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Subjektkonstituierung als Ziel bei der
Bewältigung von Zwangsstörungen
Birgit Hofmann und Nicolas Hoffmann
Unter Mitarbeit von Oliver Becker und Uwe Petsch
Ausgehend von einer Schilderung der Lage zwangsgestörter Menschen wird
das Therapiemodell der „kumulativen Subjektkonstituierung“ vorgestellt.
Durch eine Reihe von nach Schwierigkeitsgrad gestaffelten Übungen hat
dieses Modell zum Ziel, die chaotische Erlebniswelt Zwangskranker neu zu
ordnen und sie wieder in die Lage zu versetzen, als an eigenen Bedürfnissen
orientierte und sinnvoll handelnde Subjekte in ihrem Leben zu agieren. Anhand von zwei Beispielen aus der Praxis werden charakteristische Schritte
dieser Vorgehensweise vorgestellt.
Die innere Lage zwangskranker Menschen
Trotz der Vielfalt der Symptome, an denen Zwangskranke leiden können, lässt sich
ihre innere Lage durch folgende Gemeinsamkeiten charakterisieren:
Zwangskranke leben in einer Welt, in der Gefahrensignale und Widerwärtiges
allgegenwärtig sind
Viel mehr als bei anderen Menschen enthalten bei Zwangskranken die meisten Lebenssituationen Momente, die je nach der Beschaffenheit des Zwangssystems Unheil
verheißen, Lebensgefahr signalisieren oder Ekel einflößen. Ob es sich dabei um mit
Vernichtung drohende Elektrogeräte handelt, um vermeintliche Giftstoffe oder
Krankheitserreger, die in endlosen gedachten Ketten alles verseuchen, um Geräusche
oder Schatten, die in den harmlosesten Situationen bedeuten können, dass eben ein
selbstverschuldetes schreckliches Verbrechen stattgefunden hat – immer sieht sich
der Kranke von Signalen und Spuren des Bösen umgeben (Kap. 4).
Zwangskranke befinden sich in einem permanenten Alarmzustand
In einer Welt, wie sie die Zwangskranken erleben, reagieren sie „zwangsläufig” mit
einer erhöhten Vigilanz, die selektiv auf die vom System diktierten Stimuli ausgerichtet ist. Der eine Patient sucht seine Umgebung ständig nach noch so minimalen Anzeichen der Farben rot oder braun ab – es könnte Blut sein und damit wäre die Gefahr
einer HIV-Infektion gegeben. Ellen Weiß (Hoffmann u. Weiß 1983, S. 36–37) berichtet über ihren Umgang mit der „Unglückszahl” 19 (bei Kassenbons, Geld- und Flugscheinen usw.), die, wenn sie nicht absolut gemieden wird, ein Unglück für die Mutter
heraufbeschwören könnte: „Zunächst von der 19 ausgehend, wurden dann auch
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Kombinationen von 1 und 9 sowie 9 und 1, also beispielsweise 194 und 91, aber auch
durch eine 0 ergänzt, wie 109 und 901, einbezogen. Ferner wurde auf Konstellationen
von Zahlen geachtet, die durch ein Komma getrennt waren, wie 1,90 oder 9,10 sowie
auf solche, die in der Addition einen Wert von 19 ergaben, wie 298 ...”. Die Folgen
davon waren u. a.: „Beim Erwerb von Sachen beachtete ich das Datum des Kauftages,
dann Preis und Auszeichnung der Ware und schließlich die Nummer des Kassenscheines sowie anschließend des Kassenstempels. Wenn eine dieser Zahlen nicht in Ordnung war, holte ich den Gegenstand entweder gar nicht von der Kasse ab oder ließ ihn
irgendwo liegen oder tat ihn Zuhause beiseite und benutzte ihn nicht.” Bei dieser
Sisyphosarbeit werden Momente der Ruhe, der Entspannung und der Gelassenheit
immer seltener und kürzer. Sie treten in der Regel nur dann auf, wenn durch passive
oder aktive Vermeidung (z. B. Kontrollieren oder Waschen) den Diktaten des Zwangs
Genüge getan wurde.
Zwangskranke überwachen sich ständig selbst
Überhöhte ständige Aufmerksamkeit besteht auch in Bezug auf Überwachung der
eigenen Person, der eigenen Gedanken und Taten. Bei Zwangssystemen bestehen die
Risiken immer darin, dass die Betroffenen selbst durch „Fehler“ die vermeintlichen
Gefahren heraufbeschwören. Bestimmte Gedanken dürfen nicht gedacht werden, da
sie geliebten Personen Tod und Vernichtung bringen könnten. Berührungen mit bestimmten (als verseucht geltenden) Gegenständen dürfen nicht erfolgen, da sonst die
Gefahr gegeben ist, dass eine (gedachte) widerwärtige Substanz endlos weiter verbreitet wird. Bei jeder Benutzung eines Messers besteht das Risiko, jemanden – ungewollt oder aus unbewussten kriminellen Motiven heraus – zu verletzen oder
umzubringen. Überall besteht die Möglichkeit, durch einen entscheidenden eigenen
Fehler Katastrophen auszulösen, für einen selbst, vor allem aber für andere. Nur um
den Preis einer ständigen akribischen Selbstüberwachung kann das Schlimmste
immer wieder einigermaßen verhindert werden.
