3. Teil: Von der Klassik ausgehende Entwicklungen

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Prof. Heinrich Bortis,
Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
3. Teil: Von der Klassik ausgehende Entwicklungen Die Herausbildung der heutigen Schulen
A. Die Neoklassik
Die Neoklassik ist eine Theoriengruppe, die wesentlich von der Klassik im Sinne von Adam
Smith ausgeht und nur sekundär mit der von David Ricardo begründeten Version der Klassik
verbunden ist. Das Werk von Adam Smith wurde u.a. von Jean-Baptiste Say und Frédéric Bastiat
in Frankreich und von Mountifort Longfield und Nassau Senior in England weitergeführt (Dobb,
Theories of Values and Distribution since Adam Smith, pp. 96 ff.). Die marginalistische
Revolution um 1870 herum etablierte das neoklassische System der ökonomischen Theorie.
Diese Revolution war vor allem gegen die Ricardianische Variante der Klassik gerichtet, die von
John Stuart Mill, aber vor allem von Karl Marx weiterentwickelt worden war. Die neoklassische
Theorie von Angebot und Nachtfrage dominierte das ökonomische Denken bis zur grossen
Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Dann wurde die Neoklassik durch die Keynesianische
Theorie des Unterbeschäftigungsgleichgewichts bis anfangs der 1970er Jahre in den Hintergrund
gedrängt. Aber die Neoklassik wurde nicht verdrängt, weil sie in der neoklassischen Synthese
von Paul Samuelson (IS-LM – Synthese von Marshall und Keynes) sozusagen aufgehoben war.
Keynes seinerseits wurde dann von Friedman (monetaristische Gegenrevolution) abgelöst, vor
allem mit der Begründung, er könne die Inflation nicht erklären – eine Erhöhung der Geldmenge
führe nicht zu sinkenden Zinsen, damit zu höheren Investitionen und Beschäftigungsvolumen,
sondern zu Inflation. Damit war der Weg für eine neoklassische (neoliberale) Renaissance
geebnet. Diese drückte sich vor allem durch die Dominanz der ‚Schule der Rationalen
Erwartungen’ aus, die postuliert, dass sich eine Wirtschaft immer im Gleichgewicht befindet, vor
allem dass die Arbeitslosigkeit freiwillig ist und ‚Gleichgewichtsarbeitslosigkeit’ darstellt. Der
Zusammenbruch der sozialistischen Systeme verstärkte die Position der neoliberalen Neoklassik.
Bis in die jüngste Zeit versuchten die post-Keynesianischen und klassisch-Keynesianischen
Ökonomen mit geringem Erfolg, keynesianische Positionen zurückzugewinnen. Ein zentraler
Grund für den Misserfolg von makroökonomischen Theorien keynesianischer Provenienz liegt in
der Forderung nach der mikroökonomischen – entscheidungstheoretischen -Fundierung der
Makroökonomie, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hat. Weil
volkswirtschaftliche Grössen, vor allem Sozialprodukt und Beschäftigung, sich aus der
Aggregation einzelwirtschaftlicher Mengen ergeben, besteht in neoklassischer Sicht für eine
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eigenständige Makroökonomie keine Notwendigkeit. (Voraussetzung ist allerdings das die
Preise die richtigen Signale senden. Hier kommt die Kapitaltheoretische Diskussion ins Spiel:
Niedrigere Zinssätze sind nicht notwendigerweise mit höheren Kapitalmengen verbunden
(höheren Kapitalintensitäten, Kapitalkoeffizienten) und umgekehrt!).
Im folgenden werden zuerst allgemeine Bemerkungen zur Neoklassischen Revolution gemacht,
dann der Verlauf der Revolution skizziert und die grossen Autoren betrachtet, die diese zustande
gebracht haben, und schliesslich wird das neoklassische Lehrbuch-System andeutungsweise
skizziert, wie es sich im Anschluss an diese Revolution herausgebildet hat und in dieser Form
das Denken über ökonomische Probleme heute weitgehend dominiert.
I. Allgemeines zur Neoklassik
1. Einige Kennzeichen der Neoklassik
Das Wesentliche am Marginalismus oder der Neoklassik kann vielleicht am besten erfasst
werden durch einen Vergleich mit der ricardianischen Variante des klassischen Systems.
Bei Ricardo ist der zirkuläre und soziale Produktionsprozess und die Gesellschaft der
Ausgangspunkt der Analyse. Die Verteilung wird durch das Überschussprinzip geregelt und ist
ein gesellschaftliches Problem. Der Wert der Güter wird im Prinzip im Produktionsprozess
bestimmt durch direkte und indirekte Arbeit, die für die Herstellung eines Gutes erforderlich ist
(objektive
Werttheorie).
Die
Arbeitswerte
sind
konstitutiv
(wesentlich)
für
die
Produktionspreise, stimmen aber nicht mit diesen überein. Die Produktionspreise konkretisieren
die Arbeitswerte. Die Produktionspreise hängen von drei Faktoren ab: erstens, von den direkten
und indirekten Arbeitsmengen (für Zwischenprodukte und Abnutzung von Fixkakpital, d.h.
Maschinen), zweitens von den Produktionskoeffizienten (Verhältnisse von indirekter zu direkter
Arbeit) und, drittens, von der Einkommensverteilung, d.h. vom Geldlohnsatz und der
langfristigen Gleichgewichts-Profitrate (siehe Ricardo-Vorlesung).
Bei der Neoklassik stehen das Individuum und der Tausch zwischen Individuen im Vordergrund.
Dabei bezieht sich der Tausch auf alle Güter, Konsumgüter, Produktionsfaktoren und
Zwischenprodukte.
Daraus ergeben sich einige grundlegende Aspekte des neoklassischen Systems.
Erstens, die Individuen verhalten sich optimierend, die Produzenten maximieren den Profit, die
Konsumenten den Nutzen. Diese Optimierungsentscheidungen werden durch Güter- und
Faktormärkte koordiniert. Aus dem profitmaximierenden Verhalten der Unternehmer ergeben
sich Faktornachfragekurven und Güterangebotskurven. Die Faktorangebotskurven und die
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Güternachfragekurven ergeben sich aus dem nutzenmaximierenden Verhalten der Konsumenten.
Beim optimierenden Verhalten spielt das Marginalprinzip eine zentrale Rolle. Z.B. impliziert
Profitmaximierung ‚Wertgrenzprodukt der Arbeit = Geldlohnsatz’ und ‚Grenzkosten = Preis’;
der Konsumentennutzen wird maximiert, wenn die Verhältnisse von ‚Grenznutzen und Preis’ für
alle Güter gleich sind (zweites Gossensches Gesetz).
Das optimierende Verhalten der Produzenten und Konsumenten führt, zweitens, zum Konzept
des
Marktgleichgewichts:
die
Gleichgewichtsanalyse
ist
ein
zentrales
Element
der
neoklassischen Theorie. Ökonomische Theorie wird wesentlich zur Analyse von Märkten im
Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Léon Walras entwickelte die Idee eines
allgemeinen Gleichgewichts auf allen Märkten (die allgemeine Betrachtung ist erforderlich, weil
die Märkte zusammenhängen; z.B. führen Einkommen, die bei der Produktion eines Gutes
entstehen zu einer Nachfrage nach verschiedenen anderen Gütern). Bei Walras ist entscheidend,
dass die Preise, bzw. Preisveränderungen das allgemeine Gleichgewicht von Angebot und
Nachfrage zustande bringen.
Alfred Marshall betrachtet in seiner Partialanalyse einen Markt, auf dem der Preis durch
Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Dabei sind die Zeiträume, in denen ein Gleichgewicht
zustande kommt jeweils verschieden. So ergibt sich bei Marshall ein momentanes, kurzfristiges
und langfristiges Gleichgewicht. Beim momentanen Gleichgewicht ist das Angebot gegeben,
und die Nachfrage bestimmt den Preis; beim kurzfristigen bestimmen Angebot und Nachfrage
den Preis; in der langfristigen Betrachtung bestimmen die Produktionskosten den Preis, die
Nachfrage die Menge. Überhaupt führen bei Marshall Veränderungen der Mengen das
Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu Walras, bei
dem die Preise beim Zustandekommen des Gleichgewichts die Hauptrolle spielen. Die
Marshallsche Mengenanpassungsprozesse stehen am Ausgangspunkt des gesamtwirtschaftlichen
Keynesschen Systems, bei dem Mengenveränderungen zu einem Gleichgewicht bei
Unterbeschäftigung führen.
Drittens hat die Kombination von individuellen Optimierungsentscheidungen und neoklassischer
Gleichgewichtsanalyse wichtige Implikationen für die Natur der grossen ökonomischen
Probleme. Der Preis ist ein Knappheitsindikator, was seinerseits bedeutet, dass sich die
Neoklassik wesentlich mit der Allokation von knappen, bereits produzierten Ressourcen
beschäftigt. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Produktion durch den Tausch geregelt ist. Es
gibt Faktormärkte, auf denen die Produzenten und Konsumenten optimierend handeln: z.B.
Profitmaximierung und Minimalkostenkombination; Nutzenmaximierung. Die Existenz von
Faktormärkten wiederum bewirkt, dass das Problem der Einkommensverteilung ein
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Marktproblem wird; das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt impliziert z.B., dass das
Wertgrenzprodukt der Arbeit gleich dem Geldlohnsatz ist. Weiter und vielleicht am wichtigsten
impliziert das neoklassische Gleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz Vollbeschäftigung
aller Produktionsfaktoren, damit auch des Faktors Arbeit. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit und
allgemeine Überproduktion von Gütern sind auf Wettbewerbsmärkten unmöglich. Das Saysche
Gesetz gilt. Letztlich bringt der Zinssatz Sparen und Investieren beim Vollbeschäftigungsniveau
ins Gleichgewicht. Schliesslich sind in der Neoklassik der reale und der monetäre Sektor scharf
getrennt. Im Tausch – auf den Märkten - werden die relativen Preise (und relativen Mengen)
aller Güter bestimmt. Das Geld – die Geldmenge – bestimmt dann nur das Niveau der absoluten
Preise, der Preise in Geld ausgedrückt. Im Prinzip spielt die Höhe der absoluten Preise und damit
der Geldmenge keine Rolle, weil die relativen Preise gleich bleiben. Langfristig ist, im Prinzip,
das Geld neutral. Die realwirtschaftliche Neutralität des Geldes widerspiegelt sich in der
Quantitätstheorie des Geldes.
Die Bezeichnung Neoklassik geht auf Marshall zurück. Marshall versuchte zu zeigen, dass sich
die Neoklassik durch Verallgemeinerung und Erweiterung der Analyse aus der (ricardianischen)
Klassik entwickelt hat – daher der Name Neoklassik, der eigentlich eine Fehlbezeichnung ist.
