IX. Neue Industriemächte – Deutschland und die Vereinigten Staaten

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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis
Wirtschaftsgeschichte
IX. Deutschland und USA
IX. Neue Industriemächte – Deutschland und die
Vereinigten Staaten
Provisorischer Text
(Asselain 1991, chapitre III, mit Ergänzungen)
Einleitung: Der Aufstieg Deutschlands und der Vereinigten Staaten ........................................ 2
1. Deutsche Wirtschaftsentwicklung .......................................................................................... 3
1.1. Überwindung der Anfangshindernisse ............................................................................ 4
1.1.1. Rückstand Deutschlands .......................................................................................... 4
1. 1. 2. Erste Modernisierungsvorgänge ............................................................................. 5
1. 1. 3. Beschleunigung der Modernisierungsvorgänge in der erste Hälfte des 19.
Jahrhunderts ....................................................................................................................... 6
1. 2. Dynamische und anpassungsfähige Landwirtschaft ...................................................... 7
1. 2. 1. Agrarische Institutionen ......................................................................................... 7
1. 2. 2. Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Sektors findet vor allem zwischen
1850-65 statt ....................................................................................................................... 8
1. 3. Die entscheidende Rolle des Eisenbahnbaus ................................................................. 9
1. 3. 1. Rascher Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland ........................................... 9
1. 3. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus ....................................................................... 10
1. 4. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft ........................................................................ 12
1. 5. Konzentration im industriellen Sektor ......................................................................... 14
1. 5. 1. Zwei Konzentrationsformen sind wichtig ............................................................ 14
1. 5. 2. Die enge Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie ................................ 15
1. 6. Dynamik der deutschen Wirtschaft um 1914 ............................................................... 16
1. 6. 1. Zentrales Kennzeichen Deutschlands ist das starke Bevölkerungswachstum...... 16
1. 6. 2. Der Dynamismus der deutschen Wirtschaft zeigt sich auch in der Zunahme der
Investitionen ..................................................................................................................... 17
1. 6. 3. Die hohen Investitionsquoten (I/Y) erfordern Umschichtungen in der
Einkommensverteilung..................................................................................................... 17
1. 6. 4. Aussenwirtschaftliche Beziehungen .................................................................... 18
2. Die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten .............................................. 19
2. 1. Die Einwanderung in die USA ..................................................................................... 19
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2. 1. 1. Ursachen von Wanderungsbewegungen: Auswanderungsdruck in Europa und
Anziehungskraft der USA ................................................................................................ 19
2. 1. 2. Statistischer Überblick über die Einwanderung in die USA ................................ 20
2. 1. 3. Auswirkungen der Einwanderungen in den USA ................................................ 22
2. 2. Die zentrale Rolle des Eisenbahnbaus ......................................................................... 23
2. 2. 1. Quantitative Dimensionen des Eisenbahnbaus..................................................... 23
2. 2. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus ....................................................................... 26
2. 3. Besondere Eigenschaften der amerikanischen Wirtschaft ........................................... 28
2. 4. Binnenmärkte und Autarkie; die Rolle des Aussenhandels ......................................... 38
Einleitung: Der Aufstieg Deutschlands und der Vereinigten
Staaten
Zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten bestehen Verschiedenheiten, die eine
gemeinsame Behandlung auszuschliessen scheinen:
Einmal: völlig unterschiedliche historische Ausgangsbedingungen; in Deutschland bestehen
zu Beginn des 19. Jahrhunderts kleine und mittlere Fürstentümer, die USA bilden bereits bei
ihrer Gründung 1776 eine grossräumige Republik, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts
zum heute bestehenden Grossstaat entwickelt.
Zum Zweiten ist Deutschland ein Emigrationsland, die USA dagegen ein Immigrationsland.
Jedoch bestehen auch Gemeinsamkeiten, die eine gemeinsame Behandlung beider Länder
rechtfertigen:
1) Der Industrialisierungsprozess setzt etwa um 1850 ein.
2) Mehrere Kriege finden in der Anfangsphase des Industrialisierungsprozesses statt. Dieser
wird aber durch die Kriege nicht wesentlich beeinträchtigt.
Diese Kriege bringen die nationale Einheit beider Länder zustande:
In den USA ist es der Sezessionskrieg (1861-65). Dieser fand zwischen den Staaten der
Union (Nordstaaten) und den Staaten der Konföderation (Südstaaten) statt.
In Deutschland führt Preussen drei siegreiche Kriege: 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen
Österreich, 1870/71 gegen Frankreich. Der Krieg gegen Frankreich bringt die deutsche
Einheit (Gründung des Zweiten Deutschen Reiches im Rahmen der kleindeutschen Lösung).
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3) Die anfängliche Entwicklung findet in beiden Ländern hinter Zollmauern statt (der
Protektionismus wird in Deutschland von Friedrich List propagiert, in den USA von Henry
Carey). Dann folgen Aussenhandelserfolge für Deutschland und die USA. Diese bewirken,
dass England wirtschaftlich zurückgedrängt wird und Frankreich in seiner Entwicklung
behindert wird. Wegen diesen Erfolgen sind Deutschland und die USA nur geringfügig auf
den Imperialismus angewiesen.
4) Die hauptsächliche Gemeinsamkeit besteht in einem schnellen und regelmässigen
wirtschaftlichen Wachstum. Zwei grosse Ursachen stehen im Vordergrund:
Einmal, das schnelle Bevölkerungswachstum: In den USA verdreifachte sich die
Bevölkerung zwischen 1850-1914; die deutsche Bevölkerung stieg von 40 Millionen im Jahre
1870 auf 68 Millionen 1914.
Zweitens, sehr intensiver technischer Fortschritt führte zu einem starken Anstieg der
Arbeitsproduktivität (Q/N).
Technischer Fortschritt bedeutet volkswirtschaftlich, dass man mit weniger Arbeitskräften (N)
den gleichen Output (Q) produzieren kann; technischer Fortschritt bedeutet demnach in einem
ersten Schritt Freisetzung von Arbeitskräften. Das Arbeitsangebot steigt somit und kommt
zum ansteigenden Arbeitsangebot hinzu, welches durch Bevölkerungswachstum entsteht. Für
diese zusätzlichen Arbeitskräfte müssen nun Arbeitsplätze geschaffen werden. Das erfordert
Investitionen, d.h. neue Realkapitalgüter (neue oder erweiterte Fabrikgebäude, zusätzliche
Maschinen und Anlagen). Je höher aber die Investitionen sind, desto höher ist die so
genannte natürliche Wachstumsrate, d.h. die Wachstumsrate der Bevölkerung und die
Wachstumsrate des technischen Fortschritts.
1. Deutsche Wirtschaftsentwicklung
Es bestehen Schwierigkeiten in den 1870er und 1880er Jahren (Kondratieff-Abschwung):
- vermutlich ist die Arbeitslosigkeit hoch; ein Indiz dafür ist die massive Auswanderung in
die Vereinigten Staaten, vor allem in den 1880er Jahren.
- Schwierigkeiten bestehen auch im Landwirtschaftssektor: die Weizenimportorte aus
Russland und den USA - ermöglicht durch den Bau von Eisenbahnen! - führen zu einem
Verfall der landwirtschaftlichen Preise.
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- der im Kondratieff-Abschwung aufkommende Protektionismus, den Deutschland zum Teil
selber in die Wege geleitet hat, behindert die Exporte.
Trotz dieser Schwierigkeiten wächst die deutsche Wirtschaft regelmässig:
Zwischen 1850 und 1914 liegt die langfristige Wachstumsrate
- des Sozialprodukts zwischen 2,5 und 2,9%
- der Industrieproduktion zwischen 3,4 und 4,1%
Von zentraler Bedeutung ist die Wachstumsrate der Exporte (gX), die zwischen 1850 und
1914 im Durchschnitt etwa ~5% beträgt.
In Deutschland haben wahrscheinlich der interne und der externe Wachstums- und
Entwicklungsmechanismus von Anfang an zusammengewirkt. Aber vor dem Ersten
Weltkrieg (1897 - 1914) hat der externe Entwicklungsmechanismus fast sicher dominiert.
Wachstumsrhythmen
der
deutschen
Wirtschaft
1850-1913
(reale
durchschnittliche
Wachstumsraten (g), Zunahme der Mengen):
Netto Sozialprodukt
Industrieproduktion
Landwirtschaftliche Produktion
Exporte
Bevölkerung
1850-1864
2.6
3.4
2.3
4.7
0.7
1864-1881
2.5
4.1
1.1
4.9
1.1
1881-1897
2.9
3.6
1.7
2.3
0.9
1897-1913
2.8
4.1
1.3
5.7
1.4
1.1. Überwindung der Anfangshindernisse
1.1.1. Rückstand Deutschlands
Um 1800 ist Deutschland sowohl auf England wie auch auf Frankreich stark im Rückstand.
Gründe:
1) beschränkter Zugang zum Meer.
2) der Dreissigjährige Krieg 1618 – 48 brachte gewaltige Bevölkerungsverluste; die
deutsche Bevölkerung wurde von 17 auf 11 Millionen reduziert; pessimistische, aber
realistische Schätzungen sprechen sogar von einer Reduktion auf 5 Millionen (!); die durch
das Land ziehenden Armeen haben zum Teil sogar das Saatgut aufgebraucht, so dass die
Bevölkerung weiter Regionen insgesamt verhungert ist; der etwas derbe Ausdruck Das ist ja
ein gefundenes Fressen stammt fast sicher aus dem Dreissigjährigen Krieg - es wurde
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unverhofft etwas Essbares gefunden! Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts (um 1750)
erreicht Deutschland wiederum die Bevölkerungszahl von 1618 (~17 Millionen).
3) Rückständigkeit in der Agrarverfassung: In der Landwirtschaft bestehen noch weitgehend
feudale Zustände, die sich graduell verändern. In Süd- und Westdeutschland sind die Bauern
noch einem Natural-Abgabensystem unterworfen: ein Teil der Ernte geht an die Grundherren.
In den ostelbischen Gebieten gibt es Fronarbeit für den Grundherrn. Dazu kommen
Einschränkungen in der räumlichen Mobilität (landwirtschaftliche Arbeiter sind an einen Hof
oder ein Gut (Grossgut) gebunden); dazu kommt noch die Institution der Knechtschaft.
4) Handwerk und Gewerbe sind vom Zunftwesen dominiert. Die Gründung einer neuen
Unternehmung muss von der Zunft genehmigt werden. Es gibt ausgedehnte Staatseingriffe in
die Wirtschaft: Auch der Staat erteilt Gründungsgenehmigungen für Unternehmungen mit
dem Ziel, Handwerk und Heimarbeit zu schützen. All dies deutet darauf hin, dass die Angst
vor Arbeitslosigkeit allgegenwärtig ist.
5) Der Staat greift auch in Preis- und Lohnfixierung ein und nimmt Einfluss auf die
Gewinnverteilung; so muss ein Teil der Gewinne in der Form von Steuern an den Staat
abgeliefert werden.
1. 1. 2. Erste Modernisierungsvorgänge
Neue Techniken werden aus England, Frankreich und Belgien übernommen:
1784: erste mechanische Spinnerei bei Düsseldorf.
1788: die Dampfmaschine von Watt wird in Schlesien eingesetzt und ab 1807 in Essen
produziert.
Aber die Entwicklung bis 1850 geht langsam vor sich: 1847 sind nur 19,7% der aktiven
Bevölkerung im Handwerks- und Industriesektor tätig (13% im Handwerk, 6.7% in der
Industrie; der Grossteil der Industrie stellt Textilien her). Um 1800 waren 16% der aktiven
Bevölkerung in Handwerk und Industrie tätig, der grösste Teil im Handwerk. Deutschland
war also bis gegen 1850 ein Entwicklungsland.
Gründe
1) wenig entwickeltes Transportwesen (vor allem des Strassennetzes).
