Sibylle Reinhardt Zum Diskurs über ungleiche Werte Werteorientierte Demokratiepolitik 1. Wer oder was halten Individuen, Gesellschaft und Staat zusammen? Seit Jahrzehnten wird immer wieder der berühmte Satz von Böckenförde zitiert: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» (1967/1976, S. 60) Denn diese Freiheit, so Böckenförde, muss sich «aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft» regulieren, weil der Staat mit seinen «Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots» dies nicht leisten kann. Andernfalls würde er in einen Totalitätsanspruch zurückfallen. Die Verantwortung für das moralische Fundament der Demokratie liegt demnach bei Individuen und Gesellschaft. Aber: Traditionelle Orientierungen an Religionen oder Nationen können dabei den Individuen zwar helfen, aber sie können keine gesellschaftliche Homogenität herstellen. Längst ist auch im Bereich der Werte jener Pluralismus akzeptiert, der für den Bereich der Interessen schon lange anerkannt ist, so dass keine eindeutigen und klaren Leitlinien möglich sind. Böckenfördes Frage nach der Integration für die Demokratie bleibt erst einmal offen, da frühere Antworten nicht mehr taugen. Meine zentrale These lautet: Die Aufgabe der Integration durch Werte kann und sollte nicht nur den Individuen und der Gesellschaft zugeordnet werden, son- dern auch der Politik selbst. Der demokratische Staat als Arena der öffentlichen Auseinandersetzung und der Entscheidung hat selbst die orientierende Kraft, im Prozess der Werte-Bildung zu wirken. Damit wird der politischen Öffentlichkeit, der entscheidenden Politik und der politischen Bildung aufgetragen, sie möchten werteorientierte Demokratiepolitik lehren. «Werte» sind Vorstellungen des Wünschenswerten, also Ideen oder Ideale, die der Beurteilung von Wünschen dienen und nicht mit den erstrebten Objekten gleichzusetzen sind. Sie sind also Maßstäbe zur Bewertung von Objekten und Bestrebungen (Thomé 2005, S. 389ff.). Werte sind zum einen kognitive Vorstellungen, sie sind aber zugleich emotional sehr stark besetzt (Joas 2005, S. 15), was die Brisanz von Werte-Fragen unterstreicht. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Werte in der westlichen Welt gewandelt. Weitgehend materielle Werte, die strukturell zu Not und biographischer Enge passen, wurden abgelöst oder ergänzt durch postmaterielle Werte der Selbstverwirklichung und idealistischen Orientierungen, die strukturell zu höherem Wohlstand, biographischen Wahlmöglichkeiten und zur gesellschaftlichen Pluralisierung passen. Nicht überraschend ließ sich in den 1990erJahren eine Stagnation bzw. ein «Wandel des Werte-Wandels hin zu Sicherheit und Gemeinschaft» (Hradil 2002, S. 412) beob- Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 119 Sibylle Reinhardt achten, was zur Wiederkehr von Knappheit durch Globalisierung, Europäisierung und die Wiedervereinigung passte (Müller 2012, S. 195f.). Dies bedeutete keine Rückkehr zu den Werten der 1950er Jahre, sondern eine neue Kombination oder auch die Synthese von Werten (jedenfalls bei der größten Gruppe in der Bevölkerung, den sog. aktiven Realisten, vgl. Klages 2001). Üblicherweise bringen wir Werte mit Individuen in Verbindung, Werte gelten als etwas höchst Personales. Aber Werte können und dürfen nicht nur einzelnen Menschen zugeschrieben werden. Denn systemische Regelungen durch Institutionen verkörpern ebenfalls Wertebezüge. Das System der sozialen Marktwirtschaft zeigt beispielhaft eine komplexe Wertestruktur: Die einzelnen Marktteilnehmer handeln