Parsifal und die Überwindung des Bösen Eine Einführung von Thomas Meyer im Opernhaus von Sofia Am 8. Juli dieses Jahres kam es in Sofia zu einer besonderen Veranstaltung aus doppeltem Anlass: die ersten Parsifal-Aufführungen der Oper von Richard Wagner in Bulgarien fielen zeitlich mit der Vernissage für die bulgarische Ausgabe des Buches Im Zeichen der Fünf von Thomas Meyer zusammen. Dank langjähriger Verbindungen des Verlegers Dimitar Dimcheff zum Opernhaus und dessen PR-Manager Valentin Stanov konnte die Vernissage in einem der oberen Säle des Opernhauses stattfinden und war auch für das nicht-anthroposophische Publikum zugänglich. Nach den Begrüßungsworten von Diana Botucharova hielt Meyer das folgende Referat, das durch Katja Belopitova simultan ins Bulgarische übersetzt wurde. * Sehr verehrte, liebe Anwesende, liebe Freunde der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners und der Opern Richard Wagners! Ich freue mich, diese ungewöhnliche Gelegenheit zu bekommen, an diesem Ort, wo heute ja die dritte Aufführung des Parsifal zu sehen sein wird, sprechen zu können. «Parsifal und die Überwindung des Bösen» – so lautet unser Thema. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Hauptgestalten dieser Oper: Gurnemanz, Amfortas, Kundry, Klingsor, Parsifal. Sie alle haben etwas gemeinsam: Sie haben alle zu tun mit dem Phänomen des Bösen. Einige mehr passiv, zum Beispiel Amfortas. Passiv will hier sagen: mehr vom Bösen ergriffen, als es mit Absicht suchend oder wollend. Auf der anderen Seite haben wir Kundry und Klingsor, die aktiv in die Produktion von Bösem involviert sind. Gurnemanz – ein Zeuge des Bösen, aber auch ein großer Freund und Streber nach dem höchsten Guten. Und dann natürlich schließlich Parsifal, der eigentliche Überwinder, der Sieger über das Böse. Diese Personen stehen also in einem ganz verschiedenen Verhältnis zum Phänomen des Bösen. Die genannten Charaktere haben aber noch etwas gemeinsam. Wir finden sie alle in einem jeden einzelnen Menschen. In jedem von uns steckt, in verschiedener Dosierung, etwas von Gurnemanz, Amfortas, Kundry, manchmal sogar von Klingsor; und, vielleicht zu einem kleinen Prozentsatz, etwas von Parsifal. Grundgedanken der Oper Schon im ersten Akt spricht Gurnemanz einen Grundgedanken aus, der für das ganze Werk gilt: «Das Böse bannt, wer’s mit Gutem vergilt.» Ein wichtiges Grundmotiv. Das Böse bannt nicht der, der es verurteilt oder bekämpft, sondern der, der Gutes daneben stellt. Ein weiteres Motiv: Wenn das Böse überwunden werden soll, dann braucht es dazu Erkenntnis. Das klingt schon an in der mehrfach ertönenden Formel, dass der, welcher Amfortas einst erlösen wird, derjenige ist, der «durch Mitleid wissend» wird. Nicht Mitleid allein, nicht Wissen allein reicht aus, um das Böse zu überwinden. Beides muss zusammenkommen in einer Synthese. Wie Herz und Kopf. Das ist die Aufgabe Parsifals. Diese Aufgabe kann er zunächst noch gar nicht bewältigen. Beim ersten Besuch der Gralsburg kann er das, selbst im unmittelbaren Anblick des leidenden Amfortas, noch nicht. Er ist noch der «reine Tor», der nichts weiß und auch nicht viel fühlt. Obwohl er sich in einem bestimmten Moment immerhin in dumpfem Mitleid ans Herz greift. Parsifal muss eine Entwicklung durchmachen. Alle genannten Figuren müssen eine Entwicklung durchmachen. Mehr oder weniger. Extrem ist Kundrys Entwicklung, extrem die von Parsifal. Die ganze Oper ist somit auch ein Drama über die menschliche Entwicklung. Rudolf Steiner und die Erkenntnis des Bösen Das Motiv der Erkenntnis des Bösen gibt mir Anlass, kurz auf das Buch hinzuweisen, von dem in der Einleitung die Rede war: Im Zeichen der