BACHELORARBEIT GEWALT IM PFLEGEBEREICH eingereicht von Kerstin Wutscher Zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Science (BSC) Medizinische Universität Graz Institut für Pflegewissenschaft Unter der Anleitung von Birgit Bernhardt, MAS Graz, am 27. November 2016 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Ehrenwörtliche Erklärung „Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.“ Graz am 27.11.2016 Kerstin Wutscher, eh. II Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Zusammenfassung Diese Bachelorarbeit soll einen Überblick über Gewalt, speziell im Pflegebereich sowie deren Entstehung geben. Außerdem sollen die Umstände, welche zur Entstehung von Gewalt in der Pflege führen können hinreichend dargelegt werden. So haben Beobachtungen und Erfahrungsberichte gezeigt, dass schlechte Rahmenbedingungen, Überforderung, mentale Überlastung und ein hohes Stresslevel einen großen Einfluss auf das Entstehen von Gewaltsituationen haben. Des Weiteren wird untersucht, wie unsere Aktionen die Reaktionen anderer beeinflussen und auch Pflegekräfte oftmals Gewalt durch Patientinnen und Patienten ausgesetzt sind. Darüber hinaus soll diese Bachelorarbeit die notwendigen Rahmenbedingungen für eine gewaltfreie Pflege aufzeigen, sowie allgemeine Präventionsstrategien darlegen. Summary The aim of this thesis is to give an overview about violence and the emergence of violence especially in care settings. It describes the circumstances of violent actions in care and documents that experience reports and observations have shown the great impact of bad work conditions, overtaxing and mental stress as a general high stress level on violence in care. In this paper I examine the influence of action and reaction as well as the fact that also care givers often face violent patients. Furthermore, this thesis argues the relevant circumstances for a nonviolent acting, considering also prevention measurements. III Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ........................................................................................................................... 1 2. Methode ............................................................................................................................. 3 3. Gewalt ................................................................................................................................ 3 3.1. Begriffsklärung Gewalt .............................................................................................. 3 3.1.1. Indirekte Gewalt .................................................................................................. 4 3.1.2. Personale oder direkte Gewalt ............................................................................. 5 3.1.3. Kulturelle Gewalt ................................................................................................ 5 3.2. Rahmenbedingungen .................................................................................................. 6 3.3. Rechtliche Basis ......................................................................................................... 7 4. Aggression ......................................................................................................................... 8 4.1. Begriffsklärung Aggression ........................................................................................ 8 4.2. Diverse Aggressionstheorien ...................................................................................... 9 4.2.1 Triebtheorie nach Freud ........................................................................................ 9 4.2.2. Die Frustrations-Aggressions Hypothese ............................................................ 9 4.2.3. Lerntheoretische Erklärungsmodelle: Theorien des sozialen Lernens .............. 10 4.2.4. Motivationstheorie ............................................................................................. 11 4.3. Aggressionsregulatoren ............................................................................................ 11 5. Pflege und Gewalt............................................................................................................ 13 5.1. Konfrontation von Pflegenden mit Gewalt und Aggression ..................................... 13 5.2. Reaktion und Verhalten ............................................................................................ 13 5.2.1. Klärung der Umstände ....................................................................................... 14 5.2.2. Vermeidung von Konfliktsituationen, Ausbrennverhinderung .......................... 15 5.2.3. Beruhigung Betroffener ..................................................................................... 16 5.2.4. Verharmlosung und Ignoranz ............................................................................. 17 5.2.5. Anforderung von Unterstützung ........................................................................ 17 5.2.6. Bestrafung.......................................................................................................... 18 5.3. Gewaltformen seitens des Pflegepersonals............................................................... 18 5.3.1. Psychische Gewalt ............................................................................................. 19 5.3.2. Physische Gewalt ............................................................................................... 