vermutlich in der Regel aus Eigennutz, aber die institutionelle Koordination der Egoismen (Adam Smith nannte das die «unsichtbare Hand») fördert häufig die Wohlfahrt vieler und transzendiert damit die subjektive Intention. Rechtliche Rahmenbedingungen und staatliche Absicherungen müssen das Handeln kanalisieren, damit Gemeinwohl in den Horizont kommen kann. «Moral wird ... in das Institutionengefüge verlegt und deren Sicherung zur Aufgabe des Staates erklärt.» (Nunner-Winkler 2003, S. 310). Institutionen wiederum sind ganz unterschiedlich in ihrem Werte-Kern strukturiert. So ist z. B. der abstrakte Wert der Gerechtigkeit in der Familie ein konkret anderer als in der Wirtschaft oder in der Bildung oder im Gesundheitssystem (vgl. Liebig/May 2009). Wir müssen also weiter differenzieren: Werte sind nicht nur plural und stellen deshalb die Aufgabe der (begründeten) Wahl an die Individuen, diese Entscheidungen über Werte sind zudem nicht nur persönli120 Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 che, sondern häufig auch politische. Und die von vielen oder vielleicht allen geteilten abstrakten Werte wie z. B. Gerechtigkeit werden in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konkretisiert. Das Postulat der Integration über Werte wird mit jedem Schritt der Analyse unsicherer und konfliktreicher. 2. Beobachtungen: Moralische Schärfe Nach meinen Beobachtungen erleben wir im Alltag ein wirres Durcheinander von WerteBezügen: da behauptet eine Bürgerinitiative in meinem Stadtteil, sie fordere für das Allgemeinwohl einen Park und sei deshalb gegen eine Bebauung, aber mir scheint, der Vorsitzenden der BI geht es zumindest auch um die freie Aussicht von ihrem eigenen Balkon und um die Aneignung kommunaler Ressourcen für einen ohnehin privilegierten Stadtteil. Eine angeblich moralische Argumentation ist vielleicht vorrangig Ideologie im marxistischen Sinne. In einem zweiten Beispiel fordert eine junge Frau von der SPD-Generalsekretärin nach deren Erläuterungen zum europäischen Grenzregime die unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen. Hier wird eine universalistische Forderung ohne konkrete Einbettung formuliert: weder die Lebensinteressen anderer hier oder dort, noch irritierende Tatsachen und politische Auseinandersetzungen werden anerkennt. Eine hoch moralische Forderung ist also erstaunlich naiv. Weiterhin beobachte ich, dass sich solche unvermittelte Empörung und Wut in der Regel nicht gegen die anderen Bürger und Bürgerinnen, die inhaltlich die Gegner sind, richtet, sondern sie wird häufig abgelenkt auf Politik und Politiker. Ich behaupte: Nur Politiker darf man seit Jahren in einer so aggressiven und verachtenden Art und Zum Diskurs über ungleiche Werte Weise bereden oder sogar angreifen, wie sie sonst als schlechtes Benehmen und sogar als unmoralisch gelten würde. Dieses unbürgerliche Verhalten schädigt auch die Demokratie als System. Van den Daele (2001) hat das Problem moralischer Attacken an einem Erörterungstermin in einem Verwaltungsverfahren gezeigt. Verhandelt wurde die Genehmigung der Freisetzung von gentechnisch veränderten Kartoffeln. Die Antragsteller wurden zeitweise direkt angegangen und ihnen wurde mit manchen Formulierungen die Anerkennung als Mensch verweigert. Ein Beispiel: «Die Menschheit geht doch zugrunde (…) Und Sie machen sich jetzt schuldig (…).» (S. 5). Hier werden Werte-Fragen als letzte Fragen unserer Existenz, die über Gut und Böse entscheiden, behandelt. Deshalb muss – so wird impliziert – rigoros geurteilt werden. Nun sind