem im Dezember 2008
vorgelegten Bericht des US-Verteidigungsministeriums „Review of the Department of Defense Nuclear Mission„, der die Notwendigkeit US-amerikanischer Nuklearwaffen zur Abschreckung und zum Schutz der Partner
konstatiert.
Die USA werden auch weiterhin eine weltweite Führerschaft beanspruchen. Es ist aber zu erwarten, dass den Aspekten Kooperation und Kommunikation ein größerer Stellenwert zugeordnet werden wird. Die sich
daraus ergebenden neuen Möglichkeiten für Vertrauensbildung gilt es zu
nutzen, um eine langfristig angelegte Weiterentwicklung der Rüstungskontrolle zu ermöglichen und damit zu mehr Sicherheit und Stabilität in
der Welt beizutragen.
7. Ausblick
Völlig ungeachtet der Entwicklung der Sicherheitslage in Europa und sogar unabhängig von der Einschätzung der konkreten Politik der jeweiligen US-Administration besteht auch heute noch dieses tiefe Vertrauen
und die innere Bereitschaft, die USA in Sicherheitsfragen zu akzeptieren.
Im Gegenzug sind die europäischen Partner für die USA historisch und
kulturell die natürlichsten Partner bei der Gestaltung und Bewältigung
der globalen Herausforderungen.
Auch künftig werden Grundfragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur gemeinsam mit den USA zu beantworten sein. Das transatlantische Bündnis und die strategische Partnerschaft zwischen NATO und EU
bieten sowohl den Europäern als auch Amerikanern einen verlässlichen
346
Christian Schmidt
sicherheitspolitischen Handlungsrahmen. Ziel dieser Kooperation müssen die Festigung der Fundamente unserer gemeinsamen Sicherheit sowie
substanzielle komplementäre Beiträge zur Lösung der sicherheitspolitischen Herausforderungen sein.
Mit dem Amtsantritt der neuen US-Administration sind vor allem Hoffnungen, Erwartungen, große Chancen, aber auch Risiken verbunden. Inmitten der tiefen außenpolitischen und wirtschaftlichen Krise der USA
wird der amerikanische Wille zum Neuanfang und Aufbruch, der seit
Obamas Wahl am 4. November 2008 noch gewachsen zu sein scheint,
immer deutlicher. Im Rahmen seiner Vereidigung am 21. Januar 2009
wurde nicht nur die euphorische Erwartungshaltung auf Seiten der Amerikaner deutlich, sondern auch, dass der neue Präsident seine amerikanischen Landsleute für eine Agenda mobilisieren möchte, die – gerade in
und wegen der tiefen Krise – auf traditionelle Tugenden, nationale Einheit, Dienst am Gemeinwohl, die differenzierende Kraft der Vernunft und
einen Neuanfang gegenüber der Welt setzt. Amerika gibt ihm dafür einen
großen Vertrauensvorschuss mit auf den Weg, dem sich Deutschland anschließen sollte. Daher können und dürfen wir uns der Verantwortung
zur gemeinsamen konstruktiven Gestaltung und Bewältigung der sicherheitspolitischen Herausforderungen mit unserem engsten und wichtigsten Partner nicht entziehen, sondern müssen diesen Neuanfang tatkräftig
und aufgeschlossen begleiten.
Wie „special“ ist die
„special relationship“ zwischen
Washington und London?
Alice Neuhäuser
1. Zur Bedeutung der „special relationship“
Großbritannien verbindet mit den Vereinigten Staaten von Amerika
seit Generationen eine besondere Beziehung, die sogenannte „special
relationship“. Deshalb verwundert es nicht, dass beide Staaten mit keinem anderen Land ähnlich eng befreundet sind. Ein breites Fundament
an Gemeinsamkeiten trägt dazu bei, die Verbindung über die lange Zeit
auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten: Hierzu zählen gemeinsame Werte und ähnliche Rechtssysteme.1 Briten und Amerikaner haben überdies
verwandte demokratische Prinzipien und häufig identische nationale
Interessen.2 Sie teilen zudem das Erbe der Magna Charta sowie der Bill
of Rights und sprechen eine gemeinsame Sprache, das Englische.3 Auch
ökonomisch sind sie eng verflochten: „The USA is overwhelmingly the
UK’s biggest FDI [Foreign Direct Investment] partner in both directions.”4
Den zwei Ländern sind der Exklusivcharakter der „special relationship”
und die vielfältigen Vorzüge der einzigartigen Freundschaft bewusst. Dies
führt dazu, dass beide Seiten diesen gut 100 Jahre alten Begriff oder bedeutungsgleiche Termini als Synonyme für die britisch-amerikanischen
Beziehungen bei beiderseitigen Konsultationen betonen. Während vor
allem Winston Churchill und Richard Nixon ständig von einer „special
relationship” sprachen, akzentuierte Harold Wilson die Verbindung der
zwei Staaten als „close relationship”;5 Margaret Thatcher schließlich prä1
2
3
4
5
Vgl. Himmler, Norbert: Zwischen Macht und Mittelmaß. Großbritanniens Außenpolitik und das Ende des Kalten Krieges, Diss., Berlin 2001, S.72.
Vgl. ebd.; Gauland, Alexander: Keine Spur mehr von Augenhöhe, 21.1.2009,
http://www.welt.de/welt_print/article3063528/Keine-Spur-mehr-von-Augenhoehe.html, Stand: 26.1.2009.
Vgl. Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
Milne, Ian: Foreign Direct Investment, in: Global Britain Briefing Note, hrsg.
von der University of Birmingham, Birmingham 30.6.2000, http://www.globalbritain.org/BNN/BN09.htm, Stand: 29.12.2004; vgl. Ibarra, Marilyn/Koncz,
Jennifer: Direct Investment Positions for 2007. Country and Industry Detail,
in: Survey of Current Business 7/2008, S.35.
Vgl. Reynolds, David: A „Special Relationship”? America, Britain and the International Order
since the Second World War, in: International Affairs 1/1986, S.1-20, S.1.
348
Alice Neuhäuser
ferierte die Bezeichnung „extraordinary alliance“.6
Eine Anekdote in diesem Zusammenhang schildert Howard Temperley in
Anlehnung an Raymond Seitz, den früheren US-Botschafter in London:
John Major war zu einem politischen Gedankenaustausch nach Washington geflogen. Ein Berater erinnerte den wenige Tage zuvor vereidigten Bill
Clinton: „Don’t forget to say ‚special relationship‘ when the press comes
in.”7 „Oh yes, the special relationship”, antwortete Clinton. „How could I
forget?”8 Dieses Beispiel zeigt, dass eine Nichtnennung jenes Begriffs womöglich zu zwei Verdachtsmomenten hätte führen können. Zum einen
wäre sie ein Indiz für die außenpolitische Unerfahrenheit oder gar Inkompetenz des neuen Präsidenten gewesen, wenn er das besondere Verhältnis
nicht explizit benannt und damit gewürdigt hätte. Zum anderen hätte die
Gefahr bestanden, die Nichterwähnung als einseitige Aufkündigung der
engen Beziehung misszuverstehen.
In London ist der Begriff der „special relationship” gängiger und wird
von Politikern häufiger verwendet als in der US-Hauptstadt,9 wo „the idea
may never have been taken too seriously, but nor did U.S. officials actively
discourage it“10. Die Ursache liegt darin, dass die „Insel zweimal … von
den Vettern aus Übersee gerettet worden war, was sich tief in das nationale Gedächtnis der Briten eingegraben hat”11. Gewisse unterschiedliche
Akzentuierungen im politischen Alltag können diesseits und jenseits des
Atlantiks festgestellt werden: Neben der von beiden Seiten ohne weiteres
unterstützten Prämisse „keeping the relationship alive“12 strebt Großbritannien an, niemals mit den USA in der Öffentlichkeit zu streiten.13 Im
Grunde teilen die Amerikaner diesen Vorsatz; jedoch sind sie in der praktischen Ausgestaltung etwas flexibler und bekennen deshalb, nur dann
mit den Briten öffentlich zu streiten, wenn sie dazu gezwungen seien.14
Dies führte dazu, dass sich schon mancher britische Premierminister gekränkt gefühlt hat, wenn es um inhaltliche Auseinandersetzungen mit
den USA ging, etwa bei den Themen Freihandel oder Klimaschutz.15
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Vgl. ebd.
Temperley, Howard: Britain and America since Independence, New York 2002,
S.190.
Ebd.
Vgl. Reynolds: A „Special Relationship”?, S.1f.
Freedman, Lawrence D.: The Special Relationship, Then and Now, in: Foreign
Affairs 3/2006, S.61-73, S.61.
Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
White, Michael: Keeping the relationship alive, in: The Guardian, 6.11.2008,
S.12f., S.12.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.
Wie „special“ ist die „special relationship“ zwischen Washington und London?
349
Hier erkannten die Briten die Grenzen der „special relationship“; gemeinsame Wurzeln und Werte zu haben bedeutete einerseits nicht zwangsläufig, stets dieselben Interessen zu vertreten.16 Andererseits haben die
USA als einzig verbliebene Weltmacht die Überlegenheit, ihre Forderungen auch gegen den besten Verbündeten auf die politische Agenda zu
setzen, wie z.B. in der Amtszeit Blairs, als George W. Bush Zölle auf Stahl
erhob. Das Vereinigte Königreich könnte sich umgekehrt wegen seiner
relativen Schwäche ein derartiges Verhalten nicht erlauben. Es ist von der
US-Unterstützung abhängig, will es eigene Anträge auf der politischen
Weltbühne, z.B. bei den Vereinten Nationen, zum Erfolg führen.17 Die Briten lassen diese vereinzelten Alleingänge der Amerikaner zu, weil sie sich
bewusst sind, dass sie letztlich nur ihrem Partner in der „special relationship” vorbehaltlos vertrauen können.18 Einen vergleichbaren Freund werden sie binnen kurzem in der Europäischen Union nicht finden können,
da sie sich bei europäischen Einigungsprozessen oftmals selbst isolieren.19
2. Entwicklung der „special relationship“
vom Ersten Weltkrieg bis heute
Noch vor rund 95 Jahren dominierte London die „special relationship“;20
Großbritannien verstand sich damals als Weltpolizei, so wie heute die
Vereinigten Staaten.21 Aus einer Vorherrschaft des Inselreichs wurde eine
Freundschaft „auf Augenhöhe“22 während des Zweiten Weltkriegs, der einen Höhepunkt der „special relationship“ markierte,23 obwohl auch diese
Zeit nicht frei von Unstimmigkeiten war.24 Churchill wurde z.B. auf der Teheraner Konferenz von Franklin Delano Roosevelt ignoriert, der in realpolitischer Manier die neue Großmacht UdSSR umgarnte.25 Trotzdem suchte
Großbritannien auch nach 1945 enge bilaterale Beziehungen zu den USA,
um seine ökonomischen und militärischen Interessen wirksam zu vertreten.26 Im wirtschaftlichen Bereich war zunächst der Wiederaufbau eine
zentrale Intention des Vereinigten Königreichs, während es militärisch auf
ein entschiedenes Eintreten gegenüber der Sowjetunion abzielte.27
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
Vgl. ebd., S.13.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.; Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
Vgl. Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
Vgl. White: Keeping the relationship alive, S.13.
Vgl. ebd.
Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
Vgl. Himmler: Zwischen Macht und Mittelmaß, S.73.
Vgl. Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
Vgl. ebd.
Vgl. Himmler: Zwischen Macht und Mittelmaß, S.73, S.75.
Vgl. ebd., S.73.
350
Alice Neuhäuser
Die besondere Qualität der Beziehung in den vierziger und fünfziger Jahren hatte nach Norbert Himmler drei Hauptgründe: Zum einen verbanden Amerikaner und Briten eine kongruente Ideologie und setzten sich
dementsprechend für eine liberale sowie kapitalistische Demokratie ein.28
Überdies kämpften sie für ein unabhängiges Westeuropa, zunächst gegen
Hitler, später gegen Stalin.29 Schließlich stimmte die Chemie untereinander, und so entwickelten sich persönliche Beziehungen zwischen britischen und amerikanischen Politikern.30
In den darauffolgenden Jahrzehnten verzeichnete der Inselstaat einen
wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtverlust. Großbritannien gelang es nach dem Niedergang des Empire nicht, eine internationale
Rolle zu finden. Dean Acheson, Außenminister unter Harry S. Truman,
analysierte 1962, der Plan, eine Rolle über die „special relationship“ und
das Commonwealth, aber außerhalb der europäischen Integration anzustreben, sei eine Politik ohne Struktur.31 Später wurde der Versuch gestartet, „mit Hilfe der EG zu einer vitalen und international wahrnehmbaren
Rolle zurückzufinden”32. Doch war das Vereinigte Königreich nur zu einer
stärkeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit bereit und konnte sich zu einer wachsenden politischen Verschmelzung nicht durchringen,33 so dass
die „special relationship“ letztlich für Großbritannien alternativlos blieb.
Alle diese Faktoren führten dazu, dass es heute nur noch als Junior-Partner
der USA charakterisiert werden kann.34 Das Jahr 1989 markierte einen Tiefpunkt in den britisch-amerikanischen Beziehungen, was in der Reform der
Sowjetunion begründet lag. US-Präsident Bush sen. und sein Außenminister Baker wollten flexibel auf die Umbrüche reagieren. Die versöhnlichen
Signale an die UdSSR sowie die weitreichende Unterstützung des deutschen Einigungsprozesses rüttelten dabei an den sicherheitspolitischen
Grundpfeilern Großbritanniens, z.B. der Rolle der NATO.35 So schien es
nicht anpassungsbereit für politische Veränderungen zu sein und fühlte
sich teilweise vom besten Freund, den USA, übergangen. Hinzu kommt,
dass Thatcher und Bush sen. kein ausgesprochen gutes Verhältnis pflegten.
Im Vergleich dazu stimmte „die eiserne Lady“ mit Bushs Vorgänger Ronald Reagan in einer Vielzahl inhaltlicher Fragen überein. Vor allem aber
28
29
30
31
32
33
34
35
Vgl. ebd., S.74.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.
Vgl. Temperley: Britain and America since Independence, S.189.
Neuhäuser, Alice: Triebkräfte und Hemmnisse auf dem Weg zum britischen
Euro-Beitritt, Diss., Münster 2005, S.56.
Vgl. ebd.
Vgl. Himmler: Zwischen Macht und Mittelmaß, S.80.
Vgl. ebd., S.252f.
Wie „special“ ist die „special relationship“ zwischen Washington und London?
351
waren die beiden Politiker persönlich eng miteinander befreundet. Mit
der Amtsübernahme Bushs verlor Thatcher also nicht nur ihren Vertrauten Reagan, sondern auch noch die traditionell nahezu ständig vorhandene inhaltliche Kongruenz mit den USA, da die Revolution in Osteuropa
mit dem Beginn der Bush-Administration zeitlich einherging. Erst Monate später verbesserte sich das Verhältnis zusehends. Der erste Golfkrieg
ließ eine erkennbare Annäherung zu, da wieder eine Deckungsgleichheit
der Interessen erreicht wurde.36
Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 drückten die Verbündeten ihre Solidarität aus und unterstützten den von den USA geführten
Militäreinsatz gegen das Taliban-Regime in Afghanistan. Eineinhalb Jahre
später waren nur noch wenige europäische Länder bereit, den Irak-Kurs
der Amerikaner mitzutragen. Einzig der beinahe grenzenlosen Loyalität
Großbritanniens konnte sich Präsident Bush jun. sicher sein. „If anything, in recent years, this special relationship has enjoyed something
of a revival, with George W. Bush apparently relived to have at least one
reliable friend.”37
Tony Blair folgte Bush in den unpopulären und von Problemen und Rückschlägen dominierten Irak-Krieg. In der britischen Öffentlichkeit wurde
Blairs Politik scharf angegriffen; seine Ansicht, er habe mit diesem Militäreinsatz auch seine tiefe Dankbarkeit gegenüber den USA erneut beweisen
wollen, wurde nicht geteilt.38 Vielmehr wurde Blairs Kurs als Unterwürfigkeit gegenüber Bush kritisiert. Ferner wurde der Vorwurf laut, er habe die
Solidarität in der „special relationship“ beim Irak-Krieg mit blinder Loyalität verwechselt, so dass aus britischer Sicht der gemeinsame „Einmarsch
in den Irak als fehlgeleitetes Beispiel für das ‚besondere Verhältnis‘ zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten galt“39.
Letztendlich hat der Irak-Krieg Blair die politische Karriere gekostet. Zwar
hatte er daneben auch Einsätze in Afghanistan, Sierra Leone und im Kosovo autorisiert; aber kein Krieg und dessen Notwendigkeit wurden weltweit
in den Medien so sehr infrage gestellt wie im Fall des Irak.
