Zum Diskurs über ungleiche Werte

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Sibylle Reinhardt
Zum Diskurs über ungleiche Werte
Werteorientierte Demokratiepolitik
1. Wer oder was halten Individuen, Gesellschaft
und Staat zusammen?
Seit Jahrzehnten wird immer wieder der
berühmte Satz von Böckenförde zitiert: «Der
freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von
Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» (1967/1976, S. 60) Denn
diese Freiheit, so Böckenförde, muss sich
«aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft»
regulieren, weil der Staat mit seinen «Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen
Gebots» dies nicht leisten kann. Andernfalls würde er in einen Totalitätsanspruch
zurückfallen.
Die Verantwortung für das moralische
Fundament der Demokratie liegt demnach
bei Individuen und Gesellschaft. Aber: Traditionelle Orientierungen an Religionen
oder Nationen können dabei den Individuen zwar helfen, aber sie können keine
gesellschaftliche Homogenität herstellen.
Längst ist auch im Bereich der Werte jener
Pluralismus akzeptiert, der für den Bereich
der Interessen schon lange anerkannt ist,
so dass keine eindeutigen und klaren Leitlinien möglich sind. Böckenfördes Frage
nach der Integration für die Demokratie
bleibt erst einmal offen, da frühere Antworten nicht mehr taugen.
Meine zentrale These lautet: Die Aufgabe der Integration durch Werte kann
und sollte nicht nur den Individuen und
der Gesellschaft zugeordnet werden, son-
dern auch der Politik selbst. Der demokratische Staat als Arena der öffentlichen Auseinandersetzung und der Entscheidung hat
selbst die orientierende Kraft, im Prozess
der Werte-Bildung zu wirken. Damit wird
der politischen Öffentlichkeit, der entscheidenden Politik und der politischen Bildung
aufgetragen, sie möchten werteorientierte
Demokratiepolitik lehren.
«Werte» sind Vorstellungen des Wünschenswerten, also Ideen oder Ideale, die
der Beurteilung von Wünschen dienen und
nicht mit den erstrebten Objekten gleichzusetzen sind. Sie sind also Maßstäbe zur
Bewertung von Objekten und Bestrebungen
(Thomé 2005, S. 389ff.). Werte sind zum
einen kognitive Vorstellungen, sie sind aber
zugleich emotional sehr stark besetzt (Joas
2005, S. 15), was die Brisanz von Werte-Fragen unterstreicht.
In den vergangenen Jahrzehnten haben
sich die Werte in der westlichen Welt
gewandelt. Weitgehend materielle Werte,
die strukturell zu Not und biographischer
Enge passen, wurden abgelöst oder ergänzt
durch postmaterielle Werte der Selbstverwirklichung und idealistischen Orientierungen, die strukturell zu höherem Wohlstand,
biographischen Wahlmöglichkeiten und zur
gesellschaftlichen Pluralisierung passen.
Nicht überraschend ließ sich in den 1990erJahren eine Stagnation bzw. ein «Wandel
des Werte-Wandels hin zu Sicherheit und
Gemeinschaft» (Hradil 2002, S. 412) beob-
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achten, was zur Wiederkehr von Knappheit
durch Globalisierung, Europäisierung und
die Wiedervereinigung passte (Müller 2012,
S. 195f.). Dies bedeutete keine Rückkehr zu
den Werten der 1950er Jahre, sondern eine
neue Kombination oder auch die Synthese
von Werten (jedenfalls bei der größten
Gruppe in der Bevölkerung, den sog. aktiven Realisten, vgl. Klages 2001).
Üblicherweise bringen wir Werte mit
Individuen in Verbindung, Werte gelten als
etwas höchst Personales. Aber Werte können und dürfen nicht nur einzelnen Menschen zugeschrieben werden. Denn systemische Regelungen durch Institutionen verkörpern ebenfalls Wertebezüge. Das System
der sozialen Marktwirtschaft zeigt beispielhaft eine komplexe Wertestruktur: Die einzelnen Marktteilnehmer handeln vermutlich
in der Regel aus Eigennutz, aber die institutionelle Koordination der Egoismen (Adam
Smith nannte das die «unsichtbare Hand»)
fördert häufig die Wohlfahrt vieler und transzendiert damit die subjektive Intention.