Fünf. Dieses Buch enthält Kerngedanken über das Böse von Rudolf Steiner. Steiner sagt – und das zeigt, wie aktuell Parsifal ist –: Die Erkenntnis des Bösen ist die große Aufgabe unserer Zeit. Im Übrigen war Steiner auch ein großer Kenner und Schätzer des Werkes von Richard Wagner. Sie sehen das an der zweiten Publikation, die hier aufliegt [gemeint ist eine bulgarische Ausgabe mit verschiedenen Vorträgen Steiners zu Wagner]. Einen Tag vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 31. Juli 1914, saß Steiner mit Eliza von Moltke und anderen Freunden in einer Parsifal-Aufführung in Bayreuth. Ein Grundgedanke für die Auseinandersetzung mit dem Bösen ist bei Steiner – und ich denke auch bei Wagner –: Es gibt kein «ewiges» Böses. Es gibt kein absolutes Böses. Es gibt nur ein absolutes, ewiges Gutes. Sie finden diesen Gedanken auch im Goetheschen Faust. Das ganze Unheil, das Mephisto anrichten kann, kann er nur anrichten, weil er Erlaubnis bekommt vom «Herrn», von der Gottheit selbst. Es ist sehr wichtig, dass man diesen Gedanken fasst. Denn wenn man glaubt, es gäbe ein absolutes Böses, dann ist dies nicht nur ein Irrtum; es erzeugt auch Emotionen, Angst und Hass. Das Böse gehört in die Zeit und den Raum, nicht in die Ewigkeit. Der deutsche Dichter Lessing lässt in einem «Faust»-Fragment den Faust verschiedene Geister magisch heraufbeschwören. Und dann fragt er sie, was die größte Geschwindigkeit in der Welt habe. Einer der Geister sagt, zu Faust großer Zufriedenheit: «Der Übergang vom Guten zum Bösen». So hat das Böse mit der Zeit und auch mit der Beschleunigung in der Zeit zu tun. Wir hatten den Ersten Weltkrieg – vier Jahre lang. Und nun hatten wir, am Beginn dieses Jahrtausends, einen einzigen Tag, der ähnlich katastrophale Folgen hatte und immer noch hat, den 11. September 2001. Das ist eine Komprimierung der Kraft des Bösen in der Zeit. Im Parsifal gibt es ein Bild für das höhere Gute, das absolut ist und deswegen über das Böse siegen kann. Es ist mit dem Wort «Gral» ausgedrückt. Und vom Gral geht das aus, was heiliger Geist genannt wird und was wir im Bild der Taube sehen, die sich im dritten Akt über den enthüllten Gral herabsenkt [was in der sonst sehr sehenswerten Inszenierung in Sofia leider nicht zu sehen ist]. Der Gral, die Taube – das sind Bilder für das Ewige. Für das Ewig-Wahre, das Ewig-Gute und auch für das Ewig-Schöne, wie es in der Kunst erscheinen kann. Wege der Entwicklung Ich habe schon erwähnt: Alle Charaktere machen eine Entwicklung durch, vor allem Parsifal und Kundry. Parsifal muss lernen, durch Mitleid wissend zu werden. Er muss seine ungeläuterten Eigenschaften, die er auch hat – Wildheit, Neigung zu Gewalt usw. – veredeln lernen. Klingsor auf der andern Seite geht einen anderen Weg. Er will nicht eine Veredelung, um höher zu streben – auch er strebte einst zum Gral –, sondern er unterdrückt das Niedere in sich mit Gewalt, und dadurch beschwört er unheilvolle Kräfte und schwarz-magische Fähigkeiten herauf. Auch Klingsor wollte und will immer noch zum Gral gelangen. Aber er macht es mit den falschen Mitteln: Unterdrückung, Macht, Hass usw. In Bezug auf das Motiv «durch Mitleid wissend» gibt es für mich im ganzen drei-aktigen Drama einen eigentlichen Höhepunkt. Wir werden im zweiten Akt ja sehen, wie Parsifal versucht wird, auf Befehl Klingsors, durch Kundry auch zu stürzen, wie es mit Amfortas geschehen ist. Da kommt der dramatische Punkt, wo Kundry, die ihn schon durch ihre Blumenmädchen umworben hat, Parsifal schließlich umarmt und küsst. Und man könnte verstehen, wenn auch Parsifal der Versuchung nachgeben würde. Dann hätten wir einen neuen Amfortas. Das passiert aber