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2) zentral ist jedoch die politische Zersplitterung. Nach dem Wiener-Kongress von 1815
(Ende der Napoleonischen Kriege) gibt es in Deutschland noch 39 Staaten, die durch eine
lose Konföderation miteinander verbunden sind. Jeder Staat betreibt seine eigene
Wirtschaftspolitik und ist durch Zollgrenzen von den anderen getrennt; es bestehen also
kleine Märkte, die die innerdeutsche Arbeitsteilung behindern.
1. 1. 3. Beschleunigung der Modernisierungsvorgänge in der erste Hälfte
des 19. Jahrhunderts
1) Landwirtschaft:
a) Es findet eine Emanzipation der Bauern statt; statt Arbeitsleistungen (Fronarbeit) und
Naturalabgaben (Teile der Ernte gehen an den Grundherrn), werden die Pachten in Geld
bezahlt.
b) Es wird den Bauern ermöglicht, Boden zu kaufen; auch werden Landverteilungen
vorgenommen, zum Teil verbunden mit Aufteilung der Allmenden.
In den ostelbischen Gebieten Preussens führen die Reformen zu einer Konsolidierung des
Grossgrundbesitzes der Junker (ländlicher Kleinadel; politisch und militärisch sehr wichtig;
Bismarck war ein Junker). Diese landwirtschaftlichen Grossbetriebe ermöglichen eine rasche
Modernisierung der Landwirtschaft.
2) Die Reformen erfahren allgemein eine Beschleunigung während der napoleonischen
Besetzung Deutschlands (1806-13) und 1848 (Revolutionsjahr).
So bringt die Hardenberg-Reform in Preussen 1811 die Aufhebung der Zünfte sowie die
Handels- und Gewerbefreiheit.
Wilhelm von Humboldt ordnet das Bildungs- und Ausbildungswesen. Es gibt drei Stufen:
Erstens, die Elementarschule (Volksschule, Primarschule), dann das Gymnasium und
schliesslich die Universität. Die Humboldtsche Konzeption des Schulwesens wird für Europa
wegweisend.
Siehe für Reformen allgemein: Internet - Google: Preussische Reformen (wichtig!)
3) Die Bildung des Zollvereins war eine entscheidende Voraussetzung für die
Industrialisierung Deutschlands.
Der Zollverein wurde 1828 gegründet: Zollvertrag zwischen Preussen und Hessen-Darmstadt,
1834 kommen die wichtigsten süddeutschen Staaten hinzu.
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Gegen 1840 gehören fast alle deutschen Staaten zum Zollverein. Dieser bildet eine
Freihandelszone mit gemeinsamem Aussentarif.
Allmählich bildet sich über die innerdeutsche Arbeitsteilung die ökonomische Einheit
Deutschlands heraus.
Die monetäre Einheit ergibt sich nach 1870-71 (deutsch-französischer Krieg). Diese wurde
durch die Dominanz des preussischen Talers vorbereitet (Taler führt zu Dollar!). Die
Bezahlung einer Kriegsentschädigung von 5 Mia Goldfranken ermöglicht die Einrichtung
einer deutschen Einheitswährung (Goldstandard!).
Die Gold-Mark hat das gleiche Goldgewicht gleich wie der preussische Taler.
1875 erfolgt die Gründung der Reichsbank (deutsche Zentralbank). [Die Einheitswährung
kam also in Deutschland am Ende des ökonomischen und politischen Einigungsprozesses!
Ist das eine Lehre für Europa?]
1. 2. Dynamische und anpassungsfähige Landwirtschaft
1. 2. 1. Agrarische Institutionen
Die ostelbische Landwirtschaft besteht im Wesentlichen in Grossbetrieben, die von Junkern
(ländliche Aristokratie) geleitet werden; ähnliche Verhältnisse bestehen in Grossbritannien
und Russland. Diese Grossbetriebe werden den Grossteil des landwirtschaftlichen
Überschusses produzieren, der die Industrialisierung Deutschlands ermöglicht.
Im Süden und Westen Deutschlands bestehen Kleinbetriebe, die nur einen geringen
Überschuss erzielen; es herrschen in etwa französische Verhältnisse vor.
Dieser Gegensatz bleibt bis 1914 und darüber hinaus bestehen. Jedenfalls ermöglicht der
technische Fortschritt auf Grossbetrieben ein sehr hohes Wachstum der landwirtschaftlichen
Produktion (und der Arbeitsproduktivität). Das Wachstum der landwirtschaftlichen
Produktion übertrifft das (sehr starke) Bevölkerungswachstum, so dass sogar Exporte von
landwirtschaftlichen Gütern möglich werden.
Jedoch ist der deutsche Rückstand in der Landwirtschaft um 1840 noch beträchtlich: Die
landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität beträgt nur 35% der amerikanischen, 45% der
englischen und 65% der französischen Landwirtschaft.
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1910 dagegen ist die deutsche Landwirtschaft produktivitätsmässig praktisch gleichauf mit
den Vereinigten Staaten, übertrifft die sehr produktive englische Landwirtschaft, und
übertrifft die Arbeitsproduktivität der französischen Landwirtschaft um 50%.
1. 2. 2. Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Sektors findet vor allem
zwischen 1850-65 statt
1) Die landwirtschaftliche Anbaufläche wird ausgedehnt: Es erfolgen Rodungen, und das
Brachland wird reduziert (die Landwirtschaft wird weniger extensiv).
2) Eine Intensivierung des Anbaus findet statt, zustande gebracht durch Investitionen in die
Landwirtschaft.
3) Diese Investitionen sind sehr hoch; zwischen 1860-64 gehen 37,5% aller Investitionen in
den landwirtschaftlichen Sektor.
4) Der Export landwirtschaftlicher Produkte nimmt rasch zu. Zwischen 1860-70 wachsen
landwirtschaftliche Exporte viel schneller als die Industriegüterexporte, die ihrerseits
ebenfalls ein hohes Wachstum aufweisen.
Getreideimporte aus Russland, dann aus den USA (Eisenbahnbau in Russland und den USA!),
die wegen der Freihandelspolitik möglich sind, setzen dieser Prosperitätsphase ein Ende. Die
Importe steigen mit einer Wachstumsrate von 10% zwischen 1860-65 und 1876-79.
Als Reaktion darauf ist die Zeitperiode 1880-91 eine Zeit des Agrarprotektionismus.
Ab 1891 ist Deutschland bezüglich der Landwirtschaft wieder freihandelsorientiert. Das
Argument ist, dass
Deutschland jetzt vorwiegend eine Industriemacht sei. Um
Industrieprodukte ausführen zu können, müsse es Agrarprodukte einführen. Das führt zu einer
bestimmten internationalen Arbeitsteilung: Deutschland produziert Industrieprodukte und
führt Agrarprodukte aus Ost- und Südosteuropa ein; das ist analog zur Arbeitsteilung
zwischen England und seinen Kolonien.
Jedoch führen Probleme in der Landwirtschaft ab 1906 wieder zu höheren Einfuhrzöllen für
Getreide.
[Im Prinzip besteht aber die Tendenz, dass Industrie- und Dienstleistungsländer ihre
Landwirtschaft opfern.]
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Der Anteil der landwirtschaftlichen Investitionen (IL) an den Gesamtinvestitionen (I) bleibt
relativ hoch, schwankt jedoch mit Protektionismus und Freihandel:
37.5%
10.8%
13.8%
9%
13.9%
1860-64
1875-79
1885-89
1895-99
1909-13
Protektionismus
weniger Protekt. mehr Protekt.
Damit bleibt das Wachstum der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft relativ hoch, mit
entsprechend hohem Mechanisierungsgrad. Charakteristisch für die deutsche Landwirtschaft
ist der hohe Einsatz von chemischen Düngemitteln (entdeckt von Justus Liebig!).
[Deutschland (und die Schweiz) sind in der Chemie allgemein führend.]
[Justus Liebig, *1803 Darmstadt, † 1873 München, 1824 Professor für Chemie in Giessen
(hat als Apothekerlehrling angefangen!), 1852 Professor für Chemie in München. Einer der
Begründer der Agrarchemie: Mineraldünger (chemischer Dünger für die Landwirtschaft);
Liebigscher Fleischextrakt; leitet die Nahrungsmittelkonservierung in die Wege, die die
Essgewohnheiten revolutionieren sollte. Liebig war einer der bedeutendsten Chemiker des 19.
Jahrhunderts.]
1910-13 Düngemittelverbrauch:
Deutschland: 50 kg pro Hektare und pro Jahr
GB: 28 kg
F: 20 kg
Von der Landwirtschaft gingen die entscheidenden Anfangsimpulse zur Industrialisierung in
Deutschland aus. In einer zweiten Phase war der Eisenbahnbau grundlegend. Schliesslich
haben die Exporte die Industrialisierung, das Wachstum und die Entwicklung Deutschlands
verstärkt.
1. 3. Die entscheidende Rolle des Eisenbahnbaus
1. 3. 1. Rascher Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland
Der Eisenbahnbau war als Wachstumsimpuls in Deutschland wichtiger als in Grossbritannien
und Frankreich, weil Deutschland um 1850 industriell viel weniger fortgeschritten war. Der
Eisenbahnbau war entscheidend für die autonome Nachfrage, die sich multiplikativ auswirkt.
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Man kann sogar sagen: In England hat die Textilindustrie die Industrielle Revolution
zustande gebracht, in Deutschland war es der Eisenbahnbau. Als Folge war die englische
Industrie eher Leichtindustrie (Konsumgüterindustrie), die deutsche Industrie war und ist
durch die Schwerindustrie geprägt (Kapitalgüter / Maschinenbau).
Seit 1833 war Friedrich List der Hauptinitiator für den Eisenbahnbau in Deutschland. 1839
wurde die erste Linie zwischen Dresden und Leipzig gebaut. Um 1850 bestanden bereits 6000
km Eisenbahn, doppelt soviel wie in Frankreich. Zwischen 1850-70 wurden 700 km pro Jahr
gebaut (etwa gleich viel wie in Grossbritannien und Frankreich zusammen). Weil die deutsche
Metallindustrie noch relativ wenig entwickelt war (Verhältnis der Produktionsmengen: D:F =
1:2; D:GB = 1:7), ergibt sich ein sehr starker Impuls auf die deutsche Wirtschaft.
Zwischen 1870-90 werden jährlich 1200 km Eisenbahnen gebaut (doppelt soviel wie in
Frankreich, dreimal soviel wie in Grossbritannien).
Der Eisenbahnbau löst vor allem in den Jahren 1850-70 die industrielle Entwicklung in
Deutschland aus: der Take-off von Rostow kommt zustande. Die politische Zersplitterung
scheint kein Hindernis für den Eisenbahnbau gewesen zu sein. Vielmehr wird dadurch eine
Vielzahl von Einzelinitiativen ausgelöst: jede grössere Stadt will Eisenbahnknotenpunkt
werden. Zudem sind die Produktionskosten relativ niedrig: die Löhne sind tief, ebenso ist
Boden relativ billig. Östlich der Elbe spielen auch strategische Überlegungen eine Rolle:
Eisenbahnen
werden
hier
auch
aus
militärischen
Gründen
gebaut
(Ost-West-
Truppenverschiebungen ermöglichen).
1. 3. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus
Der Bau von Eisenbahnen wirkt sich natürlich vor allem auf die Metall- und
Maschinenindustrie aus. Vorerst wurde allerdings der Grossteil der Geleise, Lokomotiven und
Eisenbahnwagen noch aus England importiert. Allerdings setzte die Importsubstitution sehr
rasch ein: Geleise, Lokomotiven und Eisenbahnwagen wurden nicht mehr importiert, sondern
durch die einheimische Produktion substituiert.
Nachfrage nach Geleisen - Verteilung auf einheimische Produktion und Importe (Mio. t):
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1843-47
1848-52
1853-57
1858-62
Importe (aus England)
46
26
32
8
einheimische Produktion
14
41
79
141
Ähnlich mit den Lokomotiven: Bereits 1845 werden nur noch die Hälfte importiert; um 1850
sind die Importe bereits vernachlässigbar klein.