Blair hatte eine wöchentliche Video-Konferenz mit George W. Bush, um
über tagesaktuelle Politik und Fortschritte sowie Rückschläge des IrakKriegs zu reflektieren. Als Gordon Brown die Amtsgeschäfte von Blair
übernahm, reduzierte er den Kontakt mit dem US-Präsidenten auf einen
36
37
38
39
Vgl. ebd., S.254.
Freedman: The Special Relationship, S.61.
Vgl. Neuhäuser: Triebkräfte und Hemmnisse auf dem Weg zum britischen
Euro-Beitritt, S.169f.
Leithäuser, Johannes: Gordon Brown muss zurückstehen. Für Obama nicht
der erste Gesprächspartner, 25.7.2008, http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~E1F672018, Stand: 29.10.2008.
352
Alice Neuhäuser
monatlichen Gedankenaustausch.40 Gern delegiert Brown das Politikfeld
der transatlantischen Beziehungen an seine Kabinettsmitglieder, was verdeutlicht, dass er der „special relationship“ weniger Bedeutung beimisst
als sein Vorgänger.41 Allen voran Außenminister David Miliband und den
Verteidigungsministern Des Browne bzw. John Hutton überlässt er die
Aufgabe, eine gemeinsame Politik mit den US-Amtskollegen Condoleezza Rice bzw. ihrer Nachfolgerin Hillary Clinton und Robert Gates auszuloten.42 David Miliband, der möglicherweise eines Tages Gordon Brown
politisch beerben wird, sieht die britisch-amerikanischen Beziehungen in
erster Linie pragmatisch: „If you look at any of the big problems of the
world you need an active relationship with the United States.”43
Nach seinem Amtsantritt als Premierminister erkannte Brown, dass der
Irak-Krieg die britische Bevölkerung und die Labour Party spaltete, so dass
er die Losung ausgab, aus den Fehlern zu lernen.44 Er beschloss zunächst,
die Truppen zu reduzieren, während Präsident Bush damals eine entgegengesetzte Politik verfocht und die Zahl seiner Streitkräfte aufstockte. Bis
Juni 2009 plant Brown, fast alle britischen Soldaten aus dem Zweistromland abzuziehen. Mit dieser Entscheidung erreicht er nun wieder eine
Deckungsgleichheit der Interessen mit seinem neuen Partner in der „special relationship”, Barack Obama, der die amerikanischen Truppen in absehbarer Zeit vom Irak nach Afghanistan verlegen möchte.
3. Die nahe Zukunft der „special relationship“
Um die „special relationship“ auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten, bedarf es auch der „Erinnerung an angelsächsische kulturelle
Gemeinsamkeiten“45. Diese droht aber aufgrund demographischer Veränderungen diesseits wie jenseits des Atlantiks zu verblassen.46 Denn in die
zwei Länder wandern verstärkt Menschen mit asiatischen und lateinamerikanischen Wurzeln ein, denen „die gemeinsame Geschichte der englischsprechenden Völker“47 nicht mehr als wichtig erscheint.
40
41
42
43
44
45
46
47
Vgl. Coughlin, Con: The special relationship without George Bush,
8.2.2008,
http://www.telegraph.co.uk/core/Content/displayPrintable.
jhlml;jsessionid=XNRMS2, Stand: 29.10.2008.
Vgl. Ananieva, Elena: The Brownian Movement, in: International Affairs September/2007, S.12-20, S.16.
Vgl. Coughlin: The special relationship without George Bush.
Zitat David Milibands, in: Ananieva: The Brownian Movement, S.16.
Vgl. ebd., S.17.
Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
Vgl. ebd.; Huntington, Samuel P.: Who are we? Die Krise der amerikanischen
Identität, New York u.a. 2004.
Gauland: Keine Spur mehr von Augenhöhe.
Wie „special“ ist die „special relationship“ zwischen Washington und London?
353
Bei der Beantwortung der Frage, ob Obama bereit sein wird, die britischamerikanischen Beziehungen als eine seiner Prioritäten zu definieren,
könnte er nach Meinung einiger Beobachter von seiner eigenen Familiengeschichte eingeholt werden. Sein Großvater, der den kenianischen Unabhängigkeitskampf unterstützte, wurde von britischen Kolonialherren
verhaftet und gefoltert.48 Doch wird dieses Schicksal keine Auswirkungen
auf Barack Obamas Politik gegenüber dem Vereinigten Königreich haben.
Schließlich weiß er zwischen Erlebnissen Verwandter und der Ausübung
seines Präsidentenamts zu differenzieren. Ferner ist er nicht mit dieser
Erfahrung seines Großvaters aufgewachsen, da er bei der Familie seiner
Mutter lebte.
Die noch vor einem Jahrzehnt unübertroffene Überlegenheit US-amerikanischer Handlungsfähigkeit verschwindet mehr und mehr.49 Heute sind
die Vereinigten Staaten schwächer als zu Beginn der Bush-Administration.
Dies liegt vor allem an dem riesigen Defizit, das Bush hinterlässt. Somit
sind die USA heute weniger gestaltungs- und handlungsfähig, da finanzielle Mittel ohnehin immer begrenzt und jetzt nur noch zu einem weitaus
geringeren Teil vorhanden sind. Die gigantische Verschuldung korreliert
überdies mit der schwersten internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise seit den 1920er-Jahren. Durch den Irak-Krieg haben die USA
außerdem ihre hegemoniale Stellung aufs Spiel gesetzt. Obamas Aufgabe
wird nun darin bestehen, den relativen Machtverlust in beiden Bereichen
mindestens zu managen, nach Möglichkeit sogar zu kompensieren.
Aus diesem Grund besinnt er sich seines besten Verbündeten. Er möchte
die „special relationship” erneuern und transferieren in „a fairer, more
equal partnership”50 und unterstrich dies mit der Aussage: „We have a
chance to recalibrate the relationship and for the United Kingdom to
work with America as a full partner.”51 Dieses Ziel formulierte er schon in
seinem Wahlkampf, als er eine Telefonansprache für in Großbritannien
lebende Amerikaner hielt. Obama „has long been seen by British officials
as the most anglophile to the three presidenzial candidates, but these latest comments are his first public suggestion that the relationship is un48
49
50
51
Vgl. Macintyre, Ben/Orengoh, Paul: Beatings and abuse made Barack Obama’s
grandfather loathe the British. The President-elect’s relatives have told how the
family was a victim of the Mau Mau revolt, 3.12.2008, http://www.timesonline.co.uk/tol/news/world/africa/articles5276010.ece?print, Stand: 29.1.2009.
Vgl. Neuhäuser, Alice: Zum Bestand der transatlantischen Partnerschaft. Von
der Entfremdung zur Wiederannäherung, in: Die Politische Meinung 8/2006,
S.38-42, S.38.
Zitat Barack Obamas, in: Borger, Julian: UK‘s special relationship with US needs
to be recalibrated. Obama tells ex-pats in Britain, 27.5.2008, http://www.guardian.co.uk/world/2008/may/27/barackobama.uselection2008/print,
Stand:
29.10.2008.
Zitat Barack Obamas, in: ebd.
354
Alice Neuhäuser
equal and ripe for change”52. Dabei fügen sich diese Bemerkungen Obamas
nahtlos ein in seine außenpolitische Vision, nach der das Denkmuster, die
Amerikaner führten und Verbündete nähmen ohne weiteres die US-Sichtweise an, überholt sei.53 Gleichberechtigte Partner sollten laut dem neuen
amerikanischen Präsidenten nicht nur einander zuhören, sondern auch
einander situationsabhängig folgen.54 Dies impliziert natürlich, dass auch
die Amerikaner bereit sein müssen, sich ihren Partnern und deren Positionen gegebenenfalls anzuschließen. Die britische Öffentlichkeit müsste
eine Umsetzung dieses Vorsatzes einhellig begrüßen. Denn der Eindruck,
Blair habe für seine Unterstützung des Irak-Kriegs wenig von den USA
zurückerhalten, ist nach wie vor sehr stark wahrzunehmen.55
Vermutlich könnte auch Kontinentaleuropa von einer Erneuerung des
britisch-amerikanischen Verhältnisses profitieren. Großbritannien eine
gleichberechtigte Rolle in der „special relationship” zuzugestehen wäre
ein willkommener Anlass, um auch einen substanziellen Neuanfang in
den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Kontinentaleuropa einzuläuten. Seit der Zeit des Irak-Einmarsches, als „die Kriegsgründe
unterschiedlich bewertet wurden und auf der einen Seite die USA und
atlantisch orientierte Staaten Europas – auf der anderen Seite multipolare, eurozentristische Staaten um Deutschland und Frankreich standen”56,
gibt es in vielen europäischen Regierungen immer noch Unbehagen über
die Politik der Amerikaner.57 Der personelle Wechsel im Weißen Haus ist
ein günstiger Moment für eine Revitalisierung der transatlantischen Allianz. Zudem könnte Großbritannien in dieser Frage als Mittler zwischen
den USA und Kontinentaleuropa fungieren.
Barack Obama strebt Macht und Einfluss durch geschickte Einbindung
an, indem er mit Gegnern seines Landes kooperieren und einstige Mitbewerber wie Hillary Clinton durch einen wichtigen Kabinettsposten besänftigen möchte.58 Er bedient sich also klassischer Methoden einer „soft
power“. Die USA haben noch Nachholbedarf, als Partner zu führen, und
müssen daher erst lernen, im Stil einer „soft power“ zu agieren. Kontinentaleuropa ist das entgegengesetzte Beispiel: Es definiert sich als „soft
power“, hat aber erhebliche Schwierigkeiten, Ansätze einer „hard power“
52
53
54
55
56
57
58
Ebd.
Vgl. ebd.; Granieri, Ronald J.: False Friends and Unnecessary Enemies? American Liberals and Conservatives and European Integration, in: Orbis 3/2008,
S.446-459, S.459.
Vgl. Borger: UK‘s special relationship with US needs to be recalibrated.
Vgl. ebd.
Neuhäuser: Zum Bestand der transatlantischen Partnerschaft, S.39.
Vgl. Granieri: False Friends and Unnecessary Enemies?, S.459.
Vgl. Krauel, Torsten: Obama bricht mit Bushs Konfrontations-Politik,
27.1.2009, http://www.welt.de/politik/article3101389/Obama-bricht-mit-Bushs-Konfrontations-Politik.html, Stand: 28.1.2009.
Wie „special“ ist die „special relationship“ zwischen Washington und London?
355
für sich anzunehmen und entsprechend zu operieren. Von ihrem Verbündeten Großbritannien können die Vereinigten Staaten auf diesem Gebiet
lernen, da einzig das Inselreich beide Politiken schon beherrscht und somit als „smart power“ bezeichnet werden kann.59
Die Hauptzielsetzung der NATO ist nach Auffassung der Amerikaner, der
Briten und vieler mitteleuropäischer Länder, als „global security provider“
zu agieren. Westeuropa hat (noch) Vorbehalte gegen diese neue Ausrichtung der NATO. Ein folgenschweres Problem ist das Fehlen tragfähiger
Strukturen für die transatlantischen Beziehungen. Der NATO-Gipfel im
April 2009 wird in dieser Angelegenheit noch nicht zu konstruktiven
Beschlüssen führen, da er zu früh nach der Vereidigung Obamas stattfindet.60 Trotzdem werden sicher erste Versuche für eine Wiederbelebung
der transatlantischen Partnerschaft unternommen, z.B. in Form bilateraler Abstimmungen zwischen den USA und Großbritannien. Ein nächster
Schritt, der spätestens in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 begonnen
werden muss, ist eine Klärung der Mitgliedsstaaten darüber, ob die NATO
vorrangig ein Interventions- oder Koordinierungsgremium sein soll.
Neben den noch offenen sicherheitspolitischen Fragen können die vielfältigen Reaktionen auf die Finanzmarktkrise das transatlantische Verhältnis nachhaltig beeinflussen. Es ist nicht klar abzusehen, ob sich die
Krise langfristig positiv oder negativ auf die Beziehungen auswirken wird.
Ein Grund hierfür liegt darin, dass es keine europäische Antwort auf die
gegenwärtige Situation gibt, sondern durchaus miteinander konkurrierende Ansätze der einzelnen Nationalstaaten in Europa. Auf der einen
Seite könnte die Finanzmarktkrise die verstärkte Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zwischen den USA und den Europäern aufzeigen; auf der
anderen Seite sind besonders die Verstaatlichungstendenzen ein Beleg für
versteckten Protektionismus, der die Gefahr einer Verschlechterung der
transatlantischen Beziehungen in sich birgt. Weiter können neue Animositäten entstehen, wenn die USA vor allem mit den G8-Partnern aus Europa um dieselben Märkte kämpfen werden. Sowohl noch während der Krise als auch bei eintretender Wiederbelebung der Weltwirtschaft können
diese Probleme auftreten.
59
60
Vgl. Naughton, Philippe: Hillary Clinton says „smart power” will restore
American leadership, 13.1.2009, http://www.timesonline.co.uk/tol/news/
world/us_and_americas/article5510049.ece?pr, Stand: 24.1.2009; What is Hillary Clinton‘s „smart power”?, 13.1.2009, http://www.timesonline.co.uk/tol/
news/world/us_and_americas/article5511343.ece?pr, Stand: 24.1.2009.
Manuskriptabgabe: 31.1.2009.
356
Alice Neuhäuser
4. Persönliche Beziehung zwischen
Gordon Brown und Barack Obama
Wenn die Chemie zwischen dem britischen Premierminister und dem
amerikanischen Präsidenten nicht stimmen sollte, führt dies in der Regel
maximal zu atmosphärischen Störungen. Es kommt nicht zu einer substanziellen Beschädigung der Beziehungen, da die Verbindung der zwei
Länder durch viele Gemeinsamkeiten stark ist, beide zudem einer Wertefamilie angehören, enge wirtschaftliche Beziehungen unterhalten und in
Organisationen wie der NATO fest verankert sind.
Im April 2008 hatte Brown die drei zu dieser Zeit noch im Rennen befindlichen US-Präsidentschaftsbewerber getroffen, also John McCain, Hillary
Clinton und Barack Obama. Allen gewährte er einen jeweils 45-minütigen
Gedankenaustausch unter vier Augen. Während Brown die einstige First
Lady schon mehrfach gesprochen hatte und McCain wenige Wochen zuvor in London begrüßen konnte, war es sein erster persönlicher Kontakt
mit Obama.61 Mit McCain teilte Brown die Einstellung zum Freihandel; bei
Auftritten der zwei demokratischen Bewerber war er sich nicht sicher, ob
deren dort geäußerte protektionistische Ansätze als Wahlkampfrhetorik
oder echte Überzeugungen zu verstehen waren.62 Obama betonte darüber
hinaus, dass ihm „Diplomatie wichtiger als militärische Stärke”63 sei. „Er
hat angekündigt, dass er bereit sei, sich auch mit den Feinden der USA zu
treffen – so mit dem iranischen Präsidenten –, wenn es der Sache und dem
Frieden diene.“64 Brown begriff, dass eine Wahl Obamas und damit eine
Umsetzung der liberalen Außen- und Sicherheitspolitik Auswirkungen auf
den britischen Kurs in diesen Politikfeldern haben würde; Veränderungen
von Afghanistan über den Iran bis hin zu Russland und selbst zu Kuba
wären die logische Konsequenz,65 so dass er zunächst mit einer gewissen
Skepsis auf die wachsende Beliebtheit Obamas reagierte. Obwohl Brown
mit einigen Positionen des Republikaners McCain übereinstimmte, hatte
er sich bereits Monate vorher aufgrund der ideologischen Nähe zwischen
der Labour Party und der Demokratischen Partei und der zum damaligen
Zeitpunkt noch aussichtslos geltenden Kandidatur Obamas „auf Hillary
Clinton festgelegt“66.
61
62
63
64
65
66
Vgl. MacAskill, Ewen: Brown meets US presidential hopefuls, 17.4.2008,
http://www.guardian.co.uk/politics/2008/apr/17/gordonbrown.foreignpolicy/print, Stand: 29.10.2008.
Vgl. ebd.
Haftendorn, Helga: Die außenpolitischen Positionen von Obama und McCain, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37-38/2008, S.35-40, S.37.
Ebd.; vgl. Krauel: Obama bricht mit Bushs Konfrontations-Politik.
Vgl. MacAskill: Brown meets US presidential hopefuls.
Borger, Sebastian: Verlegene Gratulation aus Downing Street, 5.11.2008,
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,druck-588630,00.html, Stand:
5.11.2008.
Wie „special“ ist die „special relationship“ zwischen Washington und London?
357
Barack Obama hatte seine große außenpolitische Rede während seiner
Wahlkampftour um den Globus im Juli 2008 in Berlin gehalten und war
zudem zu einer Pressekonferenz mit Präsident Nicolas Sarkozy in Paris
erschienen. In London trat er allein ohne Brown vor die Medienvertreter.