Rechtliche Rahmenbedingungen und staatliche Absicherungen müssen das Handeln
kanalisieren, damit Gemeinwohl in den
Horizont kommen kann. «Moral wird ... in
das Institutionengefüge verlegt und deren
Sicherung zur Aufgabe des Staates erklärt.»
(Nunner-Winkler 2003, S. 310). Institutionen wiederum sind ganz unterschiedlich
in ihrem Werte-Kern strukturiert. So ist z. B.
der abstrakte Wert der Gerechtigkeit in der
Familie ein konkret anderer als in der Wirtschaft oder in der Bildung oder im Gesundheitssystem (vgl. Liebig/May 2009).
Wir müssen also weiter differenzieren:
Werte sind nicht nur plural und stellen deshalb die Aufgabe der (begründeten) Wahl
an die Individuen, diese Entscheidungen
über Werte sind zudem nicht nur persönli120
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che, sondern häufig auch politische. Und
die von vielen oder vielleicht allen geteilten abstrakten Werte wie z. B. Gerechtigkeit werden in unterschiedlichen Kontexten
unterschiedlich konkretisiert. Das Postulat
der Integration über Werte wird mit jedem
Schritt der Analyse unsicherer und konfliktreicher.
2. Beobachtungen: Moralische Schärfe
Nach meinen Beobachtungen erleben wir im
Alltag ein wirres Durcheinander von WerteBezügen: da behauptet eine Bürgerinitiative in meinem Stadtteil, sie fordere für das
Allgemeinwohl einen Park und sei deshalb
gegen eine Bebauung, aber mir scheint,
der Vorsitzenden der BI geht es zumindest
auch um die freie Aussicht von ihrem eigenen Balkon und um die Aneignung kommunaler Ressourcen für einen ohnehin privilegierten Stadtteil. Eine angeblich moralische
Argumentation ist vielleicht vorrangig Ideologie im marxistischen Sinne. In einem zweiten Beispiel fordert eine junge Frau von der
SPD-Generalsekretärin nach deren Erläuterungen zum europäischen Grenzregime die
unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen.
Hier wird eine universalistische Forderung
ohne konkrete Einbettung formuliert: weder
die Lebensinteressen anderer hier oder dort,
noch irritierende Tatsachen und politische
Auseinandersetzungen werden anerkennt.
Eine hoch moralische Forderung ist also
erstaunlich naiv.
Weiterhin beobachte ich, dass sich solche unvermittelte Empörung und Wut in
der Regel nicht gegen die anderen Bürger
und Bürgerinnen, die inhaltlich die Gegner
sind, richtet, sondern sie wird häufig abgelenkt auf Politik und Politiker. Ich behaupte:
Nur Politiker darf man seit Jahren in einer
so aggressiven und verachtenden Art und
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Weise bereden oder sogar angreifen, wie
sie sonst als schlechtes Benehmen und
sogar als unmoralisch gelten würde. Dieses
unbürgerliche Verhalten schädigt auch die
Demokratie als System.
Van den Daele (2001) hat das Problem moralischer Attacken an einem Erörterungstermin in einem Verwaltungsverfahren gezeigt. Verhandelt wurde die Genehmigung der Freisetzung von gentechnisch
veränderten Kartoffeln. Die Antragsteller
wurden zeitweise direkt angegangen und
ihnen wurde mit manchen Formulierungen
die Anerkennung als Mensch verweigert.
Ein Beispiel: «Die Menschheit geht doch
zugrunde (…) Und Sie machen sich jetzt
schuldig (…).» (S. 5). Hier werden Werte-Fragen als letzte Fragen unserer Existenz, die
über Gut und Böse entscheiden, behandelt.
Deshalb muss – so wird impliziert – rigoros
geurteilt werden. Nun sind Gewissensfragen
vielleicht wirklich die ernstesten Fragen, die
sich uns stellen. Sie berühren die Frage nach
unserer Identität und unserer Integrität.
Aber eine Auseinandersetzung muss auch
bei Werte-Konflikten das Gegenüber achten,
denn «Moral ist eine scharfe Waffe» (S. 4).