Diese rasche Importsubstitution wurde durch den Zollverein begünstigt: Auf Eisenerz
wurden nur mässige Zölle erhoben, dagegen wurden Geleise, Lokomotiven und
Eisenbahnwagen stark mit Zöllen belastet. Diese hohe effektive Protektion bewirkt
niedrigere Produktionskosten, weil im Inland mehr produziert werden kann, dies wegen des
geschützten Endproduktmarktes. Dies ist von grundlegender Bedeutung: Alle (heute) grossen
Industrieländer haben sich über Protektionismus entwickelt. Friedrich List hatte sich
damals auf breiter Front durchgesetzt.
Trotz niedriger Zölle für Eisenerz entwickelte sich die Metallindustrie rasch: Deutsche
Industrielle unternahmen Studienreisen nach England; englische, französische und belgische
Ingenieure werden ins Land geholt. In den 1850er Jahren vervielfachen sich die Hochöfen; ab
1856 verdrängt die Steinkohle die Holzkohle.
Die Struktur der Zolltarife ermöglichte also den Aufbau einer leistungsfähigen Metallindustrie
mit niedrigen Durchschnittskosten (Geleisefabrikation). Die mit der Ausbringungsmenge
sinkenden Kosten ermöglichen Exporte. 1913 werden 40% der Exporte von der Metall- und
der Maschinenindustrie erbracht.
Der deutsche Industrialisierungsgang war demnach der Folgende: Fertigprodukte (Geleise,
Lokomotiven und Eisenbahnwagen) bewirken Aufbau einer Grundstoffindustrie: Eisen und
Stahl sowie Kohle. Wiederum: Die Maschinen- und Metallindustrie haben also in
Deutschland die „industrielle Revolution“ bewirkt, nicht die Textilindustrie wie in
England.
Die sehr gut ausgebaute Grundstoff- und Maschinenindustrie hat natürlich einen Einfluss auf
das militärische Potential.
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1. 4. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft
Sie ist sehr bedeutsam. Dabei spielte die disziplinierte, kompetente und effiziente Bürokratie
eine zentrale Rolle. Sie wurde nämlich Vorbild für die Verwaltung grösserer
Unternehmungen. Liberale Ansichten, die in GB, den USA und in Frankreich dominieren,
spielten in Deutschland nur eine begrenzte Rolle.
Wie hat nun der Staat konkret in die Wirtschaft eingegriffen?
1) Der Zollverein (von Preussen in die Wege geleitet) hat einerseits zur nationalen Einheit
beigetragen, setzte aber anderseits ein gewisses Einverständnis zwischen den deutschen
Staaten (ohne Österreich) voraus. Dieses Einverständnis basierte auf der Einsicht in die
Machtlosigkeit ohne Zusammenarbeit.
2) Nach der Schaffung der deutschen Einheit verstärkte sich der Einfluss des Staates sehr
rasch, z.B. im Eisenbahnwesen. Der Bau neuer Linien war staatlich koordiniert. Der Staat
übernimmt auch immer mehr Eisenbahnlinien in Besitz: 1913 sind nur 3600 km von 62'000
km in Privatbesitz.
3) Der Staat spielte auch eine wichtige Rolle bei der Einführung fortgeschrittener
Produktionstechniken aus dem Ausland. Vor allem ging es darum, keine wesentlichen
Abhängigkeiten infolge ausländischer Direktinvestitionen entstehen zu lassen. Die Technik
sollte unter einheimischer Kontrolle bleiben.
[Englisches Kapital befand sich im Eisenbahnbau, französisches und belgisches Kapital in
Bergwerken und in der Metallindustrie].
Sehr wichtig: Um Basisindustrien zu entwickeln, wurden öffentliche Unternehmungen
(Musterunternehmungen) gegründet, technische Beihilfe an private Unternehmungen
gewährt und die Beschaffung von Know-how sichergestellt.
Von zentraler Bedeutung war die Gründung technischer Schulen und Hochschulen. Damit
setzte die systematische Verknüpfung von Wirtschaft und Wissenschaft ein. 1910 gab es
allein in Preussen etwa 1900 staatliche Techniken mit 339’000 Studenten.
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4) Sozialer Bereich: Zwischen 1883 und 1889 wurde durch Bismarck ein fast vollständiges
Sozialversicherungssystem geschaffen (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersund Invalidenversicherung). [Nur die Arbeitslosenversicherung fehlte, weil der Begriff der
unfreiwilligen Arbeitslosigkeit nicht bekannt war; erst Keynes hat 1936 in der Allgemeinen
Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes die fundamentale Bedeutung der
unfreiwilligen und systembedingten Arbeitslosigkeit hervorgehoben.]
Jedenfalls war das deutsche Sozialversicherungssystem das erste in der Welt.
5) Der Staat übt auch eine zentrale Rolle bei der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung
aus; dabei wird Zusammenarbeit mit dem Privatsektor angestrebt, nicht Konkurrenzierung des
privaten Sektors. Diese Zusammenarbeit materialisiert sich beispielsweise im Austausch von
Führungskräften: Hohe Staatsbeamte gehen in die Privatwirtschaft: vielfach werden Beamte
in Privatwirtschaft delegiert.
1890 ist die Beschäftigung im öffentlichen Sektor in Deutschland doppelt so hoch wie in
Grossbritannien.
1913 sind die Staatsausgaben pro Kopf der Bevölkerung
D
GB
USA
25.7 $
18.7 $
12.7 $
obwohl das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland niedriger ist als in Grossbritannien und in
den USA.
Gründe: Einmal das rasche Wachstum der Militärausgaben (Heer und Flotte). Diese machen
1913 ¾ der Ausgaben des Zentralstaates aus, die wiederum 1/3 der gesamten öffentlichen
Ausgaben darstellen (Zentralstaat, Länder, Gemeinden).
Zum Zweiten gehen 21% der öffentlichen Ausgaben in die Erziehung (Bildung und
Ausbildung): dreimal mehr als in Frankreich.
Die öffentlichen Investitionen (inklusive Infrastruktur-Investitionen) machen 20-25% der
gesamten Investitionen aus. Sie spielen oft die Rolle der Initialzündung (autonome Ausgaben,
die die Wirtschaft im Rahmen des internen Entwicklungs-Mechanismus in Gang setzen).
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1. 5. Konzentration im industriellen Sektor
Die Konzentration im industriellen Sektor einer Wirtschaft ist nicht spezifisch für
Deutschland. Jedoch ist die deutsche Wirtschaft die erste in Europa, die durch grössere
Konzentrationsbewegungen gekennzeichnet ist.
Tatsächlich hat sich der Monopolkapitalismus (industrielle Grossbetriebe und umfangreiche
Kartelle) etwa ab 1880 in Deutschland und in den USA herausgebildet. Vorher (seit der
Industriellen Revolution in England 1770-80 bis etwa 1870-80) gab es allgemein den
Konkurrenzkapitalismus.
1. 5. 1. Zwei Konzentrationsformen sind wichtig
1) Einmal die Kartelle, die im Zusammenhang stehen mit der horizontalen Konzentration.
Die in Kartellen zusammengeschlossenen Unternehmungen produzieren ein ähnliches oder
ein gleiches Produkt; die Unternehmungen bleiben aber juristisch unabhängig. Kartelle
führen vor allem zu Preisabsprachen und zu einer bestimmten Organisation der Märkte
(z.B. Festlegung von Absatzgebieten). Der Anstoss zu Kartellgründungen erfolgte vor
allem während dem Kondratieff-Abschwung 1873-1896. Es ging in erster Linie darum, die
Produktionsmengen zu stabilisieren und einen Zerfall der Preise zu verhindern.
Kartelle wurden 1897 als legal erklärt und entwickelten sich bis 1914 auf allen Ebenen:
regional, national und international. 1914 nahmen deutsche Firmen an mehr als 100
internationalen Kartellen teil, in denen sie oftmals eine beherrschende Stellung einnahmen.
Die Kartellbildung erfolgt vor allem bei relativ homogenen Grundprodukten wie Kohle, Stahl,
Zement, Papier; diese Produkte sind sehr sensibel betreffend Preisdifferenzen, was die
gemeinsame Festlegung eines Einheitspreises erfordert. Kartelle sind deshalb eher defensiv
orientiert: Preiszusammenbrüche verhindern; Marktanteile halten.
2) Dagegen sind Konzerne eher offensiv ausgerichtet; es geht beispielsweise darum, neue
Märkte zu erschliessen oder einem Konkurrenten Marktanteile wegzunehmen.
Konzerne implizieren vertikale Konzentration; sie umfasst alle Produktionsstufen, nach oben
geht man in Richtung Rohstoffe, nach unten in Richtung Fertigprodukte (siehe das
untenstehende Schema) .
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Konzerne entstehen aus dem Wachstum der dynamischsten Firmen, vor allem in der
Schwerindustrie:
Erz- und Kohlenbergwerke
1. Stufe
Eisen- und Stahlproduktion
2. Stufe
Maschinenindustrie (inkl. Werkzeugmaschinen)
3. Stufe
Handelsgesellschaften (Vertrieb)
4. Stufe
Krupp war ab Ende des 19. Jahrhundert der führende Konzern in Europa: (1870: 10'000
Beschäftigte, 1887: 20'000, 1907: 64'000, 1914: 80'000). Krupp steht nicht isoliert da. Der
Thyssen-Konzern hat Kohlenbergwerke in der Ruhr, Eisenbergwerke in Lothringen,
Maschinenbauunternehmen
in
verschiedenen
deutschen
Regionen,
Zementfabriken,
Transport- und Handelsgesellschaften.
Stinnes-Konzern: Kohlenproduktion, Maschinenbau, Schiffsbau, Chemie, Papier, Presse
(Zeitungen, Zeitschriften).
1. 5. 2. Die enge Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie
Diese ist typisch für die deutsche Wirtschaft. Es besteht eine gegenseitige Durchdringung von
industriellem und Finanz-Kapital. Schon ab 1850-70 spielen die Grossbanken eine wichtige
Rolle bei der Finanzierung der industriellen Investitionen.
Ein wichtiger Grund: Der Kapitalmarkt (Börsen) ist wenig entwickelt im Vergleich mit
Grossbritannien und Frankreich.
Jedoch bleibt die enge Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie auch später
erhalten.
1) Einmal durch direkte Beteiligungen von Banken an Industrieunternehmen (Aktienkauf
durch Banken).
2) Dann durch Platzierungen von Titeln beim Publikum; die Platzierungen sind für die
Unternehmungen und Zeichner von Aktion kostenlos oder sie erfolgen über günstige Kredite.
Als Gegenleistung erhalten die Banken die Ausübung des Stimmrechts, vor allem für kleinere
Aktionäre!
15
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3) Langfristige Kredite werden vielfach auf der Grundlage von kurzfristigen Depositen
finanziert. Das ist riskant; trotzdem gibt es wenige Bankenkonkurse, weil die
Bankenkonzentration sehr stark fortgeschritten ist: Neun Berliner Banken erhalten die
Hälfte aller Depositen! Im Falle von Liquiditätskrisen erhalten diese Grossbanken die
Unterstützung der Reichsbank, die ihnen Kredite gewährt [Grossbanken wurden also bereits
Ende des 19. Jahrhunderts, anfangs des 20. Jahrhunderts gerettet – es gibt nicht viel Neues
unter der Sonne].
4) Die Banken nehmen Einfluss auf das Geschäftsgebaren und damit auf die Lenkung der
industriellen Entwicklung: Wem wird für was ein Kredit gewährt?
Ein paar wichtige Fakten betreffend die zentrale Rolle der Banken:
Um 1913 waren 20% der Aufsichtsratmitglieder [in der Schweiz Verwaltungsrat]
Bankenvertreter; die Deutsche Bank war in 186 Aufsichtsräten vertreten.