nicht. Ein einziges Wort, das er ausruft, zeigt gewissermaßen: jetzt ist er erwacht, jetzt ist er wissend geworden. Es ist das Wort «Amfortas!» Im Augenblick des Geküsstwerdens geht ihm die Intuition auf, was eigentlich das Drama des Amfortas war. Das dumpfe Mitleid, das er schon im ersten Akt empfunden hatte, aber eben nur ganz dumpf, das ist jetzt erwacht. Und Parsifal erkennt in einem einzigen Augenblick den Ursprung des Leidens des Amfortas. Der dramatische Höhepunkt des ganzen Dramas. Jetzt kann er seine Mission, das Böse zu überwinden, direkt ergreifen. Denn jetzt ist ihm klar geworden, wie die Zusammenhänge sind. Dieser Höhepunkt im Drama lässt sich vergleichen mit dem Augenblick, in dem in Verdis Rigoletto der Held nachts einen Sack öffnet, in dem die Leiche seines Feindes sein sollte – um darin seine eigene, geliebte Tochter zu finden. «Amfortas»! – der dichteste ErkenntnisMitleids-Augenblick in der ganzen Oper. Entwicklung durch wiederholte Erdenleben Ein weiteres Motiv ist, dass wir viele Gelegenheiten haben zur Entwicklung, und zwar nicht nur in einem Leben, in mehreren Leben. Sie finden das bereits im ersten Akt ausgesprochen durch Gurnemanz. Dieser sagt von Kundry, dass sie «vielleicht aus früherem Leben Schuld zu büßen» habe. Klingsor nennt Kundry im zweiten Akt nicht nur «Ur-Teufelin» – ein starkes Wort! –, sondern auch Herodias. Diese soll nach der Legende den Christus am Kreuz verspottet und verlacht haben. Als Kundry Parsifal von ihrem eigenen Leid erzählt, um ihn dadurch zu erweichen, sagt sie etwas sehr Bedeutendes. Sie spottete des Herrn am Kreuz, und sie sagt: «Da traf mich sein Blick!» Dieses Wort ist musikalisch mit einem sehr schönen, einfachen Motiv verknüpft, bereits in der Ouvertüre, und dann wieder im zweiten Akt, und es klingt auch im dritten Akt wieder an. Der Blick, den Herodias-Kundry empfängt, ist nicht ein strafender oder ein rächender Blick. Das ist ein Blick, der ihre ganze künftige Entwicklung impulsiert. Das zeigt sich erst später, in einer folgenden Inkarnation. Dieser Christus-Blick, den sie als Herodias empfangen hatte, ist der tiefere Grund, warum Kundry später überhaupt zum Gral strebt. Und wie Sie wissen, findet sie im dritten Akt, dank der Erlösung und der höheren Liebe durch Parsifal, der sie davon befreit, an das Böse gekettet zu bleiben, tatsächlich den Weg zum Gral. Sie sehen, ein weit gespannter Bogen der Entwicklung, der nicht nur ein Leben, sondern mehrere Leben umfasst. Bei Kundry, aber auch bei Parsifal. Auch Parsifal hat ein dumpfes Bewusstsein, dass er nicht zum ersten Male lebt. Als Gurnemanz ihn im ersten Akt fragt: «Dein Name?», sagt Parsifal: «Ich hatte viele. Doch weiß ich keinen mehr.» In dieser Situation sind die meisten Menschen: Die spirituellen Erlebnisse aus früheren Inkarnation wurden vergessen. Doch heute gibt es schon viele Menschen, oft Kinder, die von Erlebnissen aus früheren Leben berichten. Der Reinkarnationsgedanke bei Wagner und im Christentum Richard Wagner war nicht der einzige, der den Gedanken der Reinkarnation kannte und ernstnahm und in sein Werk aufnahm. Das war auch bei Goethe der Fall, bei Schiller, bei Emerson, dem amerikanischen Essayisten. Und bei Rudolf Steiner, dem Begründer der Geisteswissenschaft steht er gewissermaßen im Zentrum; er gehört zu seiner «eigensten Mission». Das ist nicht nur ein buddhistischer Gedanke. Es gibt in der Bibel mindestens eine markante Stelle, wo Christus von der Reinkarnation spricht. Da, wo einige Jünger mit ihm auf den Berg der Verklärung gehen. Beim Abstieg kommt das Gespräch auf Elias, und Christus deutet an, dass dieser in Johannes dem Täufer, der kurz vorher enthauptet worden