Gewissensfragen vielleicht wirklich die ernstesten Fragen, die sich uns stellen. Sie berühren die Frage nach unserer Identität und unserer Integrität. Aber eine Auseinandersetzung muss auch bei Werte-Konflikten das Gegenüber achten, denn «Moral ist eine scharfe Waffe» (S. 4). Die moderne Gesellschaft kann nur dann in Frieden existieren, wenn sie sehr großzügig konkrete Unterschiede ertragen kann – bis hin zu massiven Konflikten um letzte Werte. Gesellschaftliche Integration setzt nicht nur Werte voraus, sondern auch einen solchen Umgang mit Werten, der Konflikte verhandelbar macht bis hin zu dem Punkt, dass ihre eventuelle Unlösbarkeit gesehen und akzeptiert wird. Böckenfördes Frage nach Integration verweist also auf eine Meta-Ebene der Reflexion und nicht mehr nur auf Inhalte. Was tun? Die Verfahrensvorschläge, die ich im Folgenden für die politische Öffent- lichkeit und für politische Bildung in der Schule (und anderswo) mache, konvergieren in manchen Punkten sehr deutlich. 3. Reflexive Distanz in der politischen Öffentlichkeit: organisierte Diskurse Die Situation der Erörterung in Genehmigungsverfahren begünstigt anscheinend die Eskalation der Konfrontation bis zur moralischen Diskreditierung, wie dies auch in (massen)medial ablaufenden Formaten häufig passiert. Deshalb fragt van den Daele 2001, ob organisierte Diskurse – wie eine partizipative Technikfolgenabschätzung1 – einen Weg zur achtungsvollen Kommunikation bereiten können. Das Verfahren zeichnete sich durch diese Merkmale aus (S. 7): 1. freiwillige Teilnahme, 2. Prozesskontrolle durch die Beteiligten selbst, 3. soziale und 4. sachliche Repräsentanz des Konflikts, 5. symmetrische Rechte aller Beteiligten, 6. Kommunikation unter Anwesenden, 7. Handlungsentlastung, 8. formalisierte Gesprächsführung. Das ist eine sehr anspruchsvolle und komplexe Inszenierung. Die erste – im Unterschied zum Erörterungstermin verblüffende – Beobachtung war diskursiver Takt (S. 8f.). Moralisierungen der Art, die eine andere (anwesende) Person als unmoralisch bzw. unverantwortlich hätten diskreditieren können, fanden nicht statt. Das Gebot der Schonung der Person ergab sich bei normativen Kontroversen ebenso wie bei kognitiven. «Die Trennung von Sache und Person nimmt nicht nur den Gegner als Person in Schutz – und zugleich 1 Es wurden etwa 60 Personen (Befürworter und Gegner – aus Industrie und Umweltverbänden, Regulierungsbehörden und Wissenschaft) im Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) für eine Serie von Konferenzen versammelt, die insgesamt fast zehn Tage dauerten. Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 121 Sibylle Reinhardt aus dem Spiel. Sie erzeugt auch Distanz zur eigenen Person.» (S. 9) An die Stelle der Authentizität des Bekenntnisses und der persönlichen Betroffenheit tritt der Inhalt des Bedenkens, das sachliche Problem. Die zweite Beobachtung war moralischer Konsens und gemeinsame Werte. Dies betraf überhaupt nicht den gesamten Inhalt, sondern die Verständigung auf eine Meta-Norm: «Dass man Verantwortung für die Folgen seines Handelns trägt, ... ist Konsens in der Gesellschaft.» (S. 10) Allmählich stellte sich heraus, dass der Streit der Konfliktparteien gar nicht die normativen Prinzipien betraf, sondern die empirischen Voraussetzungen: sind schädliche Folgen gentechnisch veränderter Pflanzen tatsächlich zu erwarten? Dieser Punkt blieb strittig. Dabei existierte ein zweiter Konsens, dass nämlich den Gefahren von Missbräuchen und drohenden Schäden durch geeignete Regulierungen begegnet werden