Die moderne Gesellschaft kann nur
dann in Frieden existieren, wenn sie sehr
großzügig konkrete Unterschiede ertragen kann – bis hin zu massiven Konflikten
um letzte Werte. Gesellschaftliche Integration setzt nicht nur Werte voraus, sondern
auch einen solchen Umgang mit Werten,
der Konflikte verhandelbar macht bis hin zu
dem Punkt, dass ihre eventuelle Unlösbarkeit gesehen und akzeptiert wird. Böckenfördes Frage nach Integration verweist also
auf eine Meta-Ebene der Reflexion und
nicht mehr nur auf Inhalte.
Was tun? Die Verfahrensvorschläge, die
ich im Folgenden für die politische Öffent-
lichkeit und für politische Bildung in der
Schule (und anderswo) mache, konvergieren in manchen Punkten sehr deutlich.
3. Reflexive Distanz in der politischen
Öffentlichkeit: organisierte Diskurse
Die Situation der Erörterung in Genehmigungsverfahren begünstigt anscheinend
die Eskalation der Konfrontation bis zur
moralischen Diskreditierung, wie dies auch
in (massen)medial ablaufenden Formaten häufig passiert. Deshalb fragt van den
Daele 2001, ob organisierte Diskurse – wie
eine partizipative Technikfolgenabschätzung1 – einen Weg zur achtungsvollen Kommunikation bereiten können. Das Verfahren zeichnete sich durch diese Merkmale
aus (S. 7): 1. freiwillige Teilnahme, 2. Prozesskontrolle durch die Beteiligten selbst,
3. soziale und 4. sachliche Repräsentanz
des Konflikts, 5. symmetrische Rechte aller
Beteiligten, 6. Kommunikation unter Anwesenden, 7. Handlungsentlastung, 8. formalisierte Gesprächsführung. Das ist eine sehr
anspruchsvolle und komplexe Inszenierung.
Die erste – im Unterschied zum Erörterungstermin verblüffende – Beobachtung
war diskursiver Takt (S. 8f.). Moralisierungen
der Art, die eine andere (anwesende) Person als unmoralisch bzw. unverantwortlich
hätten diskreditieren können, fanden nicht
statt. Das Gebot der Schonung der Person
ergab sich bei normativen Kontroversen
ebenso wie bei kognitiven. «Die Trennung
von Sache und Person nimmt nicht nur den
Gegner als Person in Schutz – und zugleich
1 Es wurden etwa 60 Personen (Befürworter und
Gegner – aus Industrie und Umweltverbänden,
Regulierungsbehörden und Wissenschaft) im Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) für eine Serie von
Konferenzen versammelt, die insgesamt fast zehn
Tage dauerten.
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aus dem Spiel. Sie erzeugt auch Distanz
zur eigenen Person.» (S. 9) An die Stelle der
Authentizität des Bekenntnisses und der
persönlichen Betroffenheit tritt der Inhalt
des Bedenkens, das sachliche Problem.
Die zweite Beobachtung war moralischer Konsens und gemeinsame Werte.
Dies betraf überhaupt nicht den gesamten
Inhalt, sondern die Verständigung auf eine
Meta-Norm: «Dass man Verantwortung für
die Folgen seines Handelns trägt, ... ist Konsens in der Gesellschaft.» (S. 10) Allmählich
stellte sich heraus, dass der Streit der Konfliktparteien gar nicht die normativen Prinzipien betraf, sondern die empirischen Voraussetzungen: sind schädliche Folgen gentechnisch veränderter Pflanzen tatsächlich
zu erwarten? Dieser Punkt blieb strittig.
Dabei existierte ein zweiter Konsens, dass
nämlich den Gefahren von Missbräuchen
und drohenden Schäden durch geeignete
Regulierungen begegnet werden sollte.
Strittig blieb die Frage, welche Konsequenzen aus dem Vorsorgeprinzip im Angesicht bleibender Ungewissheiten zu ziehen
wären.
Die dritte Beobachtung war das allmähliche Herausbilden einer Kommunikation
über Moral statt «moralischer Kommunikation» (S. 8). Im Gefolge der zweiten Beobachtung, dass ein gewichtiger moralischer
Konsens existiert, gerieten «überschießende
moralische Ansprüche», die dadurch nicht
gedeckt waren, in den Bereich konkurrierender pluralistischer Überzeugungen, die
sich wechselseitig relativieren. Wenn alle
den Wert der «Würde der Kreatur» teilen,
bleibt offen, ob auch niederen Tieren, Pflanzen oder Mikroben diese Würde zukomme.