war, wieder erschienen sei. Es ist also die Idee der Reinkarnation durchaus mit dem Christentum vereinbar. Das ist der einzige Punkt, an dem ich mit einem sehr bemerkenswerten Interview auf der Webseite des Opernhauses nicht ganz einverstanden sein kann. Das Interview mit Richard Trimborn Sie finden da ein Interview, das etwa neun Minuten dauert, mit Richard Trimborn, der die Oper mit den Künstlern musikalisch einstudiert hat. Sehr bemerkenswert. Man findet in Trimborn einen Menschen, der mit dem realen Geist des Schöpfers eines solchen Werkes rechnet. Trimborn fragt im Geist den Komponisten: «Bist Du zufrieden mit dem, was heute in Bayreuth gemacht wird?» Und er glaubt, den Komponisten sagen zu hören: «Nein!» Und er fragt: «Bist du zufrieden mit dem, was wir hier in Sofia versuchen!» Und er glaubt, den Komponisten sagen zu hören: «Ja!» Und Trimborn nimmt zudem den Gedanken der Wiederverkörperung offensichtlich ernst, wenn er auch meint, er sei nur buddhistischen Ursprungs. Es ist das interessanteste Interview über Wagners Parsifal, das ich je gelesen habe. Gérard Mortier und die Reinkarnation von Richard Wagner Wir finden den Gedanken der Reinkarnation, der so tief in den Parsifal einfloss, wie gesagt in der Geisteswissenschaft Steiners wieder; hier zum Ziel systematischer wissenschaftlicher Forschung werdend. Steiner hat viele Fälle konkreter Reinkarnation untersucht. So erforschte er auch eine frühere Inkarnation von Richard Wagner selbst. Und dieses Forschungsresultat wurde für einen anderen Künstler inspirierend. Der vor einigen Jahren verstorbene belgische Intendant und Leiter der Salzburger Festspiele Gérard Mortier äußerte in einem Interview in der Tageszeitung Die Zeit, wie er erst dadurch, dass er die von Steiner mitgeteilte frühere Verkörperung Wagners kennenlernte, den eigentlichen Zugang zu dessen Tristan fand! Und was hat Steiner offenbart? Richard Wagner habe unter anderem eine frühere Verkörperung als der große Zauberer und Magier Merlin gehabt. Etwas von der Magie Merlins kehrt in der Magie der Musik Richard Wagners wieder. Das musikalische Motiv des Karfreitags-Zaubers Ich möchte diese allzu kurze Skizze abschließend noch auf das musikalische Motiv des Karfreitags-Zaubers im dritten Akt hinweisen. Nachdem Parsifal sich zu erkennen gegeben hat, Kundry ihm die Füße gewaschen und Gurnemanz ihn gesalbt hat – da verwandelt sich alles. Auch die Natur. Entwicklung ist nicht nur im Menschen. Entwicklung ist auch in der ganzen Natur, das heißt, konkret gesprochen, im Reich der Elemente und ihrer Wesen. Diese Wesen lassen sich um der Entwicklung des Menschen willen gewissermaßen in ein Gefängnis sperren, sie gehen gleichsam aus ihrer geistigen Heimat ins Exil. Sie erwarten aber, dass der Mensch sie eines Tages wieder befreit. Gurnemanz sagt, die Natur sei «entsündigt». Die Natur ist in einem Zustand der Erwartung und der Werdens-Freude. Und nun gibt es etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Takte, wo die Musik ungeheuer feierlich, zart und still wird, während die Natur im Karfreitags-Zauber erblüht. Rudolf Steiner sagte einmal zu einer Begleiterin bei einer Parsifal-Aufführung: «Passen Sie gut auf! Die Musik, die jetzt kommt, ist wie vom Grals-Wesen selber inspiriert.» So lässt Wagners Karfreitags-Zauber alles nur Katholische, wo Leid- und Schuldstimmung herrschen, weit unter sich. Alles ist hier Keim des neuen Lebens, alles im Menschen, aber auch alles in der Natur. Der heilige Speer Zum Schluss lese ich ein paar Zeilen zur heiligen Lanze, die ja bei der Verwundung und der Heilung des Amfortas die Schlüsselrolle spielt. Es ist die Lanze, die einst den Christus durchstochen