sollte. Strittig blieb die Frage, welche Konsequenzen aus dem Vorsorgeprinzip im Angesicht bleibender Ungewissheiten zu ziehen wären. Die dritte Beobachtung war das allmähliche Herausbilden einer Kommunikation über Moral statt «moralischer Kommunikation» (S. 8). Im Gefolge der zweiten Beobachtung, dass ein gewichtiger moralischer Konsens existiert, gerieten «überschießende moralische Ansprüche», die dadurch nicht gedeckt waren, in den Bereich konkurrierender pluralistischer Überzeugungen, die sich wechselseitig relativieren. Wenn alle den Wert der «Würde der Kreatur» teilen, bleibt offen, ob auch niederen Tieren, Pflanzen oder Mikroben diese Würde zukomme. Der Einzelne kann das dann zwar vertreten, aber er kann nicht verlangen, dass die anderen das auch so sehen (S. 13). 122 Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 Natürlich kann man dieses Verfahren, das reflexive Distanz erzeugte, nicht schnell verallgemeinern. Kompetente Diskutanten mit Ressourcen an Zeit und Muße (keine Entscheidung musste gefällt werden) folgten einem Regelwerk für die Diskussion, das eine praktische Umsetzung der Idee des Diskurses (vgl. Habermas 1981) versuchte. Trotz dieser Aspekte von Idealität sind die Abläufe von orientierender Kraft für öffentliche Auseinandersetzungen.2 4. Reflexive Distanz in der politischen Bildung: durch Methode und Instrument, am Fall Im Unterricht treffen sich Lernende, die nicht von vornherein Experten für die Sache oder für die Verfahren der Verhandlung dieser Sache sind. Sie äußern ihre Meinungen und Emotionen und beanspruchen zu Recht, sich als Personen zu beteiligen. Für das Lernen für Demokratie ist es häufig notwendig, dass die Lernenden subjektive Zugänge – zum Beispiel ihre Empörung (Reinhardt 2013a) – einbringen, weil ihnen der Lebensbereich Politik sonst fremd und unwirklich bleiben könnte. Es stellt sich eine doppelte didaktische Aufgabe: Die individuelle Ebene ist mit der politischen so zu verknüpfen, dass aus dem Werte-Dilemma 2 Ein kleines Beispiel möge diese Möglichkeit illustrieren. Auf dem Kongress «Werte und Politik» der Friedrich-Ebert-Stiftung am 19. Oktober 2012 hat der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Steinmeier in einem Diskussionsbeitrag darauf hingewiesen, dass Werte in der Regel im Widerstreit stehen, dass es Politik also auch hierbei mit Konflikten zu tun habe. Zum konkreten Wertedilemma in der Beschneidungsfrage sagte er (nach meiner Mitschrift): «Ein Wert wird verraten werden bei der Entscheidung – und eine Entscheidung wird kommen.» Diese Klarheit ist dem Problem angemessen und verspricht keine Lösungen, wo es zurzeit keine geben kann. Zum Diskurs über ungleiche Werte Die Dilemma-Methode Phase I Phase II Phase III Phase IV Konfrontation mit dem ethischen Dilemma einer Person (z. B. Fall Daschner) Strukturierung des Dilemmas (Konfligierende Aussagen, Werte) Reflexion der Argumente (Qualität? Werte oder Tatsachen?) Politisierung des Dilemmas (Gesetzliche Richtschnur? Welche?) Tab. 1 Quelle: nach Reinhardt 1999 einer Person zum Entscheidungsdilemma der Politik fortgeführt wird, und der relativ spontane Zugang ist weiterzuführen in eine distanziert-reflexive Verhandlung. Solche didaktischen Postulate müssen konkretisiert werden, das heißt es müssen handhabbare Konstruktionen für den Unterricht entworfen werden. Seit vielen Jahren wird die DilemmaMethode entwickelt und erprobt, die beide Postulate in ihrem Ablauf-Schema einlöst (vgl. Tab. 1). Grundsätzlich führt der Weg vom lebensweltlichen Zugang, der den Lernenden am ehesten