Einige Wochen früher war geplant gewesen, die Weltreise in Großbritannien zu starten, doch hat der demokratische Präsidentschaftskandidat sie
dort beendet. Brown war von der Entscheidung des Obama-Teams enttäuscht. Außerdem passte dieser Entschluss Obamas nicht zu seinem Bestreben, die britisch-amerikanischen Beziehungen zu erneuern. Als Gründe für sein Verhalten können angeführt werden, dass er Brown für die
Unterstützung Hillary Clintons etwas abstrafen wollte und der britische
Premierminister im vergangenen Juli vor dem offensichtlichen Ausbruch
der internationalen Finanzmarktkrise politisch angeschlagen war. Wahlkämpfer Obama wollte sich in dieser Situation so wenig wie möglich mit
Brown öffentlich zeigen, da sich dessen Imageprobleme unter Umständen
negativ auf seine Umfragewerte ausgewirkt hätten. Aus dem Umfeld Tony
Blairs hieß es, „Obama wolle ebenjene wichtigen Personen treffen, mit denen er die nächsten sieben oder acht Jahre zusammenzuarbeiten habe“67.
Im letzten Sommer ging niemand mehr davon aus, dass sich Brown noch
länger an der Spitze der Regierung halten könne. Ferner sprach Obama
in seiner Berliner Rede zu den Völkern Europas. Diesen Adressatenkreis
hätte er in London umformulieren müssen, da Großbritannien nach wie
vor Schwierigkeiten damit hat, sich als ein Volk Europas zu definieren, da
Europa hier immer noch allzu gern mit Kontinentaleuropa gleichgesetzt
wird.
In seiner Berliner Rede bekannte sich Obama wie noch nicht zuvor zu den
transatlantischen Beziehungen.68 Warum er hierfür Deutschland ausgewählt hat, blieb rätselhaft. Denn die Bundesrepublik hat sich des Öfteren
als unzuverlässig gegenüber den USA erwiesen. Mit der Wahl der Stadt
stellte er sich unbeabsichtigt fast in die Tradition von George Bush sen.,
der Deutschland das Angebot „partner in leadership“ offeriert hatte. „Die
größer gewordene Bundesrepublik reagierte [zu jener Zeit] mit Passivität
und Schwächlichkeit, nicht willens, plötzlich machtpolitisch orientiert
zu handeln.“69 Einen Unterschied kann man jedoch darin erkennen, dass
der einstige Präsident seine Aufforderung allein auf Deutschland bezog,
während Obama die „Kooperation mit den Europäern“70 beschwor und
nicht nur mit Deutschland, bloß durch die Wahl des Redeorts die Bundesrepublik hervorhob und hofierte.
67
68
69
70
Leithäuser: Gordon Brown muss zurückstehen.
Vgl. Haftendorn: Die außenpolitischen Positionen von Obama und McCain,
S.37.
Neuhäuser: Zum Bestand der transatlantischen Partnerschaft, S.41.
Haftendorn: Die außenpolitischen Positionen von Obama und McCain, S.37.
358
Alice Neuhäuser
Am 5. November 2008 lieferten sich Premierminister Brown und Oppositionsführer David Cameron ein Rededuell im Unterhaus. Beide beanspruchten den Triumph Obamas bei der Präsidentschaftswahl am vorherigen Tag für sich, betrachteten dessen Erdrutschsieg als Beleg für die
angebliche Richtigkeit der jeweils eigenen Politik und versuchten, sich in
der Woge der Euphorie für das künftige amerikanische Staatsoberhaupt zu
sonnen. Statt außenpolitische Programme vorzutragen, fand ein innenpolitischer Schlagabtausch im House of Commons statt. Die Reden waren
recht phrasenhaft und erinnerten deshalb eher an einen bevorstehenden
Wahlkampf. Brown nannte Obama „a true friend of Britain”71 und ergänzte: „The truth is that the Conservative policy has been rejected in America
and in Britain.”72 Zwei Hauptgründe machte der britische Premierminister für den Erfolg Obamas aus; zum einen sei er ein ernsthafter Kandidat
in schwierigen Zeiten gewesen, zum anderen vertrete er dieselben populären Werte wie die Labour Party.73 In diesem Zusammenhang lobte Brown
vor allem Obamas inspirierenden Wahlkampf und seine Zukunftsvision.74
Die Reaktionen des Vorsitzenden der Torys waren diametral: Der Sieg Obamas „represented a triumph for the advocates of change“75, wobei Cameron hier „change”, also Wandel, mit einem möglichen Regierungswechsel
im Vereinigten Königreich gleichsetzte. Noch 2006 hatten die Conservatives John McCain als Redner auf ihrem Parteitag zu Gast. Cameron stellte
ihn damals als den nächsten US-Präsidenten vor. Doch ist Cameron bekannt dafür, bei politischen Überzeugungen ziemlich beweglich zu sein,
so dass es ihm nicht schwer gefallen sein wird, entsprechend der politischen Stimmung in den USA von den Republikanern zu den Demokraten
gewechselt zu haben.
Des Weiteren nennt er den neuen amerikanischen Präsidenten den ersten
Staatsmann einer neuen Generation und meint damit erstens, dass den jüngeren Politikern die nahe Zukunft gehöre76 und zweitens, dass er sich selbst
augenscheinlich dazuzähle. Aber nicht nur Obama und Cameron, sondern
auch Außenminister Miliband, die Nachwuchshoffnung der Labour Party,
ist noch recht jung. Alle drei sind in den 1960er-Jahren geboren.
Die Maßnahmen, die in Großbritannien ergriffen wurden, um die erwartete Rezession abzumildern wie die Senkung der Mehrwertsteuer oder
71
72
73
74
75
76
Debatte im Unterhaus, 5.11.2008.
Ebd.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.
Ebd.; vgl. Watt, Nicholas/Wintour, Patrick: Party leaders compete to cover
themselves in reflected glory, in: The Guardian, 6.11.2008, S.13.
Vgl. Debatte im Unterhaus, 5.11.2008.
Wie „special“ ist die „special relationship“ zwischen Washington und London?
359
des Leitzinses, führten nicht zu positiven Effekten.77 Trotzdem gewann
Gordon Brown durch die Finanzmarktkrise kurzzeitig als Krisenmanager
wieder Oberwasser,78 so dass er aktuell keinen Austausch durch David Miliband fürchten wird. Bis mindestens zur nächsten Parlamentswahl, die
spätestens im Mai 2010 stattfinden muss, wird Brown wahrscheinlich im
Amt bleiben. Insofern wird er in den kommenden Monaten definitiv der
erste Ansprechpartner der USA sein.
Sowohl Brown als auch Obama gelten als klug und begabt. Beide haben
an Elitehochschulen studiert. Was sie jedoch unterscheidet, ist ihr voneinander stark abweichendes Interesse, wie sie auf Menschen wirken.
Dem britischen Premierminister ist dies bisweilen gleichgültig, weswegen
seine Intelligenz oft als Makel beschrieben wird. Anders verhält es sich bei
Barack Obama: Er legt großen Wert darauf, in der Öffentlichkeit positiv
zu erscheinen, und plant daher seine Auftritte minuziös. So gilt er als
brillanter Rhetoriker und guter Gesprächspartner. Sein politisches Talent
wird demzufolge anerkennend herausgestellt. Synergien, wie sich die zwei
Politiker gut ergänzen können, lassen sich schnell erkennen: „Obama is a
great communicator, but he is the kind of person that is going to listen to
someone with the experience and knowledge of Brown.”79 Auch ideologisch gibt es eine Nähe. Obama ließ im Wahlkampf kaum Zweifel daran,
dass er ein Sozialdemokrat europäischen Zuschnitts ist. Wenn sich dieser
Eindruck in den ersten Amtswochen bestätigen sollte, müsste er nicht nur
gut mit Brown zusammenarbeiten können, sondern sich darüber hinaus
mit ihm verstehen und Einigkeit in zahlreichen Politikfeldern finden.
Die Bedenken Browns bezüglich der im Wahlkampf angekündigten liberalen Außenpolitik werden sicher schon verflogen sein. Denn Kontinuität
sowie Erfahrung waren die wichtigsten Kriterien für das neue US-Kabinett. Dies war für viele im linken Spektrum der Demokratischen Partei beheimateten Anhänger Obamas überraschend. Mit Verteidigungsminister
Robert Gates wurde sogar ein Republikaner aus der Bush-Administration
eingebunden. Neben Joseph Biden, einem der profiliertesten Außenpolitiker des Landes, setzt Obama vor allem auf Hillary Clinton. Den ganz
großen Wandel wird es also nicht geben. Selbst bei einem linken Kabinett wäre dieser analog zum Wahlkampf nicht möglich gewesen, da beide
Häuser zwar eine demokratische, aber keine linke Mehrheit haben. Ein
Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Thema Klimaschutz. Konkrete
77
78
79
Vgl. Volkery, Carsten: Der Stern des Gordon Brown sinkt, 11.1.2009,
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,druck-600403,00.html,
Stand: 14.1.2009.
Vgl. ebd.; Borger: Verlegene Gratulation aus Downing Street; Brown senkt
Mehrwertsteuer, 23.11.2008, http://www.rundschau-online.de/servlet/Origin
alContentServer?pagename=ksta/ksArt, Stand: 14.1.2009.
Wintour, Patrick: We can breathe again, says „energised” Downing Street, in:
The Guardian, 6.11.2008, S.12.
360
Alice Neuhäuser
Maßnahmen wie verbindliche Grenzwerte für den CO2-Ausstoß müssten
vom Kongress verabschiedet werden, dessen Mitglieder weit weniger ambitionierte Ziele verfolgen als Obama. Ein veränderungsbereiter Präsident
allein reicht deshalb trotz seiner weit gefassten Befugnisse nicht aus.
Während des Wahlkampfs hat Obama die Erwartungen an seine Person
und seine Durchsetzungskraft derart überhöht, dass er nun die Hoffnungen, die mit seiner Wahl verbunden waren, arg dämpfen muss, um seine
Sympathisanten nicht übermäßig zu enttäuschen. Ansonsten bestünde
die Gefahr, dass alsbald Abnutzungstendenzen entstehen, mit denen
z.B. auch Blair – allerdings nicht schon in seiner ersten Amtsperiode – zu
kämpfen hatte.80
5. Fazit
Die „special relationship“ zwischen Washington und London ist nach
wie vor „special“. Der relative Machtverlust der USA und die ausgeprägte
Kooperationsbereitschaft Obamas werden dazu führen, dass die britischamerikanische Freundschaft noch enger wird. Denn das Vereinigte Königreich wird nach den Jahren als Juniorpartner in Kürze eine nahezu gleichberechtigte Rolle einnehmen. Zudem sind die Aussichten gut, dass Barack
Obama und Gordon Brown erfolgreich zusammenarbeiten werden. Viele
Aufgaben liegen vor ihnen: die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, der
Irak-Abzug, die Aufstockung der Streitkräfte in Afghanistan, die Entschärfung der Konflikte im Nahen Osten, die Energiesicherheit und die Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen.
80
Vgl. Schwarz, Patrick: Vorsicht Ideale! Warum uns Präsident Obama bei aller
Hoffnung in einen Zwiespalt stürzt, in: Die Zeit, 27.11.2008, S.4.
Frankreichs neue NATO-Politik:
Hebel für eine Neuausrichtung
des Bündnisses?
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
1. Einleitung
Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy ist angetreten, um die Politik
seines Landes nach langen Jahren des Stillstands fundamental zu erneuern; hierbei macht er auch vor einem großen Tabu der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht halt. So kündigte er seit Mitte
2007 mehrfach an, die schon von seinen Vorgängern eingeleitete Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der NATO zu vollenden
bzw. die Beziehungen Frankreichs zur NATO zu normalisieren. Dieser
Schritt wurde am 11. März 2009 offiziell bekannt gegeben und anlässlich des 60. Geburtstages der NATO, der am 3./4. April 2009 in Straßburg
und Kehl gefeiert wurde, definitiv vollzogen.1 Damit kommt die seit 1966
gepflegte Sonderrolle Frankreichs in der Nordatlantischen Allianz an ihr
Ende. Diese Sonderrolle, die vor allem Frankreichs Unabhängigkeit und
damit seinen internationalen Geltungsanspruch garantieren sollte, war
nicht nur integraler Bestandteil der nationalen Identität, sondern machte
Frankreich auch zum enfant terrible des Bündnisses, zum häufig einzigen,
sehr wohl vernehmbaren Opponenten gegen die US-amerikanische Dominanz über Europa. „Speedy Sarko“, wie der ungewöhnlich zupackend
und temporeich auftretende Staatspräsident gerne genannt wird, begeht
mit seiner neuen NATO-Politik einen Tabubruch, der das politische Establishment des Landes spaltet und den parteiübergreifend wirksamen sicherheits- und verteidigungspolitischen Konsens der V. Republik zur Disposition stellt. Folglich fragt sich, welche übergeordneten Zielsetzungen
Sarkozy mit diesem markanten Politikwechsel verfolgt. Ist er ins Lager der
Atlantiker gewechselt? Oder kann er damit den tradierten französischen
Forderungen an das Bündnis neue Durchsetzungschancen verschaffen?
Um hier Antworten formulieren zu können, müssen die komplexen strategischen Überlegungen, die die Normalisierung der Beziehungen Frankreichs zur NATO begründen, dargelegt werden. Dies setzt zunächst eine
Bilanzierung der derzeitigen französischen Sonderstellung in der NATO
voraus.
1
Wegen mangelnder Repräsentativität der Örtlichkeiten in Kehl fand die
Abendveranstaltung des Jubiläumsgipfels in Baden-Baden statt.
362
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
2. Frankreichs Annäherung an die NATO in den 1990er-Jahren
Am 7. März 1966 trat Frankreich aus den integrierten Militärstrukturen und
dem Atomwaffenprogramm der NATO aus, blieb jedoch Mitglied des Atlantikpaktes. Dies war de Gaulles Reaktion auf die angelsächsische Dominanz
im Bündnis sowie auf den US-amerikanischen Strategiewechsel hin zur flexible response, der die Gefahr eines auch mit Nuklearwaffen ausgetragenen
Konfliktes in Mitteleuropa in Kauf nahm.2 Seither galt in der französischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik das de Gaullesche Prinzip: „Wenn die
westliche Welt bedroht ist, dann ist Frankreich solidarisch mit der westlichen Wertegemeinschaft; in Zeiten der Entspannung versucht es, seine
Unabhängigkeit vor allem gegenüber den USA zu bewahren.“3
Eine nennenswerte Abweichung von diesem Kurs ergab sich erst unter
dem Sozialisten François Mitterrand (1981-1995). Der Staatspräsident war
entschieden transatlantischer ausgerichtet als seine Amtsvorgänger. So
hatte er sich im Kontext des NATO-Doppelbeschlusses ganz auf die Seite
des Bündnisses gestellt und im Januar 1983 vor dem Deutschen Bundestag mit seinem Diktum „Les pacifistes sont à l’Ouest mais les missiles sont
à l’Est“ eindringlich für die Nachrüstung geworben. Doch obgleich Mitterrand die überragende Rolle der NATO für Europas (und Frankreichs)
Sicherheit anerkannte, hielt er zunächst an der französischen Sonderrolle
im Bündnis fest. Eine neue NATO-Politik entwickelte er erst im Rahmen
des Golfkriegs 1991. Frankreich, das mit 14.500 Soldaten an den Kampfhandlungen beteiligt war, musste bitter die Unterlegenheit der eigenen
militärischen Fähigkeiten im Vergleich zu den amerikanischen erfahren.
„France’s experience of participating in a multinational force commanded
by an US general under NATO procedures [...] was both humiliating and
revealing – particularly for the military. Any illusion which might have
remained about France’s (and Europe’s) capacity to underwrite the collective security of the Continent was shattered in the Saudi Arabian desert.”4
Daher kann der Golf-Krieg als „der Wendepunkt in der französischen NATO-Politik“ gewertet werden.5 Als sich ab 1993 ein NATO-Engagement im
zerfallenden Jugoslawien anbahnte, festigte sich in Paris die Erkenntnis,
2
3
4
5
Maulny, Jean-Pierre: Frankreich und seine zukünftige Stellung in der NATO –
eine politische, keine militärische Debatte, in: Frankreich-Analysen der FES,
November 2007, S.2.
Veit, Winfried: Bruch oder Bluff? Französische Außenpolitik unter Sarkozy, in:
IPG 2/2008, S.33.
Howorth, Jolyon: European integration and defence. The ultimate challenge?,
in: Chaillot Papers Nr.43, Institute for Security Studies, Paris 2000, S.18.
Burmester, Kai: Atlantische Annäherung – Frankreichs Politik gegenüber der
NATO und den USA, in: Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, hrsg. von Hanns W. Maull,
Michael Meimeth und Christoph Neßhöver, Opladen 1997, S.102. Vgl. auch
Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Frankreichs Europapolitik, Wiesbaden 2004,
S.111ff. und 133ff.
Frankreichs neue NATO-Politik: Hebel für eine Neuausrichtung des Bündnisses?
363
dass eine Annäherung an die NATO, eventuell sogar eine Re-Integration,
Frankreichs Einfluss im Bündnis stärken könnte.