Zwangskranke sind von permanenten Selbstzweifeln geplagt
„Habe ich das Gerät auch wirklich ausgeschaltet?“, „Könnte ich die verseuchte Theke
berührt haben oder nicht?“, „Habe ich eben einen überflüssigen Atemzug gemacht,
der von der Lebenszeit meiner Mutter ‚abgezählt‘ wird?“, „Ist mein Versuch der Wiedergutmachung durch ‚Luftanhalten‘ auch richtig erfolgt, sodass die Gefahr für sie gebannt ist?“, „Habe ich eben ein Geräusch gehört, das bedeuten könnte, dass ich ein
kleines Kind beim Einparken zerquetscht habe?“ usw.
Solche Fragen, bei denen es ständig um Leben und Tod geht, begleiten die Kranken die meiste Zeit. Sie werden umso häufiger und drängender, je stärker die innere
hierarchisch-geordnete Organisation und das reibungslose Zusammenspiel mentaler
Funktionen (Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis, Emotionen, Bedürfnisse, Volitionen) gestört sind (Kap. 7).
Zwangskranke sind nicht mehr „Herr im eigenen Haus“
In Bezug auf Lebenssituationen, die stark durch die Zwänge geprägt sind, machen so
gut wie alle Zwangskranken Aussagen wie die folgenden: „Ich fühle mich wie ein
willenloser Automat“, „Ich komme mir so unvollständig vor, wie im Nebel, so fremd“,
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„Ich bin gar nicht mehr bei mir, ja ich weiß nicht einmal mehr, wer ich wirklich bin“,
„Ich bin von Gefühlen überschwemmt, das ist so ein Wirrwarr von Panik, Angst,
Schuld, Wut und Ekel“ oder aber „Ich bin von meinen Gefühlen ganz abgespalten,
innerlich so leer und tot“, „Ich habe das Gefühl, mich aufzulösen. Einzelne Teile meines Körpers oder meines Ichs gehören nicht mehr zusammen“.
In dem Maße, wie ihre Krankheit fortschreitet, erleben sich Zwangskranke immer
mehr als Marionetten, die der Zwang wie Puppen herumzappeln lässt. Vor allem das
Gefühl, mitten im Leben steuerndes Subjekt der eigenen Gedanken und Handlungen
zu sein, schwindet im Halbnebel von Unsicherheit, Gefühlsverklumpungen und innerer Auflösung (Kap. 7).
Zwangskranke „lösen” ihre Probleme vorwiegend
nur noch auf einer symbolischen Ebene
Zwangskranke sind wie auf der Flucht vor den großen Problemen des Lebens wie Tod,
Krankheit, Einsamkeit, Sicherheit und Gemeinschaftssinn. Die Auseinandersetzung
mit diesen Themen findet immer weniger in der Wirklichkeit, auf der „Hauptbühne
des Lebens“ statt. Stattdessen wird eine Nebenbühne errichtet, eine Art Kasperletheater. Dort werden die großen Themen karikaturenhaft immer wieder aufgezogen und
„abgefertigt“. Dabei wird das Problem Ordnung und Sicherheit dadurch „bearbeitet“,
dass beispielsweise endlos Tassen hin und her gerückt werden, „Todesmaterie“ wird
von den Schuhsohlen abgewischt und der Verantwortung anderen Menschen gegenüber wird dadurch Genüge getan, dass unter den eigenen Autorädern ständig nach
Leichen gesucht wird. Nie tritt das Gefühl auf, dass etwas zu einem guten Ende gebracht worden ist. Auf der Hauptbühne dagegen geschieht kaum noch etwas. Wir
sprechen vom Zweibühnenmodell der Zwangsstörung (Hoffmann u. Hofmann 2004a).
Kumulative Subjektkonstituierung als Therapieziel
Allgemein ausgedrückt hat Psychotherapie bei Zwangskranken zum Ziel, ihre chaotische Erlebniswelt neu zu ordnen und ihnen, auf der Hauptbühne des Lebens, die Rolle
als handelnde Subjekte wiederzugeben. Wir alle müssen, um existieren zu können,
dazu in der Lage sein, die Wirklichkeit zu erfassen und willentlich auf sie einzuwirken. Die Aktionen dafür sind umso angemessener, je vollständiger sie nicht nur den
äußeren Gegebenheiten, sondern auch den inneren Rechnung tragen. Das bedeutet,
dass sie auch im Einklang mit unserer Persönlichkeit stehen müssen, und zwar in dem
Sinne, dass unsere persönlichen Ziele, Wertvorstellungen und Präferenzen mit berücksichtigt werden. Nur dann empfinden wir das innere Gefühl der Einheit der eigenen Person und der subjektiven Freiheit bei unserem Tun. Fehlen beide, so fühlen wir
uns zu etwas gezwungen. Effizientes und zu uns gehörendes Verhalten muss schließlich abgeschlossen werden. Das bedeutet, es soll schnell, präzise, energisch und bis zu
einem sichtbaren Ergebnis durchgeführt werden.