verfügbar ist und sie eventuell emotional bedrängt, über die Klärung und Vergewisserung möglicher Gründe zu einer distanzierten Bewertung und Analyse der unterschiedlichen Argumente und Stellungnahmen bis zur Dimension des demokratischen kollektiven Rechtsetzens. Ein gut dokumentiertes Beispiel ist der Umgang mit dem Chemie-Export-Dilemma, das eine Lehrerin nach einem Skandal um deutsche Exporte nach Libyen Anfang der 1990er Jahre entwickelt hatte (Reinhardt 1999, S. 71–77). In diesem Dilemma steht eine Unternehmerin vor der Entscheidung, ob sie den Auftrag zum Bau einer Laboranlage annehmen sollte. Das Produkt der Anlage wird als Insektengift benutzt, könnte aber auch gegen Menschen eingesetzt werden und schädigt die Umwelt. Eine 10. Klasse stimmte in meinem Unterricht 1994 so ab: Fünf Schüler (nur Jungen) stimmten für die Annahme, vier enthielten Argumente zum Chemie-Export-Dilemma PRO Der Auftrag ist gut für die Firma Die Firma geht sonst bankrott Das kurzfristige Firmen-Interesse Es geht um Arbeitsplätze! Sonst nehmen andere den Auftrag CONTRA Man muss weiterdenken als an die Firma: Umwelt Falls das Gesetz das verbietet, sind die Konsequenzen mies Das langfristige Firmen-Interesse (Image-Schaden) Es geht um Menschenleben! Tab. 2 Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 123 Sibylle Reinhardt Das Modell der Urteilsstrukturen Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5 Stufe 6 Orientierung am eigenen Wohlergehen Orientierung an strategischer Tauschgerechtigkeit Orientierung an den Erwartungen der Bezugsgruppen Orientierung an der Gesellschaftsverfassung Orientierung am Sozialvertrag Orientierung an verallgemeinerungsfähigen Prinzipien Tab. 3 Quelle: nach Kohlberg 1995/1968 sich, elf (fast nur Mädchen) stimmten dagegen. Die Argumente lauteten, wie in Tab. 2 aufgeführt (ich habe mitgeschrieben und geordnet). An diesem Punkt der Auseinandersetzung stellte ein Schüler die Frage, ob es nicht um eine ganz andere Lösung gehen müsse, nämlich um eine Regelung durch ein Gesetz. Damit wurde die Perspektive gewechselt, nämlich vom Dilemma einer einzelnen Person zur kollektiven Entscheidung über eine Rahmenbedingung wirtschaftlichen Handelns. Das ethische Dilemma einer Person eröffnet einen dynamischen Lernweg in die politische Entscheidung (vgl. May 2013). Und genauso war der Politikprozess in der Bundesrepublik damals verlaufen. Das zweite didaktische Postulat, die distanzierte Wertereflexion, wird durch die sorgfältige Sammlung und Visualisierung der Argumente (Phase II) und die anschließende Reflexion der Argumente auf ihre Überzeugungskraft und ihren Status als Tatsachen- oder Werte-Argumente (Phase III) in Verfahren übersetzt. Die theoretische Kraft der Reflexion kann – besonders mit älteren Lernenden – durch den Einsatz eines Instruments gefördert werden. Hier bietet sich das ursprünglich entwicklungspsychologische Stufenmodell von Lawrence Kohlberg 124 Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 an, das aus seinem Kontext gelöst und als Klassifikations-Modell für die Untersuchung von Motiven, von Handeln und von gesellschaftlichen Strukturen oder Ideen genutzt werden kann (vgl. Tab. 3).3 Die sechs Stufen entfalten sich erweiternde soziale Perspektiven und ein sich generalisierendes Konzept von Gerechtigkeit. Alle diese Strukturen moralischen Urteilens finden sich in der Wirklichkeit und sehr viele Menschen verstehen mindestens in Ansätzen alle diese Argumentationen (nicht nach den test-theoretischen Festlegungen Kohlbergs, die seine empirische