19 5.3.3. Sexuelle Gewalt ................................................................................................. 20 5.3.4. Soziale Gewalt ................................................................................................... 20 5.3.5. Fürsorgliche Gewalt .......................................................................................... 20 5.3.6. Vernachlässigung Pflegebedürftiger Menschen ................................................. 20 6. Tötung .............................................................................................................................. 21 IV Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 7. Mitwissende ..................................................................................................................... 22 7.1. Verharmlosung .......................................................................................................... 22 7.2. Aufdeckungsbarriere Gefühlsmisstrauen .................................................................. 23 7.3. Aufdeckungsbarriere des Nicht-Ernst-Nehmens ...................................................... 23 7.4. Aufdeckungsbarriere des Übersehens ....................................................................... 24 8. Gewaltvermeidung durch 'Know-how' ............................................................................ 24 8.1. Stellvertretende Interpretation der Pflegesituation ................................................... 24 8.2. Zusammenwirken von objektivem Pflegebedarf und den tatsächlichen Gegebenheiten ................................................................................................................. 25 8.3. Befolgung beruflicher Übereinkünfte und Normen.................................................. 25 9. Prävention ........................................................................................................................ 26 9.1. Pflegerische Professionalität .................................................................................... 26 9.2. Kompetenz auf fachlicher Ebene .............................................................................. 26 9.3. Kompetenz auf sozialer Ebene ................................................................................. 27 9.4. Organisation der Arbeit ............................................................................................ 27 9.5. Gespräche im Team .................................................................................................. 27 9.6. Supervision ............................................................................................................... 28 9.7. Balintgruppe ............................................................................................................. 28 9.8. Weiterbildung ........................................................................................................... 28 9.9. Selbstpflege .............................................................................................................. 28 10. Ausblick ......................................................................................................................... 29 11. Schlussfolgerung............................................................................................................ 30 Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 31 V Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher „Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flußbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig. Der Sturm, der die Birken biegt, gilt als gewalttätig. Aber wie ist es mit dem Sturm, der die Rücken der Straßenarbeiter biegt?“ (Bertold Brecht) 1. Einleitung Im Laufe der letzten Jahre wurde in den Medien immer wieder von Gewalt im Bereich der Pflege berichtet, die Problematik scheint demnach allseits bekannt zu sein. Die Öffentlichkeit reagierte fortwährend empört und verständnislos. Wie kann es nur zu Missständen dieser Art kommen? Jedoch bestand vermutlich nicht ausreichend Interesse an der Thematik um den Dingen weiter auf den Grund zu gehen und dem Übel Abhilfe zu schaffen. In unserer Gesellschaft scheint dies noch immer ein Tabuthema darzustellen, obwohl jeder Mensch eines Tages pflegebedürftig uns somit davon betroffen sein könnte. Auch im Zuge des Studiums der Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Medizinischen Universität Graz wurde auf diese aktuelle Problematik kaum eingegangen. Gewalt und Aggression treten immer wieder im Kontext der Pflege auf, diese Tatsache ist Anlass genug für eine detaillierte Abklärung der möglichen Ursachen. Doch welche Formen der Gewalt finden sich im Umfeld der Pflege und wer ist betroffen? Bereits erste Einblicke in den pflegerischen Alltag zeigen, dass sowohl Pflegende als auch Pflegebedürftige, die Rolle einer Täterin oder eines Täters genauso wie die eines Opfers bekleiden können, jeder Mensch ist im Stande Gewalt auszuüben. In meiner Arbeit werden anfangs die Begriffe „Gewalt“ und „Aggression“ beschrieben, auch werden diverse Formen von Gewalt näher erörtert. Im weiteren Verlauf liegt das Hauptaugenmerk meiner theoretischen Forschung auf der Gewalt im Pflegebereich und deren beeinflussenden Faktoren. Ebenfalls werden verschiedene Prinzipien zur Prävention von Gewalt im Setting der Pflege dargestellt. Doch das Ziel dieser Arbeit ist nicht nur die Problematik von Gewalt im Pflegebereich aufzuzeigen, sondern auch auf die kontinuierlich wachsende Herausforderung im Pflegealltag aufmerksam zu machen. 