Wo einmal Berge waren Fotos: Vivian Stockman, Text: Phylis Geller „Wenn das amerikanische Volk sehen könnte, was ich gesehen habe, hätten wir eine Revolution in diesem Land: Wir tragen in den Appalachen unsere Berge ab.“ Robert Kennedy jr. Vor unseren Augen geschieht in den Appalachen eine der größten Umwelt- und Men- schenrechts-Katastrophen in der Geschichte des Landes. Familien und ganze Dorfgemeinden werden durch Überflutungen, Erdrutsche und Sprengungen von ihrem Land vertrieben: durch die Folgen eines Kohle-Abbaus, genannt Mountaintop Removal (Entfernung der Bergkuppen). Eine lebendige Kultur und einige der ältesten Berge der Welt werden hier vernichtet, um für die USA „billige Energie“ bereitzustellen. An Kohle verschwenden die wenigsten Amerikaner auch nur einen Gedanken. Wir reden vielmehr über unsere Abhängigkeit vom ausländischen Öl; politisch diskutiert wird vor allem über Bio-Kraftstoffe, Windfarmen und Solarenergie. Und nur wenige von uns wissen, dass die Hälfte der elektrischen Energie des Landes aus Kohle entsteht. Manche meinen sogar, dass unsere Kohlevorräte noch für die nächsten 200 Jahre reichen werden. Kohle spiele also eine größere Rolle in der Zukunft als andere Energiequellen. Aber: Kohle ist der schmutzigste fossile Brennstoff. Jede einzelne Maßnahme im Bergbau und in der Weiterverarbeitung belastet Luft und Wasser mit Emissionen. Von den Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit ganz abgesehen, produziert die Kohleverbrennung doppelt so viel CO2 wie Erdgas und trägt damit erheblich zur globalen Erwärmung bei. Die größten Kohlevorkommen unseres Kontinents liegen in den Bergen von Virginia, West Virginia, Kentucky, Tennessee und Pennsylvania. Seit 150 Jahren werden die Berge von den Bergbaugesellschaften ausgeweidet, ausgebeutet (wie die Menschen). Heute haben wir einen neuen Bürgerkrieg in den Appalachen, und die Front geht quer durch die Familien und die Dörfer: Die einen brauchen die Jobs im Bergbau, und die andern protestieren gegen die Zerstörung ihrer Heimat. Kohle wird sowohl unter Tage als auch im Tagebau gefördert. Während der Untertage-Abbau allmählich an Bedeutung verlor, wurde der Tagebau immer wichtiger. Heute bietet uns der technische Fortschritt schnellere und billigere Möglichkeiten, an die Kohle zu kommen. Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhundertsträgt man also die Berge einfach ab, man nennt es Mountaintop Removal oder kurz MTR. Während der Ölkrisen von 1973 und 1979 kam MTR durch die gestiegene Nachfrage nach Kohle in Schwung. Nachdem seit den 90er Jahren schärfere Gesetze gegen die Verbrennung von hoch schwefelhaltiger Kohle in Kraft waren, wurde MTR großflächiger angewandt, um die relativ schwefelärmere Kohle in den oberflächennahen Flözen abzubauen. MTR wurde weitgehend eine Sache von Maschinen und schwerem Gerät; damit können Bergbauunternehmen jetzt leichter auch an abgelegene Kohlelager gelangen, die bei früheren Abbaumethoden unerreichbar waren. Weil MTR mit sehr viel weniger Arbeitskräften auskommt als der Untertagebau, gingen in dieser Branche zwischen 1990 und 1997 etwa 10 000 Jobs verloren. In den armen und unterentwickelten Landstrichen haben Bergarbeiter kaum alternative Beschäftigungsmöglichkeiten. Zuerst kommen die Bulldozer und reißen auf den Bergen alle Bäume und Pflanzen aus. Die Bäume werden entweder an Sägewerke verkauft oder einfach den Abhang hinunter ins Tal gerollt. Die Humusschicht wird entfernt und manchmal für eine spätere Wiederurbarmachung aufbewahrt. Dann sprengen die Bergleute die bis zu 350 Meter hohe Bergkuppe ab. Der dabei entstehende Staub enthält Schwefelverbindungen, die Häuser (durch Korrosion) und die Gesundheit der Menschen gefährden. Die von der Kohleschicht abgesprengte Schicht aus Humus und Gestein wird Abraum genannt. Der Abraum wird oft in riesigen Massen in das tieferliegende Tal geschüttet (das heißt dann „Talfüllung“) und begräbt Bäche und Flüsse unter sich. Ein Schaufelbagger entfernt sodann die Kohle, die danach mit Schwerlastern zum Waschen abtransportiert wird. Die schlammigen Rückstände (auch Kohlen-Maische