Der Einzelne kann das dann zwar vertreten,
aber er kann nicht verlangen, dass die anderen das auch so sehen (S. 13).
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Natürlich kann man dieses Verfahren,
das reflexive Distanz erzeugte, nicht schnell
verallgemeinern. Kompetente Diskutanten
mit Ressourcen an Zeit und Muße (keine
Entscheidung musste gefällt werden) folgten einem Regelwerk für die Diskussion,
das eine praktische Umsetzung der Idee des
Diskurses (vgl. Habermas 1981) versuchte.
Trotz dieser Aspekte von Idealität sind die
Abläufe von orientierender Kraft für öffentliche Auseinandersetzungen.2
4. Reflexive Distanz in der politischen Bildung:
durch Methode und Instrument, am Fall
Im Unterricht treffen sich Lernende, die
nicht von vornherein Experten für die
Sache oder für die Verfahren der Verhandlung dieser Sache sind. Sie äußern ihre Meinungen und Emotionen und beanspruchen
zu Recht, sich als Personen zu beteiligen.
Für das Lernen für Demokratie ist es häufig notwendig, dass die Lernenden subjektive Zugänge – zum Beispiel ihre Empörung
(Reinhardt 2013a) – einbringen, weil ihnen
der Lebensbereich Politik sonst fremd und
unwirklich bleiben könnte. Es stellt sich eine
doppelte didaktische Aufgabe: Die individuelle Ebene ist mit der politischen so zu
verknüpfen, dass aus dem Werte-Dilemma
2 Ein kleines Beispiel möge diese Möglichkeit illustrieren. Auf dem Kongress «Werte und Politik» der
Friedrich-Ebert-Stiftung am 19. Oktober 2012 hat
der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Steinmeier in einem Diskussionsbeitrag
darauf hingewiesen, dass Werte in der Regel im
Widerstreit stehen, dass es Politik also auch hierbei mit Konflikten zu tun habe. Zum konkreten
Wertedilemma in der Beschneidungsfrage sagte er
(nach meiner Mitschrift): «Ein Wert wird verraten
werden bei der Entscheidung – und eine Entscheidung wird kommen.» Diese Klarheit ist dem Problem angemessen und verspricht keine Lösungen,
wo es zurzeit keine geben kann.
Zum Diskurs über ungleiche Werte
Die Dilemma-Methode
Phase I
Phase II
Phase III
Phase IV
Konfrontation mit dem ethischen Dilemma einer Person (z. B. Fall Daschner)
Strukturierung des Dilemmas (Konfligierende Aussagen, Werte)
Reflexion der Argumente (Qualität? Werte oder Tatsachen?)
Politisierung des Dilemmas (Gesetzliche Richtschnur? Welche?)
Tab. 1 Quelle: nach Reinhardt 1999
einer Person zum Entscheidungsdilemma
der Politik fortgeführt wird, und der relativ spontane Zugang ist weiterzuführen in
eine distanziert-reflexive Verhandlung. Solche didaktischen Postulate müssen konkretisiert werden, das heißt es müssen handhabbare Konstruktionen für den Unterricht
entworfen werden.
Seit vielen Jahren wird die DilemmaMethode entwickelt und erprobt, die beide
Postulate in ihrem Ablauf-Schema einlöst
(vgl. Tab. 1).
Grundsätzlich führt der Weg vom
lebensweltlichen Zugang, der den Lernenden am ehesten verfügbar ist und sie eventuell emotional bedrängt, über die Klärung
und Vergewisserung möglicher Gründe zu
einer distanzierten Bewertung und Analyse
der unterschiedlichen Argumente und Stellungnahmen bis zur Dimension des demokratischen kollektiven Rechtsetzens.
Ein gut dokumentiertes Beispiel ist der
Umgang mit dem Chemie-Export-Dilemma,
das eine Lehrerin nach einem Skandal um
deutsche Exporte nach Libyen Anfang der
1990er Jahre entwickelt hatte (Reinhardt
1999, S. 71–77). In diesem Dilemma steht
eine Unternehmerin vor der Entscheidung,
ob sie den Auftrag zum Bau einer Laboranlage annehmen sollte. Das Produkt
der Anlage wird als Insektengift benutzt,
könnte aber auch gegen Menschen eingesetzt werden und schädigt die Umwelt.