1 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Aufgrund der umfassenden Literaturrecherche, ergab sich für mich folgende Forschungsfrage: „Inwiefern sind die Ansätze und Ansprüche eines gewaltfreien Umgangs im Pflegebereich in der Realität umsetzbar? 2 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 2. Methode Für die Behandlung der Thematik und die Beantwortung der Forschungsfrage, wurde zunächst eine Literaturrecherche im Internet durchgeführt. Diese erfolgte in der medizinischen Datenbank PubMed, wobei Keywords in englischer Sprache, wie violence, caregiver, abuse, care, nursing, care recipients, etc. verwendet wurden. Diese wurden schließlich noch mit den Operatoren „AND“, „OR“ und „NOT“ miteinander verbunden. Anhand der gesammelten Informationen, erfolgte eine erste Strukturierung der Arbeit und es wurde weitere Fachliteratur in Form von Büchern, sowie wissenschaftliche Quellen aus dem Internet herangezogen. 3. Gewalt Gewalt und Macht stehen in direktem Zusammenhang und mit Hilfe von Gewalt wird oftmals versucht Macht noch weiter auszubauen, so werden Schwächere zusätzlich geschwächt, indem sie von vermeintlich Stärkeren unterdrückt werden. 3.1. Begriffsklärung Gewalt Gewalt ist ein facettenreicher Begriff, nicht jeder Mensch versteht darunter das Gleiche und dementsprechend unterschiedlich, sind auch die Erklärungsversuche. Im Allgemeinen wird Gewalt aber mit der Verletzung, Schädigung oder Kränkung einer anderen Person in Verbindung gebracht (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S.16). Die folgenden Definitionen werden hier angeführt, da sie gut verständlich sind und ebenso die Weitläufigkeit des Begriffs zum Ausdruck bringen. „Die Wurzel des deutschen Wortes 'Gewalt' kommt aus dem indogermanischen 'val' (lateinisch 'valere'). Das Verb 'giwaltan' oder 'waldan' bedeutete ursprünglich Verfügungsgewalt besitzen und Gewalt haben, sowie 'in einem breiten Sinne für Kraft haben, Macht haben, über etwas verfügen können, etwas beherrschen...“ (Imbusch 2002, S. 28 zitiert in Schulz 2014, S.13) „Gewalt als die Gesundheit der Bevölkerung gefährdendes Problem wurde bisher u. a. weitgehend ignoriert, weil keine eindeutige Problemdefinition vorliegt. Gewalt ist ein äußerst diffuses und komplexes Phänomen, das sich einer exakten wissenschaftlichen Definition entzieht und dessen Definition eher dem Urteil des Einzelnem überlassen bleibt. Die Vorstellung von akzeptablen und nichtakzeptablen Verhaltensweisen und dessen, was als 3 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Gefährdung empfunden wird, unterliegen kulturellen Einflüssen und sind fließend, da sich Wertvorstellungen und gesellschaftliche Normen ständig wandeln. Noch vor einer Generation wurde Disziplin in britischen Schulen durchaus ganz normal noch mit dem Stock durchgesetzt, mit dem die Schüler auf das Gesäß, die Beine oder Hände geschlagen wurden. Heute kann ein Lehrer, der sich in dieser Form an einem Kind vergreift, dafür strafrechtlich verfolgt werden.“ (Weltgesundheitsorganisation 2003, S. 5) „Gewalt ist jede Zwangsmaßnahme, die den Willen und Widerstandes Opfers überwindet, ihm eine Handlung aufzwingt, seine Willensfreiheit beeinträchtigt oder es schädigt. Gewalt ist nach der Schädigung des Opfers zu definieren. Die Macht oder Schädigung geht von der Struktur oder von einem Täter aus. Die meisten Menschen neigen dazu, nur andere als gewalttätig zu sehen, um die Einsicht in die Verwicklung in allgegenwärtige Gewalt abzuwehren. Auch sanfte oder verschleierte Gewalt bringt einen Menschen dazu, etwas zu tun, was er freiwillig nicht tun würde, d.h. Manövriert ihn in die Abhängigkeit hinein.“ (Grond 2007, S. 14) Gewalt hat viele „Gesichter“ und nicht immer ist sie auf den ersten Blick zu erkennen. Im Pflegebereich lässt sich Gewalt angelehnt an das Modell des „Gewaltdreiecks“ in drei Kategorien einteilen. Die indirekte Gewalt, die personale oder direkte Gewalt und die kulturelle Gewalt (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 43-44). 3.1.1. Indirekte Gewalt Indirekte Gewalt zählt zur strukturellen Form der Gewalt und ist stets an äußere Umstände und Gegebenheiten, jedoch nicht an eine handelnde Person gebunden. Sie basiert auf gesellschaftlichen, institutionellen Strukturen, welche in ihrer Art Einfluss auf Menschen haben (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 48). Eine Person die mitten im Leben stand und bedingt durch ein Gebrechen nicht mehr in der Lage ist, den Alltag allein zu Hause zu bewältigen, ist eine sehr gute Veranschaulichung für Indirekte Gewalt. Diese Person nimmt beispielsweise die Möglichkeit wahr, in ein Pflegeheim zu übersiedeln, wo sie sich dann den Tagesabläufen anpassen muss. Die Abläufe sollten zeitgerecht eingehalten werden, Vorschriften und Regeln sind einzuhalten. Indirekte Gewalt orientiert sich nicht an den Bedürfnisseen der Heiminsassen, sondern richtet sich nach Regeln, die der Organisation der Pflegeeinrichtung zu Gute kommen (Grond 2007, S. 14). Leidtragende dieser Form von Gewalt, können sowohl Pflegebedürftige, als auch Pflegende sein. Die strukturelle Gewalt äußert sich unterschiedlich. Etwa durch 4 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Unterbesetzung des Personals, Überdosierung von Medikamenten um Pflegebedürftige ruhig zu stellen, einem Mangel an Privatsphäre und vielem mehr. Rechtliche Strukturen, wie auch wirtschaftliche Faktoren beeinflussen die Rahmenbedingungen, wodurch Pflegeheime zu einer fremdbestimmten Einrichtung werden. Den Bewohnerinnen und Bewohnern ist es nicht möglich, sich unter diesen Umständen frei zu entfalten (Grond 2007, S. 15). 