Der Einfluss der Banken ist ein Stabilitätsfaktor in Krisenzeiten: es erfolgt eine Unterstützung
der Industrie – zum Beispiel überlässt man vom Konkurs bedrohte Unternehmungen, vor
allem Grossunternehmen, nicht ihrem Schicksal, sondern unternimmt alles, um sie zu retten.
Im Gegenzug fordern die Banken vermehrte Konzentration (Kartell- und Konzernbildung);
das erleichtert die Kontrolle und streut das Risiko!
Die Konzentration ist mit dem Protektionismus eng verbunden: Protektionistische
Massnahmen erfolgen ab 1879 (nach einer Freihandelsphase 1862-79). Jedoch sind jetzt die
Zölle nicht mehr Erziehungszölle wie 1840-60 (Schutz der entstehenden Industrie), sondern
die Zölle sind auf die Erhaltung der Profite ausgerichtet.
1. 6. Dynamik der deutschen Wirtschaft um 1914
1. 6. 1. Zentrales Kennzeichen Deutschlands ist das starke
Bevölkerungswachstum
Es besteht eine hohe Geburtenrate: im Durchschnitt 3,6% für den Zeitraum 1900-04, 3,3% für
1905-09.
Auf der anderen Seite nimmt die Sterberate rasch ab:
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Der Anteil der weniger als 20-jährigen beträgt vor dem Ersten Weltkrieg (1911) 44,7%.
Das hohe Bevölkerungswachstum macht Deutschland vor allem während dem KondratieffAbschwung 1873-96 zu einem Emigrationsland. Die Auswanderung erreicht einen Höhepunkt
in den Krisenjahren 1880-93. In diesem Zeitraum wandern pro Jahr 130'000 Deutsche in die
Vereinigten Staaten aus.
Um 1900 herum nimmt jedoch die Auswanderung stark ab; zwischen 1895-1913 gibt es
jährlich noch 30'000 Emigranten.
Der Erfolg in der Arbeitsplatzschaffung ist der Hauptgrund für den Rückgang der
Auswanderung. Wahrscheinlich sind die rasch wachsenden Exporte entscheidend für die
Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.
[Im Gegensatz zu Deutschland stagniert die französische Bevölkerung: 30 Millionen 1820; 40
Millionen 1950; dann nahm die französische Bevölkerung bis um 2000 auf 63 Millionen zu.]
1. 6. 2. Der Dynamismus der deutschen Wirtschaft zeigt sich auch in der
Zunahme der Investitionen
Bruttoinvestitionen
1851-70: 13,7% im jährlichen Durchschnitt
1891-13: 23%
1. 6. 3. Die hohen Investitionsquoten (I/Y) erfordern Umschichtungen in der
Einkommensverteilung
Entwicklung der Lohnquote (W/Y):
1850-54
81.9
1870-79
77.8
1890-94
74.1
1860-64
75.3
1875-79
80.0
1900-04
72.6
1880-84
76.6
1909-13
70.9
Krise
Aufschwung
Die Lohnquote (W/Y) nimmt seit dem Beginn der Industrialisierung um 1850 kontinuierlich
ab und die Profitquote (P/Y) nimmt entsprechend zu. Eine Ausnahme bildet nur die
Krisenperiode 1875-79; in diesen Jahren ist die Lohnquote von 77,8 auf 80,0 angestiegen (die
Preise und die Profite sind auf dem Tiefpunkt der Krise gesunken).
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Dennoch steigen die Reallöhne im langfristigen Durchschnitt; Grund ist der starke Anstieg
der Arbeitsproduktivität: Sozialprodukt pro Beschäftigten im Profit-Sektor (A = Q / N).
Tatsächlich stiegen im Zeitraum 1850-1913 die Reallöhne in der Industrie um
durchschnittlich jährlich 2%, und um 1,5% in der Landwirtschaft.
Die steigende Lohn-Differenz zwischen Industrie und Landwirtschaft bewirkt eine
Wanderung vom Land in die Stadt.
1. 6. 4. Aussenwirtschaftliche Beziehungen
Deutschland holt bezüglich England in allen Sektoren auf; z.B. baut es seine Handelsflotte in
rasantem Tempo aus.
1873 betrug die deutsche Handelsflotte 1/6 der englischen.
1913 besass Deutschland mit 3,3 Mio. Registertonnen: die zweitgrösste Flotte der Welt,
jedoch wies die deutsche Flotte die grösste Wachstumsrate auf.
Das Wachstum der Handelsflotte wurde ermöglicht durch rasche Zunahme des
Aussenhandels; dies trotz des zunehmendem Protektionismus (!) vor dem Ersten Weltkrieg.
Der mengenmässige Zuwachs der Exporte betrug fast sechs Prozent (gX = 5,6%). zwischen
1893 bis 1913.
Absolut gesehen sind die deutschen Exporte 1913 praktisch gleich hoch wie die englischen.
Jedoch nehmen ab 1870 die Exporte an Industrieprodukten überproportional zu. 1913 ist
Deutschland erster Exporteur von Eisen und Stahl, Maschinen (auch Werkzeugmaschinen)
und chemischen Produkten.
Auf einem Gebiet ist Deutschland 1913 im Rückstand auf England und Frankreich: Es besitzt
fast keine Kolonien, die wichtig sind als Beschaffungsmärkte (Rohstoffe) und als
Absatzmarkt für Fertigprodukte.
Exporte nach aussereuropäischen Gebieten:
61% der britischen Exporte gehen in aussereuropäische Gebiete, davon der grösste Teil
nach den englischen Kolonien. Dagegen gehen nur 22% der deutschen Exporte in
aussereuropäische Gebiete (davon 1% nach seinen Kolonien)! Deutschland muss seine
Exporte erkämpfen, während Grossbritannien durch sein Imperial trade system gesicherte
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Absatzmärkte hat (englische Fertigprodukte gehen nach seinen Kolonien im Austausch gegen
Primärprodukte – Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte – aus den Kolonien).
So kommt es zur deutschen Forderung nach einer Neuaufteilung des Kolonialbesitzes, ein
Grund für den Ersten Weltkrieg.
2. Die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten
Das fundamentale Faktum der amerikanischen Wirtschaftsentwicklung besteht im Umfang
und in der Vielfältigkeit der natürlichen Grundlagen. Sehr weite Flächen an fruchtbarem
Land; reichhaltige Rohstoffausstattung: Baumwolle, Kohle, Eisenerz, später Erdöl.
Bis um etwa 1850 ist das Wachstum extensiv (Erschliessung neuen Landes).
Ab etwa 1850 setzt intensives Wachstum ein (Industrialisierung), eingeleitet durch die
Immigration und den Eisenbahnbau.
Sukzessive kommen zusätzliche Faktoren hinzu:
-
Intensive Forschung und Entwicklung führen zu hohem Produktivitätswachstum
-
Standardisierung und Massenproduktion führen zu einem dramatischen Rückgang des
Handwerks; eine Wegwerfgesellschaft entsteht; es wird nicht mehr signifikant
repariert. [Auch in der Sowjetunion wird das Handwerk und das Bauerntum
weitgehend
vernichtet,
aber
aus
ideologischen
Gründen:
Handwerker
und
(selbständige) Bauern gelten als Kleinbürger, somit als Klassenfeinde, die eliminiert
werden müssen.]
-
Konzentration auf den Binnenmarkt
-
Aber auch Aussenhandel als dynamisches Element wichtig.
2. 1. Die Einwanderung in die USA
2. 1. 1. Ursachen von Wanderungsbewegungen: Auswanderungsdruck in
Europa und Anziehungskraft der USA
1) Auswanderungsdruck in Europa
Politische Ursachen:
Die gescheiterte Revolution von 1848 verhindert die vollständige Machtergreifung des
Bürgertums; in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland bleibt der Adel an der Macht,
in England und Frankreich bleibt die politische Macht des Adels nicht unbedeutend; das
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heisst, dass intelligente Bürger sozial nicht beliebig aufsteigen können, weil vor allem
politische, militärische und administrative (hohe Beamte) Schlüsselposten von Adeligen
besetzt sind. Viele gut ausgebildete Bürger wandern deshalb in die USA aus.
Es gibt auch Repressionen: so ist etwa die Meinungsfreiheit nicht garantiert; vor allem in den
grossen Monarchien.
Wirtschaftliche Faktoren:
Wirtschaftliche
und
Arbeitsbedingungen,
soziale
im
Probleme
Extremfall
(Arbeitslosigkeit,
Elend
und
schlechte
Hunger,
Wohn-
und
beschränkte
Investitionsmöglichkeiten) sind wichtige Gründe für die Auswanderung in die USA, vor
allem in Krisenzeiten. Tatsächlich fallen die grossen Emigrationswellen in bemerkenswerter
Art und Weise mit den Wirtschaftskrisen zusammen.
Gegen 1900 kommen die Immigranten vermehrt aus dem übervölkerten Osten; auch ethnische
Verfolgungen spielen eine Rolle, vor allem bei jüdischen Einwanderern aus Osteuropa.
2) Anziehungskraft der USA
Bei den so genannten Zugfaktoren spielt das Bild der USA eine wichtige Rolle:
-
Die USA als Land der Freiheit
-
Es herrscht religiöse Toleranz
-
Es besteht Chancengleichheit
-
Ökonomische
Erfolgsmöglichkeiten
dienen
als
Werbung
für
die
Schifffahrtsgesellschaften! Der amerikanische Traum (vom Tellerwäscher zum
Milliardär spielt dabei eine wichtige Rolle). [Der ausgezeichnete kleine Roman von
Scott Fitzgerald: The Great Gatsby (Penguin Classics), geschrieben in den 1920er
Jahren, entzaubert aber ein wenig den amerikanischen Traum. Scott Fitzgerald gilt als
der Schriftsteller des Jazz-Zeitalters und The Great Gatsby wurde verfilmt (die
Hauptdarsteller sind Robert Redford – The Great Gatsby – und Mia Farrow)].
Allgemein scheinen die Zugfaktoren wichtiger zu sein als die Druckfaktoren; auch in Zeiten
der Hochkonjunktur in Europa reisst der Immigrationsstrom nicht ab.
2. 1. 2. Statistischer Überblick über die Einwanderung in die USA
Es gibt drei Immigrationsphasen:
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1) 1820-96: Die meisten Einwanderer kommen aus Nord- und Westeuropa, inklusive
Zentraleuropa, vor allem Deutschland. Diese alten Einwanderer stellen heute noch die
gesellschaftliche Oberschicht dar.
2) 1896-1921: Die Einwanderer kommen vorwiegend aus Süd- und Osteuropa; in dieser Zeit
war die jüdische Einwanderung besonders stark, wegen Verfolgungen in Teilen Osteuropas
[der polnisch-amerikanische Schriftsteller Isaac Bashevis Singer hat dem Schicksal der
osteuropäischen Juden ein literarisches Erbe gesetzt (Das Landgut, Das Erbe). Isaac
Bashevis Singer schrieb auf Jiddisch; anschliessend wurden seine Werke ins Englische und
Deutsche übersetzt].
[Aus Wikipedia: „Jiddisch (‫ שידיי‬oder ‫שידיא‬, wörtlich jüdisch) ist die rund tausend Jahre alte
Sprache, die von den aschekanasischen Juden in Mittel- und Osteuropa gesprochen und
geschrieben wurde. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen
hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, slawischen und weiteren
Sprachelementen angereicherte Sprache, die sich ab dem 11. Jahrhundert als Folge der Flucht
der Juden vor den christlichen Massakern im deutschsprachigen Bereich nach Osteuropa
verbreitete. Jiddisch diente als Alltagssprache, während Hebräisch und Aramäisch die
Sprachen von Liturgie und Gelehrsamkeit waren. Auch Jiddisch wird mit hebräischen
Schriftzeichen geschrieben.“]
3) ab 1921: restriktive Einwanderungspolitik (Einwanderungsgesetze von 1921 und 1924
beschränken die jährliche Einwanderung).