Den Prozess des Wiederaufbaus solch einer angemessenen „Realitätsfunktion” bei
Zwangskranken nennen wir „kumulative Subjektkonstituierung” (Hoffmann u. Hofmann 2004b). Er besteht in einer charakteristischen Reihe von Lernschritten, die nach
Schwierigkeitsgrad gestaffelt sind. Zu jeder Stufe gehören spezielle Interventionen
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und Übungen. Die ersten Schritte sind vorbereitender Natur. In der letzten Phase
werden mittels Expositionen konkrete Lebenssituationen bearbeitet, die den Patienten
unter dem Aspekt des Auftretens von Zwangssymptomen am „gefährlichsten” erscheinen. In dem Maße, wie es gelingt, die Zwangssymptomatik abzubauen, erhält der
Patient wieder Kontakt zu seinen natürlichen Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen.
Im Folgenden wollen wir die Einzelschritte kurz darstellen und einige davon anhand von Beispielen aus der Praxis illustrieren.
Entlastung und Stärkung des Selbst
Folgende Interventionen kommen zur Anwendung:
➤ Entlastung durch Einsicht in die allgemeine Struktur des Zwangs (Bedrohungsseite und Abwehrseite bei Zwangssystemen, Zwang als Fremdsystem, das die Bedürfnisse des gesundes Selbst zunehmend unterdrückt, Zweibühnenmodell usw.;
Kap. 1 und 7). Soweit wie möglich soll dieser psychoedukative Teil anhand von
Mikroanalysen konkreter Beispiele aus dem aktuellen Leben der Patienten erfolgen. In diesem Zusammenhang kommt auch vorwiegend diagnostisch ausgerichteten, am Anfang in Gegenwart des Therapeuten durchgeführten In-vivo-Expositionen eine große Bedeutung zu. Später sollen die Patienten diese Beobachtung
des Zwangs „am Werk“ selbständig in dafür ausgesuchten Situationen weiterführen (Hoffmann u. Hofmann 2004a).
➤ Entlastung durch Verstehen der lebensgeschichtlichen Entwicklung der Zwangsstörung. Zusammen mit dem Patienten wird anhand des biografischen Materials
ein Modell entwickelt, das ihm ermöglicht zu verstehen, inwieweit die Sozialisation in seiner Herkunftsfamilie einen Rahmen für den Ausbruch und die Aufrechterhaltung seiner Erkrankung bildet. Der Zwang wird als Ersatz für die durch
kritische Lebensereignisse erfolgte Schwächung der eigentlich steuernden IchFunktionen dargestellt (im Rahmen einer „psychasthenischen Krise“ im Sinne
Janets). Dabei hat sich das „Fremdsteuerungssystem“ des Zwanges verselbständigt
und hat zu viel Macht gewonnen. Daraus folgt, dass es bei der folgenden Therapie
nicht nur um die allmähliche Beseitigung der Regeln des Zwangs geht, sondern in
allererster Linie um eine Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung, um die
zunehmende Möglichkeit, die Wirklichkeit klar zu erkennen und darin eigene
Bedürfnisse zu verfolgen. Kurzum, es geht um Abgrenzung und um die Gewinnung eines neuen Selbstbewusstseins.
➤ Entlastung durch Korrektur von eventuellen Fehlinterpretationen des Zwangs wie
Zwang als „verdeckte Psychose“, als organischer Defekt usw.
Erhöhung der Dissonanz zwischen dem Fremdsteuerungssystem
des Zwangs und dem eigenen Selbst
Dabei soll die Motivation des Patienten, den Zwang zu überwinden, gestärkt werden
z. B. mittels „Nutzen-Kosten-Analyse“, d. h. durch die Gegenüberstellung „Was bietet
der Zwang, was nimmt er“, durch Vorstellungsübungen „Wie sieht ein Leben ohne
Zwang aus“, durch Beobachtung zwangsfreier Menschen in konkreten Lebenssituationen usw.
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Als Hauptmaßnahme in diesem Zusammenhang haben wir die Technik des „Dialogs mit dem Zwang” beschrieben (Kap. 7, Hoffmann u. Hofmann 2004a). Ein Beispiel
aus der Praxis soll diese Vorgehensweise illustrieren:
Externalisierung der Zwangssymptomatik
Die 33-jährige Patientin leidet unter multiplen Zwängen und Angstzuständen. Sie
berichtet, dass ihr Alltag von ritualisierten Zwangshandlungen bestimmt sei.
Führe sie bestimmte Verrichtungen (z. B. Baden/Duschen, Verlassen der Wohnung,
Auto und Garage abschließen usw.) nicht in einer bestimmten Reihenfolge und auf
eine vorgeschriebene „Art“ durch, beginne eine starke innere Unruhe. Körperlich
komme es in der Folge vor allem zu Atemnot. Die Symptomatik könne sich bis hin
zu Panikattacken steigern.