3.1.2. Personale oder direkte Gewalt Die personale oder auch direkte Gewalt ist unmittelbar als solche zu erkennen. Es handelt sich entweder um ein aktives Tun oder um eine Unterlassung einer notwendigen Aktion. In beiden Fällen ist eine sofortige, negative Veränderung die Folge (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 44). Die kulturelle und ebenso die strukturelle Gewalt können mitunter die Auslöser für personale Gewalt sein. Unter direkter oder personaler Gewalt versteht man eine physische, psychische oder auch finanzielle Schädigung des Opfers. Personale Gewalt kann, wie folgt, kategorisiert werden (Grond 2007, S. 16): • passive und auch aktive Vernachlässigung • materieller Abusus, finanzielle Ausnutzung • physische und psychische Misshandlung, verbale Gewalt, Freiheitsentzug, Drohungen 3.1.3. Kulturelle Gewalt Sehr viele Traditionen, Sitten und Bräuche aus vergangener Zeit sind es wert, erhalten zu bleiben. Doch ebenso gibt es kulturell bedingte Gepflogenheiten, die längst keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft finden sollten. Dazu gehört beispielsweise die Abwertung der Frau, welche in ferneren Kulturkreisen immer noch an der Tagesordnung steht, sich aber auch hierzulande unter anderem durch ungleiche Bezahlung bemerkbar macht. In diversen Religionen sind die Ablehnung der Schulmedizin sowie die Diskreditierung älterer Menschen noch immer allgegenwärtig. So wurde früher auch in unseren Breitengraden stets erwartet, dass sich die ältere Generation nach und nach zurücknimmt, anpasst, niemandem zur Last fällt. Pflegebedürftige haben durch diese noch fest verankerte Denkweise ein vermindertes Selbstwertgefühl. Nicht selten kommt es vor, dass Pflegebedürftige dies auch auf Pflegende übertragen. „Warum haben Sie keinen besseren Beruf gefunden, als Alten die Windeln zu wechseln?“, mit dieser Art von kultureller Gewalt, muss sich das Pflegepersonal 5 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher tagtäglich auseinandersetzen (Grond 2007, S. 15-16). 3.2. Rahmenbedingungen Rahmenbedingungen können dazu beitragen, dass sich Pflegende überfordert fühlen. Dazu zählen Umstände wie wenig Anerkennung, kein Mitbestimmungsrecht, die hohen emotionalen Anforderungen und Ansprüche an Wertvorstellungen (Grond 2007, S. 27). Erfolgserlebnisse bleiben aus, da sich die gesundheitliche Situation der Pflegebedürftigen meist nur verschlechtert. Auch wird Pflegenden oft krankheitsbedingt, aggressives Verhalten entgegengebracht (Hörl 2001, S. 319). Dies kann dazu beitragen, dass Pflegende mit der Situation überfordert sind und ständig dem Druck ausgesetzt sind, alle Kriterien zu erfüllen. Die Unzufriedenheit wird mit dem Druck, Theorie in der Praxis umsetzen zu müssen, unter schwierigen Bedingungen, wie Zeitmangel, einem desolaten Arbeitsklima, geprägt von einem Mangel an Empathie geschürt. Es wird den Pflegekräften fast schon Übermenschliches abverlangt. Arbeitsteilungen sind oft nicht klar, die Dienstverteilung unregelmäßig, so dass Rollenkonflikte untereinander vorprogrammiert sind. Alles muss schnell gehen, auf diese Art wird die Pflege anderer Menschen zur „gefährlichen Routine“ (Grond 2007, S. 27). Die Arbeit an Bewohnerinnen oder den Bewohnern ist minutiös geplant, und kann fast schon als Fließbandarbeit betitelt werden: „20 bis 25 min für Ganzkörperwäsche, 15 bis 20 min für die Hauptmahlzeit, 8 bis 10 min für das Ankleide, nur 4 bis 6 min für das Auskleiden und 2 bis 3 min für das Wasserlassen. Diese Zeitangaben gelten für gesunde alte Menschen, aber nicht für demente Personen, die teilweise die dreifache Zeit brauchen.“ (Grond 2007, S. 28) Früher wurde der Beruf des Pflegenden vermehrt als Berufung gesehen. Gegenwärtig jedoch bleibt für Menschlichkeit während der Dienstzeit nicht mehr viel Zeit übrig. In vielen Einrichtungen gehören das Vorlesen aus der Zeitung, die angeregte Unterhaltung mit den zu Pflegenden oder das simple Halten der Hand um Beistand zu symbolisieren, leider oftmals der Vergangenheit an. Es wird nur noch körperliche Pflege belohnt und entlohnt. Die Arbeit in einem Pflegeheim darf auch aus dem physiologischen Standpunkt nicht unterschätzt werden, so gehört schweres Heben zum Alltag. Die psychischen Belastungen werden jedoch von vielen Pflegenden als größere Bürde gesehen, denn es bleibt keine Zeit für Emotionen und Gefühle und dem Pflegepersonal bietet sich auch kaum Gelegenheit zur Erholung (Grond 2007, S. 27-28). 6 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 3.3. Rechtliche Basis Es gilt grundsätzlich, bei drohender Gefahr ohne Möglichkeit rechtzeitig Hilfe zu holen das Recht sich selbst zu verteidigen und dafür die notwendigen Mittel einzusetzen. In diesem Zusammenhang spricht man von Notwehr. Generell differenziert man diesbezüglich folgende Begriffe (Schirmer et al. 2006, S. 47): • Angriff: Darunter versteht man jede von einer Person drohende Verletzung rechtlich gestützter Interessen. • Gegenwärtig: Steht ein Angriff unmittelbar bevor, findet gerade statt oder wird noch länger andauern, so spricht man von gegenwärtig. • Erforderlichkeit: Stellt eine Verteidigungshandlung das 'mildest geeignete Mittel' dar, einen Angriff umgehend zu beenden, so gilt diese als erforderlich. • Gebotenheit: Notwehr ist geboten, wenn diese nicht rechtsmissbräuchlich geschieht. Sie dient nicht zur Maßregelung und darf auch nicht provozierend