Arbeit leiteten, die hier aber unberücksichtigt bleiben können). Steht bei Stufe 1 das 3 Die didaktisch transformierende Verwendung (nicht: Anwendung) dieser generativen Strukturtheorie von Kohlberg zielt also auf Bildungsprozesse und nicht etwa auf die Einstufung von individuellen Lernern – es geht immer um das Verstehen und Fördern von Interaktionen im Unterricht und nicht um ein nivellierendes Kondensat von Daten in einem Testwert. Ähnlich frei geht Sutter (2009) mit Kohlbergs Forschungen bei seinem Versuch um, eine Theorie sozialen Lernens durch koordinierten Dissens zu formulieren. Er löst «die empirische Moralforschung» aus dem «Diktat moralphilosophischer Begründungstheorien» (S. 191), nimmt Piagets Methodologie der sozialen Praxis (Beobachtung und Befragung) zum Vorbild und formuliert Bausteine einer Theorie sozialen Lernens (S. 190–237). Zum Diskurs über ungleiche Werte Ich im Vordergrund, so weitet sich die Perspektive über den sozialen Nahraum bis hin zur Universalität aller denkbaren Betroffenen unter der Verfahrensidee des idealen Diskurses auf Stufe 6. Christian Fischer (2011) hat das Problem gelöst, wie man Lernenden das Stufenmodell von Kohlberg als Typologie für die Analyse so an die Hand geben kann, dass sie selbständig damit arbeiten können. Er stellt die Stufen in einem Manual «Moralstufenanalyse» erzählend dar, womit Einzelne oder Gruppen dann Fälle, Argumente, Strukturen oder Ideen bearbeiten können. Mit Hilfe der Moralstufenanalyse können inhaltlich reichhaltige und nach ihren moralischen Bezügen unterscheidbare Argumente erworben werden. Deshalb war – so eine abschließende Diskussion zum Daschner-Dilemma (vgl. May 2013, S. 183–186) – die strafrechtliche Verurteilung Daschners auch nachvollziehbar, denn ein Gesetz muss viele mögliche andere Fälle und Konsequenzen mitbedenken, und das Urteil basierte auf einem Gesetz und dieses auf einem höchstrangigen Wert. Für den Verurteilten wäre das Urteil dann (trotz des Festhaltens an seiner Entscheidung) ertragbar geworden, wenn er sein tragisches Dilemma als nicht lösbares hätte akzeptieren können. Der Einsatz einer strukturierenden Unterrichtsmethode (Dilemma) und eines Instruments (Moralstufenanalyse) bei der Analyse, Erörterung und Reflexion eines Falls vermag subjektives Engagement und reflexive Distanz zu kombinieren. 5. Werteorientierte Demokratiepolitik: eine Aufgabe für Politische Öffentlichkeit, Politik und politische Bildung Der Fall Daschner wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2008 vereinfachend kommentiert. Der Verfassungsrechtler Dreier hatte in einer längeren Argumentation (Details bei Reinhardt 2008, S. 282– 284) vorgeschlagen, den Gedanken einer «rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vornherein auszuschließen». Dies trug ihm und der SPD, die ihn als Richter für das Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen hatte, den Vorwurf ein, Folter zu rechtfertigen. Der dilemmatische Charakter des Falles wurde geleugnet, und dies führte zur moralischen Beschädigung der Person und der Partei. Journalisten sollten und könnten aber anspruchsvoller mit Werte-Dilemmata umgehen und so eine lehrende Funktion in der politischen Öffentlichkeit akzeptieren. Politik hat demgegenüber zu entscheiden und kann nicht in Reflexionen verharren. «Moralpolitiken» (Heichel/Knill 2013) sind ein Politiktypus, in dem es um «Entscheidungen über grundlegende Werte» (S. 57) geht. Moralpolitische Konflikte liegen häufig «quer zu parteipolitischen Konfliktlinien» (S. 58), und besonders in den