Die Angebotskurve steht in Verbindung mit der Produktion, die Nachfragekurve mit
Nutzenüberlegungen der Konsumenten. Marshall ist der Ansicht, dass die Produktpreise nicht
allein durch die Bedingungen der Produktion (und der Verteilung) bestimmt wie bei Ricardo,
sondern dass die Nachfrage auch in Betracht gezogen werden müsse. Er illustriert dies mit
seinem berühmten Scherenbeispiel: Beide Klingen, sowohl die Angebotskurve wie auch die
Nachfragekurve sind zum Schneiden (zur Wertbildung) erforderlich. Die Bestimmung der Preise
durch Angebot und Nachfrage ist also das grundlegende theoretische Schema für das
neoklassische System.
2. Zeitumstände und Gründe für das Zustandekommen der marginalistischen
(neoklassischen) Revolution
Zeitlich hat die marginalistische Revolution etwa im Zeitraum 1870-90 stattgefunden.
Warum gerade in dieser Zeitperiode, und wieso wurde die neoklassische Revolution zu einem
dermassen grossen Erfolg? Man kann theorie-interne und theorie-externe Gründe unterscheiden
[Screpanti/Zamagni, 152-55].
Die theorie-internen Gründe betreffen Schwächen der klassischen Theorie (im Sinne Ricardos),
die von den Neoklassikern und ihren Vorläufern aufgedeckt wurden. In Frage gestellt wurden
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vor allem die ricardianische Arbeitswerttheorie und die damit verbundene Verteilungstheorie,
vor allem die Bestimmung des (natürlichen) Lohnsatzes.
Gegen Arbeitswerttheorie wurde unter anderem vorgebracht, dass bei Kuppelproduktion (Schafe
liefern Wolle und Fleisch) die Preise von Wolle und Fleisch nicht nur von den
Produktionsbedingungen, sondern auch von der Nachfrage abhängen. (Dies ist ein sehr
schwaches Argument: Die Arbeitswerttheorie ist ein grundlegendes Prinzip, das den Wert von
Gütern bestimmt. Dieses Prinzip kann durch verschiedene Nebenfaktoren, wie eben spezifische
Nachfragebedingungen bei Kuppelproduktion, modifiziert werden. Die eigentliche Frage ist:
Werden die Preise im Prinzip durch die in der Produktion eingesetzte direkte und indirekte
Arbeit oder durch das Marginalprinzip bestimmt (Grenzkosten und Grenznutzen, die hinter den
Angebots- und Nachfragekurven stehen)?
Gegen
klassische
Lohntheorie
hat
man
argumentiert,
dass
der
Malthusianische
Bevölkerungsmechanismus den Lohnsatz immer wieder auf das (physische) Existenzminimum
herunterdrücke, wodurch die klassische Lohnfondtheorie (Lohnsumme – Lohnfonds - dividiert
durch Anzahl Arbeitskräfte) hinfällig werde. [Diese Kritik trifft allerdings die Ricardianische
Theorie des institutionell bestimmten natürlichen Lohnsatzes nicht voll; der gerade die physische
Existenz sichernde Lohnsatz kann als eine sozial problematische Variante des natürlichen
Lohnsatzes gesehen werden. Die Frage ist, ob die Verteilung ein soziales Phänomen (Ricardo –
Marx) ist, das durch das Überschussprinzip bestimmt wird, oder ob die Einkommensverteilung
ein Marktphänomen (Neoklassik) ist, bei dem das Marginalprinzip in der Form von
Grenzproduktivitäten entscheidend ist.]
Gemäss der Lohnfondstheorie – im Sinne von John Stuart Mill - steht immer nur ein bestimmter
Lohnfonds zur Verfügung, so dass der Lohnsatz sinkt, wenn mehr Arbeit eingesetzt wird. Dies
gilt nicht mehr, wenn die Löhne aus den Erträgen bezahlt werden. Mit dieser Kritik gehen die
Vorläufer
der
Neoklassik
bereits
in
Richtung
‚Entlohnung
gemäss
Leistung’
(Grenzproduktivitätstheorie: Wertgrenzprodukt der Arbeit = Geldlohnsatz).
Die Wert und Verteilungstheorie Ricardos wurde von Marx übernommen, weiterentwickelt und
in einen weiteren historischen Rahmen gestellt: Die Arbeitswerte enthalten den Mehrwert, der
akkumuliert wird, so zu zyklischem Wachstum führt. Die Konjunkturausschläge werden immer
stärker, die Krisen immer tiefer, was schliesslich zum Zusammenbruch des kapitalistischen
Systems führen wird. Marx hatte 1867 den ersten Band des 'Kapitals' veröffentlicht, der in
europäischen Arbeiterkreisen mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die Marxsche Theorie
wurde im Rahmen der sich ab 1870 rasch entwickelnden sozialistischen Bewegung
(Internationale!) für kritische Zwecke – Kapitalismuskritik - verwendet:
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- Das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde in Frage gestellt
- Der Mehrwert (in der Form des Profits) wurde als Ausbeutung der Arbeiter gesehen
(spezifische Interpretation des Überschussprinzips).
Die Kapitalismuskritik seitens der Arbeiterkreise fiel im Zeitraum 1870-90 auf besonders
fruchtbaren Boden, weil das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts (etwa 1873-96) eine Zeit der
schweren Wirtschaftskrise war (Kondratiev-Abschwung).
Angesichts
der
Marxschen
‚Bedrohung’
war
also
eine
grundlegende
Kritik
der
Arbeitswerttheorie von Seiten der Neoklassik erforderlich. Diese Kritik erfolgte im Rahmen der
Diskussion über das soganannte Transformationsproblem. Es geht hier um die Transformation
von Arbeitswerten mit gleichen Ausbeutungsgraden (gleiches Verhältnis von Mehrarbeit und
notwendiger
Arbeit)
in
Produktionspreise
(mit
gleichen
Profitraten
in
allen
Produktionsbereichen). Wenn nun die Produktionsbedingungen, die Verhältnisse von
konstantem Kapital (Wert der Zwischenprodukte und des verbrauchten Fixkapitals) und
variablem Kapital (Lohnsumme = Wert der Arbeitskraft, die den Mehrwert produziert!), in den
verschiedenen Produktionsbereichen ungleich sind, dann weichen die Produktionspreise von den
Arbeitswerten ab: Ist das Verhältnis ‚konstantes zu variablem Kapital’ relativ hoch, dann
übersteigen die Produktionspreise die Arbeitswerte, und umgekehrt.
Die Arbeitswerte stimmen also nicht mit den in der wirtschaftlichen Wirklichkeit (annähernd
über die Normalkostenkalkulation) realisierten Produktionspreisen überein. Deshalb betrachteten
die Gründer der Neoklassik die Arbeitswerttheorie als grundsätzlich falsch. Vor allem der grosse
österreichische Neoklassiker Eugen von Böhm-Bawerk hat scharfe Kritik an der Marxschen
Arbeitswerttheorie geübt; auch das Überschussprinzip – das bei Marx Ausbeutung impliziert wurde kritisiert (Profite bewegen sich in neoklassischer Sicht parallel zum Einsatz von Kapital
und widerspiegeln dessen Beitrag zum Produktionsresultat).
Aber Kritik allein genügt nicht. Die Neoklassiker mussten eine alternative Theorie des Wertes
und der Verteilung schaffen, die mit dem Ricardianisch-Marxschen System konkurrieren konnte:
die zu vage und zum Teil widersprüchliche Theorie des Wertes und der Verteilung von Adam
Smith genügte nicht. Die Theorie des Grenznutzens (und der Grenzproduktivität sowie der
Grenzkosten), auf der das neoklassische System von Angebot und Nachfrage basiert, ergab die
Lösung dieses Problems.
Es gab auch theorie-externe Gründe für das Entstehen der Neoklassik. Von zentraler Beideutung
ist, dass die Zeitperiode 1870-90 grob gesprochen in die Zeit der grossen Depression von 187396 fällt. Vor allem in den 1870er Jahren gab es in den westeuropäischen Industrieländern
Arbeiterunruhen. Sozialistische (sozialdemokratische) Parteien erstarkten. Die krisenhafte
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Wirtschaftsentwicklung gegen Ende des 19. Jahrhunderts war auch verbunden mit dem
Entstehen von Monopolen und Kartellen – der sogenannte ‚Monopolkapitalismus’ war im
Begriff den ‚Konkurrenzkapitalismus’ abzulösen. Die von Absatzschwierigkeiten bedrängten
Unternehmen suchten Sicherheit über Zusammenschlüsse und Preis- und Absatzvereinbarungen.
Wirtschaftskrise und Monopolkapitalismus wurden beide als Bedrohung der liberalen
Wettbewerbswirtschaft empfunden. Die besitzenden, allgemein die ökonomisch besser gestellten
und die politisch dominierenden Schichten begrüssten deshalb die neue – neoklassische Theorie,
vor
allem
die
Aussage,
dass
Wettbewerbsmärkte
zu
einem
allgemeinen
Marktgleichgewicht führen, das wiederum einem gesamtwirtschaftlichen Optimum entspreche
(Pareto-Optimum). In diesem Optimum ist das Problem der Allokation der Ressourcen gelöst,
aber auch ihre volle Nutzung gewährleistet. Letzteres impliziert Vollbeschäftigung aller
Produktionsfaktoren, vor allem des Produktionsfaktors Arbeit. Damit ist das Problem der
Proportionen (Allokation, relative Preise und Mengen) und das Problem der Skala der
wirtschaftlichen Aktivität (Beschäftigungsniveau) gelöst.
3. Das Wesentliche an der Marginalistischen Revolution
Die marginalistische Revolution wurde vom englischen Ökonomen William Stanley Jevons
eingeleitet (Theory of Political Economy, 1871). In der Folge haben drei Theoriengruppen
herausgebildet, die heute noch von grösster Bedeutung für die sogenannte neoklassische
‚mainstream economics’ sind. Erstens, die Allgemeine Gleichgewichtstheorie von Léon Walras,
1834-1910 (Eléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse sociale, 1874). Die
Gleichgewichtspreise und die entsprechenden Gleichgewichtsmengen werden über ein
Gleichungssystem simultan bestimmt. Der Italiener Vilfrido Pareto hat im Anschluss an Walras
das Konzept des ‚Pareto-Optimums’ entwickelt. Bekannte heutige Vertreter sind Gérard Debreu,
Kenneth Arrow und Frank Hahn.
Zweitens, die Theorie des partiellen Gleichgewichts dargestellt durch eine Angebotskurve und
eine Nachfragekurve für jeden einzelnen Markt (Alfred Marshall (1842-1924): Principles of
Economics (1890); die Principles lagen bereits um 1870 als Vorlesungsmanuskript vor.
Marshalls Theorie wurde ergänzt durch die ‚Grenzproduktivitätstheorie’, die vor allem von John
Bates Clark, USA (The Distribution of Wealth, 1899) und Philipp Wicksteed, England (The
Common Sense of Political Economy, 1910) ausgearbeitet wurde.