Die Gesamtzahl der Einwanderer aus Europa von 1820-1970 beläuft sich auf 45 Mio. Die
Schwankungen in der Auswanderung sind aufschlussreich:
1820-30
152‘000
1841-50
1‘713‘000
1861-70
2‘315‘000
1881-90
5‘2478‘000
(Krise in Europa; die Möglichkeit nach den USA
auswandern zu können, stellt ein soziales und
politisches Ventil dar)
1891-1900
3‘688‘000
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1901-10
8‘795‘000
(Gute Konjunktur in Europa; es wirken die
Anziehungsfaktoren)
1921-30
4‘107‘000
1931-40
528‘000
(Krise in den USA – starke Beschränkung der
Einwanderung! Das soziale und politische Ventil ist
in Europa nicht mehr vorhanden. Faschistische
Regierungen kommen in Europa an die Macht, vor
allem in Deutschland und Italien.)
1951-60
2‘515‘000
(relativ starke Auswanderung in die USA – die
Anziehungsfaktoren sind wieder wirksam; nach dem
Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wollen viele
Europäer nicht mehr in Europa bleiben.)
Die Gesamtzahl der Einwanderer nach Ländern und Regionen (1820-1971) ist ebenfalls
aufschlussreich:
Höchste jährliche Einwanderung
Grossbritannien
4'804'500
1888
1888:
108'700
(Krise in Europa)
Irland
4'715'000
1851
1851:
221'300
(Hungersnot in Irland)
Deutschland
6'925'700
1882:
250'600
(Krise)
Italien
5'199'300
1907:
285'700
(Anziehungskraft der USA
Kanada
3'991'400
1924:
200'700
(Wegen den Einwanderungsbeschränkungen für Europäer in
den USA wanderten ver-mutlich
viele Europäer über Kanada in
die USA ein)
2. 1. 3. Auswirkungen der Einwanderungen in den USA
1) Weil die Grosszahl der Immigranten zwischen 20 und 30 Jahren alt ist, kommt eine
günstige Bevölkerungsstruktur zustande (junge Bevölkerung). Die Geburtenziffer ist deshalb
höher als in Europa: 40.8‰ für die Jahre 1870-75; 34.3‰ für 1890-95; 27,5‰ für die
Zeitperiode 1910-15. Diese ökonomisch günstige Altersstruktur führt zu einer hohen
Erwerbsquote (Anteil der Arbeitsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung): 33% um 1870;
40% um 1910.
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2) Die Einwanderung hat dazu beigetragen, ein dünn besiedeltes Land zu erschiessen. Das
Bevölkerungswachstum war ein wichtiges Element für die Ausweitung des Binnenmarktes:
Die Nachfrage nach Konsumgütern (Nahrungsmittel, Kleider), Häusern und zusätzlicher
Infrastruktur (z.B. Schulen) nahm dramatisch zu. Alles musste neu geschaffen werden, was
riesige soziale und staatliche Investitionen erforderte.
Die Einwanderung und das damit verbundene sehr starke Bevölkerungswachstum hat also
die Konsumgüterindustrie (die Leichtindustrie) angekurbelt und erforderte den Aufbau
einer sozialen und religiösen Infrastruktur, z.B. Schulhäuser und Kirchen.
3) Die ersten Einwanderer (ab 1620) waren Mitglieder protestantischer Sekten
(Presbyterianer, Quäker), die mit der Englischen (Anglikanischen) Hochkirche in Konflikt
geraten waren (Nonkonformisten). Diese Nonkonformisten lebten nach strengen Regeln und
waren der festen Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten das gelobte Land seien, in dem,
im Unterschied zum teilweise „lasterhaften“ und vielfach kriegszerissenen Europa, eine
bessere gottgefälligere Welt aufgebaut werden solle (amerikanisches Sendungsbewusstsein).
Die Freiheit alles tun zu können, das im Rahmen des Gesetzes liegt, ist der höchste Wert in
den USA geworden.
2. 2. Die zentrale Rolle des Eisenbahnbaus
2. 2. 1. Quantitative Dimensionen des Eisenbahnbaus
Zwischen 1840 und 1900 wurden in den Vereinigten Staaten fast ebenso viele Eisenbahnen
gebaut wie in der übrigen Welt. Für die USA war das besonders wichtig, weil Strassen und
Flusswege kaum vorhanden oder noch nicht benutzbar waren.
Zuerst erfolgte der Bau von nicht zusammenhängenden lokalen Linien in den Nord- und
Südstaaten. Um 1860 gab es ein Eisenbahn-Streckennetz von 25‘000 km sowohl in den
Nordstaaten wie auch in den Südstaaten.
Dann erfolgte der Bau der Kontinentaltransversalen. Die erste Linie wurde gleichzeitig von
zwei Baugesellschaften gebaut; die Union Pacific baute von der Ostküste her und die Central
Pacific von der Westküste her. Beide Bauplätze beschäftigten zehntausende (!) von
Arbeitern. Bei einem frenetischen Bau-Rhythmus wurden pro Tag mehrere Kilometer
Schienen gelegt. 1869 trafen die beiden Linien in Utah zusammen.
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Vier (!) weitere Transkontinentallinien wurden zwischen 1883 und 1893 fertig gestellt.
Insgesamt erfolgte ein rasanter Ausbau des Eisenbahnnetzes: 1860: 50‘000 km; 1880:
150‘000 km; 1914: 420‘000 km.
[Man kann sich leicht den Schrecken und Horror vorstellen, mit dem die Ureinwohner
Nordamerikas, die verschiedenen Indianerstämme, den Eisenbahnbau beobachtet haben. Die
Indianer hatten eine sehr grosse Ehrfurcht vor der Natur. So baten sie beispielsweise ihre
Götter um Verzeihung, bevor sie einen Baum fällten, um daraus ein Boot zu machen.
Pflanzen, Bäume und Tiere waren Teil der Natur und somit etwas Heiliges. Dazu gibt es ein
ausgezeichnetes Dokument: Wir sind ein Teil der Erde – Die Rede des Häuptlings Seattle
vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1855, Walter-Verlag,
Olten und Freiburg im Breisgau, 4. Auflage 1984; 1. Auflage 1982 (den Walter-Verlag gibt es
nicht mehr; deshalb kann man dieses kleine Büchlein (37 Seiten – grosse Buchstaben) nur
noch antiquarisch bekommen).
Ein paar Textstellen daraus:
1) „Der grosse Häuptling in Washington sendet Nachricht, dass er unser Land zu kaufen
wünscht.
Der grosse Häuptling sendet uns auch Worte der Freundschaft und des guten Willens. Das ist
freundlich von ihm, denn wir wissen, er bedarf unserer Freundschaft nicht. Aber wir werden
sein Angebot bedenken, denn wir wissen – wenn wir nicht verkaufen – kommt vielleicht der
weisse Mann mit Gewehren und nimmt sich unser Land. Wie kann man den Himmel kaufen –
oder die Wärme dieser Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd.
Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen – wie könnt Ihr sie
von uns kaufen? Wir werden unsere Entscheidung treffen.
Was Häuptling Seattle sagt, darauf kann sich der grosse Häuptling in Washington verlassen,
so sicher wie sich unser weisser Bruder auf die Wiederkehr der Jahreszeiten verlassen kann.
Meine Worte sind wie Sterne, sie gehen nicht unter [Hervorhebung H.B.]. Jeder Teil dieser
Erde ist meinem Volk heilig, jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel
in den dunklen Wäldern, jede Lichtung, jedes summende Insekt ist heilig, in den Gedanken
und Erfahrungen meines Volkes. Der Saft, der in den Bäumen steigt, trägt die Erinnerung des
roten Mannes“ (pp. 8 - 10).
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„Der grosse Häuptling [in Washington] teilt uns mit, dass er uns einen Platz gibt, wo wir
angenehm und für uns leben können [Reservate]. Er wird unser Vater und wir werden seine
Kinder sein. Aber kann das jemals sein? Gott liebt Euer Volk und hat seine roten Kinder
verlassen. Er schickt Maschinen, um dem weissen Mann bei seiner Arbeit zu helfen, und baut
grosse Dörfer für ihn [dabei muss man sich vor Augen halten, dass Indianer entscheidend zum
Bau von Wolkenkratzern beigetragen haben, weil sie schwindelfrei waren!]. Er macht Euer
Volk stärker, Tag für Tag. Bald werdet Ihr das Land überfluten wie Flüsse, die die Schluchten
hinabstürzen nach einem unerwarteten Regen.
Mein Volk ist wie eine ablaufende Flut – aber ohne Wiederkehr. Nein, wir sind verschiedene
Rassen. Unsere Kinder spielen nicht zusammen, und unsere Alten erzählen nicht die gleichen
Geschichten. Gott ist Euch gut gesinnt, und wir sind Waisen. Wir werden Euer Angebot,
unser Land zu kaufen, bedenken. Das wird nicht leicht sein, denn dieses Land ist uns heilig“
(pp. 11 - 13).
2) „[Der weisse Mann] behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder, den Himmel, wie
Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie Schafe oder glänzende Perlen. Sein
Hunger wird die Erde verschlingen und nichts zurücklassen als eine Wüste“(p. 18).
[Ein anderer Indianer-Häuptling hat gesagt: „Wenn der letzte Baum gefällt und der letzte
Büffel getötet sein wird, dann erst wird der weisse Mann einsehen, dass man Geld nicht essen
kann.“]
3) „Ich bin ein Wilder und verstehe es nicht anders. Ich habe tausend verrottende Büffel
gesehen, vom weissen Mann zurückgelassen – erschossen aus einem vorüber fahrenden Zug
[Büffel abschiessen, wurde von den Weissen als eine Art Sport betrachtet]. Ich bin ein Wilder
und kann nicht verstehen, wie das qualmende Eisenpferd wichtiger sein soll als der Büffel,
den wir nur töten, um am Leben zu bleiben. Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wären alle
Tiere fort, so stürbe der Mensch an grosser Einsamkeit des Geistes. Was immer den Tieren
geschieht – geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden“ (pp.
21 - 24). [In diesem Zusammenhang sagte Albert Einstein zum Bienensterben: „Sollten die
Bienen aussterben, würde der Mensch nicht mehr lange zu leben haben.“]
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4) „Könnt ihr denn mit der Erde tun, was ihr wollt – nur weil der rote Mann ein Stück Papier
unterzeichnet – und es dem weissen Manne gibt? Wenn wir nicht die Frische der Luft und das
Glitzern des Wassers besitzen – wie könnt Ihr sie von uns kaufen? Könnt Ihr die Büffel
zurückkaufen, wenn der letzte getötet ist?“ (p. 27).
-------------In den Amerikas, vor allem in Nordamerika, sind also völlig unterschiedliche Zivilisationen
aufeinander getroffen: die europäische Zivilisation in materialistischer Form, die mit der
Natur oftmals brutal umging, und die indianischen Naturvölker mit hohen ethischen
Standards [unfähig zu lügen!], die in völliger Harmonie mit der Natur lebten.
Karl May (1842-1912) war ein deutscher Schriftsteller, der unter anderem das Leben der
nordamerikanischen Indianer beschrieb, auch ihren Kampf gegen die weissen Eindringlinge,
die ihnen das Land wegnahmen. Karl May hat insgesamt um 60 Bände (à etwa 800 Seiten)
geschrieben. Vielleicht das bekannteste Werk ist Winnetou, der Häuptling der Apachen war.
Zusammen mit drei Deutschen mit englischen Namen – Old Shatterhand, Old Surehand and
Old Firehand – kämpft Winnetou gegen hinterlistige und habgierige Europäer für
Gerechtigkeit und Frieden. Es gibt Filme zu einigen Werken von Karl May sowie
Freilichtspiele.