eingesetzt werden. „§34 StGB Rechtfertigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ (Schirmer et al. 2006, S. 48) Doch auch Notstandshandlungen sind Grenzen gesetzt. So gilt hinsichtlich der „Erforderlichkeit“ eine gerechtfertigte Befürchtung als Grundvoraussetzung. Die Möglichkeit alleine, ist hier nicht ausreichend. Die „Interessensabwägung“ fordert eine Abwägung der entgegengesetzten Interessen, der betroffenen Rechtsgüter und des Ausmaßes der ihnen drohenden Gefahr. In diesem Fall muss das geschützte Interesse das beeinträchtigte deutlich überwiegen. Die Angemessenheit der Notstandshandlung dient der Übereinstimmung von Notstandshandlung und den Wertvorstellungen der Allgemeinheit (Schirmer et al. 2006, S. 49). Der Schutz und die Sicherheit von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Pflegenden steht stets an erster Stelle. Hierbei sollten die Gefahrenquellen so gering als möglich gehalten 7 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher werden und deswegen vorsorglich folgendes beachtet werden (Schirmer et al. 2006, S.50): • Waffen oder Gegenstände, welche als solche verwendet werden könnten, sollten nicht in greifbarer Nähe für Bewohnerinnen und Bewohnern aufbewahrt werden. • Räumlichkeiten müssen überschaubar arrangiert werden, auch Fluchtwege sind von größter Wichtigkeit. • Notfallvorrichtungen, wie Alarmknöpfe müssen unmittelbar erreichbar angebracht sein. • Kommunikation ist von enormer Bedeutung, beispielsweise müssen Informationen über aggressive oder gefährdete Bewohnerinnen und Bewohner weitergeben werden. 4. Aggression Beinahe jeder Mensch kennt Aggressionen oder wurde bereits mit ihnen konfrontiert. Im folgenden Abschnitt wird dieser Begriff näher beschrieben und Aggressionstheorien werden erörtert. 4.1. Begriffsklärung Aggression Aus dem Lateinischen Wort „aggredi“ abgeleitet, bedeutet Aggression so viel, wie aktives Herangehen und beschreibt somit den Gegensatz zur Passivität. In Lexika wird Aggression häufig mit Feindseligkeit, einer gereizten Einstellung oder Angriffsverhalten in Verbindung gebracht (Bärsch & Rohde 2013, S. 10). Aggression und Gewalt treten meist in Korrelation miteinander auf, auch wird Aggression vermehrt als Teilmenge von Gewalt angesehen. Grund dafür könnte sein, dass sich diese beiden Begriffen nicht eindeutig voneinander trennen lassen. Während mit Gewalt oft schwere Verletzungen, auch Gesetzesüberschreitung assoziiert werden, sind es bei der Aggression eher leichte Verletzungen, wie das Übertreten sozialer Normen (Gugel 2010, S. 55). Es wird versucht zwei mögliche Definitionen des Begriffs der Aggression anzuführen: „Aggression ist ein beobachtetes Verhalten, dessen Qualität und/oder Häufigkeit den eigenen Körper oder den anderer Personen, die dingliche oder soziale Umwelt schädigt, erheblich beeinträchtigt oder stört. Die Beeinträchtigung, Schädigung oder Störung ist Ziel und/oder Wirkung dieses Verhaltens.“ (Heinrich 1992, S. 17-18 zitiert in Kienzle & PaulEttlinger 2007, S. 17-18) 8 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher „Aggressivität ist die erhöhte Bereitschaft eines Individuums zur Aggression (sowohl genetisch angelegt als auch erworben). Der Hang einer Person zu ständigen Aggressionen kann Krankhaft sein.“ (Bärsch & Rohde 2013, S. 10) 4.2. Diverse Aggressionstheorien Seit langem wird versucht den Ursachen von Gewalt und Aggression auf den Grund zu gehen. Die Psychologie bedient sich hinsichtlich dessen diverser Theorien, welche Aufschlüsse über die Hintergründe geben sollen. 4.2.1 Triebtheorie nach Freud Psychoanalytiker Sigmund Freud und ebenso Verhaltensforscher Konrad Lorenz gingen davon aus, dass Aggressionen zu den natürlichen, angeborenen Trieben des Menschen gehören. Kommt es zu einer Aufstauung der Aggressionen können sich diese auch plötzlich und unkontrolliert entladen. Jeder Mensch kann also in bestimmten Situationen aggressiv handeln, dies ist in Verbindung mit Kampf und/oder Flucht, eine lebensnotwendige Eigenschaft (Bärsch & Rohde 2013, S. 11). Der sogenannte Aggressionstrieb existiert, laut Sigmund Freud, im Areal des Unterbewussten, des „Es“ ist aber im „Über-Ich“ an äußere Einflüsse geknüpft, wird dort entschärft, überwacht und geleitet. Faktoren, welche das Ausbrechen von offenen Aggressionen begünstigen sind beispielsweise Angst, Schmerz oder Alkohol bedingt (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 21). 4.2.2. Die Frustrations-Aggressions Hypothese Die Frustrations-Aggressions-Theorie besagt, dass Aggression nicht zu den angeborenen Trieben gehört, sondern stets das Resultat von Frustration sei. Diese Theorie wurde von den Psychologen Dollard, Miller, Doob, Mowrer, Sears entwickelt und erstmalig im Jahr 1939 veröffentlicht (Schulz 2014, S. 26). Die sogenannte Frustrations-Aggressions-Hypothese von Dollard und Miller (1972), besagt grundlegend folgendes (Donald & Miller 1972, zitiert in Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S.21): • „Aggression ist immer die Folge einer Frustration. • Frustration führt immer zu irgendeiner Form von Aggression.“ Ähnlich wie andere Emotionen bildet sich auch die Aggression aus einem nicht gestillten 9 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Bedürfnis. Wird ein Mensch daran gehindert seinen Bedürfnissen nachzugehen, können Aggressionen die Konsequenz davon sein. Werden Erwartungen nicht erfüllt, neigt der Mensch zu Frustration, worauf nicht jede Person auf dieselbe Art reagiert, manche werden laut, andere ziehen sich vollkommen zurück (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 21). 