genannt) enthalten chemische Umweltgifte und Schwermetalle. Millionen Tonnen dieser Kohleschlamm-Rückstände werden in offenen Becken gespeichert, innerhalb einfacher Erddämme, die bei starkem Regen leicht aufweichen und brechen. Dieser MTR-Tagebau wird in der Nähe von Schulen und Wohnhäusern betrieben, manchmal ununterbrochen 24 Stunden pro Tag. Die Menschen müssen sich mit dem fortwährenden Lärm der Sprengungen abfinden, mit verschmutzter Luft und schmutzigem Wasser und der dauernden Bedrohung durch Dammbrüche und Überschwemmungen. Die Fälle von Krebs-, Hautund Lungenerkrankungen nehmen hier beträchtlich zu. In dieser Gegend ist ein Haus oft der einzige Vermögenswert, aber MTR hat zahllose Häuser bereits irreparabel beschädigt. Wenn die Bewohner umziehen wollten, haben sie nichts Wertvolles mehr zu verkaufen. Wenn die Bergbauunternehmen alle Kohle aus dem Berg geholt haben, versuchen sie, die komplizierten, aber ineffektiven Gesetze zu befolgen, nach denen die Landschaft für eine spätere Nutzung wiederhergerichtet werden soll. Die Unternehmen pflanzen Gras und Buschwerk an, oder sie bauen Industrieparks und Flugplätze. Die Pflanzen stammen aus einem völlig anderen Habitat und sind wertlos für die einheimische Fauna, und die Bauten sind nur für wenige Menschen von irgendeinem Nutzen. Die Zerstörung der Wasserläufe, der Täler und der Landwirtschaftsflächen ist allerdings nicht rückgängig zu machen. Die Anwohner sagen dazu nur noch: „Diese Wiederherstellung ist das Schminken einer Leiche.“ Manchmal wird behauptet, moderne und teure Technologie ermögliche eine „saubere Kohle“, also die Verminderung der Schwefeldioxid-, Stickoxid- und Quecksilber-Emissionen. Aber bisher gibt es keine Anlage mit dieser Technologie, und die meisten neugebauten Anlagen werden gleich überhaupt ohne sie gebaut. Die Bergbauunternehmen schlagen außerdem die CCS -Technologie vor (Carbon Capture and Storage), also CO2-Abscheidung und -Speicherung in verlassenen Schächten unter der Erde. Den Nachweis jedoch, dass hier keine Schadstoffe entweichen und in die Landschaft gelangen können, hat bisher niemand erbracht. In den Tagebauten von West-Virginia und Kentucky sind durch MTR heute bereits 600 000 Hektar gesunder Boden vernichtet und weitere Flächen beschädigt. Die Umweltbehörde der USA schätzt, dass bis zum Jahr 2012 etwa 5700 Qua- dratkilometer Wald in den Appalachen verschwinden. Allein in West-Virginia sind durch die Abraum-Füllung von 4000 Tälern mehr als 1300 Fluss-Kilometer belastet, speziell im lebenswichtigen Oberlauf der Flüsse, die den Staaten im Südosten der USA das Trinkwasser liefern sollen. 1977 verabschiedete der Kongress das Gesetz zur Reinhaltung der Gewässer (Clean Water Act), das der Industrie verbietet, „Abfälle“ in Flüssen zu deponieren. Aber im Jahr 2002 verfügte die Bush-Regierung in einer „Änderungsdirektive“ des Präsidenten, dass der Abraum aus MTR kein Abfall im Sinne des Gesetzes sei. Seitdem nützen die Bergbauunternehmen diese Ausnahmeregelung, alles in Flüsse zu werfen, was sie nicht mehr gebrauchen können. Im August 2007 schlug die Regierung eine weitere Ausnahme vom Clean Water Act vor. Dadurch soll die „Abstandszone“ gekippt werden, die einen 31-Meter-Mindestabstand zwischen Kohleabbau und Wasserläufen vorschreibt. In der Vergangenheit haben die Unternehmen sich eine solche Ausnahmegenehmigung regelmäßig durch einen einfachen Antrag besorgt. In Zukunft wären jetzt alle Hindernisse beseitigt zwischen den Unternehmen und der vollständigen Beerdigung der Flüsse in den Appalachen. Beim heutigen Tempo der Landschaftszerstörung sind die Appalachen in 50 Jahren unbewohnbar. Aber es besteht Hoffnung, die Stimmung dreht sich. Viele Anwohner bleiben nicht länger tatenlos angesichts der Zerstörung ihres Eigen- tums und der Gefahr für ihre Familien. Das ganze Land ist heute von der Sorge um den Klimawandel ergriffen und setzt sich für saubere und nachhaltige Energie ein. Die Zahl der Anträge für Kohlekraftwerke in den USA ist seit kurzem von 150 auf 129 zurückgegangen. Auch das ist ein Ergebnis öffentlicher Aktionen und erfolgreicher Klagen vor Gericht.