Zur Umwelt: Herman Melville (1819-1891) ist mit Moby Dick weltberühmt geworden. Moby
Dick ist ein Walfisch, der auf die Umweltzerstörung durch die Menschen reagiert und Schiffe
angreift.
Und das neueste zur Umweltproblematik:
Cormac McCARTHY (2006): The Road, London (Picador); deutsche Übersetzung: Die
Strasse: handelt von Amerika nach der Umweltkatastrophe!]
2. 2. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus
1) Der Eisenbahnbau
hat
natürlich sehr
starke multiplikative Effekte auf die
Industrieproduktion im Allgemeinen; vor allem entwickelt sich die Schwerindustrie rasant.
Die Schwerindustrie (Kapital- oder Investitionsgüterindustrie) besteht aus der Eisen- und
Stahlindustrie und der Maschinenindustrie.
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1870 arbeiteten 13,2% der Industriearbeiter in der Schwerindustrie (plus Transportwesen);
1910 waren es bereits 24,1%.
(Noch 1860 dominierte die Konsumgüterindustrie (Leichtindustrie) fast vollständig. Die
Investitionsgüter wurden importiert, vor allem aus England).
2) Wichtig: Der interne Markt für Industrieprodukte wird von 1857-1914 durch (sehr)
hohe Zölle geschützt (Dingsley tariff):
1857: Zolltarif: 20% des Importwertes; 1864: 48%! (Sezessionskrieg (1861-65)):
In den Jahren 1863-65 stammen 45% der Einnahmen der Bundesregierung aus Zöllen!
Wichtig: Der Sezessions-Krieg (1861-65) war in erster Linie ein Krieg des protektionistischen
Nordens (Friedrich List – Erziehungszölle!) gegen den freihändlerischen Süden (Baumwolle
nach Europa ausführen und Industrieprodukte von dort importieren).
Die Abschaffung der Sklaverei war natürlich auch ein wichtiger Kriegsgrund (Adam Smith:
Lohnarbeiter sind billiger als Sklaven, weil man Lohnarbeiter nach Belieben einstellen und
entlassen kann, nicht aber Sklaven!).
Vielleicht die berühmteste literarische Darstellung der Lebensbedingungen der Sklaven in den
Südstaaten ist Harriet Beecher Stowe: Onkel Toms Hütte.
Der Sezessionskrieg (1861 – 65) fand unter Präsident Abraham Lincoln (1809-65) statt. Er
brachte sozial gesehen den Untergang der Südstaaten-Kultur (Gutsbesitzer als Gentlemen und
ihre Frauen Ladies; meistens gute Behandlung der Sklaven auf den Baumwoll-Grossgütern!).
Der Untergang des südstaatlichen way of life ist in einem berühmten Buch festgehalten
worden: Margaret Mitchell: Vom Winde verweht (Gone with the Wind). Der auf
Grundlage dieses Buches gedrehte Film ist wie das Buch weltberühmt geworden (1940 erhielt
dieser Film 10 Oscars!).
Einige Angaben zum Film aus Wikipedia:
Produzent: David A. Selznick; Regie: Victor Fleming
Rolle
Darsteller
Synchronsprecher
Scarlett O'Hara
Vivien Leigh
Elfie Beyer
Rhett Butler
Clark Gable
Siegfried Schürenberg
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Melanie „Melly“ Wilkes
Olivia de Havilland
Tilly Lauenstein
Ashley Wilkes
Leslie Howard
Axel Monjé
Mammy
Hattie McDaniel
Erna Sellmer
Gerald O'Hara
Thomas Mitchell
Walter Werner
Prissy
Butterfly McQueen
Annemarie Wernicke
Onkel Peter
Eddie Anderson
Walter Bluhm
Pork
Oscar Polk
Herbert Weißbach
Belle Watling
Ona Munson
Hilde Hildebrand
Brent Tarleton
Fred Crane
Klaus Miedel
Carroll Nye
Wolfgang Lukschy
Frank Kennedy
----------
3) Der Eisenbahnbau führt zu sehr hohen Produktivitätsfortschritten
in der
Schwerindustrie (Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie). Ein schlagendes Bespiel ist die
Zunahme der Arbeitsproduktivität in den Hochöfen (Index 1850 = 100):
1850 ist also der Index der Eisen- und Stahlproduktion 100; 1870 bereits 270; 1890 erreicht er
1060 und 1914 erreicht der Index fabelhafte 3180 (Ein Arbeiter in der Eisen- und
Stahlindustrie produzierte als 1914 fast 32 Mal mehr Eisen und Stahl als 1850!).
Wegen der steigenden Arbeitsproduktivität A = Qi/Ni in der Eisen- und Stahlindustrie sinkt
der Stahlpreis kontinuierlich. Eine Tonne Stahl kostete 1873: 100$; 1885: 20$; 1900: 12$.
Dies begünstigt natürlich die Verwendung von Stahl.
4) Der Eisenbahnbau trug dazu bei, die landwirtschaftliche Produktion zu entwickeln:
Die Senkung der Transportkosten ermöglicht den Transport von Getreide aus dem
Landesinnern – vor allem aus dem mittleren Westen an die Ostküste. Von hier aus wird
billiges Getreide nach Europa exportiert. Wie gesehen, schafft dies gewaltige Problemen für
die europäische Landwirtschaft, vor allem im Landwirtschaftsland Frankreich.
2. 3. Besondere Eigenschaften der amerikanischen Wirtschaft
Die US-Wirtschaft ist durch 4 zusammenhängende Phänomene gekennzeichnet:
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IX. Deutschland und USA
1) Mechanisierung
2) Konzentration
3) Produktivität (und hohe Löhne)
4) Massenkonsum (Nachfrage)
1) Mechanisierung
Für die einzelne Industrie gilt, dass eine zunehmende Kapitalintensität (Kapitalausstattung pro
Arbeiter) (Ki / Ni), d.h. Mechanisierung, zu einer höheren Arbeitsproduktivität Ai = (Qi / Ni)
führt; der Anstieg der Arbeitsproduktivität ist die Auswirkung der Mechanisierung.
a) Gründe:
1) Traditionell hohe Löhne sind ein Grund für die rasche Mechanisierung: eine hohe
Arbeitsproduktivität ist erforderlich, um hohe Löhne bezahlen zu können und gleichzeitig
hohe Profite zu erzielen.
2) Mechanisierung ist für den einzelnen Unternehmer ein Mittel, um im Konkurrenzkampf
überleben zu können; die Mechanisierung führt zu sinkenden Durchschnittskosten und
niedrigeren Preisen:
* bei gegebenen Geldlöhnen wG steigen die Reallöhne w (w = wG/p: p ist der Preis eines
Konsumgüterbündels; wG ist der Geldlohnsatz) und die effektive Nachfrage; die Kaufkraft der
Konsumenten steigt; dies ermöglicht wiederum höhere Produktionsmengen Qi und damit
steigende Arbeitsproduktivitäten Ai. Es kommen also unter Umständen kumulative Prozesse
zustande, in denen Nachfrage und Produktion sich gegenseitig hochschaukeln.
[Damit aber solche Prozesse zustande kommen, müssen aber die Reallöhne allgemein steigen,
am
besten
im
Gleichschritt
mit
der
Arbeitsproduktivität:
wenn
nämlich
die
Arbeitsproduktivität schneller steigt als die Reallöhne, wird die Einkommensverteilung
ungleicher; die Nachfrage steigt dann weniger schnell als die Produktion; zunehmende
Arbeitslosigkeit ist die Folge. (Wiederum sieht man, dass die Theorie entscheidend ist für die
Interpretation von wirtschaftsgeschichtlichen Vorgängen.)]
b) Die steigende Mechanisierung ist verbunden mit einer hohen Investitionsquote:
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IX. Deutschland und USA
Im Zeitraum 1865-1914 betrug die durchschnittliche Brutto-Investitionsquote (IB/Y) etwa 2225%, die Netto-Investitionsquote (IN/Y) etwa 13-18% (das sind grobe Schätzungen).
Diese Quoten sind hoch, selbst im Vergleich mit Deutschland.
Die Netto-Investitionsquote (IN/Y) nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch
zu: im Durchschnitt 6-7%: 1805-40; 12%: 1849-58; ab etwa1870 findet eine Stabilisierung
bei ungefähr 18% statt. Eine steigende Netto-Investitionsquote impliziert eine höhere
Wachstumsrate: die Netto-Investitionen sind ja verbunden mit einer Ausweitung des
Kapitalstocks.
c) Die Mechanisierung wird in den USA erleichtert durch den Reichtum und die Vielfalt an
energetischen Ressourcen:
- Wasserkraft (wesentlich bei der Mechanisierung der Industrie).
- Kohle (1910 wird Grossbritannien im Pro-Kopf-Verbrauch überholt).
- Elektrische Energie (1913 werden 25% der Weltproduktion in den USA erbracht)
Um 1920 wird ⅓ der Fabriken mit elektrischer Energie betrieben.
- Erdölförderung: Die USA sind schon im 19. Jh. grösster Produzent.
d) In den USA gibt es in praktisch allen Industriezweigen eine systematische Suche und
Forschung, die auf Produktivitätssteigerungen ausgerichtet ist.
- In der Textil- und Metallindustrie findet eine Nachahmung englischer Techniken statt.
- In der Schuhindustrie scheinen Fortschritte schwer realisierbar; in den USA finden aber
spektakuläre Fortschritte im mechanischen Nähen von Leder statt; die Schuhproduktion
kann so mechanisiert werden; eine Billigproduktion von Schuhen kommt zustande, so
dass Schuhe exportiert werden können!
- Die Landwirtschaft ist jedoch das beste Beispiel für intensiven technischen Fortschritt:
Gegen Endes des 19. Jh. verbreiten sich Mäh-Dresch-Bündelungsmaschinen: Diese
Maschinen
mähen
den
Weizen,
dreschen
und
bündeln
das
Stroh.
Diese
Riesenmaschinen wurden zuerst von 10-20 Pferden gezogen; später wurden natürlich
Verbrennungsmotoren eingesetzt!
Die Hektarerträge bleiben wegen des niedrigen Düngemitteleinsatzes relativ gering. Es wird
anfänglich extensive Landwirtschaft betrieben: Der Boden wird ausgelaugt, dann ziehen die
Bauern weiter, um Neuland zu bebauen. Beim ausgelaugten Boden wird die Erde staubförmig
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IX. Deutschland und USA
und trocken und wird nach Hitzeperioden vom Wind weggeblasen, so dass eine Verwüstung
eintritt! Diesen Praktiken wurde dann im Verlaufe des 20. Jahrhunderts allmählich ein Ende
gesetzt.
Als Folge der Mechanisierung war die Arbeitsproduktivität in der US-Landwirtschaft um
1910 herum 70-90% höher als in der deutschen und in der englischen Landwirtschaft.
e) Mechanisierung in der Industrie wird beschleunigt durch die Standardisierung der
Produkte; die Standardisierung dehnt sich rasch auf alle Produktionsbranchen aus.
So fand bereits um 1850 eine Standardisierung von Feuerwaffen (Colt-Revolver; bekannt aus
Wild-West-Filmen!), Nähmaschinen und landwirtschaftlichen Maschinen statt. Das
erleichterte allgemein die Arbeitsteilung und die Mechanisierung.
Die wissenschaftliche Organisation der Arbeit wird vom Ingenieur Taylor konzipiert; daraus
ist der Taylorismus hervorgegangen: Jede Bewegung der Arbeiter wird studiert und so
gestaltet, dass sich eine möglichst rasche Kadenz der Produktion ergibt.
Der Taylorismus verbreitet sich sehr rasch ab 1905, trotz negativer Begleiterscheinungen: Die
Steigerung
der
Kadenz
führt
zu
nervösen
Spannungen,
Arbeitsmonotonie
und
Disqualifikation! Als Weiterentwicklung des Taylorismus taucht die Fliessbandarbeit am
mobilen Produktionsband 1913 in den Automobilfabriken von Henry Ford auf.