Nachdem Verteidigungsminister Joxe erklärt hatte, dass Frankreich „in
den entscheidungsfällenden Gremien anwesend sein müsse [...], in denen [...] über unsere Sicherheit entschieden wird“,6 beteiligte sich Paris
ab April 1993 wieder an der Arbeit des NATO-Militärausschusses. Mit
Léotard nahm 1994 erstmals seit 1966 wieder ein französischer Verteidigungsminister an einem – allerdings informellen – Treffen der NATOVerteidigungsminister teil.7 Doch obwohl einige damals die vollständige
Rückkehr Frankreichs in die NATO-Strukturen erwartet hatten, blieb es
unter Mitterrand bei dieser insgesamt begrenzten Annäherung.
Staatspräsident Jacques Chirac (1995-2007) forcierte diese proatlantische
Kurskorrektur weiter. Im Bosnien-Krieg (1991-1995) musste Europa erneut
seine Unterlegenheit Amerika gegenüber erfahren. Daraufhin kündigte
Chirac im Dezember 1995 Frankreichs offizielle Rückkehr in den Rat der
Verteidigungsminister und den Militärausschuss an. Somit blieb noch
eine Hürde für eine vollständige Re-Integration bestehen: die Rückkehr
in die militärischen Strukturen. Als im Juni 1996 in Berlin das Combined
Joint Task-Forces (CJTF)-Konzept verabschiedet wurde, das den Europäern
den Aufbau einer eigenständigen Sicherheits- und Verteidigungsidentität
innerhalb der Allianz – als europäischer Pfeiler der NATO – erlaubte, sah
Chirac den Moment für eine vollständige Rückkehr gekommen. Denn das
CJTF-Konzept entsprach seinen Vorstellungen von einer neuen NATO, die
es Frankreich erlaube, „à prendre toute sa place“.8 Vor der Umsetzung des
CJTF-Konzepts mussten allerdings noch die Kommandostellen innerhalb
des europäischen Pfeilers definiert werden. Weil der NATO-Oberbefehlshaber in Europa, der SACEUR (Supreme Allied Commander Europe), immer
ein Amerikaner ist, forderte Chirac, hierin unterstützt von Deutschland,
die Posten der regionalen Befehlshaber mittels eines Rotationssystems mit
Europäern zu besetzen. Konkret ging es ihm um den Kommandeur der Allied Forces South Europe mit Sitz in Neapel. Doch die USA weigerten sich,
das strategisch wichtige Südkommando einem europäischen Offizier zu
übertragen. Daraufhin beschloss Frankreich, den militärischen Strukturen
der NATO auch weiterhin fernzubleiben. Rückblickend muss Chiracs taktischer Fehler verwundern, die Rückkehr anzukündigen, ohne zuvor den
Preis ausgehandelt zu haben.9
6
7
8
9
Joxe zitiert in Burmester: Atlantische Annäherung, S.101.
Woyke, Wichard: Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem fasst wieder Tritt, Opladen 2004, S.136.
Howorth, Jolyon: La France, l’OTAN et la sécurité européenne: statu quo ingérable, renouveau introuvable, in: Politique étrangère 4/2002, S.1005.
David, Dominique: France/OTAN: la dernìere marche, in: Politique étrangère
2/2008, S.431.
364
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
3. Frankreichs aktuelle undankbare Position
innerhalb der NATO
Auch wenn Chirac wegen der amerikanischen Unnachgiebigkeit 1997
den Prozess der formellen Re-Integration abbrach, so trieb er angesichts
der weltpolitischen Herausforderung in Folge des 11. September 2001
doch die faktische Annäherung substanziell weiter voran. 2002 willigte
er sowohl in Frankreichs aktive Beteiligung an der NATO Response Force
(NRF) als auch am neuen ACT-Kommando (Allied Command Transformation) in Norfolk/Virginia ein.10 Seit 2004 ist Frankreich mit rund 100 Offizieren bei den integrierten Kommandostrukturen (SHAPE in Mons und
ACT in Norfolk) vertreten. Mit insgesamt rund 280 für die Kooperation
mit der NATO abgestellten Militärs liegt Frankreichs Personalpräsenz allerdings „nur bei rund 10 Prozent der deutschen oder britischen“.11 Trotz
der faktischen Mitarbeit in integrierten NATO-Strukturen bewirkt Frankreichs Sonderstatus außerdem, dass es nicht Teil der ständigen Befehlskette ist – und mithin auch keine führenden Kommandoposten besetzt.
Auch verbleiben zwei zentrale NATO-Strukturen, denen Frankreich nicht
angehört: die nukleare Planungsgruppe (NPG, Nuclear Planning Group)
sowie der Ausschuss für Verteidigungsplanung (DPC, Defence Planning
Committee).
Demgegenüber sind Frankreichs operative und finanzielle Beiträge zur
NATO beachtlich. Frankreich, das sich seit 2003 an allen out-of-area-Einsätzen der NATO beteiligt, war 2007 der drittgrößte Truppensteller und
der viergrößte Geldgeber der Allianz.12 Dem steht kein entsprechender
Einfluss im Bündnis gegenüber, so dass das Kosten-Nutzen-Kalkül aus
französischer Sicht negativ ausfällt. Frédéric Bozo spricht von einer „unsatisfactory role”, weil „the involvement of France at decision making levels is still proportionally much less than its operational participation”.13
Hinzu kommt, dass die globale Entwicklung der NATO während der achtjährigen Amtszeit von US-Präsident Bush mit dem neuen Leitmotiv, dass
die Mission die Koalition bestimme, den partnerschaftlichen Ansatz in
den Hintergrund gedrängt hat. Für Präsident Sarkozy gibt es also Gründe genug, die unbefriedigende, undankbare und unkomfortable Position
Frankreichs in der NATO zu beenden.
10
11
12
13
Ebd.
Michel, Léo: Liaison dangereuse. Kehrt Frankreich tatsächlich zurück in die
NATO-Strukturen?, in: Internationale Politik, März 2008, S.35.
Maulny: Frankreich und seine zukünftige Stellung in der NATO, S.2.
Bozo, Frédéric: France and NATO under Sarkozy: End of the French exception?,
in: Working Paper der Fondation pour l’innovation politique, Paris 2008, S.6.
Frankreichs neue NATO-Politik: Hebel für eine Neuausrichtung des Bündnisses?
365
4. Sarkozys neue NATO-Politik: die Ankündigungen
Seine neue NATO-Politik kündigte Sarkozy erstmals in einer Rede vor den
in Paris versammelten Botschaftern am 27. August 2007 an. Dies kam
überraschend, denn im Wahlkampf war das Thema nicht angesprochen
worden. Nachdem er für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) eindringlich einen „neuen Elan“ gefordert hatte, betonte
Sarkozy, dass es zwischen EU und NATO keine Konkurrenz gäbe, vielmehr
ergänzten sich beide. „Ich wünsche“, so Sarkozy weiter, „dass wir in den
kommenden Monaten gleichzeitig die Stärkung des Europas der Verteidigung und die Erneuerung der NATO und folglich auch deren Beziehung
zu Frankreich angehen. Beides gehört zusammen. Ein unabhängiges Europa der Verteidigung und ein transatlantisches Bündnis, wo wir unseren
Platz vollständig einnehmen“.14
Ein zweites Mal sprach Sarkozy von seinen NATO-Plänen am 7. November
2007 vor dem US-Kongress. Zunächst erinnerte er daran, dass die USA
angesichts der instabilen Weltlage ein starkes und entschlossenes Europa
bräuchten. „Es gibt mehr Krisen als Mittel, diese zu bewältigen. Die NATO
kann nicht überall präsent sein. Die Europäische Union muss handlungsfähig sein.“ Nachdem er, ganz Pädagoge, das „strategische und legitime
Interesse“ dies- und jenseits des Atlantiks an einem starken Europa betont hatte, kam er auf seine neue NATO-Politik zu sprechen. „Hier am
Rednerpult des Kongresses sage ich: Je erfolgreicher das Europa der Verteidigung sein wird, umso mehr reift Frankreichs Entscheidung, seinen
Platz in der NATO wieder vollständig einzunehmen. Ich wünsche, dass
Frankreich, Gründungsmitglied der Allianz und einer ihrer größten Truppensteller, eine wichtige Rolle bei der Erneuerung ihrer Instrumente und
Handlungsfähigkeiten übernimmt und dass Frankreich in diesem Kontext
seine Beziehung zur Allianz parallel zur Entwicklung und Stärkung des
Europas der Verteidigung weiterentwickelt.“ Abschließend sprach Sarkozy
noch von einem „glaubwürdigen und starken Europa innerhalb eines neu
strukturierten Bündnisses“.15
Ein drittes Mal thematisierte Sarkozy seinen neuen Politikansatz anlässlich des NATO-Gipfels vom 3. April 2008 in Bukarest. Nachdem er im Vorfeld des Treffens bereits eine Aufstockung des französischen Kontingents
für Afghanistan um rund 1.000 Soldaten angekündigt hatte, wiederholte
er vor seinen Kollegen, dass Frankreich seine Verteidigungsausgaben nicht
senken werde, wie schwierig auch immer die Haushaltslage sei. Nach dieser doppelten Zusage, die den Bündnispartnern die Solidarität Frankreichs
14
15
Rede Sarkozys vor der Botschafterkonferenz am 27.8.2007 in Paris, http://
www.elysee.fr/download/?mode=press&filename=embassadeur-27-08-07.pdf
Rede Sarkozys vor dem US-Kongress am 7.11.2007, http://www.elysee.fr/edito/index.php?id=23
366
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
im Kampf gegen den Terrorismus versprach, ging Sarkozy quasi zum Angriff über. Wieder betont er die Notwendigkeit sowohl der NATO wie auch
eines starken Europas der Verteidigung. Sarkozy sah sich hier von Präsident Bush bestätigt, der am 2. April 2008 völlig unerwartet erklärt hatte:
„Building a strong NATO alliance also requires a strong European defense
capacity.” Sarkozy nahm dies begierig auf und dankte Bush in seiner Bukarester Ansprache gleich zwei Mal für dieses Bekenntnis. „Dies eröffnet
für Frankreich die Möglichkeit, seine Beziehungen zur NATO grundlegend
zu erneuern.” Erstmals nannte er auch ein Datum für die Umsetzung seiner neuen NATO-Politik: Der Prozess der Normalisierung werde anlässlich des NATO-Gipfels vom 3./4. April 2009 abgeschlossen werden, der
zugleich den 60. Geburtstag der Allianz begehen und in Straßburg und
Kehl stattfinden wird. „Das wird das Symbol der deutsch-französischen
Freundschaft, der europäischen Versöhnung und der transatlantischen
Partnerschaft sein.”16
5. Das doppelte Junktim in Sarkozys neuer NATO-Politik
Eine genauere Analyse der Ankündigungen Sarkozys zeigt, dass diejenigen
viel zu kurz greifen, die den neuen Politikansatz lediglich als Ausdruck
des „Atlantizismus“ des Staatspräsidenten bzw. seines Wunsches interpretieren, Briten und Deutschen den Rang als verlässlichste Partner Washingtons abzulaufen. Zwar ist Sarkozy ohne jeden Zweifel der amerikafreundlichste aller bisherigen Präsidenten der V. Republik. Dafür lassen sich zahlreiche Belege finden – seine NATO-Initiative aber gehört nicht dazu.
Vielmehr sucht der Staatspräsident, die Dilemmata des aktuellen Status’
Frankreichs in der NATO aufzulösen. Diese stellen sich auf der Grundlage
der obigen Ausführungen folgendermaßen dar:17 Wie ist die Diskrepanz
zwischen Frankreichs geringem Einfluss in der Allianz und seinen konkreten Beiträgen aufzulösen? Wie kann Paris angesichts seiner der Sonderrolle geschuldeten relativen Isolation wirksam auf die langfristigen
Entwicklungen des Bündnisses Einfluss nehmen? Und wie kann Frankreich gleichzeitig seinen jahrzehntelangen Bemühungen um ein auch sicherheits- und verteidigungspolitisch handlungsfähiges Europa, um ein
Europe Puissance,18 nachhaltig zum Durchbruch verhelfen?
16
17
18
Rede Sarkozys auf dem NATO-Gipfel von Bukarest am 3.4.2008, http://
www.elysee.fr/documents/index.php?mode=view&lang=fr&cat_id=7&press_
id=1243
Bozo: France and NATO under Sarkozy, S.5.
Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: The big Member States’ influence on the
shaping of European Union’s Foreign, Security and Defence Policy, in: The future of the European Foreign, Security and Defence Policy after Enlargement,
hrsg. von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Baden-Baden 2006, S.25-53.
Frankreichs neue NATO-Politik: Hebel für eine Neuausrichtung des Bündnisses?
367
Die Antwort des Präsidenten besteht in einem doppelten Junktim, d.h.
er verknüpft die vollständige Rückkehr Frankreichs in die NATO mit
gewissen Bedingungen. Dies verdeutlicht bereits, dass sich Sarkozy keineswegs sang- und klanglos ins Lager der Atlantiker einreihen möchte.
Vielmehr erwartet er, dass sein Rückkehrbeschluss der ESVP, dem Europa der Verteidigung, wie er zu sagen pflegt, eine neue Dynamik verleiht
(erstes Junktim). Denn eine stärkere ESVP, die auf Komplementarität zur
NATO beruht und deren Beitrag zur internationalen Sicherheit die USA
explizit wünschen und würdigen, wird das Gewicht der Europäer in der
NATO zwangsläufig vergrößern. Daran schließt das zweite Junktim an:
Frankreich will nur in eine erneuerte NATO zurückkehren – wobei die
angemahnte Erneuerung so zu verstehen ist, dass Frankreich die seit
Gründung der Allianz bestehende Asymmetrie zugunsten der Amerikaner beendet und Europa als gleichberechtigten sicherheits- und verteidigungspolitischen Partner anerkannt sehen möchte. „Ein Frankreich, das
seinen Platz in der NATO vollständig einnimmt, das wäre eine Allianz, die
Europa mehr Platz einräumt.“19
Um seinen Landsleuten die vollständige Rückkehr Frankreichs in die
NATO schmackhaft und akzeptabel zu machen, entfaltete Sarkozy im
Vorfeld des April-Gipfels der Allianz also einen komplexen, mit Junktims
versehenen Ansatz, der folgendermaßen argumentierte: Frankreich wird
nur in eine erneuerte NATO zurückkehren, die die ESVP als gleichberechtigten Partner akzeptiert. Um diese Gleichberechtigung aber glaubwürdig
einfordern zu können, muss die ESVP grundlegende Fortschritte machen
und den seit 1999 erreichten, insgesamt aber noch bescheidenen Stand
endlich überwinden. Eine substanzielle Stärkung der ESVP setzt nach Sarkozys Ansicht jedoch wiederum voraus, dass Frankreich auf seine Sonderrolle verzichtet und ein „normales“ NATO-Mitglied wird. Der Präsident
ist der Auffassung – das zeigen alle seine Ankündigungen –, dass Frankreich nur als vollwertiges NATO-Mitglied die ESVP glaubhaft vorantreiben
kann. Denn ein auf seinem Sonderstatus beharrendes Frankreich provoziert bei seinen Partnern dies- und jenseits des Atlantiks Misstrauen und
Blockadereflexe, weil man ihm konstant unterstellt, letztlich eine Schwächung der transatlantischen Allianz zu betreiben. In der Tat war dies über
Jahrzehnte hinweg ein zentraler Grund, weshalb das integrierte Europa
die US-Dominanz in der NATO akzeptierte, bis Ende der 1990er-Jahre sicherheits- und verteidigungspolitisch abstinent blieb und der Ausbau der
ESVP seither nur schleppend vorangeht.20 Dieses Misstrauen wird in der
osterweiterten EU konstant neu geschürt, da neben dem traditionell ESVP-skeptischen Großbritannien nun auch die neuen Mitglieder aus Osteuropa mit ihrem ausgeprägten Atlantizismus Frankreich bezichtigen, das
19
20
Sarkozy zitiert in Le Monde, 18.6.2008.
Siehe Müller-Brandeck-Bocquet: Frankreichs Europapolitik; Dies.: The big
Member States´ influence.
368
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Bündnis schwächen zu wollen. Sarkozys neue NATO-Politik dient folglich
in großem Maße der Vertrauensbildung in der EU-27 als Voraussetzung
für eine Stärkung der ESVP.