großen Volksparteien sind die Positionen oft heterogen. Das führt, obwohl moralpolitische Fragen ein «hohes Potenzial der Politisierung» (S. 59) haben, zu geringer Entscheidungsfähigkeit (wozu auch die vielen Vetospieler im politischen System der BRD beitragen). Entscheidungen werden womöglich vermieden, indem die Fragen auf andere Arenen verlagert werden: auf unabhängige Expertenkommissionen (z. B. Deutscher Ethikrat), Selbstverwaltungsorgane (z. B. Bundesärztekammer) und Gerichte (beson- Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 125 Sibylle Reinhardt ders das Bundesverfassungsgericht).4 Die Struktur des politischen Systems und die Strukturen der großen politischen Parteien erklären – neben der moralischen Schärfe und der Identitäts-Relevanz von WerteFragen (s.o., Punkt 3) – die Zurückhaltung politischer Akteure. Das Problem z. B. der Beschneidung von Jungen war immer bekannt, aber eine rechtskonforme Regelung wurde erst nach dem Urteil des Kölner Landgerichts gesucht. Wenn aber eine moralpolitische Entscheidung getroffen wird, dann kann sie am ehesten integrieren und nicht zerreißen, wenn die Diskurse auf dem Weg zur Entscheidung weder die Brisanz der WerteFrage herunterspielen, noch die Konflikthaltigkeit der Werte-Fragen ausblenden und auch nicht so tun, als gäbe es Instanzen der Vergewisserung, die uns leiten könnten. Politik ist selbst Teil des Diskurses der Öffentlichkeit und könnte und sollte die Aufgabe der Lehre für eine werteorientierte Politik akzeptieren. Die argumentative Kraft demokratischer Verfahren legitimiert demokratische Politik zur politischen Bildung, denn Staat ist nicht nur Rechtszwang und autoritatives Gebot (anders als Böckenförde es formulierte, vgl. Punkt 1). Diese Lehre werteorientierter Demokratiepolitik obliegt natürlicherweise Politischer Bildung. Wie gezeigt wurde (Punkt 4), stehen erprobte Inszenierungen (DilemmaMethode) und Instrumente (Moralstufenanalyse) für den Unterricht zur Verfügung. Die Situation des Unterrichts zeigt Parallelen und Unterschiede zur diskursiven Situation der Technikfolgenabschätzung, die van den Daele (2001) beschrieben hatte (vgl. 4 Bei Heichel/Knill (2013) werden diese Mechanismen mit Beispielen gefüllt. 126 Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 Punkt 3). In beiden Situationen findet Kommunikation unter Anwesenden statt, die von Handlungsdruck entlastet sind und über symmetrische Rechte in der Kommunikation verfügen, was durch eine formalisierte Gesprächsführung gefördert wird. Während in der partizipativen Technikfolgenabschätzung (TA) aber Teilnehmer(innen) mit hoher Kompetenz in Sache und Verfahren freiwillig miteinander redeten, sind Lernende im Unterricht pflichtgemäß und mit werdender Kompetenz beteiligt. An die Stelle relativ autonomer Prozesskontrolle für die TA treten dramaturgische Vorgaben durch Lehrer(in) und Schule, die die Interaktionen rahmen. Die soziale und die sachliche Repräsentanz der moralischen Konflikte sind im TA über die Einladungen garantiert; im Unterricht werden sie simuliert bzw. durch Materialien gesichert. Leitend ist hierfür der (politikdidaktisch zentrale) Beutelsbacher Konsens mit dem Überwältigungsverbot und dem Kontroversgebot (vgl. Reinhardt 2014, S. 29–32). Das Ziel dieser Inszenierung ist die möglichst diskursive Verhandlung moralpolitischer Streitfragen, die die gegenseitige Achtung und Anerkennung im Konflikt über ernsthafte Wertefragen bewahrt und einübt. Kommunikation über Moral braucht die Distanz der Reflexion und nicht die unbedingte Authentizität