Die Standardisierung wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus: Wohnung, Kleidung, Essen
(Konserven, Fast Food!).
Verbesserungen im Transportwesen (Eisenbahnen) vergrössern die Märkte. Das hat
Rückwirkungen auf Mechanisierung und Standardisierung, die eine teilweise Vernichtung des
Handwerks zur Folge haben.
Eine Folge dieser Entwicklungen ist, dass sich in der Produktion hochqualifizierte und
unqualifizierte Arbeiter gegenüberstehen: Spitzeningenieure und unqualifizierte Arbeiter. So
wird es schwierig, Erfindungen wirtschaftlich umzusetzen.
[Als Gegensatz dazu entwickeln in der Schweiz ETH-Ingenieure Konzepte, um inventions
(Erfindungen) in innovations (wirtschaftliche Umsetzung von Erfindungen) umzusetzen.
Techniker übernehmen diese Konzepte und bauen Prototypen, die dann verbessert werden.
Schliesslich wird die Produktion von hochqualifizierten Handwerkern durchgeführt. Durch
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IX. Deutschland und USA
diese Ausbildungshierarchie kommt Spitzenqualität zustande, die die Stärke der
schweizerischen, aber auch der deutschen und japanischen Wirtschaft ausmachen. In diesen
Ländern konzentriert sich der Fortschritt auf bestimmte Bereiche, die eine hohe Qualität
erfordern, z.B. chirurgische Instrumente und Uhren. Der Gegensatz Amerika (Quantität) und
Europa (Qualität) ist bezeichnend!]
2) Konzentration
a) Ausmass
Mechanisierung und technischer Fortschritt sind verknüpft mit Konzentration: Grossfirmen
bauen ihren Produktivitätsvorsprung durch hohe Bruttoinvestitionen sowie Forschungs- und
Entwicklungstätigkeit aus. Grossfirmen beschäftigen oftmals hunderte von Forschern, die
einen ansteigenden Strom von Erfindungen "produzieren". Einige Sektoren werden von der
Regierung unterstützt, was die Forschung angeht: Landwirtschaft, Bergwerke. Dies scheint
der liberalen Doktrin nicht zu widersprechen!
Heute stehen die militärische Forschung und Entwicklung im Vordergrund. Das hat
Auswirkungen auf den zivilen Sektor, z. B. die Flugzeugindustrie; im Zuge der beiden
Weltkriege ist der militärisch-industrielle Komplex entstanden, der heute das vielleicht
wichtigste Machtzentrum der Vereinigten Staaten darstellt.
b) Charakter der Konzentration
Wie in Deutschland entstehen Konzerne vielfach durch vertikale Konzentration; ein
Standardbeispiel ist die Carnegie Steel Company:
1) Kohle- und Eisenerzförderung
2) Hochöfen: Eisen- und Stahlproduktion
3) Maschinenbau
4) Vermarktung der (komplexen) Produkte, mit after-sale service im Zentrum.
[Andrew Carnegie ist das typische Beispiel der Verwirklichung des American Dream:
Andrew Carnegie war der Sohn eines irischen Webers, geboren 1835 in Dublin. Er war zuerst
Laufbursche, dann Handlanger im Bereich Maschinenreinigung und schliesslich höherer
Eisenbahnbeamter; 1868 führt er das Bessemer-Verfahren zur Stahlproduktion in den USA
ein (dieses Verfahren erlaubt es, Stahl von viel besserer Qualität als bisher zu produzieren); er
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IX. Deutschland und USA
gründet seine eigene Stahlfabrik. 1901 ist er alleiniger Mehrheitsaktionär der Carnegie Steel
Company, der grössten Stahl- und Maschinenfabrik der Vereinigten Staaten.]
*Kartelle (in den USA pools) konnten sich in den USA nicht halten. Der Wettbewerb und
damit auch der dynamische (Schumpetersche Unternehmer) setzte sich durch. Allerdings
wurde der Wettbewerb ein monopolistischer Wettbewerb (zwischen Grossunternehmen).
*Trust impliziert die Leitung mehrerer Unternehmungen durch ein Gremium von trustees
(Vertrauenspersonen, die den Aktionären gegenüber verantwortlich sind). Die Trusts hatten in
den USA nur eine kurze Existenzdauer:
Der Sherman Anti-Trust Act legt 1890 fest, dass Trusts, Kartelle und Absprachen illegal sind.
Dies kann jedoch die Konzentration nicht verhindern. Diese nimmt juristisch gesehen, andere
Formen an: vor allem die der HOLDING, eine Finanzgesellschaft, die die Aktienmehrheiten
mehrerer Unternehmung hält, und die Unternehmenspolitik (vor allem bezüglich
Finanzierung) weitgehend bestimmt.
Die HOLDING wird durch die Gesetzgebung und die Gesetzesauslegung toleriert! Beispiele:
Die Standard Oil von Rockefeller wurde 1882 als Trust gegründet, 1890 durch einen
Gerichtsbeschluss in 20 Gesellschaften aufgeteilt und 1899 in der Form einer HoldingGesellschaft wiederhergestellt.
Der Einfluss der grossen Holding-Gesellschaften auf die Wirtschaft nimmt ab 1890 in den
USA noch schneller zu als in Deutschland, was eine zunehmende Verflechtung von Finanzund Industriesektor impliziert. Zum Beispiel umfasst die Rockefeller Holding
1) eine Gruppe von Industrieunternehmungen
2) verschiedene Eisenbahngesellschaften
3) mehre Grossbanken (darunter zum Beispiel die National City Bank).
Die stärkste Finanzgesellschaft ist jedoch die Morgan Holding, die sich um die Investment
Bank gebildet hat. Riesenprofite aus dem Eisenbahnbau ermöglichen die Kontrolle über
- verschiedene Banken (z.B. die First National Bank),
- Finanzgesellschaften von erstrangiger Bedeutung,
- 25% (!) des Kapitals, das in die amerikanischen Eisenbahnen investiert war,
- die wichtigsten Versicherungsgesellschaften und
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IX. Deutschland und USA
- vielfältige Beteiligungen an Industriegesellschaften.
Die Morgan Finance spielt eine sehr aktive Rolle bei den Fusionen um 1900: zwischen 1895
und 1897 verschwinden 46 Unternehmen mit einem Kapital von 62 Millionen US $ durch
Fusionen, von 1898-1902 sind es 531 Unternehmen mit einem Kapital von 1260 Millionen
US $. Die damit verbundene Massenproduktion bringt drastische Preissenkungen.
Die Fusionen ergreifen alle Bereiche, von den Grundstoff - und Produktionsgütern bis zur
Konsumgüterindustrie, inklusive Vertrieb und Banken.
Die Kulmination dieses Fusionsprozesses stellte 1901 die Schaffung der US Steel
Corporation unter der Leitung von John Pierpoint Morgan dar: Die US Steel war die erste
Gesellschaft mit einem Kapital von substantiell mehr als einer Milliarde $. Diese
Riesengesellschaft fasst das Carnegie-(Stahl)Erbe und die meisten Konkurrenten
Carnegies zusammen. Sie kontrolliert 65% (!) der amerikanischen Stahlproduktion!
Impliziert horizontale Konzentration (Stahl) und vertikale: Maschinenindustrie!
Fazit: Der Sherman Anti-Trust Act konnte die Konzentration nicht verhindern!
In Folge sinken die Preise, die im Produktionsprozess bestimmt werden, und nicht auf dem
Markt; die Einkommensverteilung wird gegen Ende des 19. Jh. markant ungleicher. Trotz
sinkenden
Preisen
ermöglicht
die
mit
der
Konzentration
sehr
stark
gestiegene
Arbeitsproduktivität hohe Profite.
Das Finanzkapital führt zur absentee ownership (Thorstein Veblen), d.h. zur Trennung von
Eigentum
und
Management.
Die
Eigentümer
von
Aktiengesellschaften
(die
Mehrheitsaktionäre oder eben absentee owners) beziehen vielfach hohe Dividendenbeträge.
Deshalb kam die sozialistische Idee auf, dass Grossunternehmen verstaatlicht werden sollten,
wobei Klein- und Mittelbetriebe privat bleiben würden. Die für die Dividenden von
Grossunternehmen vorgesehenen Beträge würden dann in der Form von Steuern an den Staat
abfliessen. Das würde die allgemeine Bevölkerung steuerlich entlasten. Es ging also darum,
wem bedeutende Teile des sozialen Überschusses zufliessen, den Mehrheitsaktionären von
Grossunternehmen oder dem Staat. Dieses Problem hat den grundlegenden Widerspruch
zwischen
Kapitalismus
und
Sozialismus
verschärft
und
hat
entscheidend
zum
unversöhnlichen Gegensatz zwischen den beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem
beigetragen.
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c) Konzentration und Arbeitsbedingungen
Produktivitätsfortschritte werden in den USA nicht nur über hohe Bruttoinvestitionen,
sondern auch über harte Arbeitsbedingungen realisiert. Diese sind härter als in Europa, vor
allem was die
1) Kadenz (Intensität) der Arbeit und
2) die Arbeitszeit
anbetrifft.
Am Ende des 19. Jh. sind Arbeitstage von 10 Stunden die Regel (in den Stahlwerken von
Carnegie werden12 Stunden pro Tag gearbeitet).
Die Kinderarbeit nimmt vor allem im Süden bis zum Ersten Weltkrieg zu.
Arbeitsunfälle sind häufiger als in Europa (Fehlen von Reglementen und Kontrollen).
Arbeiter, die einen Unfall erleiden, werden vielfach von den Gerichten für den Unfall als
verantwortlich
erklärt;
sie
erhalten
deshalb
keine
Entschädigung.
Ein
Sozialversicherungssystem (wie es in Deutschland besteht) kommt nicht in Frage. Bleibt auch
im 20. Jh. ein permanentes Problem. Hillary and Bill Clinton haben permanent versucht, ein
obligatorisches Versicherungssystem aufzubauen, vor allem, was die Krankenversicherung
angeht! Eventuell gelingt es jetzt Präsident Obama. Schwerwiegend ist das Fehlen des
Obligatoriums bei Krankenversicherungen. Weil die Prämien bei den privaten Kassen hoch
sind, versichern sich vor allem junge Leute nicht, was sich im Falle einer schweren Krankheit
oder eines Unfalls katastrophal auswirkt.
Die Bildung einer Arbeiterbewegung, obwohl diese gemässigt ist, ist mit harten Konflikten
verbunden:
Es gibt Streikwellen 1877, 1886, 1892-94, 1900-05; die Streiks werden oftmals regelrecht
niedergeschlagen, wobei ein knallharter Polizeieinsatz die Regel ist.
1898 erfolgt die Gründung eines gewerkschaftlichen Dachverbandes, der American
Federation of Labour (AFL); anfänglich ist eine sehr rasche Zunahme der Mitgliederzahlen zu
verzeichnen: 278‘000:1898; 1‘676‘000: 1904; dann erfolgt eine Stabilisierung.
Das Hauptziel der AFL ist die Anerkennung der gewerkschaftlichen Rechte. Der Justizapparat
ist gegen die Gewerkschaften eingestellt, gestützt auf den Sherman-Anti-Trust-Act
(Gewerkschaften bedeuten eine Beeinträchtigung der Konkurrenz!).
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Die Arbeitgeber haben das Recht im Arbeitsvertrag eine Klausel einzubauen, die die
Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft untersagt. Gestützt auf den Sherman-Anti-Trust-Act
werden (fragmentarische) Sozialmassnahmen einzelner Staatsregierungen sowie der
Bundesregierung annuliert!
Erst 1914: Clayton Act garantiert die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte.
d) Konzentration, Löhne und Arbeitslosigkeit
Zwischen 1865 und 1915 hat sich das Reallohnniveau praktisch verdoppelt (+98%):
entspricht einer jährlichen Wachstumsrate von 1,4%, bedeutend weniger als das Wachstum
der Arbeitsproduktivität: Die funktionelle Einkommensverteilung ist ungleicher geworden.
