Erneuerbare Energien: 100 Prozent bis 2050 sind machbar

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EDITORIAL |
Erneuerbare Energien:
100 Prozent bis 2050
sind machbar
E
uropa wird bis zum Jahr 2050 seinen
gesamten Bedarf an Energie für Mobilität, Wärme und Strom aus erneuerbaren
Energien decken können. Dies wird mit einer
Steigerung des Komforts sowie der Versorgungssicherheit einhergehen und die individuellen Freiheiten nicht schmälern. Die
Transformation des Energieversorgungssystems wird zwar gegenüber der Fortsetzung des Status quo zunächst Investitionen
in Milliardenhöhe erfordern. Aber schon von
den Jahren 2025 bis 2030 an werden Einsparungen beim Import klassischer Primärenergie in Milliardenhöhe die Investitionskosten mehr als kompensieren. Europa wird
reicher. Vor allem aber setzt die Energiewende die Entwicklung und den Einsatz
moderner Technologien voraus. „Grüne
Energie“ ist nicht technikfeindlich. Im Gegenteil: Die Ingenieurkunst und die Bereitschaft zu einer technologischen Evolution,
die auch mit Eingriffen in unsere Umwelt
verbunden sein wird, sind ebenso gefordert
wie in den zurückliegenden Jahrhunderten.
Das ist das Fazit des Energiekonzeptes
2050, das der Forschungsverbund Erneuerbare Energien erstellt hat.
Die Autoren der Studie sehen den entscheidenden Antrieb für den Umbau unserer Energieversorgung in dem Willen, den
Klimawandel zu begrenzen. Sie sind überzeugt, dass nur eine drastische Drosselung
der Kohlenstoffdioxid-Emissionen die Erwärmung der Erdatmosphäre verlangsamen und perspektivisch stoppen kann. Zugleich sind sie überzeugt, dass auch in
Europa genügend erneuerbare Energie zur
Verfügung steht, um den gesamten Energiebedarf des Kontinents klimaneutral zu
decken. Die Wissenschaftler denken weiträumig. Sie konzeptionieren von Norwegen bis Nordafrika, und sie setzen auf Optionsvielfalt, schließen alle nachhaltig nutzbaren Energiequellen in ihre Überlegungen
ein. Das führt zu einem zweifachen Paradigmenwechsel im Denken:
energie | wasser-praxis 7/8 2011
1. Energie wird nicht mehr knapp sein. Sie
ist praktisch unbegrenzt vorhanden. Die
Konsumenten werden nicht mehr für ein
knappes, technisch aufwändig aufbereitetes Gut zu bezahlen haben, wie etwa
für einen Liter Super plus, sondern der
Aufwand der Umwandlung und der Bereitstellung der unbegrenzt vorhandenen
erneuerbaren Energie in einer verfügbaren Form wird ihren Preis bestimmen.
2. Das bisherige System der Erzeugung
und Verteilung elektrischer Energie basiert auf zentraler, bedarfsgerechter Erzeugung und der kaskadenartigen Verteilung des Stroms nach unten. Es ist ein
zentralistisches System. Das neue System ist in seinem Kern urliberal. Es basiert
auf der Idee einer Vielzahl gleichberechtigter Individuen, die untereinander in den
Warenaustausch treten. Angebot und
Nachfrage werden auf einem freien Markt
über den Preis ausgeglichen.
An die erste Stelle der Transformation der
europäischen Energieversorgung setzen
die Wissenschaftler das Ziel der Energieeffizienz. Der Ausbau der dezentralen KraftWärme-Kopplung und die energetische
Sanierung des Gebäudebestandes werden den Energiebedarf mehr als halbieren.
Im europäischen und im deutschen Maßstab wird der heute schon relativ preiswert
zu gewinnende Windstrom die wichtigste
Energiequelle sein. Auch unter den Stromimporten wird Windstrom dominieren. Die
Bedeutung von Photovoltaik, Geothermie
und vor allem von erneuerbarem, mittelbar
aus Strom gewonnenem Wasserstoff und
Methan wird wachsen.
Damit entsteht neben Pumpspeicherkraftwerken eine weitere Möglichkeit, elektrische Energie indirekt zu speichern. Mit Hilfe der Power-to-Gas-Technologie kann
das Erdgasnetz als Stromspeicher erschlossen werden, indem unter Stromeinsatz via Elektrolyse Wasserstoff produziert
oder Methan synthetisiert und in das Gasnetz einspeist werden. Wasserstoff kann
dem Erdgas begrenzt beigemischt werden. Wie bei Bio-Erdgas schon heute üblich, lässt sich das künstlich gewonnene
Methan ebenso wie das natürlich entstandene Methan, das Erdgas, ohne jegliche
Begrenzung in der vorhandenen Gas-Infrastruktur transportieren und speichern.
Versorgungsnetze werden intelligent.
Übersteigt das Energieangebot die Nachfrage, wird Strom in andere Energieformen
gewandelt, oder es werden Verbraucher
zugeschaltet. Ist die Stromnachfrage größer als das Angebot, werden Einspeiser
zugeschaltet, die sich aus den Energiespeichern bedienen, oder Verbraucher abgeschaltet, deren Dienste im Moment verzichtbar sind. Der marktgerechte Preis, der
sich im Tagesverlauf stets neu bildet, wird
die Verbrauchskurve dem Energieangebot
annähern.
Dem Gasnetz mit seiner riesigen Speicherkapazität kommt bei einer Vollversorgung
mit erneuerbaren Energien die Schlüsselaufgabe zu, Tage und Wochen mit zu geringem Angebot von Wind- und Sonnenenergie, wie beispielsweise im Winter, auszugleichen. Als entsprechend richtungsweisend ist auch das Engagement des
DVGW zu bewerten, der dieses Potenzial
nicht zuletzt im Rahmen seiner Innovationsoffensive frühzeitig erkannt hat.
Prof. Dr. Jürgen Schmid
Leiter des Fraunhofer IWES und Mitglied
im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen WBGU
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