Eine 10. Klasse stimmte in meinem Unterricht 1994 so ab: Fünf Schüler (nur Jungen)
stimmten für die Annahme, vier enthielten
Argumente zum Chemie-Export-Dilemma
PRO
Der Auftrag ist gut für die Firma
Die Firma geht sonst bankrott
Das kurzfristige Firmen-Interesse
Es geht um Arbeitsplätze!
Sonst nehmen andere den Auftrag
CONTRA
Man muss weiterdenken als an die Firma:
Umwelt
Falls das Gesetz das verbietet, sind die Konsequenzen mies
Das langfristige Firmen-Interesse
(Image-Schaden)
Es geht um Menschenleben!
Tab. 2
Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 123
Sibylle Reinhardt
Das Modell der Urteilsstrukturen
Stufe 1
Stufe 2
Stufe 3
Stufe 4
Stufe 5
Stufe 6
Orientierung am eigenen Wohlergehen
Orientierung an strategischer Tauschgerechtigkeit
Orientierung an den Erwartungen der Bezugsgruppen
Orientierung an der Gesellschaftsverfassung
Orientierung am Sozialvertrag
Orientierung an verallgemeinerungsfähigen Prinzipien
Tab. 3 Quelle: nach Kohlberg 1995/1968
sich, elf (fast nur Mädchen) stimmten dagegen. Die Argumente lauteten, wie in Tab. 2
aufgeführt (ich habe mitgeschrieben und
geordnet).
An diesem Punkt der Auseinandersetzung stellte ein Schüler die Frage, ob es
nicht um eine ganz andere Lösung gehen
müsse, nämlich um eine Regelung durch
ein Gesetz. Damit wurde die Perspektive gewechselt, nämlich vom Dilemma
einer einzelnen Person zur kollektiven Entscheidung über eine Rahmenbedingung
wirtschaftlichen Handelns. Das ethische
Dilemma einer Person eröffnet einen dynamischen Lernweg in die politische Entscheidung (vgl. May 2013). Und genauso war der
Politikprozess in der Bundesrepublik damals
verlaufen.
Das zweite didaktische Postulat, die
distanzierte Wertereflexion, wird durch die
sorgfältige Sammlung und Visualisierung
der Argumente (Phase II) und die anschließende Reflexion der Argumente auf ihre
Überzeugungskraft und ihren Status als Tatsachen- oder Werte-Argumente (Phase III) in
Verfahren übersetzt. Die theoretische Kraft
der Reflexion kann – besonders mit älteren
Lernenden – durch den Einsatz eines Instruments gefördert werden. Hier bietet sich
das ursprünglich entwicklungspsychologische Stufenmodell von Lawrence Kohlberg
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an, das aus seinem Kontext gelöst und als
Klassifikations-Modell für die Untersuchung
von Motiven, von Handeln und von gesellschaftlichen Strukturen oder Ideen genutzt
werden kann (vgl. Tab. 3).3
Die sechs Stufen entfalten sich erweiternde soziale Perspektiven und ein sich
generalisierendes Konzept von Gerechtigkeit. Alle diese Strukturen moralischen
Urteilens finden sich in der Wirklichkeit
und sehr viele Menschen verstehen mindestens in Ansätzen alle diese Argumentationen (nicht nach den test-theoretischen Festlegungen Kohlbergs, die seine empirische
Arbeit leiteten, die hier aber unberücksichtigt bleiben können). Steht bei Stufe 1 das
3 Die didaktisch transformierende Verwendung
(nicht: Anwendung) dieser generativen Strukturtheorie von Kohlberg zielt also auf Bildungsprozesse und nicht etwa auf die Einstufung von individuellen Lernern – es geht immer um das Verstehen
und Fördern von Interaktionen im Unterricht und
nicht um ein nivellierendes Kondensat von Daten
in einem Testwert. Ähnlich frei geht Sutter (2009)
mit Kohlbergs Forschungen bei seinem Versuch
um, eine Theorie sozialen Lernens durch koordinierten Dissens zu formulieren. Er löst «die empirische Moralforschung» aus dem «Diktat moralphilosophischer Begründungstheorien» (S. 191), nimmt
Piagets Methodologie der sozialen Praxis (Beobachtung und Befragung) zum Vorbild und formuliert Bausteine einer Theorie sozialen Lernens
(S. 190–237).