Der relativ langsame Anstieg der Reallöhne, die vorher erwähnten harten Arbeitsbedingungen
sowie die Existenzprobleme der Gewerkschaften sind vermutlich auf die relativ hohe
Arbeitslosigkeit zurückzuführen, die in den USA bestand (Schätzungen; reale Zahlen
vermutlich viel höher):
Durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Prozent pro angezeigten Zeitraum
1800-39
1840-69
1870-79
1880-89
1890-99
1900-09
1-3
3-6
10 (?)
4 (?)
10
0
Die schwache Stellung der Arbeitnehmer bewirkt relative hohe Arbeitslosigkeit.
Die Arbeitslosigkeit erklärt auch, dass die Mechanisierung nicht auf Substitution von Arbeit
durch Kapital (Arbeit war gewissermassen im Überfluss vorhanden!) bestand; sondern:
einzelner Arbeiter wird mit mehr Kapital ausgestattet, um billiger produzieren zu können →
wettbewerbsfähig bleiben.
----------
[Aus Wikipedia:
„08.11.2009, US-Arbeitslosigkeit angeblich so hoch wie 1931
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Offiziell liegt die Arbeitslosenquote der USA bei 10,2 Prozent. Doch laut der renommierten
"New York Times" [vom 08.11.2009] muss sie wohl deutlich höher veranschlagt werden –
jeder sechste US-Amerikaner sei mittlerweile ohne richtigen Job. Ein Wert, der an die Zeit
der großen Depression erinnert.
Die Arbeitslosigkeit in den USA hat nach einem Bericht der „New York Times“ inzwischen
fast das Niveau der großen Depression der 1930er Jahre erreicht: Die „echte“
Arbeitslosenquote liegt einem Bericht der Zeitung vom Samstag zufolge bei inzwischen 17,5
Prozent.
US-Arbeitsagentur: Jeder sechste Bürger des Landes soll ohne Job sein
Das US-Arbeitsministerium hatte am Freitag die Arbeitslosenquote im Oktober – trotz der
Konjunkturerholung – mit 10,2 beziffert, der offiziell höchsten Quote seit 1983.
In Wirklichkeit ist der „New York Times“ zufolge inzwischen mehr als jeder sechste USArbeitnehmer ohne richtigen Job, das heisst etwa 17%. Die angesehene Zeitung begründet
ihre Analyse mit dem Verweis auf entmutigte Arbeitnehmer, die sich nicht mehr registrieren
ließen sowie Teilzeit-Arbeitnehmer, die einen Vollzeit-Arbeitsplatz wollten.
US-Präsident Barack Obama hatte den jüngsten Anstieg der Arbeitslosenquote als ein
„ernüchterndes Zeichen“ bezeichnet. Er unterzeichnete am Freitag ein Gesetz, das eine
Verlängerung der Arbeitslosenhilfe und Steuervergünstigungen für Erstkäufer von Häusern
vorsieht. Diese Maßnahmen würden das Wirtschaftswachstum fördern und Arbeitsplätze
schaffen, sagte Obama.
Wie das Arbeitsministerium mitteilte, fielen allein im Oktober 190.000 Jobs weg, 15.000
mehr als von Experten erwartet. Damit hat der Stellenabbau aber erneut an Schärfe verloren:
Zum Höhepunkt der Krise im Januar war etwa fast eine dreiviertel Million Arbeitsplätze
verloren gegangen, im September waren es noch 219.000. Im Oktober erreichte die Quote nun
10,2 Prozent, nach 9,8 Prozent im September.
Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit sei problematisch, weil sie der US-Regierung den Ernst
der Lage vor Augen führe, sagte Tom Sowanick von der Omnivest Group. „Washington wird
nun nach Möglichkeiten Ausschau halten, das Konjunkturpaket aufzustocken.“ Die
Entwicklung am Arbeitsmarkt ist entscheidend für die Konsumausgaben, die wiederum rund
zwei Drittel der Wirtschaftsleistung in den USA ausmachen.“]
[Arbeitslosenzahlen sind immer politisch hochbrisant. Die Regierungen versuchen deshalb,
die Arbeitslosenzahlen zu minimieren. Unabhängige Schätzungen, durch Zeitungen zum
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IX. Deutschland und USA
Beispiel, sind deshalb besonders wichtig. Das heisst auch, dass gute und unabhängige
Wirtschaftsjournalisten heute von grösster Bedeutung sind.]
-----------------
3) Produktivität und 4) Massenkonsum
Fordismus: Die Mechanisierung erhöht die Arbeitsproduktivität. Um die Produktion
abzusetzen, muss eine entsprechende Nachfrage geschaffen werden; das erfordert hohe
Löhne.
Henry Ford hat diese Theorie in die Praxis umgesetzt, deshalb Fordismus!
1913 haben die USA 500‘000 Automobile produziert (das ist ein Drittel des damaligen
Bestandes an Automobilen!).
Die Ford-Fabriken stellen mehr Automobile her als die übrige Welt zusammengenommen.
Henry Ford hat ausdrücklich festgehalten, dass ein Unternehmen hohe Löhne bezahlen sollte,
damit die Arbeiter ihre Produktion aufkaufen können. Das stimmt gesamtwirtschaftlich bei
(cW > cP): die Konsumneigung aus den Löhnen (cW) muss grösser sein als die
Konsumneigung aus den Profiten; wäre diese Bedingung nicht erfüllt, würden niedrigere
Löhne und steigende Profite den Konsum steigern! Also die Löhne müssen allgemein steigen,
damit der Konsum zunimmt.
Der Fordismus gilt jedoch nicht einzelwirtschaftlich:
1) Arbeiter geben nur einen relativ geringen Teil ihres Einkommens zum Kauf des
Gutes aus, das sie produzieren;
2) hohe Löhne verteuern das Produkt, so dass die Arbeiter anderer Sektoren weniger
von ihm nachfragen.
3) das heisst: alle Sektoren müssen hohe Löhne bezahlen: die Löhne müssen allgemein
steigen.
2. 4. Binnenmärkte und Autarkie; die Rolle des Aussenhandels
a) Binnenmärkte und Autarkie
Wegen ihrer hervorragenden Rohstoffausstattung bleiben die USA relativ autark: der Anteil
der Exporte und Importe am Sozialprodukt bleibt relativ gering; das war lange ein
Kennzeichen der amerikanischen Wirtschaft:
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IX. Deutschland und USA
Das Aussenhandelsvolumen der US-Wirtschaft [(X + M) / Q] betrug 1879 15.1%, 1909
10.5%. Die Aussenhandelsverflechtung hat also relativ (nicht absolut!) abgenommen. Das
zeigt auch die Entwicklung der Exportquote: 1879: 9% und 1909: 5.6%.
Die Entwicklung der US-Wirtschaft beruht demnach vor allem auf dem Wachstum der
Binnennachfrage
1) Das hohe Bevölkerungswachstum (wegen Einwanderung besonders hoch) führt zu einer
starken Nachfrage nach allen Konsumgütern (Nahrungsmittel, Kleider, Häuser und
Wohnungen,
etc.),
d.h.
zu
einem
Aufbau
einer
Leichtindustrie
oder
Konsumgüterindustrie.
-
Die damit verbundene Nachfrage nach Investitionsgütern ist hoch (Ausstattung von
Arbeitsplätzen).
-
Sehr hohe Immobiliennachfrage (Wohnhäuser), eben wegen der Einwanderung.
-
Eine Infrastruktur muss aufgebaut werden (Schulen, Kirchen: die strenggläubigen
Protestanten – und später auch die Katholiken – legten darauf grossen Wert).
2) Der Eisenbahnbau führt zum Aufbau einer Schwerindustrie (Eisen- Stahl- und
Maschinenindustrie)
3) Der intensive technische Fortschritt erfordert hohe Ersatzinvestitionen (bestehende
Maschinen werden rasch durch neue ersetzt, vor allem wegen technischer, nicht physischer
Veraltung).
4) Der landwirtschaftliche Sektor wächst sehr rasch, auch wieder wegen dem starken
Bevölkerungswachstum,
vor
allem
bewirkt
durch
die
Einwanderung.
Der
landwirtschaftliche Überschuss löst eine Nachfrage nach Industrieprodukten aus
(industrielle Konsumgüter; landwirtschaftliche Investitionsgüter); andererseits liefert der
landwirtschaftliche Sektor (Rohstoffsektor) dem Industriesektor
-
Nahrungsmittel zur Ernährung der Industriearbeiter;
-
Rohstoffe, die von der Industrie verarbeitet werden.
Das Zwei-Sektoren-Schema von Adam Smith (Zusammenspiel von Landwirtschaft und
Industrie) ist also im Landwirtschaftsland USA ähnlich wie in Frankreich, auch ein
Landwirtschaftsland, von grösster Bedeutung, wenigsten in den ersten Phasen der
wirtschaftlichen Entwicklung. [Heute führt die sehr gross US-Produktion an Weizen zu
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IX. Deutschland und USA
Exporten, die dann die Binnenwirtschaft positiv beeinflussen; die Weizenexporte sind in
der Regel sehr stark subventioniert.]
b) Die Rolle des Aussenhandels
Der Aussenhandel spielt eine wichtige Rolle als dynamisches Element, wenn auch seine
Bedeutung relativ gering ist:
Exporte wachsen (1860-1914) rasch, ähnlich wie deutsche Exporte. Die Importe werden
dagegen mit hohen Zöllen gebremst. Protektionismus besteht ab 1861, dem Beginn des
Sezessionskrieges:
Von 1861 – 1912 beträgt der durchschnittliche Zollsatz etwa 40%, und ist damit ungefähr
doppelt so hoch wie der Zollsatz derjenigen Nationen Europas, die den stärksten
Protektionismus betreiben! Etwa 50% der Staatsausgaben werden durch Zölle gedeckt – das
bedeutet, dass die Amerikaner niedrige Steuern bezahlten!
[Die Geschichte von Protektionismus und Freihandel in den USA von 1861 bis heute wäre ein
hochinteressantes Thema!]
Die Handelsbilanz ist im 19. Jh. vorwiegend negativ (bis etwa 1860); der Importüberschuss
wird durch europäisches Kapital finanziert. Ab 1875 entstehen jedoch regelmässige ExportÜberschüsse. 1913 beträgt der Export-Überschuss 30% der Importe!
Struktur der Exporte: Der Anteil der Rohstoffe und der landwirtschaftlichen Produkte am
Export nimmt ständig ab, der Anteil der Fertigprodukte stetig zu; in den Jahren 1906-10
stellten die Fertigprodukte im Durchschnitt 42% der Exporte dar!
Die USA werden bezüglich Industrieprodukte immer wettbewerbsfähiger. Sie sind in der
Lage die Zölle zu senken (der Underwood Simpson Act von 1913 senkt den
durchschnittlichen Zollsatz von 40% auf 29%. Am meisten entlastet werden Fertigprodukte
für die die USA einen Wettbewerbsvorsprung erzielt haben (Maschinen, Automobile). 1917
schliesslich, als Europa am Boden lag (Erster Weltkrieg), fordert Präsident Woodrow
Wilson Freihandel für alle!!
Die USA sind also durch eine knallharte merkantilistisch-protektionistische Politik zur
ersten Wirtschaftsmacht aufgestiegen; 1914 standen sie bereits ganz oben und der Erste
Weltkrieg brachte eine dramatische Ausweitung des US-Vorsprungs.
Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten enorm von den beiden Weltkriegen profitiert: Der
Erste Weltkrieg machte die USA zur Finanzgrossmacht auf Kosten Englands. Und der Zweite
Weltkrieg, nicht der New Deal, hat die Vereinigten Staaten aus der Krise herausgeholt; in
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diesem Zusammenhang sagte der grosse amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith
einmal: Der Zweite Weltkrieg hat uns gerettet.
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