Drittens, die Österreichische Neoklassik wurde begründet von Carl Menger, 18411921(Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1871); andere berühmte Vertreter der ersten
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Generation sind Eugen von Böhm-Bawerk (Kapital und Kapitalzins – Positive Theorie des
Kapitals, 1884), Friedrich von Wieser und Hans Mayer. Diese Schule ist extrem individualistisch
und versucht den Produktionsprozess in ihre Analyse einzuschliessen. Sie ist heute unter der
Bezeichnung ‚Austrian Economics’ hochaktuell. Joseph Alois Schumpeter (1883-1950) und
Friedrich von Hayek (1899-1992) sind bekannte Vertreter der neueren österreichischen Schule.
a) Wert und Verteilung in der österreichischen Neoklassik
Joseph Schumpeter hat, gestützt auf die österreichische Neoklassik, die wesentlichen
Neuerungen der Neoklassik in konziser Form dargestellt (History of Economic Analysis, 91113):
Ausgangspunkt ist das momentane Gleichgewicht. Die (bereits produzierten) Gütermengen sind
gegeben. Die Angebotskurven sind deshalb vertikal. Die vorhandenen Ressourcen sind voll
ausgelastet, und deshalb sind alle Güter knapp.
Die Wertschätzungen (Nutzenvorstellungen) der Konsumenten, ausgedrückt durch die Lage der
Nachfragekurve für jedes einzelne Konsumgut, bestimmen nun den Preis der Endprodukte (die
Nachfragekurve ist fallend, weil der Grenznutzen mit zunehmendem Konsum abnimmt).
Der Preis der Endprodukte ergibt sich am Schnittpunkt der vertikalen Angebotskurve mit der
fallenden Nachfragekurve.
Der so bestimmte Wert der Endprodukte (Güter erster Ordnung) bestimmt nun auch den Wert
der Zwischenprodukte und der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital (Güter höherer
Ordnung). Diese an der Produktion beteiligten Vorprodukte haben also einen über den Wert der
Endprodukte abgeleiteten Wert: Die Güter höherer Ordnung haben einen Wert, weil die durch
sie produzierten Endprodukte einen von den Konsumenten festgelegten Wert haben. Der
individualistische Charakter der Neoklassik wird damit durch die österreichische Neoklassik klar
zum Ausdruck gebracht – die Gesellschaft ist völlig aus dem Gesichtspunkt verschwunden. Die
neoklassische Werttheorie ist deshalb eine subjektive Werttheorie – dies ist die geläufige
Bezeichnung in der theoriengeschichtlichen Literatur. Die klassische (ricardianische)
Werttheorie ist dagegen eine objektive Werttheorie: Hier werden Werte und Preise – die in Geld
ausdrückten Werte – im sozialen Produktionsprozess durch die Produktionskosten, inklusive
eines – normalen - Gewinns, bestimmt.
Aus der subjektiven – österreichischen - Werttheorie ergibt sich eine spezifisch österreichische
Verteilungstheorie. Der von den Konsumenten bestimmte Wert der Endprodukte, der Güter
erster Ordnung, stellt einen Verkaufserlös dar. Dieser wird nun verwendet, um die
‚Produktionskosten’
zu
decken:
die
Zwischenprodukte
müssen
bezahlt
und
die
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Produktionsfaktoren – Arbeit, Boden und Kapital – für ihre produktiven Leistungen entschädigt
werden. Dies nennen die österreichischen Ökonomen das Zurechnungsproblem, die typisch
österreichische Formulierung des Verteilungsproblems. Wie ist also, für jedes einzelne Produkt,
der Verkaufserlös (der Preis) den Zwischenprodukten und den Faktorleistungen, die in die
Produktion dieses Produktes eingegangen sind zuzurechnen.
Das Zurechnungsproblem ist komplex und ist nie befriedigend gelöst worden. Im Prinzip muss
der Wert, der Preis der Endprodukte – der Güter erster Ordnung – alle Güter höherer Ordnung
für ihren Beitrag zur Produktion entschädigen. D.h. die Güter zweiter Ordnung, die
Zwischenprodukte und Produktionsfaktoren, die Güter erster Ordnung produzieren. In einem
zweiten Schritt sind die Güter dritter Ordnung – Zwischenprodukte und Produktionsfaktoren - zu
entschädigen, mit denen Güter zweiter Ordnung produziert werden, usw. Offensichtlich
impliziert diese individualistische Sicht des Produktionsprozesses zu einem unendlichen
Regress. Böhm-Bawerk hat in seinem Hauptwerk ‚Kapital und Kapitalzins’ das Problem zu
lösen versucht, indem er postulierte, dass die Güter höchster Ordnung nur von Arbeit und Boden
produziert werden, d.h. den beiden ‚natürlichen’ Produktionsfaktoren. Böhm-Bawerk hält
ausdrücklich fest, dass der Profit keine eigenständige Einkommenskategorie darstelle, weil
Kapital ein ‚produzierter’ Produktionsfaktor sei, der letztlich von Arbeit und Boden hergestellt
werde!
Um solchen ‚unliebsamen’ Schlussfolgerungen zu entgehen, haben die neoklassischen
Ökonomen das Zurechnungsproblem in einer ganz anderen Form formuliert, nämlich als
Grenzproduktivitätstheorie der funktionalen Einkommensverteilung.
b) Die neoklassische Theorie der Einkommensverteilung
Das ungelöste – österreichische - Zurechnungsproblem hat die neoklassischen Ökonomen
schwer bedrückt. Tatsächlich hatten sie dem Überschussprinzip von Ricardo und Marx keine
wirklich überzeugende Theorie der Einkommensverteilung entgegenzustellen. Wenigstens
formal gelöst wurde dieses Problem von J.B. Clark, einem US-amerikanischen Ökonomen, und
von Philipp Wicksteed, England, die beide die sogenannte Grenzproduktivitätstheorie der
funktionalen
Einkommensverteilung
entwickelten.
Diese
Theorie
dominiert
seit
der
Veröffentlichung von Paul Samuelsons ‚Volkswirtschaftslehre’ (erste Auflage 1948) die
Ansichten über Einkommensverteilung in den allermeisten Lehrbüchern. Im Wesentlichen
besagt sie, dass die Leistung der zuletzt eingesetzten Faktoreinheit das Einkommen aller bisher
eingesetzten Faktoreinheiten bestimmt. Beispielsweise das Wertgrenzprodukt des zuletzt
eingesetzten Arbeiters ist gleich dem Lohnsatz, der für alle bisher eingesetzten Arbeiter gilt. Die
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Beziehung ‚Wertgrenzprodukt gleich Faktorpreis’ gilt für alle Produktionsfaktoren – Arbeit,
Boden und Kapital – und für Subkategorien dieser Faktoren. Wir kommen später noch kurz auf
die Grenzproduktivitätstheorie zurück. Hier sei nur stichwortartig ihre Entstehung und
Entwicklung angedeutet, die viel zu ihrem Verständnis beiträgt (dies im Sinne von Aristoteles:
Wenn man die Entwicklung einer Sache sieht, versteht man sie besser, z.B. den Weg den eine
Eiche vom Samenkorn bis zum voll ausgewachsenen Baum durchläuft).
Um die Grenzproduktivitätstheorie etwas besser verstehen zu können, muss man auf Ricardo
zurückgehen. Ricardo hatte zwei Prinzipien entwickelt, um die Verteilung des Sozialproduktes
zu erklären: das Marginalprinzip und das Überschussprinzip. Für Ricardo war, wie wir gesehen
haben, das Überschussprinzip von fundamentaler Bedeutung, das Marginalprinzip war
nebensächlich.
Die Neoklassiker haben nun das Überschussprinzip eliminiert und das Marginalprinzip
uminterpretiert und verallgemeinert (George Stigler, Production and Distribution Theories: The
Formative Period, 1941).
Ausgangspunkt um die Umdeutung der ricardianischen Verteilungstheorie zu erklären ist das
Kaldor-Diagramm (siehe Ricardo-Vorlesung): Hier sind vertikal das Grenzprodukt und das
Durchschnittsprodukt der direkten (und indirekten) Arbeit in der Landwirtschaft aufgetragen.
Horizontal sind Arbeit (NL) und Boden aufgetragen. Dabei sind Arbeit und Boden
komplementär, jedoch ist die Arbeit primär. Das Grenzprodukt der Arbeit erklärt bei Ricardo
die Höhe der Bodenrente; die Aufteilung des verbleibenden Produkts in Löhne und Profite (real
gesehen, d.h. in Weizeneinheiten ausgedrückt) erfolgt über das Überschussprinzip.
Die neoklassische Reinterpretation geht nun dahin, dass auf der Abszissen der Boden in den
Vordergrund rückt. Konsequenterweise wird nun auf der Ordinaten nicht mehr das Grenzprodukt
der Arbeit, sondern das Grenzprodukt des Bodens aufgetragen. Bei Konstanz von Arbeit und
Kapital ist die Grenzproduktkurve des Bodens fallend, weil immer weniger fruchtbarer Boden
bewirtschaftet wird. Die bewirtschaftete Bodenfläche wird solange ausgedehnt bis das
Grenzprodukt des (am wenigsten fruchtbaren) Bodens dem vorgegebenen Pachtsatz entspricht.
Das Rechteck, gebildet durch Pachtsatz (= Grenzprodukt des schlechtesten Bodens) mal
eingesetzte Bodenmenge stellt die (reale) Rente dar. Die Fläche oberhalb der Pachtsatzlinien bis
zur Grenzproduktkurven des Bodens stellt dann die Summe von (realen) Löhnen und Profiten
dar.
In einem zweiten Schritt folgt dann die Verallgemeinerung: Das Grenzprodukt steht nun
allgemein für die produktive Leistung eines jeden Produktionsfaktors, immer bei Konstanz der
anderen Produktionsfaktoren. Im Gleichgewicht entspricht das Wertgrenzprodukt dem Preis des
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entsprechenden Produktionsfaktors. Dies gilt nun also auch für die Produktionsfaktoren Arbeit
(N) und Kapital (K) und, noch spezifischer, für alle Subkategorien der drei Produktionsfaktoren
N, K, B.
Die Reinterpretation und die Verallgemeinerung des ricardianischen Marginalprinzips durch die
Neoklassiker hat zwei wichtige Implikationen. Zum ersten wird das landwirtschaftliche Gesetz
des abnehmenden Grenzertrages in der Neoklassik nun auch auf die Industrie übertragen. Hier
herrschte bisher das Smithsche Gesetz der zunehmenden Erträge: Bei proportionaler
Ausdehnung aller Produktionsfaktoren steigt der Ertrag überproportional an, was heisst, dass die
Durchschnittskosten sinken. Damit entsteht ein Konflikt zwischen dem Gesetz der abnehmenden
Grenzerträge und dem Gesetz des zunehmenden Ertragszuwachses.