Der Therapeut berichtet (Petsch 2004, S. 7–8): „Als die Behandlung so weit
fortgeschritten war, dass die Patienten ein relativ klares Bild von ihrer Symptomatik (Bedrohungs- und Abwehrseite) hatte und diese auch von ihrem „normalen“ Erleben und Verhalten abgrenzen bzw. „dissoziieren“ (Kap. 7) konnte,
versuchten wir, ein griffiges Bild für die „Störung“ zu entwerfen. Dazu schlug ich
der Patientin vor, sich vorzustellen, alle Aspekte der „Störung“ (wie sie sie wahrnimmt) säßen auf einem anderen Stuhl und sie träte mit dieser Figur in Kontakt.
Es entwickelte sich ein intensiver hochemotionaler Dialog, in dem die Ambivalenz
der Patientin deutlich zum Ausdruck kam. Die von der Patientin als „Chefin“ bezeichnete Figur zeigte in ihrem Verhalten einerseits deutliche Ähnlichkeit mit
dem Vater (der unwidersprochen als „Chef“ der Familie gilt), stellte die Fertigkeiten der Patientin in Frage, nahm sie nicht ernst und fürchtete, dass sie sich aufführe „wie eine verrückte Nuss“. Andererseits bot die „Chefin“ – indem sie Zweifel
auslöste – auch Schutz vor befürchteten Konsequenzen vermeintlich unachtsamen Verhaltens (Atemnot) und zeigte viel Selbstbewusstsein gegenüber der Patientin. Die auf Seiten der Patientin ansonsten gehemmten Gefühle von Wut und
Enttäuschung kamen jetzt deutlich gegenüber der „Chefin“ zum Ausdruck. So
konnten Gefühle aktiviert und thematisiert werden, die bei der Auslösung und
Aufrechterhaltung der Symptomatik eine bedeutende Rolle spielen. Daneben benannte die Patientin konkrete Bereiche (und Ziele), in denen sie sich von der „Chefin“ eingeschränkt fühlte. Sie wolle wieder Zeit haben, Klarheit in die Beziehung
mit ihrem Freund bringen, ihre Wohnung für ihre eigenen Zwecke nutzen, arbeiten gehen und nicht mehr von den Eltern abhängig sein.
Dies stellte im Therapieverlauf eine wesentliche Erfahrung für die Patientin
(und auch für mich) dar, da sie sich nach einer solchen Sitzung deutlich „klarer“
im Kopf fühlte. Zunächst nutzen wir diese Gefühle zur weiteren emotionalen Distanzierung von den Zwangsgedanken. So schrieb die Patientin in einer folgenden
Sitzung alle damit zusammenhängenden Einschränkungen, Zweifel und Sorgen
auf ein Blatt und ich schlug vor, sie solle genau wahrnehmen, was sie dabei fühlt,
und überlegen, wie sie dies spontan ausdrücken wolle. Daraufhin zerknüllte die
Patientin das Blatt, trat darauf, stampfte mit den Füßen auf den Boden und kickte
das Papierknäuel laut fluchend durch den Praxisraum. Danach fühlte sie sich sehr
erleichtert. In der Nachbesprechung meinte die Patientin, dass sie diese Wut ihr
Leben lang kenne, diese aber immer versteckt halte. Das symbolische Ausdrücken
dieser Gefühle schien der Patientin auch körperlich gut zu tun. Sie fühlte sich
„entspannter“.
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Die Arbeit der Distanzierung von der Zwangssymptomatik wird in Expositionen in vivo wie der folgenden fortgesetzt: „Beispielsweise besuchten wir einen
Supermarkt (die Patientin hatte Lust auf Äpfel und wollte welche kaufen). Dort
konnten bestimmte zwanghafte Impulse identifiziert werden und die Patientin
experimentierte mit unterschiedlichen Verhaltensalternativen, die wir vorab entwickelt und kognitiv probiert hatten. Als besonders effektiv setzte sich auch hier
eine klare Haltung gegenüber der „Chefin“ durch. Die Patientin machte dies sehr
spielerisch und fand Spaß daran, sich aufzulehnen und gerade das zu machen, was
sie eigentlich nicht sollte. Auch gelang es, die durch die eingeengte Aufmerksamkeitsfokussierung etwas „ausgedünnte“ Erfahrungswelt wieder anzureichern.
Nachdem sie ihr Ziel ins Auge gefasst hatte, konnte sie ihre Aufmerksamkeit weiteren Stimuli ihrer Umgebung zuwenden, die sie neben den „zwangsassoziierten”
Reizen sonst völlig vernachlässigt hatte. So nahm sie wieder Bäume und Blüten
wahr, Erinnerungen, die mit bestimmten Straßen und Parks verbunden waren
(„mit dem Bruder dort Fahrrad- oder Rollschuh gelaufen“, „Schulweg“ etc.). Die
„Chefin“ ging zwar noch mit, wurde aber explizit in ihre Schranken verwiesen und
spielte langsam eine weniger wichtige Rolle im Erleben und Verhalten der Patientin. Sie fuhr auch wieder Fahrrad (was sie aufgrund ihrer Atemsorgen vermieden
hatte) und konnte Aufzug und U-Bahn fahren (anfangs nur in meiner Begleitung),
immer wieder unter zunehmender Zurückweisung der zwanghaften Gedanken
und Impulse.
