Hasifal und der heilige Kraal oder Des Kaisers neue Kleider Anmerkungen zur Neuinszenierung der Bayreuther Festspiele 2004 Weißt Du, was Du sahst? fragt Gurnemanz am Ende des ersten Aufzuges den naiven Parsifal, der ob der Qualen des Amfortas in Sprachlosigkeit verfallen ist. Würde der Regisseur der diesjährigen Neuinszenierung der Bayreuther Festspiele, Christoph Schlingensief, diese Frage den Premierengästen gestellt haben, hätte die Mehrzahl sie wie Parsifal wohl verneint, allerdings aus Ratlosigkeit über das Gesehene. Vielleicht sollte man zunächst einmal feststellen, was Schlingensief nicht getan hat: Er hat nicht, wie viele befürchtet haben, bewusst provoziert. Er hat auch nicht die Sänger und Darsteller nach Art heutiger Regiekonzepte zur gleichen Zeit zwei verschiedene Stücke spielen lassen, nämlich vokal Text und Musik als Allegorie für die eigenen Intentionen benutzt, um nicht zu sagen missbraucht und visuell eine fast beliebige Handlung, die der Regisseur gerne erzählen möchte, unterlegt. Er verfolgt nach seinen Aussagen ein anderes, zumindest in Bayreuth bisher unbekanntes Konzept: Aus seinem stark von Beuys und Fremdkulturen geprägten Kunst- und Kulturverständnis, mit dem er sich Richard Wagner und seinem Erlösergedanken verbunden glaubt (eine Erlösung des Individuums gibt es nur im Tod) und deren Darstellung er im Parsifal zu finden meint, versucht er, einen rauschhaften Empfindungszustand beim Zuschauer zu erzeugen. Dieser soll auf diese Weise seine Interpretation emotionell erfassen und erfühlen. Er versucht dies durch eine optische Reizüberflutung – überwiegend Videofilme mit Makroaufnahmen aus der Amöbenwelt und ähnlichem – und einer überladenen, vermüllten, im Dreivierteldunkel gehaltenen Bühne zu erreichen. Dies mag ein durchaus interessantes Konzept sein, das allerdings in Bayreuth nicht funktionieren kann. Zwangsläufig wird damit Musik und Gesang zur akustischen Kulisse degradiert, ähnlich wie die Wurlitzer Orgel-Musik in der Stummfilmzeit. Insofern ist sein Regieweg ein Rückschritt in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Dennoch könnte er mit den heutigen Mitteln der Technik, Buntheit und ideenreiche Reizüberflutung höchst unterhaltend und interessant (z. B. in einem Parsifal-Film) sein, wenn nicht wie hier auf dem Hügel überwiegend ein Publikum anzutreffen ist, das das Stück sehr genau kennt und bei dem die musikalische Interpretation im Mittelpunkt steht. Wenn schon optische Dominanz herrscht, muß sie leicht faßbar und ohne weitläufige Erklärungen verständlich sein, sonst lenkt sie vor lauter Grübeln von der Musik und dem Thema ab und wird nur als ärgerlich und störend empfunden. Schlingensief hat seine Rechnung sozusagen ohne das Bayreuther Publikum gemacht. Wie sieht nun die Schlingensief-Regie aus? Wir sehen eine überladene, rumpelkammerhafte Bühne, erleben einen ständigen Aktionismus mit Videoüberflutung und begegnen einigen unverständliche Nebenfiguren und Einblendungen. So spielt der Hase eine besondere Rolle. Im ersten Aufzug erscheint auf der Bühne ein lebendiges Kaninchen im Käfig (als Hasenersatz), das bei der Gralseröffnung in einer Art Prozession um den Gral (?), eine Art Brunneneinfassung mit der rätselhaften Aufschrift Queste herumgetragen wird. Im zweiten Aufzug treten u. a. als Statisten ein dicker älterer Mann mit einem in Goldpapier eingewickelten Osterhasen und eine winkende Frau auf (Dem Vernehmen nach soll es sich um das Schauspielerehepaar Zander handeln, das als Sponsor der Arbeiten Schlingensiefs bekannt ist.). In den letzten Minuten des dritten Aufzuges wird schließlich das Bühnenbild