4.2.3. Lerntheoretische Erklärungsmodelle: Theorien des sozialen Lernens „Die Lerntheorie beschäftigt sich mit der Frage, was Menschen dazu bewegt, sich aggressiv zu verhalten und was ihr aggressives Verhalten aufrechterhalten lässt. Aggressives Verhalten erfordert komplizierte Fertigkeiten und damit soziale Lernprozesse. Lernen bedeutet dabei eine Veränderung von Verhalten und Erleben aufgrund von Erfahrungen.“ (Heinemann 1996, S. 22 zitiert in Schulz 2014, S. 28) Modelllernen: Lernen durch Beobachtung Das sogenannte soziale Lernen basiert auf dem Prinzip der Beobachtung. Ein Mensch beobachtet eine Verhaltensweise bei einem anderen Menschen und imitiert diese. Durch Belohnung wird dieses Verhalten ebenfalls gefestigt und gestärkt (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 22). Die Experimente von Bandura, Ross und Ross (1963) konnten belegen, dass Kinder beobachtetes aggressives Verhalten, unabhängig ob reale Begebenheit oder Film, nachahmen. Auch die Beobachtung von aggressivem Modellverhalten allein ist ausreichend, um dieses Verhalten selbst anzunehmen (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 23-24). Nicht alle Personen sind gleichermaßen als entsprechendes Modell zur Imitation geeignet. Nach Kienzle und Paul-Ettlinger (2007, S. 24) werden Personen bevorzugt, • „die einen höheren sozialen Status haben, • die Erfolg haben, • die man als sich selbst ähnlich empfindet oder • die man liebt.“ Verstärkungslernen: Instrumentelles Lernen Der Psychologe Burrhus Frederic Skinner fand heraus, dass operantes Verhalten dazu beiträgt aggressives Verhalten zu erlernen. Positive Konsequenz steigert das Auftreten eines Verhaltens, negative Konsequenz hingegen führten zu einem verminderten Auftreten eines Verhaltens. Hierbei wird von einer positiven oder negativen Verstärkung gesprochen. Keine 10 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Folgen auf eine Verhaltensweise führt zu einer Art Löschung, das heißt, dass das Verhalten nach einiger Zeit gar nicht mehr auftritt (Schulz 2014, S. 29). Tausch und Tausch (1979 zitiert in Kienzle und Paul-Ettlinger 2007, S. 26) berufen sich auf diverse Studien, welche die Bedeutung der Verstärkung beim Modelllernen belegen. • „Es zeigt sich das wichtige Ergebnis, dass ein Gewährenlassen von aggressivem Verhalten verstärkend wirken kann. • Bei einer direkten Verstärkung des aggressiven Verhaltens (z.B. durch Lob) zeigt sich daraufhin eine Steigerung des aggressiven Verhaltens. 4.2.4. Motivationstheorie Die Quintessenz dieser Theorie basiert auf einem „eigenständigen, überdauernden Aggressionsmotiv“. Erlernte oder angeborene Verhaltensmuster, Frust aber auch die Aussicht auf Erfolg oder Misserfolg, können die Verwirklichung dessen beeinflussen. Kornadt (1981 zitiert in Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 27) versuchte Ansätze anderen Theorien in dieses Modell zu implizieren. Oppositionell dazu steht die Aggressionshemmung, welche an die negative Konsequenz des Auslebens von Aggression geknüpft ist. In der Motivationstheorie stehen die Vermeidung und Entstehung Aggressiven Verhaltens im Konflikt zueinander. Die Aggressionshemmung tritt bei psychischer, physischer Krankheit aber auch bei geistiger Beeinträchtigung in reduzierter Form auf (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 26). Als „Abreagieren“, also das Kanalisieren von Wutausbrüchen, kann bei körperlich und geistig gesunden Menschen unter anderem Sport dienen. Krankheitsbedingte Einschränkung kann allerdings bedingen, dass diese Option wegfällt. In der Persönlichkeitsentwicklung spielt die „Ich-Reifung“ demnach eine tragende Rolle, da diese großen Einfluss auf die Kontrolle von aggressivem Verhalten hat. Faktoren, wie Spannungszustände psychischer und physischer Natur, aber auch Erkrankungen, können zu Regression bezüglich der Persönlichkeit führen (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 2627). 4.3. Aggressionsregulatoren Meist führt das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu aggressivem Verhalten, Menschen werden nicht ohne Grund aggressiv. Auch der Vorsatz hinter dem aggressiven Verhalten ist facettenreich. Die sogenannte Unmutsaggression kann dazu dienen seinem Ärger Luft zu 11 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher machen, des Weiteren wird auch noch zwischen der Vergeltungsaggression, der Abwehraggression und der Erlangungsreaktion unterschieden. Schließlich kann es ebenfalls zu einer situationsbedingten spontanen Aggression kommen (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 61). Die Gründe für aggressives Verhalten in pflegerischen Einrichtungen sind ebenso unterschiedlich. So können Pflegebedürftige gewalttätig, bedingt durch Frustration über das Verhalten anderer, reagieren. Gewalt kann aber auch angewandt werden, um sich zu wehren oder durch eine Angstsituation, welche ausweglos erscheint, auftreten. Dies betrifft vor allem Personen, die unter einer Einschränkung ihrer kognitiven Fähigkeiten leiden. Oft werden Situationen missverstanden und so nicht richtig eingeschätzt. Die Vorgeschichte der pflegebedürftigen Person ist für eine richtige Einschätzung von enormer Bedeutung. Fachkompetenz und ein hohes Maß an Empathie sind dabei die Grundvoraussetzungen (Schirmer et al. 2006, S. 41). Gewalt hat immer mehrere Eckpfeiler. Grond (2007, S. 24-25) veranschaulicht unterschiedliche Faktoren, welche aggressives Verhalten verstärkend aber auch vermindernd beeinflussen können. Aggressionsverstärkende Faktoren: • bisheriger Erfolg mit Aggression • Vorurteile • Überforderung, Dauerstress • Provokation • Bevormundung • Alkohol Aggressionsmindernde Faktoren: • Belohnen nicht aggressiven Verhaltens • Besprechen nicht aggressiven Verhaltens • Abreaktion an Ersatzobjekten • sinnvolle Beschäftigung • alternative Entspannung 12 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher • Beschwichtigen, Versöhnen Die Berücksichtigung dieser Faktoren, kann im Setting der Pflege bereits maßgebend zur Qualitätssicherung beitragen (Grond 2007, S. 25). 