Zweitens besteht auch ein Gegensatz betreffend die Natur der Produktion zwischen
Landwirtschaft und Industrie: In der Landwirtschaft war die Produktion im 19. Jh. vorwiegend
individualistisch, in der Industrie ist die Produktion wesentlich sozial. Die Produktion erfolgt
durch
das
Zusammenwirken
von
komplementären
Produktionsfaktoren.
Der
soziale
Produktionsprozess wurde von François Quesnay in seinem grossen Tableau Economique zum
ersten Mal dargestellt.
Der Piero Sraffa nimmt 1925/26 und 1960 beide Punkte auf, um die neoklassische Theorie
Marshalls zu kritisieren. Sraffa hat damit eine Renaissance der klassischen Politischen
Ökonomie (Quesnay, Ricardo) eingeleitet.
c) Beschäftigung
Wie in der Klassik (D. Ricardo und John Stuart Mill) ist auch in der Neoklassik das
Beschäftigungsproblem vollständig eliminiert. In beiden Denksystemen dominiert das Saysche
Gesetz, das besagt, dass eine allgemeine Überproduktion von Gütern und damit unfreiwillige
Arbeitslosigkeit unmöglich sei. Es kann von einzelnen Gütern zuviel produziert werden (relative
Überproduktion), aber nicht von allen. Das Saysche Gesetz nimmt in der Klassik und in der
Neoklassik jeweils eine unterschiedliche Form an, der Geist bleibt aber der gleiche.
Die klassischen Ökonomen, vor allem Jean-Baptiste Say und David Ricardo, gingen davon aus,
dass niemand etwas produziert, ohne mit dem in Geld anfallenden Verkaufserlös ein anderes
Gut, ein Konsum- oder Investitionsgut zu kaufen. Es gilt also die Sequenz: Ware i – Geld –
Ware j (Wi – G – Wj). Geld (G) ist, in klassischer Ausdrucksweise nur ein Schleier, der die
realen Vorgänge, Tausch von Waren gegen Waren überdeckt. Damit schafft sich jedes Angebot
seine eigene Nachfrage. Jede Produktion erzeugt eine Nachfrage nach anderen Produkten. JeanBaptiste Say sagt ausdrücklich, dass ein Produzent die von ihm produzierten Produkte vorläufig
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in Geld umwandle und dann mit dem erhaltenen Geld irgendwelche anderen Produkte kaufe. Die
Sequenz (Wi – G – Wj) gilt sowohl für wertloses Notengeld als auch für Warengeld (Gold- und
Silbermünzen). Im Zusammenhang mit dem Warengeld sagte Gustav Schmoller, der deutsche
historische Ökonom, sehr treffend, dass das Geld nichts anderes als die am leichtesten
tauschbare Ware sei.
Die klassische Version des Sayschen Gesetzes kann auch anders formuliert werden: Bei der
Produktion entstehen Kosten (z.B. Lohnkosten), inklusive Profite. Diese Kosten sind gleichzeitig
Einkommen. Ein Teil der Einkommen wird konsumiert, ein anderer gespart. Das gesparte wird
aber nicht gehortet, weil kein Ertrag anfällt, sondern ausgeliehen oder auf eine Bank eingelegt.
Letztere leiten die Einlagen wieder an Unternehmer weiter. So wird alles Gesparte letztlich
investiert: Das Sparen bestimmt das Investieren.
Etwa hundert Jahre später hat dann Maynard Keynes dargelegt, dass in einer Geldwirtschaft
gerade das Gegenteil der Fall ist: Das Investieren bestimmt das Sparen, und ein Gleichgewicht
bei Unterbeschäftigung, unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist möglich.
Die neoklassische Version des Sayschen Gesetzes ist komplexer und subtiler. Es sind
Wettbewerbsmärkte und deren reibungsloses Ineinandergreifen, die zu Vollbeschäftigung
führen. Entscheidend ist dabei der Markt für neue Kapitalgüter. Das Angebot für neue
Kapitalgüter wird durch das Sparen gebildet: Die Bevölkerung eines bestimmten
Wirtschaftsgebietes verzichtet auf Konsum und spart, was mit Zinsen belohnt wird. Mit dem
Ersparten können die Produzenten neue Kapitalgüter kaufen. Je höher der Zinssatz, desto mehr
wird gespart. Das Sparen, abhängig vom Zinssatz, S = S(i), stellt somit die Angebotsfunktion für
neue Kapitalgüter dar. Die Investitionen in Abhängigkeit von der Ertragsrate r (Profitrate,
Grenzproduktivität der – neuen – Kapitalgüter, auch des – zusätzlichen – Kapitals) stellen die
Nachfragekurve für neue Kapitalgüter dar. In der funktionalen Beziehung I(r) führt ein
steigendes Investitionsvolumen I aufgrund des Ertragsgesetzes zu einem Absinken von r, der
Grenzproduktivität des (neuen) Kapitals. Steigt nun aus irgendeinem Grunde das Sparen (bei
gleichen Zinssatz wird mehr gespart, die S(i) verschiebt sich nach rechts), dann sinken die
Zinsen, und die Ertragsrate übersteigt nun den Zinssatz: r > i. Neue Investitionsprojekte werden
profitabel. Das Investitionsvolumen I nimmt zu, bis wieder Gleichheit zwischen S(i) = I(r)
besteht. So wird ersichtlich, dass alles gesparte immer investiert wird. Es kann also nie ein
Nachfrageausfall eintreten und allgemeine Überproduktion und unfreiwillige Arbeitslosigkeit
zustande kommen.
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Prof. Heinrich Bortis,
Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
II. Der Verlauf der marginalistischen Revolution und die grossen
neoklassischen Autoren
1. Verlauf
Wie bereits erwähnt, ist die marginalistische Revolution, grob gesprochen, zwischen 1870 und
1890 verlaufen. Vier Autoren veröffentlichten grundlegende Werke zu Beginn dieser
Zeitperiode:
- William Stanley Jevons: Theory of Political Economy (1871)
- Léon Walras: Eléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse sociale (1874 und
1877)
- Carl Menger (1841-1921): Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (1871)
- Alfred Marshall (1842-1924): Principles of Economics (1890); die Principles lagen bereits um
1870 als Vorlesungsmanuskript vor.
Von 1870-90 gab es keine Orthodoxie, sondern eine Vielzahl von Lehrmeinungen. (In diesem
Zusammenhang machen Screpanti/Zamagni die interessante Feststellung, dass wirtschaftliche
Krisenzeiten mit Theorienvielfalt verbunden sind, wirtschaftliche ‚Schönwetterlagen’ dagegen
mit der Dominanz eines – mehr oder weniger - allgemein akzeptierten Theoriengebäudes
verbunden sind.) Screpanti/Zamagni führen wichtige Gründe für die Theorienvielfalt zwischen
1870-90 an.
Zunächst war die marginalistische Schule ist nicht einheitlich. Es bestehen bedeutende
Unterschiede zwischen Jevons, Walras, Marhall und Menger. Vor allem der rein mathematische
Ansatz von Walras stösst in Frankreich, Österreich und England auf Ablehnung. (Léon Walras,
ein französischer Ingenieur, war Professor in Lausanne und hat zusammen mit dem Italiener
Vilfredo Pareto, der auch in Lausanne lehrte, die sogenannte Lausanner Schule gegründet.)
Zudem sind sozialistische Theorien im Aufschwung begriffen, vor allem der 'Wissenschaftliche
Sozialismus von Karl Marx', der revolutionären Charakter hatte; daneben gab es den
reformatorischen Fabian socialism und auch einen Christlichen Sozialismus.
Schliesslich sind der amerikanische Institutionalismus und die Deutsche Historische Schule
starke Gegenströmungen. Auch die Christliche Soziallehre beginnt sich zu entwickeln (1890,
Leo XIII, Rerum Novarum). Diese drei Strömungen zeichnen sich durch eine ausgesprochene
‚Theoriefeindlichkeit’ aus. Das Ethische, verbunden mit fortschrittlicher sozialer Reform, der
Errichtung von sozialen Institutionen dominierte. Z.B. war in Deutschland die Historische
Schule
unter
der
‚Kathedersozialismus’
Führung
von
verbunden,
Gustav
der
die
Schmoller
Konzeption
stark
für
mit
das
dem
sogenannten
grosse
deutsche
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Prof. Heinrich Bortis,
Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Sozialversicherungssystem entworfen hatte, das unter Bismarck in den 1880er Jahren realisiert
wurde.
Eine neoklassische Orthodoxie hat sich dann ab etwa 1890 gebildet. In diesem Jahre hat
Marshall die 'Principles of Economics' veröffentlicht; dieses Werk systematisierte und
popularisierte die Neoklassik und dominiert auch noch die heutigen Lehrbücher (Angebot und
Nachfrage - Partialanalyse). Marshalls ‚Principles’ wurde bald zur ‚Bibel der Ökonomen’, und
die Neoklassik beherrschte in der Form des Marshallianischen Systems die theoretische Szene
bis in die 1930er Jahre. Wieder ist es mit Screpanti/Zamagni aufschlussreich festzustellen, dass
Zeiten der wirtschaftlichen Hochkonjunktur – la Belle Epoque, etwa 1985-1914 - mit der
Dominanz eines theoretischen Systems einhergehen. In den 1930er Jahren, in der Zeit der
schweren Weltwirtschaftskrise, setzte dann eine fundamentale Kritik an Marshall ein: Keynes
kritisierte seine Vollbeschäftigungsannahme und entwickelte eine Theorie des Gleichgewichts
bei Unterbeschäftigung und widerlegte damit das Saysche Gesetz. Piero Sraffa übte
fundamentale Kritik an Marshalls Wert- und Verteilungstheorie (Maurice Dobb, Wert- und
Verteilungstheorien seit Adam Smith) und leitet so eine ‚Renaissance’ der ricardianischen
Klassik ein. Angesichts dieser grossartigen theoretischen sprach der englische Ökonom G.L.S.
Shackle von den 1930er Jahren als den Years of High Theory. Aus dem Werken von Keynes und
Sraffa hat sich dann über den Post-Keynesianismus die Klassisch-Keynesianische Politische
Ökonomie entwickelt. Diese stellt die Wirtschaftstheorie des Sozialen Liberalismus dar, eines
humanistischen Mittelweges zwischen Kapitalismus und Sozialismus.
2. Autoren
Und nun noch ganz kurz etwas zu den vier Autoren, die die neoklassische - marginalistische Revolution zustande gebracht haben: Jevons, Walras, Menger und Marshall (im nächsten
Abschnitt); nur Walras wird etwas ausführlicher dargestellt.
a) William Stanley Jevons
Im Vorwort seines Buches 'Theory of Political Economy' sagt Jevons, dass Ricardo den Wagen
der ökonomischen Theorie auf eine falsche Spur gelenkt habe und dass es ihm darum gehe, die
Fahrtrichtung der ökonomischen Theorie zu korrigieren. Mit dieser Aussage hatte er die
Probleme des Wertes und der Verteilung vor Augen.