des subjektiven Bekenntnisses, damit Toleranz der Personen und im politischen System möglich wird. Dies gilt für die Auseinandersetzungen in Politik und politischer Öffentlichkeit ebenso wie für die Verhandlungen im Unterricht. Zum Diskurs über ungleiche Werte 6. Fazit Werteorientierte Demokratiepolitik in Politik, Öffentlichkeit und Unterricht bedarf der Vorkehrungen für die konfliktreichen Auseinandersetzungen, damit der Konsens über gegenseitige Achtung und innergesellschaftlichen Frieden nicht durch Interaktionen moralischer Konfrontationen zerstört wird. Konflikte über materielle Interessen und über die Einschätzung vieler Fakten sind Kompromissen eher zugänglich als moralische Dilemmata, in denen gleichwertige Werte existentieller Bedeutung kollidieren. Deshalb ist werteorientierte Demokratiepolitik eine schwierige und dringliche Bildungsaufgabe. Literatur Bahners, Patrick: Foltern aus Höflichkeit? In: FAZ, 15.2.2008, S. 35. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt a. M. 1976 (zuerst 1967), S. 42–64. van den Daele, Wolfgang: Von moralischer Kommunikation zur Kommunikation über Moral. In: Zeitschrift für Soziologie 30 (1), 2001, S. 4–22. Fischer, Christian: Die Moralstufenanalyse als Instrument – am Beispiel Rechtsextremismus. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 60 (2), 2011, S. 255–266. Geißel, Brigitte: Kritische Bürger. Frankfurt a. M./ New York 2011. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1981. Heichel, Stephan/Knill, Christoph: Moralpolitische Steuerung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (34–36), 2013, S. 57–62. Hradil, Stefan: Der Wandel des Wertewandels. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 51 (4), 2002, S. 409–420. Joas, Hans: Einleitung – Die kulturellen Werte Europas. In: Die kulturellen Werte Europas. Hg. v. Hans Joas und Klaus Wiegandt. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 11–39. Klages, Helmut: Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? 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Reinhardt, Sibylle: Werte-Bildung und politische Bildung. Opladen 1999 (als e-book bei Springer Book Archive). – Werte-Bildung und Politische Bildung. In: Demokratiebewusstsein. Hg. v. Dirk Lange und Gerhard Himmelmann. Wiesbaden 2007, S. 134–144. – Werte in die politische Bildung! Aber wie? In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 57 (2), 2008, S. 277–288. Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 127 Sibylle Reinhardt – – 128 Werte-Bildung und politische Bildung. In: Wertebildung in Jugendarbeit, Schule und Kommune. Hg. v. Wilfried Schubarth, Karsten Speck und Heinz Lynen von Berg. Wiesbaden 2010, S. 211–223. Politische Bildung durch Empörung? Werte und Institutionen gehören zusammen! Das Dilemma der Beschneidung von Jungen als Beispiel. In: Die Erstbegegnung mit dem Politischen. Hg. v. Marcus Syring und Erik Flügge. Immenhausen 2013, S. 55–70. Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 – Von individuellen Wertedilemmata zu gesellschaftlichen Regeln: Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Verbindung von Werteund politischer Bildung. In: Diskurs Kindheitsund Jugendforschung 8 (3), 2013, S. 319–333. – Politik-Didaktik. 5. Aufl., Berlin 2014 (zuerst 2005). Sutter, Tilmann: Interaktionistischer Konstruktivismus. Wiesbaden 2009. Thomé, Helmut: Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung. In: Die kulturellen Werte Europas. Hg. v. Hans Joas und Klaus Wiegandt. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 386–443.