Training elementarer Funktionen
Bei vielen Zwangskranken besteht eine Reihe von Defiziten, die sich in „Unvollständigkeitsgefühlen“ (Hoffmann 1998), in mangelhaftem „Ich-Gefühl“, in Störungen des
Handlungsgedächtnisses (Ecker 2001) und in einem mangelhaften Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben ausdrücken. Die gezielten Übungen zur Stärkung des IchErlebens und zur Festigung psychischer Abläufe haben wir an anderer Stelle beschrieben (Hoffmann u. Hofmann 2004a,b). Bei schwer gestörten Patienten, bei denen
sich Zwangsvorgänge „wie im Nebel“ abspielen, die von ihren Gefühlen abgespalten
sind oder bei denen körperliche Vorgänge kaum noch wahrgenommen werden, bilden sie einen unerlässlichen Zwischenschritt.
Verbesserung der inneren Selbstregulation, Aufbau einer
selbstbestimmenden volitionalen Verhaltenssteuerung
Zu diesem Punkt können drei Unterziele unterschieden werden:
➤ Selbstorganisation lernen: Die Sequenz „Ziel setzen → Orientieren → Planen →
Vornahmen bilden → Handeln“ wird anhand von konkreten Lebenssituationen
eingeübt (Hoffmann u. Hofmann 2002).
➤ Selbstvertrauen lernen: Hier geht es um die Sequenz „kognitives Probehandeln“
→ sich entschließen zu handeln („ich will wirklich“), dabei Risiken eingehen →
Umsetzen der Handlung wird eingeübt.
➤ Selbstverstärkung lernen: Zwangskranke tendieren dazu, bei Misserfolgen, Versagenserlebnissen und Rückschlägen „sich selbst fertig“ zu machen und schnell
den Mut zu verlieren. Stattdessen müssen sie lernen, sich trostreich zur Seite zu
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stehen (zusammen mit der Therapeutin) und sich Halt zu geben. Dazu dient das
Erlernen von Selbstinstruktionen wie „Ich mache mir keinen Druck“, „Es ist nicht
so schlimm, ich bleibe weiter dran und probiere einfach weiter“, Ich muss mich
schützen“ usw. In diesem Zusammenhang ist es besonders unproduktiv, wenn
„Vermeidung“ durch Therapeuten immer wieder verteufelt und nur als schädliches Versagen dargestellt wird. In unserem Ansatz haben Patienten explizit das
Recht, bei bestimmten Situationen „zu vermeiden“, wenn sie sich bewusst und
klar dazu entschließen. Die Gründe dafür werden dann gemeinsam analysiert und
es werden Lösungen gesucht.
Die Übungen zu diesem Hauptschritt der „Subjektkonstituierung” bestehen vor allem
in In-vivo-Expositionen. Wir geben zwei Beispiele dafür, die wir wieder einer Falldokumentation entnehmen (Becker 2003).
Es geht dabei um einen 31-jährigen verheirateten Patienten, der angibt, unter
diversen Zwangssymptomen zu leiden, aber auch Schwierigkeiten im sozialen
Bereich zu haben. Zurzeit belaste ihn besonders, dass er sich unsicher sei, seine
Finger mit großen Messern abschneiden zu können. Ende 2001 sei allerdings der
Gedanke, sich den Penis beim Duschen abreißen zu können, zusammen mit den
oben genannten Gedanken so drängend geworden, dass er in dieser Zeit zwei
Monate in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht habe. Er habe sich nicht
mehr getraut, alleine zuhause zu bleiben. Alles sei „schwarz und dunkel“ gewesen.
Andere Gefühle als Trauer und Angst habe es nicht mehr gegeben. Nach diesem
Aufenthalt sei es etwas besser geworden, die Gedanken seien aber immer noch
sehr belastend. Zurzeit habe sich der „Penisgedanke“ zurückgebildet, dafür seien
die anderen stärker. Er befürchte zudem, sich durch Druck Zähne auszubrechen.
Außerdem reiße er sich seit der Zeit im Krankenhaus ständig kleine Barthaare aus,
was immer zu Schwierigkeiten mit seiner Frau führe. Andere Zwangssymptome
habe er schon längere Zeit: häufiges Händewaschen bei Ekel nach Toilettenbenutzung, nach Berühren von Eiern oder Schweinefleisch, aber auch häufiges Kontrollieren der Handbremse und der Autotüren.
Im sozialen Bereich könne er sich nicht in dem Maß durchsetzen, wie er es
wolle, er sei immer zu freundlich. Eigene Fehler, vor allem im Beruf, überdenke er
zu lange. Entscheidungen zu treffen, falle ihm schwer (Becker 2003, S. 13).
In der Therapie kam es unter anderem zu folgenden Interventionen:
Exposition zur Subjektkonstituierung: Arbeitsprojekt „Badezimmer“
In Anlehnung an die Terminologie, die der Patient im Beruf benutzte, wurde folgende Übung als „Projekt Badezimmer“ benannt: Das Problem war, dass der Patient jeden Morgen längere Zeit im Badezimmer verbrachte (45 Minuten), sich
dort „nicht bei sich“, sondern wie im Nebel fühlte und Beginn, Durchführung und
Beendigung der Morgentoilette erschwert waren. Deshalb vereinbarten wir folgende Reihenfolge für das morgendliche Waschen:
1. Badezimmer klar wahrnehmen: Wie sieht es hier aus? Wie riecht es hier? Wie
fühlt sich der Wasserhahn an?