Die Ricardianische Werttheorie besagt, dass direkte und indirekte Arbeitskosten im Prinzip den
Wert eines Gutes bestimmen (objektive Werttheorie). Dieser stellt Jevons eine subjektive
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Prof. Heinrich Bortis,
Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Werttheorie gegenüber, die er in einer berühmten – aber nicht eindeutigen - Formel
zusammengefasst hat:
„Die Produktionskosten bestimmen die Angebotsmenge;
Die Angebotsmenge bestimmt den Grenznutzen;
Der Grenznutzen bestimmt den Preis.“
Wahrscheinlich ist es am plausibelsten, diese Formel im ‚österreichischen’ Sinne zu
interpretieren: Sobald das Angebot gegeben ist, bestimmt die Nachfrage den Preis.
Marshall hat die Formel von Jevons kritisiert und betrachtete sie als irrelevant: Man könne
genauso sagen:
„Die Nachfrage (Nutzen) bestimmt die zu produzierende Menge;
Die Produktionsmenge bestimmt die Produktionskosten;
Die Produktionskosten bestimmen den Preis.“
Wie wir sehen werden hält Marshall die simultane Bestimmung des Preises durch Angebot und
Nachfrage für die einzig richtige Preistheorie.
In
Sachen
Theorie
der
Einkommensverteilung
geht
Jevons
in
Richtung
vage
Grenzproduktivitätstheorie. Der Güterpreis bestimmt nach ihm die Entschädigung, die den
Produktionsfaktoren ausgerichtet wird. Obwohl Jevons keine eigentliche Verteilungstheorie
entwickelt hat, sagt er doch, dass der Arbeitslohn durch den Wert des Produktes bestimmt wird
(Dobb, 185f).
b) Walras: Allgemeine Gleichgewichtstheorie
1) Claudio Napoleoni (Grundzüge der modernen ökonomischen Theorien, 1968), einer der
besten Kenner der Theoriengeschichte im 20. Jahrhundert, sagt zum Allgemeinen
Gleichgewichtsmodell von Walras: „Walras berühmte [Theorie] handelt sowohl von dem
Gleichgewicht der einzelnen [rational handelnden] Wirtschaftsubjekte untereinander als auch
von dem Gleichgewichtszustand des ökonomischen Systems insgesamt; es versucht, bei
gegebenen Ausgangsmengen produktiver Ressourcen, einer gegebenen Produktionstechnik und
gegebenen Präferenzen der Wirtschaftssubjekte die Quantität der produzierten und getauschten
Güter sowie die Preise zu bestimmen, zu denen getauscht wird, und zwar in einem Zustand
allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts“(8). Man könnte noch hinzufügen, dass das
allgemeine Gleichgewicht einem Pareto-Optimum entspricht.
Das Walrasianische Modell
impliziert deshalb, dass bei vollkommenem Wettbewerb die Rationalität der Individuen
(Produzenten und Konsumenten) durch den Markt in soziale Rationalität, Systemrationalität,
transformiert wird.
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Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
2) Einige Eigenschaften des Gleichgewichts
- Die Kosten der Produktion eines Gutes (die für die Haushalte Einkommen darstellen) müssen
gleich sein der Nachfrage nach diesem Gut.
Dies impliziert, dass alle Märkte miteinander verflochten sind: hinter dem Angebot für ein Gut
stehende Produktionsmittel, Zwischenprodukte und
Leistungen der Produktionsfaktoren,
stammen aus verschiedenen Produktionsbereichen; die Nachfrage nach einem Gut ergibt sich
aus Einkommen, die zum grössten Teil in anderen Produktionssektoren enststehen.
- Alle Gütermengen werden in Einheiten eines numéraire-Gutes gemessen, z.B. pN; alle Preise
sind demnach relative Preise vom Typ pi / pN. Der Wert jedes Gutes in Einheiten des numéraireGutes ausgedrückt ist xN / xi.
- Der englische mathematische Ökonom R.G.D. Allen hat eine der konzisesten Darstellungen
des Allgemeinen Gleichgewichtsmodells von Walras gegeben (Mathematical Economics,
London – Macmillan, 1964, pp. 314-22). Die Unbekannten (Variablen) sind alle Mengen: Die
Menge eines jeden Konsumgutes für jeden Konsumenten, sowie die Menge eines jeden
Produktionsfaktors und Output, der von jedem Produzenten hergestellt sind. Unbekannte
(Variable) sind auch die relativen Preise (pi / pN). Im (langfristigen) Allgemeinen
Gleichgewichtsmodell von Walras sind die Profite gleich Null (die Profitrate ist gleich dem
langfristigen Zinssatz, der in allen Sektoren gleich ist). Im Modell des temporären
Gleichgewichts von J.R. Hicks (Value and Capital, 1939 & 1946) weichen Profite und die
Profitraten vom Zinssatz ab; die Einheits-Profitrate ist also nicht realisiert.
- Das Allgemeine Gleichgewichtsmodell besteht aus drei Gruppen von Gleichungen:
Eine erste Gruppe von Gleichungen sind die Optimumbedingen: für die Haushalte das zweite
Gossensche Gesetz, für die Unternehmen die Minimalkostenkombination.
Die Budgetrestriktionen für Konsumenten und Produzenten und
die Bedingungen für das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf allen Märkten –
Güter- und Faktormärkten – ergeben zwei weitere Gruppen von Gleichungen.
Die Zahl dieser Gleichungen ist gerade gleich den unbekannten Grössen, den Variablen des
Systems: alle Mengen und die relativen Preise (für die drei Fälle: Tauschgleichgewicht, Tauschund Produktionsgleichgewicht sowie Gleichgewicht mit Tausch, Produktion und Akkumulation,
siehe Allen 1964, pp. 316, 319 und 322).
3) Wie funktioniert das allgemeine Gleichgewichtsmodell? (Napoleoni 1968, pp. 8-11)
- Ausgangspunkt ist der Begriff des Reichtums (der auch im Titel des Hauptwerkes von Leon
Walras enthalten ist: éléments d’économie politique pure ou théorie de la richesse sociale). Für
Walras besteht der Reichtum aus der Gesamtheit aller Güter und Dienstleistungen, die nützlich
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und knapp sind. Knappe Güter sind nicht frei verfügbar, sind also nur in begrenzter Menge
vorhanden.
Im Gleichgewicht ist die Allokation der knappen Ressourcen – der Produktionsfaktoren oder der
Kapitalien – so, dass ein maximaler Reichtum (Sozialprodukt) zustande kommt. Das Allgemeine
Gleichgewicht ist also auch ein Pareto-Optimum, bei dem niemand besser gestellt werden kann,
ohne dass jemand anders schlechter gestellt wird. Das Problem der Allokation der Ressourcen –
langfristig die bestmögliche Struktur einer Wirtschaft zustande bringen – ist das zentrale
Problem der neoklassischen Theorie.
- Walras teilt den Reichtum ein in Einkommen und Kapital.
Kapitalien weisen bezüglich der Benutzung eine gewisse Dauer auf. Zu den Kapitalien gehören
* Grund und Boden
* das persönliche Kapital (die Arbeitskraft der Wirtschaftssubjekte),
* das Kapital im engeren Sinne (Gebäude, Maschinen, Werkzeuge)
Real-Einkommen sind nach einmaliger Benutzung verbraucht. Dazu gehören kurzlebige
Konsumgüter, Zwischenprodukte und die Leistungen der Kapitalgüter.
Ausgehend von dieser Klassifizierung baut Walras seine Gleichgewichtstheorie in vier Schritten
auf.
Die Funktionsweise des allgemeinen Gleichgewichtsmodells ist am besten ersichtlich aus der
Struktur des Haupterkes von Walras, den 'Eléments d'économie politique pure'.
(a) Tauschende Individuen
Ausgangspunkt sind Individuen, die über bestimmte Ausgangsausstattungen an Gütern verfügen.
Diese Individuen beginnen nun zu tauschen; sie verhalten sich dabei nutzenmaximierend. So
kommen bestimmte Endausstattungen zustande.
(b) Produktion
- Die Produktion ist für Walras ein Anwendungsgebiet des Tausches (das ist eine der zentralen
Thesen des italienischen Ökonomen Luigi Pasinetti).
- Auf den Faktormärkten fragen die Unternehmer (Produzenten) Produktionsfaktoren N, B und K
nach; Besitzer von Produktionsfaktoren - inkl. Arbeit - bieten Faktorleistungen an.
- Beim Tausch verhalten sich die Produzenten profitmaximierend, die Anbieter von
Faktorleistungen nutzenmaximierend.
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- Dies impliziert die Minimalkostenkombination der Produktionsfaktoren. Diese - N, B und K werden so kombiniert, dass die Produktionskosten minimiert werden.
(c) Kapitalakkumulation
In der gerade beschriebenen Situation ist der Kapitalstock gegeben. Wenn nun ein Teil des
Einkommens gespart und investiert wird, ergibt sich eine Kapitalakkumulation (K = vor allem
Maschinen und Fabrikgebäude und Lager):
S = I = ∆K.
Hier wird auch die Bestimmung von Profitraten und Zinssätzen erklärt.
(d) Im einem vierten Schritt werden die Versorgung mit zirkulierendem Kapital und das Geld
behandelt.
Das Geld ist im Prinzip eine Ware (z.B. Gold und/oder Silber), die durch Banknoten vertreten
werden kann. Die Geldmenge legt die Höhe der absoluten Preise fest. (Vorher wurde immer nur
mit relativen Preisen gearbeitet.) Das heisst, dass das Geld in der Wirtschaft keine wesentliche
Rolle spielt. Geld ist neutral, weil im Falle einer Veränderung der Geldmenge die relativen
Preise sich im Prinzip nicht verändern.
Die Integration des Geldes in das Allgemeine Gleichgewichtsmodell von Walras ist jedoch mit
erstaunlichen Schwierigkeiten verbunden, auf die wir hier nicht eingehen können (eine kurze
und sehr gute Einführung in die Geldtheorie von Walras findet sich in Söllner 2001, pp. 121-25).
Nur ein Punkt sei hier erwähnt: Walras gebraucht das Geld als numéraire-Gut. Im Falle von
Warengeld (Silber, Gold) besteht keine besondere Schwierigkeit: Geld ist eine Ware wie jede
andere, mit der Eigenschaft besonders leicht tauschbar zu sein. Schwierigkeiten tauchen beim
stoffwertlosen Papiergeld auf. Der Wert des Geldes ist hier ‚sozialer’ Natur: der Auktionator
kann nun durch dezentrale Tauschvorgänge ersetzt werden, weil nicht mehr W-W’, sondern WG-W’ gilt. Geld wird damit zu einem Informationsträger, der Tauschvorgänge erleichtert und
gewinnt dadurch einen ‚sozialen’ Wert. Wenn aber der Markt aus vielen isolierten
Tauschvorgängen besteht, ist die Einheitlichkeit des Marktpreises wenigstens kurzfristig nicht
gegeben, obwohl eventuell ein einheitlicher Marktpreis durch Arbitrage langfristig zustande
kommen kann. Angesichts dieser Schwierigkeiten sagt Söllner(2001): „Offensichtlich sind die
neoklassische Mikroökonomie und das Phänomen des Geldes nur sehr schwer miteinander zu
vereinbaren“(124). Angesichts der Tatsache, dass wir seit der Industriellen Revolution monetäre
Produktionswirtschaften haben – der soziale Produktionsprozess und der Geld- und Finanzsektor
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stehen im Vordergrund -, ist das keine sehr ermutigende Feststellung für die neoklassische
Theorie!