hatte, woraus das reine Blut aus der Wunde trat. Dem Amfortas, durch Kundry verführt, konnte sie von Klingsor entrissen werden, der damit den Amfortas tödlich verwundete. Parsifal bringt sie nun wieder zurück. Und er sagt: «Nur eine Waffe taugt, die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.» Und er sagt zu Amfortas: «Sei heil, entsündigt und gesühnt. Denn ich verwalte nun dein Amt. Gesegnet sei dein Leiden, das Mitleids höchste Kraft und reinsten Wissens Macht dem zagen Toren gab.» Nun ist Parsifal durch Mitleid wirklich wissend geworden – und mächtig, im guten Sinne, im Sinne der weißen Magie. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! *** Ein paar Impressionen der beiden Aufführungen vom 8. und 10. Juli Am 8. Juli sah ich die dritte von insgesamt fünf für Bulgarien erstmaligen Aufführungen. Das Dirigat führte Constantin Trinks, Regie Palmen Kartaloff. Die Akustik des Opernhauses ist hervorragend. Sowohl im zweiten Rang wie in einer vorderen Parkettreihe war der Klang makellos. Das von Trimborn einstudierte Orchester und die Sänger brachten ausgeglichene Leistungen hervor. Es war eine seltene Homogenität von Orchester, Sängern und Chören zu erleben. Trimborn und Kartaloff ist zu danken, dass hier vom fatalen Regie-Theater Abschied genommen worden war. Mit einem zwar eigenwilligen, stilisierten, moderne Lichteffekte benützenden Bühnenbild, aber ohne den leider üblichen Zwang, sich irgendeine politisch oder sonstwie «aktuelle» und meistens willkürliche RegisseurInterpretation gefallen lassen zu müssen. Auch wenn man zugunsten einiger symbolischer Gestaltungen Einiges missen mochte – wie einen schönen sichtbaren Graslkelch oder die Taube im dritten Akt usw. – alles sollte der Dichtung und der Musik dienen, nicht davon ablenken. Diese Grundgesinnung herrschte offenbar auch bei den Sängern und im Orchester und Chor vor. Zudem ermutigte die Regie Bewegungsabläufe, die sonst bei Wagner-Aufführungen kaum zu sehen sind, was oft zu langatmiger gestischer Statik führt. Besonders im zweiten Akt war dies zum Beispiel bei Kundry zu bewundern. So konnte der Zuschauer das Musikdrama lebhaft und mit steter Anteilnahme verfolgen, unterstützt auch durch bulgarische und englische Untertitel. Denn Wagners Musik ohne Text ist wie Kaffee ohne Koffein. Insgesamt: eine große stimmungsmäßige Einheit von Sängern und Musikern, die sich auch – bei beiden Aufführungen – auf das ganze Publikum übertrug. Es wurde mit echter slawischer Andacht und Gespanntheit zugehört. Der Applaus nach der fünften und letzten Aufführung war besonders anhaltend und von Herzen kommend. Die einzige mir bekannte Parsifal-Aufführungen in Mitteleuropa, die an Dignität mit der von Sofia vergleichbar sind, sind die jeden Karfreitag stattfindenden Aufführungen in Mannheim. Mangelnde Bewegungs-Dynamik, wenig deutliche Artikulation der meisten Stimmen sowie fehlende Untertitel lassen aber keinen Vergleich mit der konkret-gespannten Aufmerksamkeit zu, wie sie in Sofia zu erleben war. Es ist zu hoffen, dass es regelmäßig zu solchen Aufführungen in Sofia kommen wird – sowohl der Komponist wie auch das Publikum würden so vom unerträglichen Amfortas-Leiden durch das Regie-Theater erlöst. In diesem Sinne können die Parsifal-Premièren in Sofia als beispielhaft gelten. Thomas Meyer Freier Schriftsteller und Herausgeber der Monatszeitschrift Der Europäer und The Present Age, in Basel www.perseus.ch und [email protected] PS: Im nächsten Sommer sollen in Sofia Der Ring der Nibelungen und Tristan gegeben werden. Informationen auf der Webseite http://www.operasofia.bg/novini/item/5690-parsifal-ipreodolyavane-na-zloto-lektziya-ot-tomas-maier-shveitzariya