Zum Diskurs über ungleiche Werte
Ich im Vordergrund, so weitet sich die Perspektive über den sozialen Nahraum bis hin
zur Universalität aller denkbaren Betroffenen unter der Verfahrensidee des idealen
Diskurses auf Stufe 6.
Christian Fischer (2011) hat das Problem gelöst, wie man Lernenden das Stufenmodell von Kohlberg als Typologie für die
Analyse so an die Hand geben kann, dass
sie selbständig damit arbeiten können. Er
stellt die Stufen in einem Manual «Moralstufenanalyse» erzählend dar, womit Einzelne oder Gruppen dann Fälle, Argumente,
Strukturen oder Ideen bearbeiten können.
Mit Hilfe der Moralstufenanalyse können inhaltlich reichhaltige und nach ihren
moralischen Bezügen unterscheidbare Argumente erworben werden. Deshalb war – so
eine abschließende Diskussion zum Daschner-Dilemma (vgl. May 2013, S. 183–186) –
die strafrechtliche Verurteilung Daschners
auch nachvollziehbar, denn ein Gesetz muss
viele mögliche andere Fälle und Konsequenzen mitbedenken, und das Urteil basierte
auf einem Gesetz und dieses auf einem
höchstrangigen Wert. Für den Verurteilten
wäre das Urteil dann (trotz des Festhaltens
an seiner Entscheidung) ertragbar geworden, wenn er sein tragisches Dilemma als
nicht lösbares hätte akzeptieren können.
Der Einsatz einer strukturierenden
Unterrichtsmethode (Dilemma) und eines
Instruments (Moralstufenanalyse) bei der
Analyse, Erörterung und Reflexion eines
Falls vermag subjektives Engagement und
reflexive Distanz zu kombinieren.
5. Werteorientierte Demokratiepolitik: eine
Aufgabe für Politische Öffentlichkeit, Politik und
politische Bildung
Der Fall Daschner wurde in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung 2008 vereinfachend
kommentiert. Der Verfassungsrechtler
Dreier hatte in einer längeren Argumentation (Details bei Reinhardt 2008, S. 282–
284) vorgeschlagen, den Gedanken einer
«rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht
von vornherein auszuschließen». Dies trug
ihm und der SPD, die ihn als Richter für das
Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen
hatte, den Vorwurf ein, Folter zu rechtfertigen. Der dilemmatische Charakter des Falles wurde geleugnet, und dies führte zur
moralischen Beschädigung der Person und
der Partei. Journalisten sollten und könnten
aber anspruchsvoller mit Werte-Dilemmata
umgehen und so eine lehrende Funktion in
der politischen Öffentlichkeit akzeptieren.
Politik hat demgegenüber zu entscheiden und kann nicht in Reflexionen verharren. «Moralpolitiken» (Heichel/Knill 2013)
sind ein Politiktypus, in dem es um «Entscheidungen über grundlegende Werte»
(S. 57) geht. Moralpolitische Konflikte liegen häufig «quer zu parteipolitischen Konfliktlinien» (S. 58), und besonders in den
großen Volksparteien sind die Positionen
oft heterogen. Das führt, obwohl moralpolitische Fragen ein «hohes Potenzial der Politisierung» (S. 59) haben, zu geringer Entscheidungsfähigkeit (wozu auch die vielen
Vetospieler im politischen System der BRD
beitragen).
Entscheidungen werden womöglich vermieden, indem die Fragen auf andere Arenen verlagert werden: auf unabhängige
Expertenkommissionen (z. B. Deutscher
Ethikrat), Selbstverwaltungsorgane (z. B.