4) Implikationen des Systems von Walras
- Die Preise sind Knappheitsindikatoren.
- Als solche sind sie gleich den Transformationsraten (Grenzraten der Substitution) in der
Produktion und im Konsum.
- Getauscht (und produziert) wird erst, nachdem die Gleichgewichtspreise bekannt sind. Diese
werden von einem Auktionator ermittelt. Ausgehend von zufällig ausgerufenen Preisen (prix
criés au hasard) ändert der Auktionator die Preise solange, bis das Gleichgewicht erreicht ist.
Übersteigt das Angebot die Nachfrage wird der Preis gesenkt und umgekehrt. Diesen Prozess des
Herantastens an das Gleichgewicht nennt Walras 'tâtonnement' (im Englischen 'trial and error').
Das Konzepts des Auktionators des Auktionators hat wichtige Implikationen für die
Wirtschaftsordnung: Die Gleichgewichtspreise könnten nämlich auch über eine zentrale
‚Planungsstelle’ ermittelt werden. Sobald diese Preise bekannt sind, wäre eine rationale
Wirtschaftsplanung mit dezentraler Entscheidungsfindung bezüglich der Mengen möglich: Die
vorgegeben Gleichgwichtspreise wären für die sozialistischen Manager Daten; das dezentrale
Entscheidungsproblem würde dann in der Festlegung der zu produzierenden Mengen bestehen,
wie im Modell der vollkommenen Konkurrenz.
Das Gleichgewichtsmodell von Walras könnte deshalb auch als Grundlage für die Planung in
einer sozialistischen Wirtschaft mit gesellschaftlichem und staatlichem Eigentum an
Produktionsmitteln verwendet werden. Dieser Aspekt des Modells von Walras wurde bereits im
Jahre 1908 vom italienischen Ökonomen Enrico Barone in einem berühmten Artikel
herausgestellt: Der Minister der Produktion in einem kollektivistischen Staat (Il ministro della
produzione nello stato collettivista, in: Giornale degli economisti, Sept./Okt. 1908). Diese
Theorie des Marktsozialismus wurde später im 20 Jh. unter anderen vom polnischen Ökonomen
Oskar Lange aufgenommen und weiterentwickelt.
- Das Gleichgewichtsmodell von Walras impliziert, dass alle Ressourcen voll genutzt sind, dass
also beispielsweise keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit herrscht. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit
ist mit dem Gleichgewichtsmodell unvereinbar, strukturelle und freiwillige Arbeitslosigkeit kann
jedoch mit der neoklassischen Theorie in Einklang gebracht werden.
- Wenn alle Ressourcen voll genutzt sind, ist, wie bereits erwähnt, das zentrale Problem die
Allokation der Ressourcen (Kapitalien im weiteren Sinn, Produktionsfaktoren). Diese werden
gemäss dem Walras-Modell so eingesetzt, dass die Konsumenten ihren Nutzen, die Produzenten
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den Profit maximieren. Damit wird das allgemeine Gleichgewicht von Walras zu einem sozialen
Optimum, das bei gegeben Ressourcen maximalen materiellen Wohlstand impliziert. Daher auch
der Untertitel des Hauptwerkes von Walras 'théorie de la richesse sociale'.
Der normative Aspekt des sozialen Optimums des Gleichgewichtsmodells von Walras würde
von Vilfredo Pareto, dem Nachfolger von Walras auf dem Lehrstuhl für theoretische
Nationalökonomie in Lausanne, herausgestellt. Deshalb die Bezeichnung Pareto-Optimum.
- In der allgemeinen Gleichgewichtstheorie sind zwei grosse Probleme von Bedeutung, nämlich
die
Probleme
der
Existenz
und
der
Tendenz
zum
Gleichgwicht,
wenn
eine
Ungleichgewichtssituation vorherrscht (Angebot und Nachfrage sind bei den bestehenden
Preisen nicht im Gleichgewicht). Das Problem der Tendenz hängt direkt mit der Stabilität oder
der Instabilität eines Gleichgewichts zusammen.
Walras befasst sich in erster Linie mit der Frage der Existenz eines Gleichgewichtes. Zu diesem
Zweck zeigte er, dass sein System ebenso viele Gleichungen wie Unbekannte aufweist. (Dies
heisst allerdings noch nicht, dass das existierende Gleichgewicht ökonomisch sinnvoll ist. Es
kann beispielsweise negative Preise aufweisen. Erst in den 1950er Jahren haben vor allem
Kenneth Arrow und Gérard Debreu gezeigt, unter welchen Umständen ein sinnvolles
allgemeines Gleichgewicht mit positiven Preisen zustande kommen kann. Es können mehrere
Gleichgewichte existieren, von denen einige stabil und andere instabil sein können.)
- Die Existenz eines allgemeinen Gleichgewichtes impliziert aber nicht, dass auch eine Tendenz
zu einem solchen Gleichgewicht existiert. Eine solche Tendenz würde nur bestehen, wenn
inverse (normale, well-behaved) Beziehungen zwischen Preisen und Mengen bestehen. Also:
wenn von einem Produktionsfaktor, z.B. Arbeit oder Kapital, bei Konstanz der anderen Faktoren
eine grössere Menge vorhanden ist, sollte sein Preis, d.h. der Lohnsatz oder der Zinssatz,
niedriger sein.
Bisher ist es noch keinem liberalen (neoklassischen) Ökonomen zu zeigen gelungen, dass eine
Tendenz
zu
irgendeinem
Gleichgewicht
existiert.
Im
Gegenteil
führende
Gleichgewichtstheoretiker wie Gérard Debreu, Hugo Sonnenschein und Frank Hahn zweifeln an
einer allgemeinen Tendenz zu einem bestimmten Gleichgewicht. Gemäss diesen neoklassischen
Ökonomen kann es verschiedene Gleichgewichte geben. Einige sind stabil, andere instabil.
Einkommenseffekte können die Tendenz zu einem Gleichgewicht verhindern: zum Beispiel, ein
sinkender Produktpreis bedeutet, dass die Produzenten dieses Gutes niedrigere Einkommen
erhalten und deshalb auf anderen Märkten weniger Güter nachfragen können. Das heisst, die
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Prof. Heinrich Bortis,
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Tendenz zum Gleichgewicht auf einem Markt kann verstärkte Ungleichgewichte auf anderen
Märkten bewirken, was wiederum Nebenwirkungen hat usw.
Vor allem haben aber einige neo-Ricardianische Ökonomen (vor allem Piero Sraffa, Pierangelo
Garegnani und Luigi Pasinetti) in den 1960er Jahren überzeugend nachgewiesen, dass eine
Tendenz zu einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht im Prinzip nicht existiert: es bestehen im
Prinzip keine inversen (well-behaved) Beziehungen zwischen Mengen und Preisen, wenn der
Produktionsprozess ein sozialer Prozess ist. Dies war das Ergebnis der sogenannten
kapitaltheoretischen Diskussion. Der bedeutendste neoklassische Teilnehmer an dieser
Diskussion, Paul Anthony Samuelson, hat 1966 in einem abschliessenden Artikel festgehalten,
dass mit der neoklassischen Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung und damit mit der
Tendenz zu einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht schwerste Probleme bestehen: „Lower
interest rates may bring lower steady-state consumption and lower capital-output ratios, and the
transition to such lower interest rates can involve a denial of diminishing returns and entail
reverse capital deepening in which current consumption is augmented rather than sacrificed.
There often turns out to be no unambiguous way of characterizing different processes as more
‚capital intensive’, more ‚mechanized’, more ‚roundabout’ ... If all this causes headaches for
those nostalgic for the old time parables of neoclassical writing, we must remind ourselves that
scholars are not born to live an easy existence. We must respect, and appraise, the facts of life
(Samuelson, zitiert in Bortis 1997, p. 286).
Walras selber hat allerdings die Tendenz zu einem allgemeinen Gleichgewicht als
selbstverständlich angenommen. Er postulierte sogar eine natürliche Tendenz zu einem
Gleichgewicht. Dies hat er mit seinem berühmten ‚Seebeispiel’ illustriert (der in Lausanne
lehrende Walras hatte natürlich den Genfersee vor Augen!): Der glatte See bei Windstille stellt
ein Gleichgewicht dar. Bei einem Sturm entstehen Wellen, die eine Abweichung vom
Gleichgewicht darstellen. Sobald der Sturm sich legt, flachen die Wellen ab, und es kommt eine
allmähliche Annäherung an das Gleichgewicht, den glatten See zustande.
- Im Zusammenhang mit der Existenz und der natürlichen Tendenz zu einem Gleichgewicht ist
das Walrassche Gesetz zu erwähnen: Wenn bei n Gütern n-1 Märkte im Gleichgewicht sind,
muss der nte Markt auch im Gleichgewicht sein.
Das Walrassche Gesetz, das eigentlich nichts anderes als eine komplexe Ausdrucksweise des
Gesetzes von J.B. Say: Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage.
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Das Walrassche Gesetz impliziert auch, dass die Vollbeschäftigung aller Ressourcen immer
gegeben ist. Allgemeine Überproduktion, und damit unfreiwillige Arbeitslosigkeit, sind
unmöglich.
5) Wissenschaft und Ethik
Walras betrachete sein allgemeines Gleichgwichtsmodell als reine ökonomische Theorie. Diese
betrachtet den Wirtschaftsmechanismus als völlig unabhängig von – politischen, rechtlichen,
sozialen, kulturellen – Institutionen und vor allem auch unabhängig von ethischen Elementen.
Es geht eigentlich nur darum, Angebot und Nachfrage nach Gütern zu erklären und die
Interaktionen zwischen Märkten zu beschreiben. Zu welchem - guten oder schlechten - Zweck
ein Gut nachgefragt oder angeboten wird, spielt keine Rolle. Damit ist die Ethik ausgeschaltet,
gewissermassen in die Rahmenbedingungen der Wirtschaft abgeschoben. Auch eine durch die
Faktormärkte hergestellte (funktionale) Einkommensverteilung kann ökomisch rational sein. Es
geht nur um den technischen Aspekt der Preisbestimmung durch das Gesetz von Angebot und
Nachfrage. Allgemein geht es bei Walras (und Pareto) um Effizienz, die mit dem ParetoOptimum verbunden ist. Auf die Frage der (Verteilungs-) Gerechtigkeit (equity) gehen Walras –
und seine Anhänger - nicht ein. Die equity drückt sich bei Walras in einer ethischen
angemessenen Verteilung der Anfangsausstattungen – vor allem von Produktionsmitteln – aus.