Während tatsächlich einiges dafür spricht, dass Frankreichs Rückkehr in
die NATO die ESVP deutlich beflügeln könnte, so bleibt fraglich, ob die
geplante Re-Integration zu einem vermehrten französischen Einfluss im
Bündnis führen kann. Hier geht es darum – und das ist ein weiterer Aspekt des französischen Rufs nach einer erneuerten Allianz –, dass Paris
grundlegende Reformen der NATO für notwendig erachtet und nach Mitteln sucht, diese aktiv mitzugestalten. Denn Frankreich will – übrigens
seit langem schon – den überdimensionierten Militärapparat der NATO
verkleinern und den neuen strategischen Erfordernissen anpassen. Zweitens möchte Paris – ebenfalls schon seit Jahren – die wachsende Politisierung der Allianz begrenzen, um zu verhindern, dass sie zum wichtigsten,
zwangsläufig von den USA dominierten Eckpfeiler der internationalen
Ordnung wird. Diesen Abwehrkampf gegen eine globale und politisierte
NATO hatte Mitterrand angesichts der raschen Erweiterung der Allianz
nach Ende des Kalten Krieges eingeleitet.21 Angesichts der amerikanischen
NATO-Politik der Bush-Jahre, in der die Mission die Koalition bestimmte
und Washington vor allem die Legitimationsressourcen des Bündnisses
schätzte, wehrte Paris sich erneut gegen die „Globalisierung“ der NATO,
zum Beispiel, gemeinsam mit Deutschland, gegen den schnellen Beitritt
Georgiens und der Ukraine. Zu den klassischen Reformforderungen, die
Paris an die NATO stellt, gehört schlussendlich auch das schon erwähnte
Anliegen, den Europäern im Bündnis mehr Gewicht – inklusive hochrangiger Kommandoposten – einzuräumen, um dadurch die Asymmetrie
sprich die amerikanische Dominanz zu beenden. Angesichts der sehr weitreichenden Reformforderungen, die Paris seit jeher an die NATO stellt,
darf bezweifelt werden, dass die Normalisierung eine Neuausrichtung der
Allianz nach französischen Vorstellungen herbeiführen könnte.22
6. Die Stärkung der ESVP als Pendant zur Rückkehr –
Mission erfüllt?
Wenn Präsident Sarkozy seine neue NATO-Politik vorrangig als Dienst
an Europa ausgibt, so heißt dies konkret, dass er der Stärkung der ESVP
oberste Priorität einräumt. Hier eröffnete ihm die französische EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2008 wirkungsvolle Handlungsmöglich21
22
Müller-Brandeck-Bocquet: Frankreichs Europapolitik, S.133ff; Dies.: Wie halten wir es mit Amerika? Die transatlantischen Beziehungen, die Konstruktion
Europas und die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Ära Kohl, in:
Historisch-politische Mitteilungen, Archiv für Christlich-Demokratische Politik, 14/2007, S.280ff.
Skeptisch auch Bozo: France and NATO under Sarkozy, S.9ff.
Frankreichs neue NATO-Politik: Hebel für eine Neuausrichtung des Bündnisses?
369
keiten. Sarkozy ergriff sie und erklärte das Ziel, der ESVP einen neuen
Impuls zu verleihen, zu einem der vier Schwerpunkte seines Präsidentschaftsprogramms. Konkret plante Frankreich die Ausarbeitung einer
neuen europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), die das 2003 verabschiedete Dokument ersetzen soll. Vorrangig strebte Sarkozy jedoch den Ausbau
der militärischen und zivilen ESVP-Kapazitäten an.23 Der im Präsidentschaftsprogramm ebenfalls angesprochenen vertieften Zusammenarbeit
zwischen EU und NATO diente ein bereits im Oktober 2007 dem NATORat unterbreitetes Papier Frankreichs mit weitreichenden Kooperationsvorschlägen. Damit – so ein Kommentar – habe Paris seine traditionelle
Obstruktion gegen eine Annäherung von EU und NATO aufgegeben und
sei den Wünschen Washingtons und Londons substanziell entgegengekommen.24
Angesichts der französischen Ambitionen und Vorleistungen ist nun zu
fragen, ob Ratspräsident Sarkozy der ESVP tatsächlich einen spürbaren
neuen Impuls verleihen konnte? Oder haben die turbulenten Ereignisse
während Frankreichs EU-Vorsitz (das irische Nein zum Lissabonner Vertrag vom 12. Juni 2008,25 der Georgien-Russland-Krieg vom August 2008
sowie die Finanzkrise ab Herbst 2008) den zum obersten europäischen
Krisenmanager avancierten Sarkozy von seinen Plänen abgebracht?
Nein, denn weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit hat der Europäische Rat vom 11./12. Dezember 2008 „seinen Willen bekräftigt,
der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit konkreten
Entscheidungen einen neuen Impuls zu geben und so den neuen Aufgaben Rechnung zu tragen, die sich auf dem Gebiet der Sicherheit Europas
stellen“.26 Die „Erklärung des Europäischen Rats zum Ausbau der ESVP“
enthält alles, was Frankreich vorgeschlagen hatte: eine allerdings nur
halbherzige Überarbeitung der ESS, das Versprechen, die „Unzulänglichkeiten der verfügbaren Mittel in Europa durch eine schrittweise Verbesserung der zivilen und militärischen Fähigkeiten zu beheben“ mitsamt einer
detaillierten „Erklärung zur Verstärkung der Fähigkeiten“,27 die Verpflich23
24
25
26
27
Vgl. Punkt 3.1 des französischen Präsidentschaftsprogramms, das zahlreiche
Vorschläge zur Kapazitätsverbesserung enthält.
Le Monde, 10.10.2007; Veith: Bruch oder Bluff?, S.45.
Mit Blick auf die ESVP-Priorität wirkt sich die Infragestellung des Lissabonner
Vertrags durch Irland und neuerdings wieder Tschechien besonders gravierend aus, da nun ein Rückgriff auf das nützliche und pragmatische Instrument
der strukturierten Zusammenarbeit in absehbarer Zeit ebenso obsolet geworden ist wie die neue Position eines Fast-Europäischen Außenministers.
Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Brüssel, 12.12.2008, Dok.17271/08.
Erklärung des Rats vom 8.12.2008 zur Stärkung der Fähigkeiten der ESVP,
Dok.16840/08. Konkrete Projekte sind u.a. die Aufstellung einer europäischen
Lufttransportflotte, Verbesserung bei der Aufklärung und v.a. verstärkte Rüstungskooperationen, um den Fähigkeitsentwicklungsplan der European Defence Agency (EDA) umzusetzen.
370
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
tung, bis zu 19 zivile und militärische ESVP-Missionen unterschiedlicher
Dimension gleichzeitig führen zu können, ein „Erasmus militaire“, das
die Kooperation im Ausbildungsbereich fördert, sowie ein klares Bekenntnis, „in vollständiger Komplementarität [...] im Rahmen einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft [...] die Zusammenarbeit zwischen EU
und NATO zu stärken“. Deshalb soll – wie von Frankreich vorgeschlagen
– „eine informelle hochrangige EU-NATO-Gruppe“ eingerichtet werden.
Als einziges, allerdings gravierendes Defizit der ESVP-Beschlüsse bleibt,
dass der ER in der hochsensiblen Frage des Aufbaus eines unabhängigen
europäischen Hauptquartiers sich lediglich zur Bestärkung der Bemühungen Solanas „um die Schaffung einer neuen ganzheitlichen Struktur zur
zivil-militärischen Planung“ von ESVP-Missionen bereitfand. Vor allem
Großbritannien erteilte den französischen Plänen, das bereits bestehende,
aber noch embryonäre EU-Operations-Centre mit seinen 90 Mitarbeitern
um 20 bis 30 Personen aufzustocken, eine Abfuhr.28 Dennoch erklärte Verteidigungsminister Hervé Morin nach dem Dezember-Gipfel 2008: „Alles,
was wir vor einem Jahr auf den Tisch gelegt haben, ist auf dem Wege.“29
7. Beendet die Rückkehr die „exception française“?
Sarkozys neue NATO-Politik beruht auf der Erkenntnis, dass Frankreichs
Sonderrolle im Bündnis unhaltbar geworden ist und den französischen
Interessen nicht mehr entspricht. Diese Sicht teilte auch das Expertenteam, das im Juni 2008 das neue Weißbuch „Verteidigung und nationale
Sicherheit“ vorlegte. Es plädiert eindeutig für die Rückkehr Frankreichs in
die integrierten NATO-Strukturen und stützt damit Sarkozys Linie.30
Es stellt sich nun die Frage, wie man sich diese „vollständige Rückkehr“
konkret vorzustellen hat. Wird Frankreich damit ein NATO-Mitglied wie
jedes andere auch? Wird Paris sein Motto: „Friends, allies, but not aligned“ vollständig aufgeben und sich brav ins Lager der Atlantiker einreihen? Kurz: Kommt die sicherheits- und verteidigungspolitische „exception française“ damit definitiv an ihr Ende?
28
29
30
Kempin, Ronja: Frankreich und die Annäherung von NATO und EU, in: SWPAktuell, April 2008, S.2. Zum europäischen Hauptquartier vgl. auch MüllerBrandeck-Bocquet, Gisela: Deutsch-französische Beziehungen und das Projekt
„Friedensmacht Europa“, in: Berliner Friedenspolitik?, hrsg. von Peter Schlotter, Wilhelm Nolte und Renate Grasse, Baden-Baden 2008, S.233-260.
Le Monde, 4.10.2008. Kritisch hingegen Kempin, Ronja/Overhaus, Marco:
Kein großer Sprung in der Entwicklung der ESVP. Lehren aus der französischen
Ratspräsidentschaft, in: SWP-Aktuell, Januar 2009.
Kempin, Ronja: Modernisierung der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: SWP-Aktuell, August 2008, S.1. Außerdem plädiert das Weißbuch für eine „stärkere Europäisierung der französischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik“ und fordert, die autonomen Planungs- und Führungskapazitäten der EU auszubauen.
Frankreichs neue NATO-Politik: Hebel für eine Neuausrichtung des Bündnisses?
371
Die Antwort kann nur „Nein“ lauten. Denn zum einen wird die „vollständige Rückkehr“ nicht vollständig sein. Während Frankreich in das
DPC – in dem so zentrale Themen wie aktuell der US-Raketenabwehrschild entschieden werden – zurückkehrt, wird das nicht für die NPG gelten. Dies ermöglicht es Frankreich, die autonome Entscheidungsbefugnis
über die Force de Frappe beizubehalten. Dazu Sarkozy: „Die nukleare Abschreckung Frankreichs wird strikt national bleiben.“31 Auch weiterhin
wird Frankreich der NATO in Friedenszeiten keine Truppen unterstellen.
Schließlich ist nicht damit zu rechnen, dass Frankreich quantitativ vollständig in die integrierten Strukturen zurückkehrt. Denn um auf gleichem
Niveau wie Briten oder Deutsche in diesen Strukturen vertreten zu sein,
müsste Frankreich seine Präsenz von derzeit 120 auf rund 1.200 Personen
verzehnfachen. Da dies weder finanz- noch personalpolitisch in kurzer
Zeit zu stemmen ist und Frankreich den NATO-Apparat eh als überdimensioniert betrachtet, wird vielmehr mit einer „reintegration a minima“ gerechnet, „whose significance would be more symbolic or political than
practical or military“.32 Insgesamt, so wurde beim NATO-Gipfel vom 3./4.
April 2009 bekannt, wird Frankreich rund 15 Generäle in die Militärstrukturen entsenden.33
Eine hohe symbolische Bedeutung kommt auch dem künftigen Zugriff
Frankreichs auf NATO-Kommandoposten zu. „Frankreich kann seinen
Platz in der NATO nur dann einnehmen, wenn ihm auch ein Platz eingeräumt wird“ – so vormals Chiracs und nun Sarkozys Mantra.34 Laut Presseberichten hat Sarkozy bzw. sein Chefberater Jean-David Levitte bereits
die Zustimmung von James Jones, Präsident Obamas neuem Nationalen
Sicherheitsberater, erhalten, dass Frankreich das ACT-Kommando in Norfolk sowie das Regionalkommando in Lissabon übernehmen kann, wo
sich das Hauptquartier der NRF, zu welcher Paris ja erheblich beiträgt,
befindet.35
Diese konkreten Aussichten sowie die Rückkehr-Perspektive insgesamt
haben in Frankreich eine lebhafte Debatte ausgelöst. Denn nicht nur in
der Armee gibt es gegen Sarkozys Angriff auf das gaullistische Allerheiligste Widerstand. Auch in der breiteren Öffentlichkeit wird befürchtet,
dass Sarkozys neue NATO-Politik das internationale Gewicht Frankreichs,
seinen Einfluss, seine auf Unabhängigkeit beruhende Rolle, oft laut auszu31
32
33
34
35
Sarkozy zitiert in Le Monde, 18.6.2008. Vgl. auch Sarkozys Rede vom
11.3.2009, in der er seine Rückkehrpolitik offiziell bekannt gab, in: Le Monde,
13.3.2009.
Bozo: France and NATO under Sarkozy, S.14; siehe auch Kempin: Frankreich
und die Annäherung von NATO und EU, S.2.
Le Monde, 4.4.2009.
Sarkozy zitiert in Le Monde, 5.2.2009.
Le Monde, 5.2.2009; Süddeutsche Zeitung, 20.2.2009.
372
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
sprechen, was andere leise denken, beschädigen könnte. Besonders drastisch formuliert der frühere sozialistische Außenminister Hubert Védrine: Wenn Frankreich ein „normaler Bündnispartner“ würde, sähen dies
viele Länder als eine „Wiedereinordnung unter die USA an“; dies würde zu einer „Marginalisierung von Frankreichs internationalem Gewicht
führen“.36 Andere fürchten die Aufgabe eines wichtigen Bestandteils der
Identität Frankreichs.37 Und wieder andere fordern, dass das Junktim zwischen Rückkehr und Europäisierung der NATO strikt umgesetzt wird. Besonders weit verbreitet sind die Zweifel daran, dass Sarkozys neue NATOPolitik der ESVP entscheidende Impulse verschaffen könnte. Ist es nicht
vielmehr so, dass mit seiner Rückkehr nun auch Frankreich auf seine
tradierten Ambitionen verzichte, fragt Laurent Zecchini und orakelt: „La
messe atlantiste est dite.“38
Nicht zuletzt um solchen Vorwürfen einer schlussendlich doch bedingungslosen vollständigen Rückkehr Frankreichs in die NATO den Wind
aus den Segeln zu nehmen bzw. politisch zu neutralisieren, hat Premierminister François Fillon die Parlamentsdebatte, die am 17. März 2009
stattfand, mit der Vertrauensfrage gekoppelt, so dass widerstrebende Abgeordnete der Regierungsmehrheit deutlich diszipliniert wurden.39 Außerdem bemühte sich Sarkozy anlässlich des Gipfelmarathons von Anfang
April 2009 (G-20 in London, NATO-Jubiläum in Straßburg und Kehl, USAEU-Gipfel in Prag) dem neuen US-Präsidenten gegenüber seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. So kam er – ebenso wie die anderen Europäer
– Obamas Appellen, ein stärkeres Engagement in Afghanistan zu zeigen,
nur in Nuancen nach. Dessen Ansicht, dass die Türkei Vollmitglied der EU
werden sollte, widersprach er gar offen. Eine gewisse Konkurrenz beider
zeichnet sich in der künftigen Abrüstungspolitik ab. Denn bereits am 8.
Dezember 2008 hatte der scheidende Ratspräsident Sarkozy die EU-Außenminister veranlasst, eine der nuklearen Abrüstung gewidmete Erklärung anzunehmen. Im Vorfeld der für 2010 angesetzten Überprüfung des
Atomwaffensperrvertrags unterbreitete die EU somit erstmals konkrete
Vorschläge zur nuklearen Abrüstung.40 Damit wollte Sarkozy dem neuen US-Präsidenten bedeuten, dass hier auch Europa ein Mitspracherecht
hat. Obama hingegen betrachtet die Vision einer atomwaffenfreien Welt,
wie er sie höchst publikumswirksam am 5. April 2009 in Prag vorstellte,
36
37
38
39
40
Védrine zitiert nach Michel: Liaison dangereuse, S.35.
So Modem-Chef F. Bayrou in: Le Monde, 5.2.2009.
Le Monde, 11.3.2009.
In der Bevölkerung wird der Schritt positiver aufgenommen; so stimmen 58%
der Franzosen dieser Entscheidung zu, 76% der UMP- und 52% der PS-Anhänger. Siehe hierzu Le Monde, 12.3.2009.
Z.B. wird ein Verbot der Herstellung spaltbaren Materials sowie eine Weiterführung des START-Abkommens zwischen den USA und Russland gefordert, vgl. Erklärung des Rats zur Stärkung der internationalen Sicherheit vom
8.12.2008, Dok.16751/08.
Frankreichs neue NATO-Politik: Hebel für eine Neuausrichtung des Bündnisses?
373
als Bestandteil seines globalen Führungsanspruchs.41 Sarkozy minimisiert
nun die Tragweite von Obamas Vorstoß: Der US-Präsident greife lediglich
bereits existierende Maßnahmen und Vorschläge auf, um die bisherige
Verzögerungspolitik der USA zu kaschieren.42
Es lässt sich zusammenfassen, dass ein Frankreich, das sich selbst angesichts der eben vollzogenen vollständigen Rückkehr in die NATO gewisse Sonderrechte reserviert und bemüht ist, den US-amerikanischen Führungsanspruch zu begrenzen, so angepasst, so aligned nicht sein kann.