2. Im Sinne einer volitionalen Handlungssteuerung bestimmt denken: „Jetzt will
ich mich waschen“.
3. Zügiges Ausführen der Handlung.
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Dieses Vorgehen hatte Erfolg, allerdings erst dann, nachdem der Patient einen
großen Zettel an die Badezimmerwand geheftet hatte, auf dem „Pass auf, Paul“
stand, um sich jeden Morgen daran zu erinnern. Dieses Erinnern und das NichtAbgleiten in den Nebel gelangen immer besser.
In einem weiteren Schritt wurden dann die im Bad folgenden Handlungen
wie Rasieren und Kämmen im Sinne eines Chainings integriert. Der Endpunkt der
einen Aktion wurde als Startpunkt für die nächste eingeführt.
Schwierigkeiten stellten sich ein, als der Zwangsgedanke, der das Penisausreißen betraf, sich beim Duschen, das der Patient nun wieder morgens ausführte,
einstellte. Dieser Gedanke war vorher deutlich in den Hintergrund getreten, obwohl der Patient regelmäßig duschte. Allerdings erreichte der Gedanke nun nicht
mehr die bedrohliche Qualität, die er vor dem Klinikaufenthalt eingenommen
hatte, eher erinnerte sich der Patient vor dem Duschen daran und wenn er einmal
unter der Dusche war, stellte sich auch hier der „Nebel“ ein.
Daraus folgte die Erweiterung des oben beschriebenen Vorgehens, das auf
Hoffmann und Hofmann (2002) zurückgeht, jedoch aus den Situationen heraus
vom Patienten „entwickelt“ und in allen folgenden Expositionen beibehalten
wurde:
1. Situation klären: „Was will ich, wie sieht es hier aus?“
In diesem ersten Schritt waren vor allem die innere Aktivierung und ein klarer Bezug zur Realität wichtig.
2. „Kopf einschalten!“
Der Patient benutzte diese Formulierung, um dem auftretenden Zwangsgedanken zu begegnen und zu betonen, dass nun ein anderes, klares und rationaleres Verhalten gefordert war als er es sonst automatisch und maschinell
zeigte.
Zum „Kopf einschalten” gehörten folgende Schritte:
Identifizieren des Gedankens als Zwangsgedanke
Um zu erkennen, was ein Zwangsgedanke ist, wurden an dieser Stelle Kriterien dazu erstellt und mit dem Patienten eingeübt: Geht es darum, dass jemand
oder der Patient selbst Schaden nimmt? Sind die Gedanken besonders eindringlich, brutal, drastisch, bedeutsam, entscheidend in der Konsequenz?
Kennt der Patient die Gedanken schon? Fühlt er sich ängstlich? Will er die
Konsequenz oder das Denken vermeiden? Ebenso sollte ein Vergleich mit anderen Menschen, die sich in der gleichen Situation befinden, Klarheit bringen.
„Wie würden das andere Menschen machen: Duschen oder nicht?“ Gerade
diese Frage schien wichtig zu sein, eine Einordnung als Zwangsgedanke wurde
dadurch erleichtert.
Den Gedanken in seiner Bedeutung einordnen
Der Patient sollte sich nun klar sagen: Das ist ein Zwangsgedanke! „Wenn ich
so etwas denke, heißt das, dass ich noch krank bin oder sonst nichts.“
Aussteigen aus dem Gedanken
Hiermit ist eine Distanzierung vom Zwangsgedanken gemeint, nicht aber ein
Stoppen oder Aufhalten. Es fiel dem Patienten leichter, wenn er sich sagte:
„Der Zwangsgedanke ist da. In Ordnung, aber ich kann ja trotzdem duschen“
und nicht versuchte, den Gedanken zu verdrängen (zum Umgang mit Zwangsgedanken s. auch: Hoffmann u. Hofmann 2004b).
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B. Hofmann, N. Hoffmann
3. Entscheidung und Entschluss zum Handeln
An diesem Punkt wurde immer wieder die klare Entscheidung an sich, nicht
die Richtung der Entscheidung betont. Es war auch möglich und kam vor, dass
der Patient sich gegen das Duschen entschied. Dies wurde dann allerdings in
der nachfolgenden Therapiestunde besprochen und die Auslöser dafür wurden identifiziert. Ein Entschluss zum Duschen würde sich so anhören: „Los
jetzt! Ich will jetzt duschen. Das Stinken hat ein Ende!“
4. Handlung in sensu vorwegnehmen
Danach wurde etwas benutzt, was der Patient zwar als Defizit an sich erkannt
hatte, was aber als Ressource uminterpretiert wurde: Filme, die der Patient
einmal gesehen hatte, konnte er sich anschließend so real vorstellen, als sei
er dabei gewesen. Schon als Kind hatte er sich Situationen ausgemalt und erlebte sie in seiner Fantasie sehr lebendig mit allen Einzelheiten. Zu Beginn der
Behandlung waren Zwangsgedanken nicht nur verbal, sondern auch in bildlicher Form vorhanden (Messer im Kopf des Gegenübers). Deshalb wurde er
dazu angehalten, auch das Duschen gedanklich wie ein „Handlungsvideo”
als einen „Fühlfilm” vorwegzunehmen, sich die einzelnen Schritte vorzustellen und gedanklich sich die Handlung vorzustellen, wobei dieses „Film-Abfahren“ nie länger als 10 Sekunden dauerte. Für das Duschen bedeutete dies
konkret: „Rein in die Dusche, Tür zu, Wasser abdrehen, raus aus der Dusche”,
wobei der Patient sich dies verbal und bildlich, aber vor allem körperlich
vorstellt.