Walras hält also seine Theorie für rein und wertfrei. Er will die grundlegenden Prinzipien, die
das
Wirtschaftsgeschehen
regeln,
herausarbeiten:
Angebot
und
Nachfrage
und
die
Interdependenz der Märkte. Ethische Überlegungen spielen dabei keine Rolle. Das heisst nach
Walras nicht, dass Ethik unwichtig ist. Neben dem wirtschaftlichen, gibt es für die rational
handelnden Individuen den ethischen, politischen, kulturellen, ... Handlungsbereich.
Walras' Theorie ist rein individualistisch. Individuen werden in verschiedenen Bereichen tätig.
Diese Bereiche werden von bestimmten Mechanismen geregelt, z.B. die Wirtschaft vom
Marktmechanismus. Der Wirtschaftsmechanismus ist unabhängig von der Politik und von der
Ethik. Alle Bereiche stehen gleichwertig nebeneinander - eine strukturierende Werthierarchie
fehlt. (Eine solche Hierarchie der Werte würde nämlich den Menschen und die Gesellschaft zu
einem Ganzen machen; dabei könnte die Wirtschaft nur ein Mittel sein, um höhere politische
und kulturelle Zwecke zu realisieren.) Der Mensch als ganzer existiert nicht mehr. Er ist nichts
anderes als ein Akteur in verschiedenen Lebensbereichen.
Die Neoklassik betrachtet das Modell Walras als ihr Grundmodell. Dieses Modell stellt
tatsächlich ein einmalig geschlossenes System dar, das den Grundgedanken der unsichtbaren
Hand von Adam Smith spezifiziert: Das optimierende Verhalten von Produzenten und
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Konsumenten führt zu einem sozialen Optimum. Das heisst, die Rationalität der Individuen
stimmt mit der Rationalität des Marktsystems überein.
Vereinfachend gibt es zwei grosse Alternativen zu Walras (zur Neoklassik): einmal die
ökonomische Theorie des zentral geplanten Sozialismus und zweitens Keynes, der Post
Keynesianismus und das klassisch-keynesianische System der politischen Ökonomie.
c) Carl Menger
Wir haben bereits gesehen, dass bei Menger und der österreichischen Neoklassik im
Allgemeinen das Konzept des Grenznutzens eine entscheidende Rolle spielt. Er wendet dieses
Konzept nicht nur auf dem Gebiete der Nachfrage, sondern auch auf dem Gebiete des Angebots
und der Produktion an.
Zu diesem Zwecke teilt er die Gesamtheit aller Güter ein im Hinblick auf ihre Konsumnähe:
Güter 1. Ordnung sind die Konsumgüter.
Güter 2. Ordnung sind die Güter, die erforderlich sind, um die Konsumgüter zu produzieren.
Güter 3. Ordnung sind Güter, die gebraucht werden, um die Güter 2. Ordnung zu produzieren
usw.
Bei einer gegebenen Menge von Konsumgütern bestimmt der Grenznutzen den Preis (Wert)
dieser Güter.
Der Wert der Güter 2. Ordnung ergibt sich aus dem Beitrag, den diese Güter zur Produktion der
Güter 1. Ordnung leisten. Die Bestimmung des Wertes der Güter 2. und höherer Ordnung ist das
sogenannte Zurechnungsproblem, das wir auch kurz gestreift haben.
Somit wird der Wert der Güter höherer Ordnung durch den Beitrag bestimmt, den diese zur
Produktion der Güter 1. Ordnung leisten. Diese Beiträge der Güter höherer Ordnung stellen
deshalb eine Art Opportunitätskosten dar, ausgedrückt durch den entgangenen Nutzen für ein
anderes Gut, wenn ein Produktionsgut (höherer Ordnung) für die Produktion eines bestimmten
Gutes verwendet wird.
Damit wird die Verteilungstheorie ein Anhängsel der subjektiven Werttheorie. Das Problem der
unfreiwilligen (systembedingten) Arbeitslosigkeit ist in der österreichischen Neoklassik, wie in
der Neoklassik allgemein, ausgeklammert (freiwillige oder strukturelle Arbeitslosigkeit kann es
natürlich geben).
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III. Skizze des neoklassischen (Lehrbuch-)Systems
1. Marshall: Partielles Gleichgewicht
a) Der Kern seiner Theorie
Marshall betrachtete das System von Walras, die allgemeine Gleichgewichtstheorie,
als
inoperabel. Um die Wirtschaftswissenschaften realitätsnäher zu gestalten, entwickelte Marshall
die Theorie des partiellen Gleichgewichts, die Theorie von Angebot und Nachfrage für einen
bestimmten Markt.
Diese Theorie wurde von anderen Ökonomen, A.C. Pigou und P.A. Samuelson, weiterentwickelt
und dominiert heute die elementaren Einführungslehrbücher der Wirtschaftswissenschaften.
Das Angebots-Nachfrage - Diagramm wurde durch Marshall zu dem Analyse-Instrument
(theoretischen Werkzeug) der Neoklassik. In der Regel wird es verwendet, um die Preisbildung
und die Festlegung der produzierten und nachgefragten Mengen auf einem Markt zu studieren.
Man kann aber auch mehrere Märkte ins Auge fassen und so Interaktionen zwischen Märkten
studieren. Schliesslich können auch gesamtwirtschaftliche Vorgänge mit dem AngebotsNachfrage-Modell studiert werden (das IS-LM-Modell ist ein mögliches Beispiel).
Hinter der Angebotskurve auf einem bestimmten Gütermarkt stehen profitmaximierende
Produzenten; die Kurve selber repräsentiert die Grenzkosten, die aufgrund des Gesetzes vom
abnehmenden Grenzertrag mit zunehmendem Output ansteigen. Hinter der Nachfragekurve auf
einem Gütermarkt stehen nutzenmaximierende Konsumenten. Diese Kurve fällt im p-q Diagramm von links oben nach rechts unten und widerspiegelt so das Gesetz des abnehmenden
Grenznutzens bei zunehmendem Konsum.
Ähnlich für die Faktormärkte: Der Verlauf der Nachfragekurve auf einem bestimmten Markt
wird vom entsprechenden (physischen oder wertmässigen) Grenzprodukt bestimmt, der Verlauf
der Angebotskurven von nutzenmaximierenden Überlegungen der Besitzer von potentiellen
Faktorleistungen.
Mit seiner partiellen Gleichgewichtsanalyse wollte Marshall die Produktionskostentheorie des
Preises von Ricardo mit der von der (österreichischen) Neoklassik entwickelten Nutzentheorie
des Preises verbinden. Bei der Bestimmung eines Preises (Wertes) wirken also Kosten und
Nutzen, Angebot und Nachfrage mit. Marshall illustrierte dies mit einer berühmten Analogie:
'Beim Zerschneiden von Papier mit einer Schere sind beide Klingen beteiligt'. Angebot und
Nachfrage bestimmen also gemeinsam den Preis.
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b) Beurteilung
Marshalls Theorie von Angebot und Nachfrage hat sich für die Analyse der Preisbildung auf
einem Markt in der kurzen Frist als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Die Anpassung an das
Gleichgewicht erfolgt jedoch bei Marshall über Mengenanpassungen, gesteuert durch das
Verhältnis von Angebots –und Nachfragepreis.
Aber Marshall sagt selber, dass langfristig der Preis durch die Produktionskosten bestimmt sei
und dass die Nachfrage die Produktionsmengen festlege, die zum langfristig normalen Preis
abgesetzt werden könnten. Der normale Preis deckt die Produktionskosten und erbringt eine
normale, befriedigende Verzinsung des investierten Kapitals.
Die
Tatsache,
dass
Mengenanpassungen
bei
Marshall
zustande
das
kommt,
kurzwar
und
langfristige
entscheidend
für
Gleichgewicht
die
Entwicklung
über
der
Keynesianischen Beschäftigungstheorie, in der Mengenanpassungen eine zentrale Rolle spielen.
Ein Problem beim Partialmodell von Marshall:
- Das Partialmodell unterliegt der ceteris-paribus-Klausel: Die Vorgänge auf einem Markt
werden analysiert unter der Voraussetzung, dass alles andere gleich bleibt. Das heisst, dass
Zusammenhänge mit anderen Märkten - definitionsgemäss - nicht in Betracht gezogen wird. Das
Partialmodell eignet sich deshalb nicht für die Analyse von gesamtwirtschaftlichen Problemen;
hier kann nämlich der Einfluss anderer Märkte nicht ausgeschlossen werden.
Beispielsweise kann sich bei einer Lohnsenkung auf dem gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarkt
die Arbeitsnachfragekurve nach links verschieben, weil - wegen der Lohnsenkung - die
Güternachfrage zurückgeht. Weniger Arbeit wird nachgefragt und die Nachfragekurve nach
Arbeit verlagert sich deshalb nach links. Der vielleicht bedeutendste und einflussreichste
neoklassische Ökonom des 20. Jh., Paul Anthony Samuelson, hält in seinem berühmten
Lehrbuch ausdrücklich fest, dass im Falle von Lohnsenkungen zwischen Bewegungen auf und
Verschiebungen der Nachfragekurve auf dem Arbeitsmarkt nicht unterschieden werden kann.
Verschiebungen dieser Kurve sind zurückzuführen auf den Einfluss anderer Märkte, vor allem
der Konsumgütermärkte.
Um Interaktionen auf den verschiedenen Märkten in Betracht zu ziehen, hielt Walras den
umfassenden Ansatz der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie für unabdinglich. Walras war auf
Marshall übrigens, eben wegen dem partialanalytischen Ansatz des letzteren, nicht gut zu
sprechen.
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2. Grenzproduktivitätstheorie
a) Die Grenzproduktivitätstheorie der Einkommensverteilung wurde von John Bates Clark
(1847-1938)
entwickelt.
Diese
Theorie
sollte
die
unbefriedigende
österreichische
Zurechnungstheorie als neue und bessere neoklassische Verteilungstheorie ablösen.
John Bates Clark brachte zusammen mit Irving Fisher (1867-1947) die neoklassische Theorie
nach den Vereinigten Staaten. Er veröffentlichte 1899 ein Buch 'The Distribution of Wealth', in
dem er die Grenzproduktivitätstheorie darstellte. Dieser Theorie liegt eine sehr einfache Idee
zugrunde: Der Anteil eines Produktionsfaktors am Volkseinkommen Y soll proportional sein zu
seinem Beitrag zum Sozialprodukt Q. Für Arbeit ist das Konzept des Grenzprodukts klar:
∂Q/∂N; ebenso wirft das Grenzprodukt des Bodens (∂Q/∂B) keine prinzipiellen Probleme auf.
Das Grenzprodukt des Kapitals (∂Q/∂K = ∆P/∆K = r) dagegen wirft tiefgehende theoretische
Probleme auf, die mit dem Problem der Kapitalmessung in physischen Einheiten
zusammenhängen.