Ein vollständiges Ende der „exception française“ steht also nicht an.
8. Das katalytische Potenzial von Frankreichs neuer
NATO-Politik: ein Ausblick
Präsident Sarkozy hat Frankreichs vollständige Rückkehr in die NATO
durchgesetzt, weil er diesem Schritt ein hohes katalytisches Potenzial beimisst. Der sicherheitspolitische Schulterschluss, den er im Kontext der
Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2009 mit Deutschland erreichte, gab ihm ein erstes Mal Recht. Denn am 4./5. Februar 2009 legte
er gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Papier zur Zukunft
des Bündnisses und zur Beziehung NATO-EU vor, in dem die beiden ohne
vorausgegangene Konsultationen mit der neuen US-Regierung erstmals
deutsch-französische Vorschläge unterbreiteten.43 Aus diesem bemerkenswerten, inhaltlich dichten Vorstoß ist besonders hervorzuheben,
dass Merkel und Sarkozy im Bündnis gemeinsame Entscheidungsfindung
einfordern – „einseitige Schritte würden dem Geist dieser Partnerschaft
widersprechen“ – und als Voraussetzung der transatlantischen Gleichberechtigung eine weitere Stärkung der Europäischen Sicherheitspolitik
verlangen: „Wir Europäer müssen mit einer Stimme sprechen.“ Am deutlichsten aber ist ihr gemeinsamer Widerstand gegen eine Umwandlung
der NATO in eine globale Sicherheitsagentur, wie die USA sie seit längerem anstreben. Paris und Berlin hingegen möchten die Grundlagen
der NATO „nicht neu erfinden“ und erkennen in Art. 5 des Vertrags den
„Wesenskern“ der „militärisch geprägten Allianz“. Damit setzen Merkel
und Sarkozy einen deutlich konturierten, mit deutsch-französischen Anliegen unterfütterten Rahmen für die nun anstehenden Debatten über
eine neue NATO-Strategie. Auch nehmen sie die neue US-Administration
41
42
43
Mit seiner Vision schließt sich Obama der „process global zero“-Initiative an,
die derzeit von Teilen des amerikanischen sicherheitspolitischen Establishments propagiert wird. Der Kampagne gehört u.a. Henry Kissinger an. Vgl.
auch Rudolf, Peter: Amerikas neuer globaler Führungsanspruch, in: SWP-Aktuell, November 2008, S.5.
Le Monde, 11.4.2009.
Abgedruckt am 4.2.2009 in der Süddeutschen Zeitung und am 5.2.2009 in Le
Monde.
374
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
beim Wort, die in der Person des neuen Nationalen Sicherheitsberaters,
des Vier-Sterne-Generals James Jones, den Verbündeten Zusammenarbeit
und gegenseitige Abstimmung zugesagt hat.44 Frankreichs neue NATOPolitik kann – so hat es den Anschein – insofern katalytisch wirken, als
Deutschland mit einem NATO-Vollmitglied Frankreich an seiner Seite es
nun wagen könnte, Europas Außen- und Sicherheitspolitik substanziell
stärken zu wollen.
Demgegenüber hat der konkrete Vollzug von Frankreichs Rückkehr in
die NATO keine direkten dynamisierenden Auswirkungen gezeitigt. Die
Rückkehr wurde während des NATO-Geburtstages eher als „non-event“
begangen, in der „Strasbourg/Kehl Summit Declaration“ heißt es höchst
lapidar: „We warmly welcome the French decision to fully participate in
NATO structures; this will further contribute to a stronger Alliance.“ Auch
der Punkt 20 dieser Erklärung, in welchem die NATO „recognises the importance of a stronger and more capable European defence and welcomes
the EU’s efforts to strengthen its capabilities and its capacity to address
common security challenges”, eröffnet dem Europa der Verteidigung
noch keine neuen Horizonte.45
Insofern muss man die neue Strategie der Allianz abwarten, die der Jubiläumsgipfel in Auftrag gegeben hat und die bis 2010 vorliegen soll, um das
tatsächliche katalytische Potenzial von Frankreichs neuer NATO-Politik
für die europäische Rolle im Bündnis bewerten zu können. Um hier substanzielle Veränderungen zu erreichen, sind nun vor allem die Europäer
gefordert. Sind Frankreichs 26 EU-Partner überhaupt willig und fähig, in
einer reformierten Allianz power und burder sharing glaubwürdig neu
auszutarieren? Erst dann wird sich erweisen, ob Sarkozys Rechnung aufgeht, dass seine neue NATO-Politik eine Neuausrichtung des Bündnisses
auslösen könnte.
44
45
Vgl. das Interview mit Jones in der Süddeutschen Zeitung, 9.2.2009.
Vgl. http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_52837.htm?mode=pressrelease.
In der Declaration on Alliance Security findet sich diese Passage wortgleich wieder,
vgl. http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_52838.htm?mode=pressrelease
Respekt und Missachtung in den
transatlantischen Beziehungen
Reinhard Wolf
„After eight years of often gratuitous unilateralism, arrogance, and lack
of diplomacy, Barack Obama and Joe Biden will treat allies with respect,
repair America’s damaged moral authority, and recreate a mutually beneficial partnership with valuable partners.”1
Dass Menschen im Alltag immer respektiert werden möchten, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die keiner näheren Begründung bedarf.
Ebenso verwundert es niemanden, wenn eine Person, die sich missachtet fühlt, hierauf schroff reagiert. Bei der Analyse internationaler Beziehungen wird dieser Gesichtspunkt jedoch nach wie vor ausgeklammert.
Entweder geht man davon aus, dass Politiker und insbesondere Diplomaten stets besonderes Geschick beweisen, wenn es um die Achtung ihres
Gegenübers geht. (Diese Vermutung schlägt sich in unserem alltäglichen
Sprachgebrauch nieder, der ein besonders taktvolles Vorgehen als „diplomatisch” kennzeichnet.) Oder es wird einfach unterstellt, Diplomaten
und ihre politischen Vorgesetzten könnten alle Formen der Missachtung,
die ihnen persönlich oder ihrem Staat gezeigt wird, einfach professionell
ausblenden oder „hinunterschlucken”. Nach der gängigen Vorstellung
beeinflussen solche Aspekte des Verhaltens kaum das internationale Geschehen. Entscheidend für Kooperation oder Konflikt seien letztlich nur
Interessens- und Machtkonstellationen.
Demgegenüber soll hier die These vertreten werden, dass die Erfahrung
von Respekt oder Missachtung durchaus wichtige Beziehungen wie die
zwischen den atlantischen Verbündeten bestimmen kann. Die nachhaltige Entfremdung, welche nach dem Amtsantritt von George W. Bush
zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten zu beobachten
war, ist zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass die Partner jeweils nicht die Beachtung erfuhren, die sie voneinander erwarteten.
Die dadurch ausgelöste Frustration, Empörung, ja sogar kaum verhohlene Wut, trugen wesentlich zur Eskalation der Auseinandersetzungen bei.
Langfristig veränderten diese kränkenden Erlebnisse die wechselseitige
Wahrnehmung, insbesondere die europäische Perzeption der USA, und
untergruben das Vertrauen zwischen den Partnern. Künftige Zusammen1
Obama, Barack/Biden, Joe: A Stronger Partnership with Europe for a Safer
America, www.barackoboma.com, Stand: 4.11.2008.
376
Reinhard Wolf
arbeit wird dadurch zwar nicht verhindert, aber eben doch erschwert. Insofern erscheint es aus einer transatlantischen Perspektive durchaus sinnvoll, wenn die neue US-Administration bewusst einen neuen Umgangsstil
in Aussicht stellt, der europäische Empfindlichkeiten stärker berücksichtigt.
Der Beitrag gliedert sich in drei Teile. Zunächst wird der Versuch unternommen, die Begriffe „Respekt” und „Missachtung” in einer Weise einzugrenzen, die sie für die Anwendung auf die internationale Politik fruchtbar macht. Im zweiten Teil werden Überlegungen vorgestellt, die dafür
sprechen, dass die Erfahrung von Respekt die Zusammenarbeit zwischen
Staaten fördert und dass umgekehrt erfahrene Missachtung die Eskalation
von Konflikten begünstigt. Anschließend wird demonstriert, wie die unerfüllten Respekterwartungen der USA, Frankreichs und Deutschlands die
transatlantische Auseinandersetzung über die Entwaffnung des Irak anheizten. Das kurze Fazit zieht hieraus Schlussfolgerungen für die Zukunft
der transatlantischen Beziehungen.
1. „Respekt“ und „Missachtung“ im internationalen Kontext
„Respekt“ ist ein ganz alltägliches Wort. Es wird verwendet, um zum Beispiel die Anerkennung für eine bestimmte Leistung auszudrücken, oder
auch als Synonym für „Ansehen“. Im letzteren Sinne wird es zunehmend
auch in der internationalen Politik gebraucht, etwa wenn die ehemalige
Senatorin (und heutige Außenministerin) Hillary Clinton im Wahlkampf
dem amtierenden Präsidenten vorwirft, er habe mit seiner Politik den internationalen Respekt verspielt, welchen die USA lange genossen hätten:
„To lead, a great nation must command the respect of others. … The tragedy of the last six years is that the Bush administration has squandered
the respect, trust, and confidence of even our closest allies and friends.”2
Im Folgenden ist mit dem Ausdruck jedoch etwas anderes gemeint, nämlich die angemessene Beachtung eines Akteurs durch sein soziales Umfeld. Eine Missachtung wird hingegen erfahren, wenn der Akteur nicht
die Beachtung zu bekommen glaubt, die ihm seiner Ansicht nach zusteht.
Entscheidend für die tatsächliche Reaktion eines Akteurs sind schließlich
seine subjektiven Wahrnehmungen und Einschätzungen und nicht die
Ansprüche an das Verhalten anderer, die er gemäß objektiv begründbarer
Normensysteme stellen dürfte.
Angemessene Beachtung beanspruchen Akteure in der Regel in folgenden
Dimensionen:
2
Clinton Rodham, Hillary: Security and Opportunity for the Twenty-first Century, in: Foreign Affairs 6/2007, S.2-18, hier S.2.
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen
–
–
–
–
–
377
für ihre soziale Bedeutung (im Sinne von Wichtigkeit),
für ihre Bedürfnisse,
für ihre Leistungen und Vorzüge,
für ihre Standpunkte, Ideen und Werte sowie
für ihre Rechte.
Es geht also um die Würdigung einer ganzen Palette von Attributen, die
sich zum Teil auf die positiven Momente der eigenen Identität beziehen
(Leistungen, Vorzüge, Standpunkte und Werte), teilweise auf die abstrakte
persönliche Würde, die erst die Grundlage für die Herausbildung solch einer individuellen Identität schafft (soziale Bedeutung als zurechnungsfähiger Akteur und grundlegende Rechte), auf Status (besondere Bedeutung
in einer sozialen Ordnung und besondere Rechte) und zum Teil auf ganz
gewöhnliche Bedürfnisse (z.B. Ernährung), deren Nichtbeachtung ebenfalls als kränkend erlebt werden kann. „Angemessene Beachtung” ist dabei nicht unbedingt gleichzusetzen mit Zustimmung, Befürwortung oder
aktiver Förderung. Oft erwarten Akteure nur, dass ihre Bedürfnisse, Standpunkte oder die soziale Bedeutung nicht übersehen, sondern wenigstens
ernst genommen werden.
Ganz wesentlich für die Konzeption von Respekt, so wie sie hier vertreten wird, ist der Gesichtspunkt, dass Akteure stets der Überzeugung sind,
sie hätten Anspruch auf ein bestimmtes Mindestmaß an Beachtung. So
betrachtet wird Respekt nicht freiwillig entgegengebracht – wie dies vielleicht für Bewunderung gilt. Respekt wird nicht geschenkt, er wird einem
„abgenötigt”. Respekt wird „gezollt” – oder er müsste zumindest gezollt
werden. Wo dies nicht geschieht, verstößt das Gegenüber also gegen eine
Norm, jedenfalls nach Auffassung dessen, der die Beachtung einfordert.
Es ist dieser subjektiv erlebte Verstoß gegen angeblich etablierte Normen,
der die Erfahrung von Missachtung so kränkend macht. Man erfährt nicht
die Behandlung, die einem nach eigener Überzeugung zusteht. Die häufige Folge ist Empörung, wenn nicht gar Wut.
Umgekehrt wird die angemessene Beachtung durch andere natürlich positiv erlebt. Wenn unsere Bedeutung und unsere Vorzüge und Leistungen
so gewürdigt werden, wie wir das erwarten, dann wird das als Bestätigung
erfahren. Es stärkt unsere Selbstachtung und oft auch unser Selbstwertgefühl. In den Erfahrungen von Respekt oder Missachtung verbinden
sich also unsere normativ begründeten Erwartungen mit der tatsächlich
erfahrenen Behandlung durch andere in einer besonders brisanten Weise, welche unmittelbar die emotionale Verbindung mit oder Abgrenzung
gegenüber dem sozialen Umfeld beeinflusst. Insofern ist es nur verständlich, dass diese Erfahrungen die Bereitschaft, mit anderen zu kooperieren,
spürbar beeinflussen.
378
2.
Reinhard Wolf
Respekt, Missachtung und internationale Zusammenarbeit
2.1 Negative Folgen von Missachtung
Die offenkundige Verweigerung von Respekt steht einer kooperativen Beziehung fast immer im Wege. Besonders augenfällig ist dies bei der Missachtung von Rechten, die man für sich beansprucht. Viele sozialpsychologische Untersuchungen haben einen engen Zusammenhang zwischen
solchen Missachtungserfahrungen und der Wut und aggressiven Gegenwehr der Betroffenen bestätigt.3 Entsprechende Reaktionen dienen dabei
nicht allein dazu, impulsiv den sprichwörtlichen „Dampf“ abzulassen, sie
können darüber hinaus auch noch die rational intendierte Konsequenz
haben, den eigenen Status wiederherzustellen oder den Beleidiger gleichsam zu erziehen.4 Oft erscheint der offene Kampf sogar als die einzige
Option, um den Respekt zu erlangen, auf den man Anspruch zu haben
glaubt.
Selbst wo die missachtete Seite – aus welchen Gründen auch immer – auf
eine Vergeltungsaktion verzichtet, wird sie in der Folge jedoch kaum eine
kooperative Haltung einnehmen. Schließlich hat sie kein originäres Interesse daran, mit „business as usual“ unter Beweis zu stellen, dass sie ihre
Missachtung „einfach schluckt“. In diesem Fall würde sie implizit bestätigen, dass sie tatsächlich die Art von Akteur ist, „mit der man so etwas
machen kann“. Ebenso wenig kann ihr daran gelegen sein, das Wohlergehen des Beleidigers (und indirekt damit vielleicht auch sein soziales Ansehen) zu erhöhen, indem sie mit ihm kooperiert. Die damit verbundene
Aufwertung würde schließlich nur den sozialen Stellenwert seiner öffentlichen Gesten und damit auch die Bedeutung der durch ihn erfahrenen
Missachtung verstärken. Kooperation wird nach einer Missachtungserfahrung also nur dann fortgesetzt, wenn gewichtige materielle Gründe dafür
sprechen.
Dass solche individuellen Reaktionsweisen grundsätzlich auch auf die Beziehungen zwischen Gruppen, zumal über Grenzen hinweg, übertragen
werden können, steht außer Frage. Einschränkungen in dieser Hinsicht
ergeben sich allenfalls dann, (a) wenn die Missachtung seitens der Fremdgruppe überhaupt nicht wahrgenommen wird, (b) wenn sie innerhalb der
Eigengruppe ganz unterschiedlich interpretiert wird, (c) wenn man der
missachtenden Seite Unkenntnis der aktuell verletzten Gruppennorm unterstellen kann oder (d) wenn die Missachtung allgemein für unwichtig
gehalten wird, weil die missachtende Fremdgruppe völlig unbedeutend
3
4
Miller, Dale T.: Disrespect and the Experience of Injustice, in: Annual Review
of Psychology 52/2001, S.527-553, hier S.532f., 536.
Ebd., S.540f.; vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen
Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1994, S.263.