Bundesärztekammer) und Gerichte (beson-
Perspektivends 32. Jg. 2015 / Heft 2 125
Sibylle Reinhardt
ders das Bundesverfassungsgericht).4 Die
Struktur des politischen Systems und die
Strukturen der großen politischen Parteien
erklären – neben der moralischen Schärfe
und der Identitäts-Relevanz von WerteFragen (s.o., Punkt 3) – die Zurückhaltung politischer Akteure. Das Problem z. B.
der Beschneidung von Jungen war immer
bekannt, aber eine rechtskonforme Regelung wurde erst nach dem Urteil des Kölner
Landgerichts gesucht.
Wenn aber eine moralpolitische Entscheidung getroffen wird, dann kann sie
am ehesten integrieren und nicht zerreißen, wenn die Diskurse auf dem Weg zur
Entscheidung weder die Brisanz der WerteFrage herunterspielen, noch die Konflikthaltigkeit der Werte-Fragen ausblenden und
auch nicht so tun, als gäbe es Instanzen
der Vergewisserung, die uns leiten könnten. Politik ist selbst Teil des Diskurses der
Öffentlichkeit und könnte und sollte die
Aufgabe der Lehre für eine werteorientierte
Politik akzeptieren. Die argumentative
Kraft demokratischer Verfahren legitimiert
demokratische Politik zur politischen Bildung, denn Staat ist nicht nur Rechtszwang
und autoritatives Gebot (anders als Böckenförde es formulierte, vgl. Punkt 1).
Diese Lehre werteorientierter Demokratiepolitik obliegt natürlicherweise Politischer Bildung. Wie gezeigt wurde (Punkt 4),
stehen erprobte Inszenierungen (DilemmaMethode) und Instrumente (Moralstufenanalyse) für den Unterricht zur Verfügung.
Die Situation des Unterrichts zeigt Parallelen und Unterschiede zur diskursiven Situation der Technikfolgenabschätzung, die van
den Daele (2001) beschrieben hatte (vgl.
4 Bei Heichel/Knill (2013) werden diese Mechanismen mit Beispielen gefüllt.
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Punkt 3). In beiden Situationen findet Kommunikation unter Anwesenden statt, die von
Handlungsdruck entlastet sind und über
symmetrische Rechte in der Kommunikation verfügen, was durch eine formalisierte
Gesprächsführung gefördert wird. Während
in der partizipativen Technikfolgenabschätzung (TA) aber Teilnehmer(innen) mit hoher
Kompetenz in Sache und Verfahren freiwillig miteinander redeten, sind Lernende
im Unterricht pflichtgemäß und mit werdender Kompetenz beteiligt. An die Stelle
relativ autonomer Prozesskontrolle für die
TA treten dramaturgische Vorgaben durch
Lehrer(in) und Schule, die die Interaktionen rahmen. Die soziale und die sachliche
Repräsentanz der moralischen Konflikte
sind im TA über die Einladungen garantiert; im Unterricht werden sie simuliert
bzw. durch Materialien gesichert. Leitend
ist hierfür der (politikdidaktisch zentrale)
Beutelsbacher Konsens mit dem Überwältigungsverbot und dem Kontroversgebot (vgl.
Reinhardt 2014, S. 29–32).
Das Ziel dieser Inszenierung ist die
möglichst diskursive Verhandlung moralpolitischer Streitfragen, die die gegenseitige Achtung und Anerkennung im Konflikt
über ernsthafte Wertefragen bewahrt und
einübt. Kommunikation über Moral braucht
die Distanz der Reflexion und nicht die
unbedingte Authentizität des subjektiven
Bekenntnisses, damit Toleranz der Personen
und im politischen System möglich wird.
Dies gilt für die Auseinandersetzungen in
Politik und politischer Öffentlichkeit ebenso
wie für die Verhandlungen im Unterricht.
Zum Diskurs über ungleiche Werte
6. Fazit
Werteorientierte Demokratiepolitik in Politik, Öffentlichkeit und Unterricht bedarf
der Vorkehrungen für die konfliktreichen
Auseinandersetzungen, damit der Konsens
über gegenseitige Achtung und innergesellschaftlichen Frieden nicht durch Interaktionen moralischer Konfrontationen zerstört wird. Konflikte über materielle Interessen und über die Einschätzung vieler
Fakten sind Kompromissen eher zugänglich
als moralische Dilemmata, in denen gleichwertige Werte existentieller Bedeutung kollidieren. Deshalb ist werteorientierte Demokratiepolitik eine schwierige und dringliche
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