Der Wettbewerb stellt sicher, dass Löhne und Profite für gleichwertige Leistungen überall gleich
sind.
Gemäss der Grenzproduktivitätstheorie ist also die Verteilung ein Marktprozess, der über das
Marginalprinzip gesteuert wird. Die Verteilung wird zu einem Verhältnis zwischen Individuen
oder Gruppen von Individuen, z.B. Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das zugrunde liegende
Gerechtigkeitsprinzip ist das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit.
Dies steht in diametralem Gegensatz zur klassischen Verteilungstheorie wie sie von David
Ricardo entwickelt wurde. Bei Ricardo ist die Verteilung ein sozialer Prozess, der auf dem
Überschussprinzip beruht. Es geht um Verhältnisse von Individuen und sozialen Gruppen zum
gesellschaftlichen Ganzen; solche Verhältnisse sind in erster Linie die Anteile der
Produktionsfaktoren am Sozialprodukt oder Volkseinkommen: W/Y, P/Y und R/Y. Das
grundlegende Gerechtigkeitsprinzip ist das der verteilenden Gerechtigkeit. Marx wendet das
Überschussprinzip an, um die Einkommensverteilung in der kapitalistischen Realität durch den
Klassenkampf zu erklären.
Implikationen der Grenzproduktivitätstheorie:
1) Das klassische Überschussprinzip, das die Löhne grob dem notwendigen Konsum
gleichsetzte, gilt nicht mehr. Der Grenzproduktivitätslohn muss nicht dem natürlichen oder,
eventuell, dem Subsistenzlohn entsprechen.
2) Die Grenzproduktivitätstheorie scheint zwei wichtigen Prinzipien zu genügen.
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- dem Prinzip der Effizienz: die Produktion wird maximiert und unproduktive Ressourcen
werden eliminiert;
- dem Prinzip der Gerechtigkeit: jeder wird nach seiner Leistung entlohnt. (Allerdings wird hier
‚Gerechtigkeit’
nur
auf
die
funktionale
Verteilung
bezogen.
Das
grundlegendere
Gerechtigkeitsproblem der Verteilung der Ausgangsausstattungen, das bei Walras auftaucht, ist
hier ausgeklammert.)
Die Grenzproduktivitätstheorie wird so zu einem Naturgesetz der Verteilung, das auch von der
Neoklassik explizit oder implizit mit sozialer Harmonie in Zusammenhang gebracht wird.
Der Ausbeutungsgedanke wird damit bei der Grenzproduktivitätstheorie bedeutungslos. Hier
zeigt sich die ideologische Bedeutung der Grenzproduktivitätstheorie als theoretische
Alternative des Liberalismus zur Marxschen Ausbeutungstheorie, die einen Teil der
Kapitalismustheorie von Marx darstellt.
- Die Grenzproduktivitätstheorie führt automatisch zum Konzept der Faktormärkte.
Damit geht die Preisbildung für Produktionsfaktoren nach dem gleichen Prinzip vor sich, wie die
Preisbildung für andere Güter, vor allem Konsumgüter.
b) Das 'adding-up' – Problem wurde von Philip H. Wicksteed, 1844-1927) formuliert:
Welche Eigenschaften muss die neoklassische Produktionsfunktion Q = f(N, K) erfüllen, damit
die Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung zu einem nominalen Volkseinkommen Yn = wn N
+ rp K führt, das gleich dem nominalen Sozialprodukt pQ ist?
Das Gleichgewicht der Faktormärkte erfordert die Gleichheit von Faktorpreisen und
Wertgrenzprodukten:
wn = p (∂Q/∂N)
und r p = (∂Q/∂K) p .
Die Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung gilt dann, wenn
pQ = p (∂Q/∂N) N + (∂Q/∂K) p K
gegeben ist. (Eulersches Theorem und linear homogene Produktionsfunktion).
[In realen Grössen - oben dividiert durch p – ergibt sich: Y = wN + rK und Q = (∂Q/∂N) N +
(∂Q/∂K) K].
Die Gültigkeit der Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung setzt also eine linear-homogene
Produktionsfunktion voraus, die konstante Skalenerträge impliziert. Vor allem der englischungarische Ökonom Nicholas Kaldor hat dieses neoklassische Postulat scharf kritisiert, weil
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nach ihm zunehmende Skalenerträge die moderne Wirtschaft dominieren, eine Ansicht, die auch
Adam Smith bereits vertrat.
3. Neoklassische Geldtheorie
a) Die langfristige neoklassische Geldtheorie wird durch die Quantitätstheorie: PQ = MV
verkörpert (Irving Fisher, Milton Friedman; Monetarismus). Diese stellt eine Reformulierung der
berühmten Cambridge Geldgleichung dar, die von Alfred Marshall entwickelt wurde: M = hPY.
Gemäss dieser Gleichung halten die Wirtschaftssubjekte einen bestimmten Bruchteil h des
nominalen Sozialprodukts (oder Volkseinkommens) PY in Geldform, um die anfallendenden
Transaktionen – Käufe und Verkäufe – abwickeln zu können.
b) Der schwedische Ökonom Knut Wicksell (1851-1926) beschäftigte sich in seinem wichtigen
Buch ‚Geldzins und Güterpreise, 1898’ mit Geld und Finanz und wurde damit zu einem
Vorläufer von Keynes (Treatise on Money, 1930).
Wicksell unterscheidet zwei Zinssätze: den natürlichen Zinssatz r und den Bankzinssatz b:
- r ist die Grenzproduktivität des Kapitals (Ertragsrate des Realkapitals: ∂Q/∂K); r ist gleich dem
Gleichgewichtszinssatz i, der mit Konsumverzicht verbunden ist, bei dem S(i) = I(r) ist. r(=i) ist
der ‚natürliche’ Zinssatz.
- b ist der Zinssatz, zu dem das Bankensystem Kredite gewährt.
Wenn r (=i) > b ist, kommt eine Kreditexpansion zustande. Preise und zum Teil auch Mengen
steigen. Es entsteht ein kumulativer inflatorischer Prozess bei sich die Geldmenge an das
Preisniveau anpasst. Und umgekehrt bei r(=i) < b.
Schlussbemerkungen
Das neoklassische System, vor allem das Allgmeine Gleichgewichtsmodell von Léon Walras,
direkt verbunden mit dem Pareto-Optimum, ist offensichtlich normative Theorie. Es stellt also
das ‚liberale Ideal’ dar, und nicht die verformte kapitalistische Realität, die über weite Strecken
des Zeitraums 1870-90 keineswegs nur erfreulich war: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und
Auswanderung;
Aufkommen
des
Monopolkapitalismus;
schliesslich
die
bedrohliche
Kapitalismuskritik des ersten Bandes des Kapitals von Karl Marx.
Es ist deshalb verständlich, dass es nicht die Absicht der grossen Neoklassiker sein konnte, die
kapitalistische Realität zu beschreiben. Jevons, Menger, Walras und Marshall wollten ein
liberales Leitbild schaffen, die ideale liberale Wirtschaft darstellen, nämlich eine
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Wettbewerbswirtschaft mit vollkommener Konkurrenz. Zu diesem Leitbild sollte der liberale
Politiker aufblicken können, um seine Wirtschaftspolitik, im wesentlichen Wettbewerbspolitik,
gestalten zu können.
Die theoretische Leistung der Neoklassiker ist schlechthin grossartig. Walras hat die
Implikationen der unsichtbaren Hand von Adam Smith herausgearbeitet, Marshall hat eine
‚praktikable’ Neoklassik geschaffen, Carl Menger hat die Grundlagen für die österreichische
‚Ungleichgewichtstheorie’ geschaffen, die von Joseph Schumpeter mit seinem ‚Prozess der
schöpferischen Zerstörung’ zur Grundlage der modernen Evolutionstheorie gemacht hat. Die
Begründer der Neoklassik waren überzeugte humanistische Liberale im Sinne der 1848
Liberalen. Als solche hatten sie die ehrliche Absicht, die wirtschaftstheoretischen Grundlagen
für eine bessere Welt zu schaffen. Die Begründer der Neoklassik haben somit die liberale
Botschaft von Adam Smith aufgenommen und sie in modernisierter aber auch vereinfachter
Form verkündet. Adam Smith sah sich am Ende von Absolutismus und Merkantilismus an der
Schwelle eines neuen Zeitalters. Die Neoklassiker, vor allem der sozial sehr stark engagierte
Marshall, hofften auch das Heraufkommen eines besseren Zeitalters beschleunigen zu können (in
der Literatur wird Adam Smith als ein optimistischer Liberaler bezeichnet, ebenso in
abgeschwächter Form die 1870er Neoklassiker).
Die gigantische theoretische Leistung der Neoklassiker bringt es mit sich, dass man alternative
theoretische Ansätze, vor allem den Ansatz der politischen Ökonomie (François Quesnay, David
Ricardo, Karl Marx und Maynard Keynes) nur einigermassen verstehen kann, wenn man sich
mit dem neoklassischen Modell in seinen verschiedenen Varianten ein wenig vertraut gemacht
hat. Genau wie man sein eigenes Land besser versteht, wenn man andere Länder ein wenig
kennt, ist eine gewisse Kenntnis der Neoklassik erforderlich, wenn man die politischen
Ökonomen einigermassen richtig einschätzen will.
Die grosse Schwäche des neoklassischen Systems liegt in der Grundannahme der
Selbstregulierung von Wettbewerbswirtschaften. Diese Selbstregulierung beruht auf dem Tausch
und liegt allen neoklassischen Modellen zugrunde. Was aber, wenn wir monetäre
Produktionswirtschaften haben, in denen der soziale Produktionsprozess (François Quesnay und
ricardianische Klassik), Geld und der Finanzsektor (Keynes) die zentrale Rolle spielen? In dieser
klassisch-Keynesianischen Sicht der Dinge werden notwendigerweise die grossen politischen
Ökonomen – Quesnay, Ricardo, Marx und Keynes – wieder stärker in den Vordergrund rücken.
Dies vor allem, weil die modernen Wirtschaften, die sich nach der englischen industriellen
Revolution
herausgebildet
haben,
nicht
Tauschwirtschaften,
sondern
monetäre
Produktionswirtschaften sind.
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Prof. Heinrich Bortis,
Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Literatur:
Maurice Dobb: Theories of Value and Distribution since Adam Smith – Ideology and
Economic Theory. Cambridge - (Cambridge University Press) 1973
(deutsche Übersetzung existiert)
Claudio Napoleoni: Grundzüge der modernen ökonomischen Theorien. Frankfurt
(Suhrkamp) 1968; ital. Original 1963
Ernesto Screpanti and Stefano Zamagni: An Outline of the History of Economic
Thought. Oxford (Clarendon Press) 1993
Fritz Söllner: Geschichte des ökonomischen Denkens. Zweite Auflage, BerlinHeidelberg (Springer-Verlag) 2001; erste Auflage 1999
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