5. Pflege und Gewalt Wen betrifft Gewalt in der Pflege? Nicht selten wird in Einrichtungen beobachtet, dass gewisse Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter häufiger von gewaltsamen Übergriffen betroffen sind als andere. Doch welche Ursachen liegen dem zugrunde? Richter und Berger (2001) haben festgestellt, dass jüngere Pflegende, bedingt auch durch weniger Berufserfahrung als ältere Kolleginnen und Kollegen öfter Opfer von Übergriffen werden. Das Risiko von Auszubildenden ist sogar um das 2,5-fache erhöht (Richter & Berger 2001, zitiert in Schirmer et al. 2006, S. 14). Doch nicht nur Pflegende, auch Pflegebedürftige können Opfer von Gewalt werden. In diesem Fall liegen die Ursachen meist tiefer verwurzelt. Die Täterin oder der Täter fühlt sich selbst klein und unbedeutend, durch das Unterdrücken und Kleinmachen anderer steigt aber ihr eigenes Selbstwertgefühl (Grond 2007, S. 26). 5.1. Konfrontation von Pflegenden mit Gewalt und Aggression Ob eine Situation als gefährlich oder harmlos eingestuft wird, liegt im Ermessen des Einzelnen und ist somit individuell. So kann drohendes Verhalten und verbale Attacken für die eine Person bereits eine potentielle Gefahrenquelle sein, eine andere Person ist jedoch der Auffassung, dass dies „nur“ als Beleidigung zu deklarieren sei. Aufgrund dieser unterschiedlichen Betrachtungsweisen fällt es schwer sich diesbezüglich auf Richtlinien und Regelungen zu berufen (Schirmer et al. 2006, S. 46). 5.2. Reaktion und Verhalten In Gewaltsituationen ist es von größter Wichtigkeit, Emotionen und Aggressivität nicht auf sich selbst und die eigene Person zu beziehen. Im professionellen Fachbereich der Pflege ist es sogar essentiell ein neutrales und differenziertes Verhalten an den Tag zu legen. Oft sind aggressive Reaktionen einer Bewohnerin oder eines Bewohners nicht vorhersehbar und es ist deswegen unabdinglich eine ausgeglichene innere Einstellung und Ruhe zu finden (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 35). Das Fundament dafür bildet die Selbsterkenntnis, denn nur wer seine eigenen Emotionen zulassen kann und nicht versucht diese zu unterdrücken, hat die Möglichkeit auch den Richtigen Umgang mit Emotionen zu erlernen 13 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher und die eigenen Reaktionen angemessen zu kanalisieren. Ein wichtiger Faktor hierbei ist die Kommunikation. In vielen Fällen erkennt nämlich jemand aus dem Kollegium bereits den Ansatz einer Gewalthandlung und die oder derjenige sollte sich nun nicht davor scheuen, ihre/seine Beobachtungen zu thematisieren. Gewalt darf kein Tabuthema sein, sondern Betroffene müssen sich offen äußern können, nur auf diesem Weg können Verhaltensansätze dieser Art zukünftig vermieden werden (Grond 2007, S. 105). Ein starkes Selbstwertgefühl ist eine gute Grundvoraussetzung für ein gewaltpräventives Verhalten. Dieses entwickelt sich jedoch nur aus einem guten Selbstbewusstsein, in dessen Rahmen man sich seiner Fähigkeiten, Stärken als auch Schwächen bewusst sein sollte (Bärsch & Rohde 2013, S. 46). Selbstpflege ist hierbei der Schlüssel. Auf sich achten, die hohen Ansprüche an sich selbst relativieren und sich mit sozialen Kontakten, die einem Freude bereiten, belohnen, durch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen mittels Supervision zu lernen und profitieren. Elementar ist jedoch, dass sich Pflegepersonen darüber im Klaren sind, dass auch sie oftmals Aggressionen entwickeln. Wer diese Gefühle verleugnet oder unterdrückt, ist gefährdet diese auszuleben (Grond 2007, S. 106-107). 5.2.1. Klärung der Umstände Sind Pflegende mit einer unvorhersehbaren Gewaltsituation konfrontiert, so macht sich zunächst Schock breit. Eine differenzierte Pflegekraft reagiert dann den Umständen entsprechend angemessen, beobachtet genau und analysiert in weiterer Folge die möglichen Auslöser der Eskalation. Auf diese Weise könnte das Ausbrechen der Aggression zukünftig gänzlich vermieden oder zumindest bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar gemacht werden. Eine professionelle Analyse des Sachverhaltes ermöglicht auch einen unvoreingenommenen Zugang zu den betreffenden Bewohnerinnen oder Bewohnern. Schuldzuweisungen sind hierbei unangebracht, es geht um Verständnis dem anderen gegenüber, vielmehr ist in dieser Situation alles hilfreich, was zur Klärung der Lage beiträgt (Kienzle & Paul-Ettinger 2007, S. 43). Ursprünglich für die Arbeit im psychiatrischen Bereich gedacht, entwickelte der Norweger Roger Almvik die Brøset-Gewaltcheckliste. Christoph Abderhalden und Ian Needham editierten diese (Brøset-Violence-Checklist Switzerland, BVC-CH). Die BVC-CH kann ein hilfreiches Instrument hinsichtlich der Einschätzung des Gewaltrisikos sein. Die Version aus Norwegen beinhaltet die sechs Verhaltensweisen, Reizbarkeit, Lärmigkeit, Verwirrtheit, körperliches Drohen, verbales Drohen und Angriff auf Gegenstände. Wird eine 14 