Dieses „körperliche Vorstellen“ war wichtig, weil es die von Hoffmann und Hofmann (2002) und auch von Ecker (2001) vorgeschlagenen Gedanken zu Interventionen zum Umgang mit Unvollständigkeitsgefühlen bzw. Handlungsgedächtnisdefiziten aufgriff. Ecker führte hierzu aus, dass bei Menschen mit Zwängen oft
visuelle Hinweisreize eine wesentlich größere Bedeutung erhalten als motorischkinästhetische Rückmeldungen, woraus Schwierigkeiten bei der Durchführung
von Handlungen entstehen. Hierbei betont Ecker besonders, dass die Informationsverarbeitung, die durch das Körpergefühl beim Ausführen der Handlung „normalerweise“ entsteht, gestört ist. Die körperliche Information fehlt dann „in der
Gedächtnisspur, die die Handlung hinterlässt, die Gedächtnisspur ist unvollständig“. Daraus resultiert Unsicherheit, ob eine Handlung ausgeführt wurde oder
nicht. Diese Unsicherheit und das fehlende Gefühl für die Kontrolle des Körpers
und der Extremitäten stand beim Patienten in vielen Bereichen im Vordergrund
und führte zu den in seiner Selbstbeobachtung festgestellten Unvollständigkeitsgefühlen: Könnten die Hände etwas tun, was er gar nicht will, z. B. Penis ausreißen, mit Messern etwas abschneiden, eine Frau im Bus würgen, das Auto nicht
verschlossen haben, Auge mit Gabel auspieksen etc.? Die lebhafte Vorstellung der
Filmsequenzen bezog sich gerade nicht auf eigene Handlungen, bei denen ja die
Defizite auszumachen waren, sondern auf das Dabeisein und Beobachten vorgegebener Inhalte.
Ebenso wichtig erschien es, dass der Patient durch die eigene Idee – „Fühlfilm”
als Ressource – selbst steuerte und sowohl in der Therapie als auch in der Handlung selbst vom „Objekt” zum „Subjekt” wurde.
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5. Zügiges Durchführen der Handlung
Genau wie beim Vorstellen sollte dies nun schwungvoll und bewusst (Wie
fühlt sich der Körper dabei an?) durchgeführt werden. Störungen durch
Zwangsgedanken sollten nicht als Signal zur Beendigung und persönliche Niederlage, sondern als Ausdruck dafür, dass „der Zwang sich wehrt” interpretiert
werden.
6. Beendigung der Handlung
Der Patient sollte die Dusche verlassen, noch einmal kurz den Handlungsablauf rekapitulieren und die Handlung bewusst beenden (Becker 2003, S. 29
bis 32).
Exposition zur Subjektkonstituierung: Staubsauger und Messer
Im Anschluss wurden die beiden Themenbereiche angegangen, die der Patient als
die belastendsten empfand. Auch hier erfolgte der Beginn wieder auf Initiative des
Patienten und wurde wie oben beschrieben durch ein Erfolgs- und Therapieresümee eingeleitet.
Beim Staubsaugen wurde der ursprüngliche Plan des Patienten insofern verändert, als er den Staubsauger nicht mit in mein Zimmer brachte, sondern es sich
zutraute, allein in seiner Wohnung zu saugen. Das Saugen mit Vorbereitung und
klarer Durchführung verlief problemlos, viel leichter, als der Patient sich das
vorgestellt hatte. Der Gedanke „Könnte ich mir nicht versehentlich ein Auge
aussaugen“ stellte sich zwar ein, wurde aber als Zwangsgedanke identifiziert und
dadurch abgeschwächt. Wichtig waren auch hier das Treffen der Entscheidung
und der vorhergehende „Fühlfilm”. Zu Beginn war es auch erlaubt, das Saugen
dadurch „leichter“ zu gestalten, dass körniger Sand und Blätter auf dem Boden
verstreut wurden, um dem Patienten durch das deutliche Einsauggeräusch einen
für ihn klaren Hinweis zu geben. Dies wurde dann sukzessive abgebaut. Stolz auf
die eigenen Leistungen wurde betont. Dies gelang, da sich auch die Ehefrau des
Patienten sehr darüber freute, denn in den vergangenen beiden Jahren war sie
allein für das Saugen zuständig und wurde nun durch das regelmäßige Saugen des
Patienten entlastet. Der Patient begann dann, mit der Saugkraft des Staubsaugers
zu experimentieren und hielt seine Hände vor die Düse. Wichtiger war aber die
klare Wahrnehmung des Staubsaugers als Werkzeug und nicht als gefährliche
Waffe. Deshalb war auch hier eine zentrale Intention, dass der Patient in seiner
eigenen Umgebung genau dann saugte, wenn es nötig war. Die Natürlichkeit des
Vorgangs wurde betont.