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen
379
erscheint. Im Normalfall reagieren missachtete Gruppen aber ganz ähnlich wie respektlos behandelte Individuen – einmal abgesehen von der
intervenierenden Wirkung gruppeninterner Diskurse und Entscheidungsprozesse.5 Dies gilt auch für grenzüberschreitende Zusammenhänge.6
Ein Mangel an Respekt kann sich aber auch dort negativ bemerkbar machen, wo die geringe Achtung des potenziellen Partners lediglich vermutet wird oder einfach nur möglich erscheint, weil sichtbare Anzeichen
einer respektvollen Einstellung fehlen. Solche Konstellationen stehen oft
einer pragmatischen Zusammenarbeit im Wege. Je größeren Wert der verunsicherte Akteur auf den Respekt seines Partners legt, umso schwerer
wird es ihm dann fallen, sich ganz auf das zu bearbeitende Kooperationsproblem zu konzentrieren. Vielmehr wird er das Verhalten des Partners
immer auch im Hinblick darauf beobachten, was es über seine eigene Bewertung, seinen Status in den Augen des Anderen impliziert. Aktivitäten
des Anderen werden dadurch in einer Weise symbolisch „aufgeladen“, die
eine rein auf den Nutzen orientierte Zusammenarbeit verkompliziert. Beispielsweise werden dann Gegenvorschläge des Partners nicht mehr ohne
weiteres als Ideen betrachtet, die nur den gemeinsamen Nutzen erhöhen
sollen, sondern vielleicht auch als Belege für eine angebliche Geringschätzung der eigenen Kompetenz oder als Versuch, mit der Durchsetzung des
Alternativvorschlags den eigenen Vorrang deutlich zu machen. Infolgedessen wächst dann die Neigung, „aus Prinzip“ auf der eigenen Position
zu beharren, um dadurch die eigene Bedeutung und den selbst zugeschriebenen Status zu unterstreichen. Im Extremfall kann dies vorübergehend
zu einer kompletten Verweigerung von Kooperation führen, wenn man
nämlich glaubt, nur so deutlich machen zu können, wie sehr der Andere
auf einen angewiesen ist.7
2.2 Wechselseitiger Respekt als Ursache von Kooperation
Ist der gegenseitige Respekt hingegen offenkundig, dann kann sich dies
nur günstig auf die Zusammenarbeit auswirken. Hierfür sprechen zahlreiche sozialpsychologische Untersuchungen, wonach Individuen, die sich
von ihrer Gruppe respektiert fühlen, zu überdurchschnittlichen und freiwilligen Leistungen zugunsten der Gruppe bereit sind. Wertschätzung der
eigenen Arbeit und ausreichendes Gehör innerhalb der Gruppe (sog. voice
5
6
7
Honneth: Kampf um Anerkennung.
Lindner, Evelin: Making Enemies. Humiliation and International Conflict,
Westport 2006; Scheff, Thomas J.: Bloody Revenge. Emotions, Nationalism
and War, Lincoln 2000; Wolf, Reinhard: Respekt. Ein unterschätzter Faktor in
den Internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/2008, S.5-42.
Kelley, Judith: Strategic non-cooperation as soft balancing. Why Iraq was not
just about Iraq, in: International Politics 2/2005, S.153-173.
380
Reinhard Wolf
opportunities) führen zu einer höheren Selbsteinstufung des gruppeninternen Status, damit zu mehr individueller Wertschätzung für die Gruppe
und entsprechend auch zu einem stärkeren Interesse an deren Wohlergehen und Erfolg.8 Größere Identifikation mit der Gruppe fördert so eine
kooperative Einstellung. Solche psychologischen Forschungsergebnisse
können natürlich nicht ohne weiteres auf grenzüberschreitende Interaktion zwischen kollektiven Akteuren übertragen werden. Letztlich können analoge Kausalbeziehungen in der internationalen Politik nur durch
empirische Forschung bestätigt werden. Immerhin lassen sich plausible
Hinweise dafür anführen, dass gegenseitiger Respekt die bekanntesten
Hindernisse grenzüberschreitender Zusammenarbeit abschwächen kann.9
An erster Stelle ist hier das Vertrauensproblem zu nennen, das durch die
gezeigte Achtung und Wertschätzung verringert wird. Umfassender Respekt schließt ja die Beachtung und Berücksichtigung fremder Bedeutung,
Bedürfnisse, Vorzüge und Rechte (inkl. Vorrechte, die sich aus einem besonderen Status ergeben) ein. Gerade die bisherige Respektierung der Rechte eines anderen internationalen Akteurs lässt eher die Vermutung zu, dass
das Gegenüber auch künftig Absprachen und sonstige Verpflichtungen erfüllen wird. Hierfür spricht nicht zuletzt die damit verbundene Internalisierung von Normen in bürokratische Prozesse und kollektive Selbstbilder.
Die Beachtung fremder Bedürfnisse macht eine leichtfertige Verletzung
der Absprachen unwahrscheinlicher, weil man sich dann offensichtlich
besser darüber im Klaren ist, was für den Kooperationspartner auf dem
Spiel steht. Deshalb wird man von unkooperativem Eigenverhalten eher
negative Rückwirkungen erwarten. Mindestens ebenso wichtig ist schließlich die offensichtliche Anerkennung fremder Bedeutung und Vorzüge.
Wer sie zum Ausdruck bringt, gibt damit zu erkennen, dass er das positive
Selbstbild des respektierten Akteurs teilt, ihn also ähnlich wertschätzt wie
dieser sich selbst. Diese Wertschätzung hat zweierlei Konsequenzen für die
Regeleinhaltung: Zum einen legt man gemeinhin Wert auf eine positive
Beurteilung durch diejenigen, die man selbst schätzt, und identifiziert sich
eher mit ihnen. Von daher wird man sie auch seltener hintergehen als
Akteure, die einem gleichgültig sind. Zum anderen geht man ceteris paribus davon aus, dass der besonders geschätzte Akteur auch bei anderen in
hohem Ansehen steht. In diesem Fall fördert die kooperative Verbindung
mit ihm auch das eigene Ansehen in den Augen Dritter. Auch dieser Effekt
würde die Kosten einer Regelverletzung erhöhen.
8
9
Tyler, Tom R./Blader, Steven, L.: Cooperation in Groups. Procedural Justice,
Social Identity, and Behavioral Engagement, Philadelphia 2000, S.194-197.
Ausführlicher dazu Wolf, Reinhard: Respect and International Relations: State Motives, Social Mechanisms and Hypotheses. Paper presented at the 49th
Annual Convention of the International Studies Association, San Francisco,
26.-29.3.2008.
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen
381
In dem Maße, in dem das Vertrauensproblem gelöst ist, gehen auch zwei
weitere Kooperationshindernisse zurück, die in der wissenschaftlichen Literatur große Beachtung gefunden haben: das Autarkiestreben und die
Ablehnung disproportionaler Kooperationsgewinne, welche die Machtverhältnisse zugunsten des Partners verschieben könnten. Wer seinem
Partner wirklich vertraut, befürchtet nicht, dass dieser Lieferabhängigkeiten oder Machtungleichgewichte absprachewidrig ausnutzen könnte.
Verteilungsfragen sollten bei Partnern, die sich gegenseitig respektieren,
auch deshalb eine geringere Rolle spielen, weil diese dann die Verteilung
der Kooperationsgewinne nicht länger als wichtigen Indikator für ihren relativen Status ansehen: Bekanntlich setzen sich viele Gruppen für
ihre materiellen Interessen deshalb so nachdrücklich ein, weil sie deren
Durchsetzung auch als erfolgreichen „Test“ für ihre soziale Anerkennung
verstehen.10 Wo sich die Interaktionspartner gegenseitig achten, entfällt
damit ein Motiv für hartes Verhandeln. Sie können sich daher eher auf die
materielle Verteilungsdimension konzentrieren. Möglicherweise erleichtert auch in diesem Bereich der gegenseitige Respekt eine Einigung, weil
die reziproke Anerkennung des jeweiligen Status implizit schon einen akzeptablen „Verteilungsschlüssel“ vorgibt.
Schließlich kann wechselseitiger Respekt auch die Präferenzbildung in einer Weise beeinflussen, welche die Chancen für Zusammenarbeit erhöht.
Einerseits verbessert er, wie zuvor schon angedeutet, die Aussichten für
eine verständigungsorientierte Suche nach adäquaten Problemdefinitionen und -lösungen.11 Ein argumentativer Gedankenaustausch, der von
Statusunsicherheiten entlastet ist, ist also offener und deshalb besser geeignet, eine umfassende Analyse des Problemzusammenhangs und eine
optimale Lösungsstrategie zu ermitteln. Ersteres sollte zumindest die Stabilität der Absprachen erhöhen, weil nach einer besonders gründlichen
Erörterung des gemeinsamen Problems seltener neue, überraschende
Aspekte auftauchen dürften, welche eine (einseitige) Aufkündigung der
Übereinkunft attraktiv erscheinen lassen könnten. Effizientere Lösungsoptionen stärken unmittelbar das Interesse an einer kooperativen Lösung.
Andererseits ist zu vermuten, dass der Respekt der Gegenseite auch das
soziale Interesse an kooperativen Lösungen anregt. Wer uns in der Vergangenheit in hohem Maße respektiert hat, der wird unsere kooperative
Haltung wahrscheinlich auch künftig angemessen würdigen. Insofern erhöhen sich die Aussichten darauf, durch Zusammenarbeit im Ansehen
des Partners (weiter) zu steigen.
10
11
Ross, Marc Howard: Psychocultural Interpretations and Dramas: Identity
Dynamics in Ethnic Conflict, in: Political Psychology 1/2001, S.157-178,
hier S.163.
Risse, Thomas: „Let’s Argue!“ – Communicative Action in World Politics, in:
International Organization 1/2000, S.1-39.
382
Reinhard Wolf
Erfahrungen von Respekt und Missachtung können also die Aussichten
für Zusammenarbeit in vielfältiger Weise beeinflussen. Zweifellos spielen
sie dabei oft eine geringere Rolle als materielle Interessen oder institutionelle Rahmenbedingungen. Manche der beschriebenen Zusammenhänge
werden die Interaktion nicht dominieren, sondern eher verstärkende oder
abschwächende Wirkungen entfalten. Wenn die Missachtungserlebnisse
aber sehr ausgeprägt sind oder als regelrechte Demütigungen empfunden
werden, wird Zusammenarbeit nahezu zwangsläufig scheitern. Die Beziehungen werden dann stärker von Konflikten geprägt sein. Genau diese
eskalatorische Verhärtung ist bei den transatlantischen Kontroversen um
die amerikanische Irak-Invasion klar zu beobachten. Eine Rückkehr zur
Kooperation kann unter diesen Umständen nur gelingen, wenn beide Seiten (wieder) zum Ausdruck bringen, dass sie einander respektieren.
3. Kränkungen im transatlantischen Verhältnis nach 2001
Die dramatische Zuspitzung des transatlantischen Konflikts um die amerikanische Irak-Invasion ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass die
USA auf der einen Seite und Frankreich und Deutschland auf der anderen ihre jeweiligen Statusansprüche wechselseitig missachtet haben. Die
Bush-Administration hielt sich angesichts der überragenden Machtposition der USA für befugt, den Alliierten eine gemeinsame Irak-Politik vorzugeben. Hingegen glaubten die Regierungen in Berlin und Paris, eine
nahezu gleichberechtigte Mitsprache oder doch wenigstens intensive und
offene Konsultationen beanspruchen zu können. Als diese unvereinbaren
Ansprüche keine gegenseitige Beachtung fanden, eskalierte die sachliche
Auseinandersetzung zur offenen Konfrontation, die für das atlantische
Bündnis – so der damalige amerikanische NATO-Botschafter Burns – in
eine „near death experience“ mündete.
Für viele Mitglieder der amerikanischen außenpolitischen Elite (und hier
insbesondere für die Neokonservativen) hatten die neunziger Jahre gezeigt, dass die Europäer als weltpolitische Akteure nicht mehr richtig ernst
genommen werden mussten. Nicht zuletzt die Kosovo-Intervention der
NATO hatte in ihren Augen demonstriert, dass der militärische Beitrag
der Europäer in keinem Verhältnis mehr zu ihren Mitspracheforderungen stand. Diesem militärischen Abstieg entsprach in der amerikanischen
Wahrnehmung ein wachsender wirtschaftlicher Rückstand, der sich in
den hohen Arbeitslosenzahlen und niedrigen Wachstumsraten niederschlug. Angesichts dieser Kräfteverschiebung zugunsten der USA sahen
vor allem die Neokonservativen, aber auch die übrigen Verfechter amerikanischer Überlegenheit innerhalb der Bush-Administration immer weniger Veranlassung dazu, vor der Festlegung amerikanischer Positionen die
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen
383
Meinungen der europäischen Verbündeten einzuholen.12
Aufseiten der Regierungen in Paris und Berlin sah man jedoch keinen
Grund, auf den tradierten Anspruch auf echte Konsultationen zu verzichten. Frankreich bestand als Atommacht und ständiges Mitglied des
UN-Sicherheitsrates traditionell auf einer Partnerschaft auf Augenhöhe. Deutschland sah sich unter der Regierung Schröder/Fischer als eine
Macht, die nach Jahrzehnten der Abhängigkeit und Unterordnung endlich auf dem Weg war, ein selbstbewusster Mitspieler auf der internationalen Bühne zu werden. Sowohl die Regierung Chirac als auch die Regierung
Schröder glaubten sich umso mehr berechtigt, auf wirksame Mitsprache
zu bestehen, als sie zunächst die amerikanisch geführte Kosovo-Intervention und dann nach dem 11. September die amerikanische AfghanistanIntervention militärisch unterstützt hatten – noch dazu trotz beachtlicher
interner Widerstände. Zudem hatte die Regierung in Washington zumindest der Bundesregierung auch wiederholt ernsthafte Konsultationen zugesichert.13
In der deutschen Bundesregierung gewannen die maßgeblich Beteiligten
indes bald den Eindruck, dass die Bush-Administration, ungeachtet der
europäischen Solidaritätsbekundungen nach dem 11. September 2001, an
die unilaterale Vorgehensweise aus den ersten Amtsmonaten wieder anknüpfte, die Berlin schon damals erheblich irritiert hatte. Bereits im Februar des Jahres 2002 fühlte sich Außenminister Fischer zu der Bemerkung
genötigt, Alliierte seien Partner und keine Satelliten.14 Der Eindruck, man
werde nicht als ernstzunehmender Verbündeter behandelt, verstärkte sich
in Berlin, je weiter die amerikanischen Vorbereitungen für die Irak-Invasion voranschritten. Nachdem Vizepräsident Cheney in einer Rede vor
amerikanischen Veteranenverbänden die Kriegsbereitschaft der amerikanischen Regierung deutlich gemacht hatte, beklagte sich Bundeskanzler
Schröder offen über den politischen Stil der US-Regierung. In einem Interview mit der New York Times erklärte er, „it is just not good enough if I
learn from the American press about a speech which clearly states: We are
going to do it, no matter what the world or our allies think. That is no way
12
13
14
Szabo, Stephen F.: Parting Ways. The Crisis in German-American Relations,
Washington 2004, S.58f., 129, 132.
Szabo: Parting Ways, S.11-28, S.119, 134; Forsberg, Thomas: German Foreign
Policy and the War on Iraq: Anti-Americanism, Pacifism or Emancipation?, in:
Security Dialogue 2/2005, S.213-231, hier S.224-226.
Kelley: Strategic non-cooperation, S.165; vgl. Szabo: Parting Ways, S.134.
384
Reinhard Wolf
to treat others.”15 Angesichts dieses wenig rücksichtsvollen Vorgehens
fühlte sich die Bundesregierung ihrerseits berechtigt, ohne Rücksprache
mit Washington vollendete Tatsachen zu schaffen. Bundeskanzler Schröder nahm deshalb keine diplomatischen Rücksichten mehr auf die amerikanische Regierung, als er im Wahlkampf jegliche deutsche Beteiligung an
einer amerikanischen Intervention unmissverständlich ausschloss. Diese
unilaterale Vorgehensweise wurde wiederum in den USA als Missachtung
des besonderen amerikanischen Status aufgefasst. Den Deutschen stand
nach Ansicht der Bush-Administration keinerlei Führungsrolle zu – und
auch keine offene Kritik an amerikanischen Bemühungen, einen gefährlichen Diktator unschädlich zu machen.16
Diese Erfahrung respektlosen Verhaltens erreichte in der Perspektive der
Bush-Administration ihren dramatischen Höhepunkt mit dem umstrittenen Bush-Hitler-Vergleich der deutschen Justizministerin Herta DäublerGmelin. In der Folgezeit ließ vor allen Dingen US-Verteidigungsminister
Donald Rumsfeld die deutsche Regierung spüren, dass sie in den USA
nicht mehr viel zählte. So nannte er Deutschland in einem Atemzug mit
Libyen und Kuba als eines der Länder, die sich an der Irak-Intervention
in keiner Weise beteiligen wollten, und verließ auf einer NATO-Tagung
demonstrativ den Raum, als sein deutscher Amtskollege Struck („that person“, so Rumsfeld) seine Rede hielt.17 Die bilateralen Beziehungen – so
übereinstimmend Rumsfeld und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice –
waren nach Däubler-Gmelins „outrageous and insulting“ Bemerkung (Regierungssprecher Ari Fleischer) und der nur halbherzigen Distanzierung
Schröders „vergiftet“18.