durch eine die gesamte Bühnenöffnung ausfüllende Leinwand ersetzt. Ein Videofilm zeigt einen die ganze Fläche ausfüllenden Hasen, der mit den letzten Takten der bezaubernden Musik in Zuckungen und im Zeitraffer offenbar in Verwesung übergeht. Was soll’s? Wo und wie findet man den Zusammenhang zum Parsifal Richard Wagners? Aus den vielen Interviews, Erklärungen, Berichten, u. a. vom Dramaturgen Carl Hegemann, kann man entnehmen, daß der „Beuyssche Hase“ hier eine Rolle spielt, ferner soll dieses Tier bei bestimmten Naturvölkern als Symbol der Torheit gelten und überhaupt viele mystische Bedeutungen haben. Ja, die Naturvölker. Die Reisen Schlingensiefs nach Nepal und Namibia scheinen ihn besonders inspiriert zu haben. Dem Bassin Queste, das möglicherweise der Gral ist, entsteigt eine halbnackte dicke Braun-Schwarze, nur mit einem bunten Bändergürtel bekleidet, wahrscheinlich als Urmutter der Naturvölker. Eine Fülle von Symbolschildern, Inschriften wie „STALLORDER“, „RUNEN“, „GOTT“ tauchen auf, ein „FRIEDHOF DER KUNST“, u. a. mit der Mona Lisa und dem unvermeidlichen (Dürerschen oder Beuysschen?) Hasen wird gesichtet. Es ist mir nicht möglich, die Fülle der Details hier aufzuzählen. Und die Personenführung? Sie gibt es eigentlich nicht. Ständig ist man auf der Suche nach dem gerade singenden Darsteller (auf der chaotischen und dunklen Bühne sowieso schwierig). Tiefpunkt ist der zweite Aufzug. Außer daß sich der schwarz eingefärbte Klingsor als Medizinmann und Voodoo-Zauberer zu Beginn an einer Strohpuppe, die Amfortas darstellen soll, vergeht und zum Schluß per Rakete vermutlich zum Mond geschossen wird, passiert zwischen den afrikanisch-bunten Blumenmädchen und der hier als Barbiepuppe auftretenden Kundry nichts besonderes. Geboten wird eine langweilige Statik der Akteure. Wie man von Darstellern hört, beschränkten sich die Anweisungen des Regisseurs auf Hinweise wie „schön ommelig zu spielen (was das auch immer heißen mag). Sein Regiekonzept bestand offenbar überwiegend in dem Appell an die Darsteller, sich intuitiv in die Rolle einzufühlen. An entscheidenden Stellen – wie den Grals-Zeremonien im ersten und dritten Aufzug, verzichtet er teilweise oder (wie im Finale) vollständig auf das Bühnenbild und arbeitet weitgehend mit Filmproduktionen – sicherlich im Kino sehr wirkungsvoll präsentierbar. In der Oper bedeutet es den Verzicht auf Bühnenpräsenz einschließlich der Darsteller. Der Film ist nicht mehr unterstützendes Medium, sondern Gegenstand der Darstellung. Ist dies in der Oper – sicher nur hier - nicht ein Armmutszeugnis der Regie? Erstaunlich sind die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Inszenierung. Zwar wurde der Regisseur in der Premiere kräftig ausgebuht, aber eine nicht unerhebliche Minderheit zollte Beifall. Die Exegesen der Kritiker sprachen von „sicherer und perfektionistischer Manifestation“, sprachen gleichzeitig von einem „schwer durchschaubaren und labyrinthischen Ergebnis“. Ein Kritiker meint, daß diese Aufführung am faszinierendsten für Besucher war, die den Parsifal gut kennen. Ich kann diese Aussage wie viele Andere nicht bestätigen. Die Diskussion erinnert an das Märchen Des Kaisers neue Kleider. Auch auf die Gefahr hin, als naiv, ideenlos oder ignorant zu gelten gestehe ich, daß ich mich in der Rolle des Kindes sehe, das den Kaiser nackt sieht und das auch sagt. Für mich war und ist diese Inszenierung unverständlich. Muß man erst Beuys und Völkerkunde studieren, damit man der Inszenierung halbwegs folgen kann? Wenn Regiearbeit Versuch und Irrtum ist, gehört diese sicherlich zur zweiten Kategorie. Günther Fürstenau