Die Betonung des Messers als Werkzeug und der „normale“ Gebrauch waren
auch in diesem Themenbereich Schwerpunkte. Alle Messer des Haushalts waren
zu Beginn der Störung vom Patienten entfernt bzw. von seiner Ehefrau auf Bitte
des Patienten zuerst im Kofferraum des Autos, später in der Abstellkammer versteckt worden. Im Verlauf der Therapie begann der Patient wieder mit kleinen
Messern zu kochen, die großen Messer, Tranchiergabeln, Steakmesser, eine Geflügelschere etc. blieben versteckt. Über die Zeit der Expositionen in anderen Bereichen wurden die kleinen Messer wieder Werkzeuge und nicht potenzielle Waffen.
Viele kleine Expositionen wurden durchgeführt. Einmal schnitt er sich mit einem
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B. Hofmann, N. Hoffmann
kleinen Messer und war überrascht über die Schmerzen. Er selbst fand es daraufhin unwahrscheinlich, dass er sich solche Schmerzen zufügen könnte, ohne es zu
bemerken oder zu wollen.
In anderen Situationen erlebte er beim Schneiden starke Traurigkeits- und
Hilflosigkeitsgefühle. Wir versuchten, sie einzuordnen, um zu erkennen, wann er
sich ähnlich gefühlt haben könnte. Es wurde deutlich, dass ein Zulassen und nicht
das Verdrängen dieses Trauergefühls für ein größeres Gefühl der Kontrolle sorgte. So stand der Patient in einer Ausstellung vor einem Bild von Picasso, das eine
Frau darstellt, deren Gesicht und Körper sich in seine Einzelteile aufzulösen, zu
zergliedern, scheinen. Auch hier erlebte er die starke Traurigkeit und weinte so
lange vor dem Bild, bis sich die Traurigkeit legte. Diese Erfahrung beschrieb er
zwar als anstrengend, aber auch ungeheuer erleichternd. „Vermeiden“ war zu etwas geworden, was er nicht mehr akzeptieren wollte.
Zunehmend stellte sich bei ihm das Bedürfnisein, auch mit größeren Messern
zu kochen, da viele Handgriffe und Vorbereitungen beim Kochen mit kleinen
Messern zu unpraktisch war. Der Umgang mit großen Messern als letzte Exposition erhielt vom Patienten das etwas martialisch anmutende Motto: „Messer
raus!” Die Messer sollten nach „Verabschiedung des Projekts“ in der Therapiestunde nach und nach ihrem ursprünglichen Verwendungszweck zugeführt werden. Wichtig war auch hierbei die Betonung, dass jeweils nur das Messer aus dem
Versteck, der Kammer, geholt werden sollte, das gerade benötigt wurde.
Dies schilderte der Patient wie folgt: „Nach der Therapiestunde am Donnerstag kaufe ich für mich und meine Frau ein frisches Brot. Lange genug von Scheibenbrot gelebt. Ich weiß, es wird mir schmecken, aber ich tue es auch, weil wir es
so besprochen haben. Das Brot kommt in den Brotkorb. Ich suche das Brotmesser
in der Kammer. Klar, da liegt es, eigentlich wusste ich, wo es ist. Am Samstagmorgen nehme ich das Brot und lege es auf das Brett. Es fühlt sich weicher an als
am Donnerstag. Ich hole das Messer, nehme es kräftig in die Hand. Es ist nicht so
glatt am Griff wie ich dachte. Ich mache mich wach, warte auf den Zwang. Der
kommt nicht. Ich atme kräftig durch, versuche die Küche klar zu sehen. Was
mache ich? Ich will das Brot schneiden! Wie wird das? Zuerst kommt der Fühlfilm. Dann fasse ich das Messer an, ich lege die andere Hand auf das Brot. Ich
setze das Messer auf und ziehe es hin und her. Ich schneide vier Scheiben. Das
Messer wasche ich ab und lege es in die Schublade, wo es hingehört.“ Innerhalb
weniger Wochen wurden auf diese Weise Messer zu einem Braten, ein Fleischmesser, zu Steaks mehrere Steakmesser etc. „in Umlauf gebracht” (Becker 2003,
S. 40–41).
Zwangskranke erleben wir am Anfang immer wieder als Menschen, die von ihren
Bedürfnissen abgeschnitten sind, wie im Nebel ihren Weg suchen und sich ihren
Mitmenschen gegenüber das eine Mal wie Heilige, das andere Mal wie Hexen vorkommen. Sie sind wie von der Wachheit des wollenden Denkens verlassen. Unser Ziel
ist es, ihnen dabei zu helfen, wieder mehr zu fühlenden und ihr Leben selbst steuernden Menschen zu werden. Das kann damit beginnen, dass sie ein Papierknäuel durch
den Raum kicken und vier Scheiben Brot abschneiden.
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