Die Differenzen zwischen Washington und Paris nahmen sogar noch
dramatischere Formen an. Im Gegensatz zur damaligen Bundesregierung
lehnte man aber in Paris eine militärische Beteiligung nicht sofort ab.
Noch im Januar 2003 wies Staatspräsident Jacques Chirac die eigenen EUStreitkräfte an, sich für alle Eventualitäten bereit zu halten. Ferner wurden
hochrangige Vertreter nach Washington entsandt, um die operativen Ein15
16
17
18
Zit. nach Gordon, Philip H./Shapiro, Jeremy: Allies at War. America, Europe,
and the Crisis over Iraq, Washington DC 2004, S.100; vgl. auch Szabo: Parting
Ways, S.25f. Ganz ähnlich äußerte sich Schröder in einem Interview mit der
Wochenzeitung Die Zeit (Szabo: Parting Ways, S.23). Tatsächlich antwortete
später ein enger Mitarbeiter des US-Vizepräsidenten auf die Frage, ob sein Chef
auch die möglichen Auswirkungen der Rede in Deutschland bedacht habe:
„Why should he care about the reaction in Germany?” (zit. nach Gordon/
Shapiro: Allies at War, S.160).
Gordon/Shapiro: Allies at War, S.102; Pond, Elizabeth: Friendly Fire. The NearDeath of the Transatlantic Alliance, Washington DC 2004, S.22, 38, 59; Szabo:
Parting Ways, S.6; Forsberg: German Foreign Policy, S.226.
Szabo: Parting Ways, S.34, 39f.
Gordon/Shapiro: Allies at War, S.103, 128; Pond: Friendly Fire, S.59f.
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen
385
zelheiten einer möglichen französischen Beteiligung zu koordinieren.19
Eine zentrale Voraussetzung dafür, dass französische Streitkräfte den amerikanischen Einsatz unterstützten, war jedoch ein angemessenes Mitspracherecht für Frankreich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit
einer Intervention. Diese Einflussmöglichkeit verweigerte Washington
indes der Pariser Regierung.20 Aus französischer Sicht bedeutete dies nicht
nur eine Missachtung der französischen Partnerschaftsansprüche, ja vielleicht sogar eine persönliche Respektlosigkeit gegenüber dem Präsidenten
der Republik,21 sondern es implizierte auch eine eklatante Entwertung des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, in dem Frankreich als eine der
fünf Vetomächte nach wie vor den Status einer erstrangigen Macht demonstrativ wahrnehmen konnte.
Frankreichs Versuch, den damit drohenden Prestigeverlust durch die Führung der europäischen Opposition gegen die USA wettzumachen, endete ebenso mit einer diplomatischen Niederlage. Die Solidaritätsadressen,
welche die Mehrzahl der europäischen Staaten zunächst im sogenannten
„Brief der Acht“ und dann im „Brief der Zehn„ an die Bush-Administration richteten, machten überdeutlich, dass Paris keineswegs im Namen
Europas sprach, wenn es Front gegen den US-Feldzug machte. Besonders
pikant war dabei der Umstand, dass zumindest der „Brief der Zehn„ mit
indirekter Unterstützung amerikanischer Regierungsstellen formuliert
worden war. Dass Paris sich dadurch bloßgestellt, wenn nicht gar gedemütigt fühlte, zeigte die überaus emotionale Reaktion Präsident Chiracs, die
in dem öffentlichen Vorwurf gipfelte, den EU-Beitrittskandidaten fehle es
augenscheinlich an einer guten Kinderstube.22 Frankreichs Eliten reagier19
20
21
22
Rieker, Pernille: Power, Principles and Procedures. Reinterpreting French foreign policy towards the USA (2001-2003). Paper prepared for the 2005 annual
convention of the International Studies Association, Hawaii, 1.-8.3.2005, S.5;
Hymans, Jacques E. C.: A Sheep in Wolf’s Clothing: France’s Struggle with Preventive Force. Ridgway Center. Working Papers in Security Studies, WP 20068, http://www.ridgway.pitt.edu/docs/working_papers/PPMI/HymansWP.pdf,
S.7, Stand: 20.12.2008; Gordon/Shapiro: Allies at War, S.142.
Cogan, Charles G.: The Iraq crisis and France: heaven-sent opportunity or problem from hell?, in: French Politics, Culture and Society 3/2004, S.120-134,
hier S.126.
So berichtete der saudische Botschafter in den USA, Prinz Bandar, Anfang Februar 2003 in Washington, Chirac habe ihm in einem persönlichen Gespräch
erklärt, es gäbe eine grundsätzliche Differenz zwischen Paris und Washington.
Diese rühre zum einen daher, dass die USA ihn nicht respektvoll behandelten,
und zum anderen davon, dass sie die Erkenntnisse ihrer Nachrichtendienste
nicht an ihn weitergäben. George W. Bush reagierte auf diese Mitteilung mit
der Äußerung, er sei bereit, Chirac mit Aufmerksamkeit und Respekt zu ersticken – offensichtlich mit wenig Erfolg. Siehe hierzu Woodward, Bob: Plan of
Attack, New York 2004, S.312.
Gaffney, John: Highly Emotional States: French-US Relations and the Iraq
War, in: European Security 3/2004, S.247-272, hier S.254, 265; Gordon/Shapiro: Allies at War, S.132-134.
386
Reinhard Wolf
ten mit offenkundigem Trotz und kehrten zurück zum traditionell gaullistischen Diskurs mit seiner Betonung französischer Selbstbehauptung
gegenüber den arroganten Vereinigten Staaten.23 Zum überragenden Ziel
Frankreichs und seines Präsidenten wurde es nunmehr, „den amerikanischen Unilateralismus einzuhegen“24.
In den USA reagierte man auf den kompromisslosen Widerstand aus
Paris mit „breathtaking anger and outrage“25. Aus amerikanischer Sicht
ignorierte Paris nicht nur Amerikas Leistungen bei der Befreiung Frankreichs, bei der Eindämmung von Saddam Hussein und bei der Durchsetzung effizienterer Rüstungsinspektionen, sondern es missachtete auch das
gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der USA nach dem 11. September 2001.
Das französische Vorgehen respektierte aus amerikanischer Sicht somit
weder den besonderen Status der Vereinigten Staaten noch ihre akuten
Bedürfnisse. Die Krise nahm deshalb so scharfe Formen an, weil Frankreich glaubte, es könne den USA in diesen Fragen offen widersprechen,
ohne die Grundlagen der Beziehung zu gefährden. In den USA waren
Regierung und Bevölkerung jedoch dezidiert gegenteiliger Auffassung.26
Die Folge war ein nie dagewesener Ausbruch an anti-französischen Ressentiments und Anklagen.27 Der diplomatische Chefkorrespondent der
New York Times verstieg sich sogar zu der These, Frankreich sei nunmehr
der eigentliche Feind der USA. Dass gerade der französische Widerstand
Washington besonders empörte, zeigte auch die Äußerung der amerikanischen Sicherheitsberaterin Rice, man werde Russland seinen Widerstand
verzeihen, Deutschland künftig ignorieren, Frankreich aber bestrafen.28
Seitdem haben sich die Beziehungen zweifellos wieder deutlich verbessert. Nicht zuletzt der Europa-Besuch Bushs im Februar 2005 hat die Wogen demonstrativ geglättet, und auch der Kanzlerwechsel von Schröder zu
Merkel hat in dieser Hinsicht positiv gewirkt. Dennoch wäre es verfehlt,
in diesen wechselseitigen Kränkungen nur eine Episode ohne nachhaltige
Bedeutung zu sehen. Vor allem auf europäischer Seite hat das Image der
USA stark gelitten. Umfragen haben immer wieder gezeigt, dass die öffentliche Sympathie für Amerika in den letzten Jahren der Bush-Administration einen historischen Tiefststand erreicht hat. Die Vereinigten Staaten werden in den meisten europäischen Gesellschaften zunehmend als
23
24
25
26
27
28
Kempin, Ronja: Frankreichs neue Sicherheitspolitik. Von der Militär- zur Zivilmacht, Baden-Baden 2008, S.182-187.
Ebd., S.185; ähnlich Cogan: The Iraq crisis, S.124.
Gaffney: Highly Emotional States, S.256; vgl. auch Pond: Friendly Fire, S.70-72.
Bozo, Frédéric/Guillaume Parmentier: France and the United States: Waiting
for Regime Change, in: Survival 1/2007, S.181-198, hier S.192; Pond: Friendly
Fire, S.22.
Hymans: A Sheep in Wolf‘s Clothing, S.15; Gaffney: Highly Emotional States,
S.249.
Szabo: Parting Ways, S.132.
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen
387
eine Macht angesehen, die die Interessen anderer Staaten nicht beachtet.
Dieser Eindruck hat das Vertrauen in die weltpolitische Vorgehensweise
der USA nachhaltig geschwächt und den Ruf nach einem machtpolitischen Gegengewicht lauter werden lassen. Statt einer Stärkung der transatlantischen Beziehungen befürworten die Bürgerinnen und Bürger heute
mehr europäische Eigenständigkeit.29 Eine engere und vertrauensvollere
Kooperation wird nur dann wiederhergestellt werden können, wenn die
gegenseitige Achtung erneut zur Selbstverständlichkeit wird.
4. Ausblick
Ob die neue Obama-Administration hier einen nachhaltigen Wandel bewirken kann, ist derzeit noch nicht abzusehen. Optimistisch stimmen zweifellos die großen Sympathien, die dem neuen Präsidenten aus Europa entgegengebracht werden, sowie dessen erklärte Absicht, auf die oft arrogant
wirkende Haltung der Bush-Administration eine respektvolle Politik der
Partnerschaft folgen zu lassen. Die Entsendung von Vize-Präsident Biden
zur Münchner Sicherheitskonferenz kann in dieser Hinsicht als ein wichtiges Signal gesehen werden. Wie wichtig solche Gesten sind, verdeutlicht
nicht zuletzt die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel, die künftige Zusammenarbeit sollte wieder von multilateralen Absprachen, gemeinsamen
Anstrengungen und überhaupt davon geprägt sein, „dass man einander
zuhört“30. Indem die neue amerikanische Regierung solche Erwartungen
berücksichtigt, zeigt sie einmal mehr, dass sie aus Fehlern und Versäumnissen der Bush-Administration die richtigen Schlussfolgerungen gezogen
hat. In vielen Politikfeldern können sich so die Chancen für konstruktive
Dialoge und wirksame Zusammenarbeit deutlich verbessern.
Allerdings sind Amerikas mögliche Partner – und allen voran die Europäer –
gut beraten, wenn sie von Obamas neuer Diplomatie keine Wunderdinge
erwarten. Nicht nur werden viele inhaltliche Differenzen fortbestehen,
etwa in der Klima-, Handels- und Nahost-Politik. Zudem muss der neue
Präsident gerade bei diesen Themen auch besondere Rücksichten auf den
Kongress nehmen. Wichtig ist aber auch die Einsicht, dass einer „Politik
des Respekts“ natürliche Grenzen gesetzt sind, insbesondere, wenn sie
auf den intensiven Dialog mit dem Gegenüber setzt. Das Bezeugen von
29
30
Pew Global Attitudes Project: American Character Gets Mixed Reviews: US
Image up Slightly, but still Negative, Washington DC 2005, S.12, 23, 30; German Marshall Fund of the United States/Compagnia di San Paolo (Hrsg.):
Transatlantic Trends 2005, Topline Data, S.6, 8-9, http://www.transatlantictrends.org/trends/index_archive.cfm?id=4#Breakdowns, Stand: 31.3.2009.
Merkel zu Obama: „Mehr zuhören, mehr Zusammenarbeit“ – ExklusivInterview im ARD-Morgenmagazin zur Amtseinführung des US-Präsidenten, in: ARD-Morgenmagazin, 20.1.2009, http://www.presseportal.de/
pm/7899/1337860/wdr_westdeutscher_rundfunk/rss, Stand: 12.2.2009.
388
Reinhard Wolf
Respekt kostet nicht nur Zeit und Aufmerksamkeit, es verschafft dem respektierten Akteur auch mehr Einfluss. Wer anderen mehr zuhört, ihre
Rechte, Bedürfnisse und Standpunkte ernst nimmt, öffnet sich für ihre
Argumente und wertet den Sprecher implizit auf. Selbst in den Situationen, in denen eine respektvolle Haltung nur erfolgreich vorgetäuscht
wird, entsteht bei der anderen Seite zumindest der Eindruck, sie genieße
einen höheren Einfluss.
Hieraus können vor allem zwei Probleme erwachsen: Zum einen verlangt
ein respektvoller Akteur – bewusst oder unbewusst – oft auch eine Gegenleistung für den Einflussgewinn, den er der anderen Seite ermöglicht. So
hat auch Obama keinen Zweifel daran gelassen, dass er für die Wiederbelebung der transatlantischen Partnerschaft von den Verbündeten mehr
Engagement in Afghanistan erwartet – und das wird kaum die einzige
Hoffnung sein, die er und sein außenpolitisches Team mit einer respektvolleren Behandlung der Europäer verbinden. Wenn solche Erwartungen
zunehmend enttäuscht werden sollten, sind Frustrationen beiderseits des
Atlantiks vorprogrammiert. Neuer Respekt für Europa, der nicht durch
größere Beiträge verdient erscheint, wird kaum lange vorhalten.
Zum anderen kann ein respektvoller Umgang auch dazu führen, dass Statusunterschiede unbeabsichtigt verwischt werden. Schließlich hatten die
Regierungen in Berlin und Paris schon gegenüber der Bush-Administration
immer wieder „Partnerschaften auf gleicher Augenhöhe“ eingefordert. Je
mehr Respekt die neue Regierung ihnen jetzt bezeugt, umso größer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass Amerikas Partner sich zunehmend (wieder) als
ebenbürtige Akteure sehen. Eventuell ist man in Washington aber keineswegs dazu bereit, solche Statusverschiebungen zu akzeptieren. Die mögliche Folge wären Missverständnisse und vielleicht sogar neue Konflikte.
Zur Vermeidung solcher Risiken sollten die Europäer nicht einfach darauf
bauen, dass mit dem neuen Ton der Obama-Administration die transatlantischen Beziehungen wieder so harmonisch und vertraulich werden
wie in den ersten beiden Jahren der Regierung Clinton (als diese sich auch
noch auf einen demokratisch dominierten Kongress stützen konnte). Vielmehr sollten sie möglichst rasch mit den amerikanischen Verbündeten
klären, welche Erwartungen beide Seiten mit einer respektvolleren Partnerschaft verbinden. Insbesondere sollten sie ein Einvernehmen darüber
anstreben, wann und in welcher Form Konsultationen durchzuführen
sind und welches Entgegenkommen Washington für ein effektives Mitspracherecht der Europäer fordern kann. Nur wenn diese grundlegenden
Erwartungen offen besprochen werden, können beide Seiten rechtzeitig
lernen, was ihr Gegenüber unter angemessener Beachtung versteht. Entscheidend ist deshalb, dass Amerikaner und Europäer das offene Gespräch
über ihre Selbst- und Fremdbilder und die daraus resultierenden Statusan-
Respekt und Missachtung in den transatlantischen Beziehungen
389
sprüche und Verhaltenserwartungen führen. Dadurch können nicht nur
unnötige Missverständnisse vermieden werden, die neuerliche Kränkungen verursachen würden, sondern die Institutionalisierung von Konsultationsregeln wäre darüber hinaus auch ein deutliches Signal, dass man
sich auf beiden Seiten des Atlantiks wieder als wertvoller Partner sieht
– und dies ist unerlässlich, wenn die transatlantische Solidarität so weit
wiederbelebt werden soll, dass offen-konstruktiver Dialog, faire Lastenteilung und konsequenter Einsatz für gemeinsame Ziele nicht länger die
Ausnahmen bleiben.
Asymmetrische Interdependenz:
Warum brauchen Europa und
die USA einander?
Beate Neuss
1. Das Ende des „unipolar moment“1
„America and Europeans still look to one another before they look to
anyone else. Our partnership has benefited us all.”2 Vizepräsident Joe Biden, erst wenige Tage im Amt, nutzte die Münchener Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2009, um seine Vorstellung über die transatlantische
Kooperation zu propagieren. Sagte er mit seiner Charme-Offensive nicht
deutlich: Liebe Europäer: Ja, wir sind voneinander abhängig! Ja, wir brauchen einander noch! Ohne Kooperation geht es nicht! Und: Wir brauchen
den Rat und die Unterstützung der Europäer!?
Die amerikanische Antwort auf die Frage der Symmetrie oder Asymmetrie des Verhältnisses lässt sich diplomatisch verpackt aus der Gesamtrede
herauslesen. Sie lautete: „We’re going to attempt to recapture the totality
of America’s strength.” Der Anspruch der Vereinigten Staaten, Weltordnungsmacht und damit Erster unter Gleichen zu sein, ist geblieben. Der
in Europa so dringend gewünschte Dialog zwischen der EU und den USA
„auf Augenhöhe” wird nicht allein auf
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