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Verhaltensweise beobachtet, so bekommt die Patientin oder der Patient, jeweils einen Punkt dafür. Abderhalden und Needham fügten hinzu, dass je nach Risikogefühl der Überprüfenden Person, noch weitere sechs Punkte vergeben werden können. Abderhalden und sein Team stellten also folgendes fest (Abderhalden 2004, S. 78 zitiert in Bärsch & Rohde 2013, S. 112): „0-3 Punkte Sehr geringes Risiko 4-6 Punkte Geringes Risiko (1 von 100 Patienten wird gewalttätig) 7-9 Punkte Erhebliches Risiko (1 von 10 Patienten) 10-12 Punkte Hohes Risiko (1 von 4 bis 1 von 5 Patienten)“ Mögliche Gründe für ein gewalttätiges Verhalten der pflegebedürftigen Person (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 44): • Hatte die Person Schmerzen? • Lag eventuell ein Schlafdefizit vor? • Hatte die betroffene Person Durst oder Hunger? • War ein spezielles Ereignis kurz zuvor der Auslöser? • Lag eine Über-, oder Unterforderung vor? • Fühlte sich die pflegebedürftige Person einsam? • War Angst vor einem Ereignis (Tod, sterben, Kontrollverlust) der Grund? • Hatte die Person Schwierigkeiten mit jemandem? • Traten Konflikte mit einer Pflegeperson auf? • Liegt eine Krankheit vor, die das Aggressionspotential beeinflusst? 5.2.2. Vermeidung von Konfliktsituationen, Ausbrennverhinderung Um Konfliktsituationen längerfristig aus dem Weg zu gehen, gibt es unterschiedliche Bewältigungsstrategien für den Alltag. Der erste Schritt hierfür ist die Arbeit an sich selbst. Andere zu pflegen, erfordert auch sich selbst zu pflegen. Um eine dauerhaft positive Wirkung zu erzielen, sind Coping-Strategien erforderlich, welche zur Bewältigung des 15 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Problems beitragen und dieses nicht nur vertagen. Fengler (2000) gibt diesbezüglich einen Überblick möglicher Coping-Strategien (Fengler 2000, zitiert in Hamborg, Entzian, Huhn & Kämmer 2003, S. 30): 1. Die Informationslücken müssen geschlossen werden. Es müssen so viele Informationen als möglich zusammengetragen werden um sich ein klares Bild zu machen. 2. Den Rat anderer einholen. Es ist wichtig auch mal die Meinung eines Außenstehenden zur Kenntnis zu nehmen. 3. Unbeschwertheit an den Tag legen. Alles Negative hat auch sein Positives. Hierbei bewusst, die gute Seite des Problems erkennen. 4. Nicht am Problem festhalten. Ablenkung durch andere Dinge, schafft oft die Distanz die es benötigt, um einen anderen Blickwinkel zu gewinnen. 5. Konstruktiven Input geben und das Beste aus der Basissituation zu machen. 6. Das Risiko abwägen und auch auf die schlimmstmögliche Situation gefasst sein. 7. Nach Faktoren suchen, welche die Situation beeinflussen könnten. 8. An Erfahrungswerte anknüpfen und daraus profitieren. 9. Situationen aktiv entschärfen und nicht abwarten bis die Situation eskaliert. 10. Die Priorität der Situation abklären, bestenfalls mit einer dritten Person um eine objektive Meinung zu erhalten. 5.2.3. Beruhigung Betroffener Machtlosigkeit kann ebenfalls ein Faktor sein, der dazu beiträgt aggressives Verhalten gegenüber Pflegenden auszuleben. Die Abhängigkeit und Ohnmacht sowie die Tatsache über viele Belange nicht mehr selbst entscheiden zu dürfen, kann pflegebedürftige sehr frustrieren. Oft liegt dies auch daran, dass Pflegehandlungen missverstanden werden oder den Bewohnerinnen und Bewohnern die Notwendigkeit dieser Pflegehandlungen einfach nicht klar ist. Um Situationen dieser Art zu entschärfen bedarf es vermehrter Kommunikation und Empathie. Hier ist es von größter Wichtigkeit mit der betroffenen, pflegebedürftigen Person die Sachlage zu klären und verständlich zu machen, was die Pflegekraft vor hat und warum dies gemacht wird. Bewohnerinnen und Bewohner müssen 16 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher die Notwendigkeit der Pflegehandlung verstehen und diesbezüglich gilt es beruhigend auf die Person einzuwirken und über die positiven Aspekte der Pflegehandlung zu informieren, sowie das Wohlwollen dem zu Pflegenden gegenüber in den Vordergrund zu rücken (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 38). 5.2.4. Verharmlosung und Ignoranz Der Verharmlosung von negativen Verhaltensweisen im Setting der Pflege können zweierlei Ursachen zu Grunde liegen. Zum einen ist es möglich, dass sich die pflegebedürftige Person nicht mehr ernstgenommen fühlt, was wiederum eine Steigerung der Aggression zur Folge haben könnte. Zum anderen ist es ebenfalls möglich, dass sich die pflegebedürftige Person dadurch in ihrem Verhalten bestätigt fühlt und dies noch weiter ausführt (Kienzle & PaulEttlinger 2007, S. 40). Das Ignorieren von aggressivem Verhalten hat ähnliche Auswirkungen. Die Pflegebedürftige Person verhält sich unangemessen, wird dies ignoriert, so kann das Schweigen als Akzeptanz gedeutet werden und eventuell zu einer Verstärkung des Verhaltens führen. Auch hier besteht die Möglichkeit, dass sich die pflegebedürftige Person nicht ernst genommen fühlt und sich so das Aggressionspotential steigert. Zum Beispiel packt eine Bewohnerin oder ein Bewohner die Pflegekraft am Arm und hindert diese mit ihrer Handlung fortzufahren. In der Annahme weitere Konflikte zu vermeiden, wird dies oft ignoriert. Eine angemessene Reaktion wäre jedoch gewesen, die Person auf ihr unangebrachtes Verhalten hinzuweisen (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 41). 5.2.5. Anforderung von Unterstützung Der Pflegealltag bietet sich ständig neue Herausforderungen, was passiert aber, wenn diese nicht mehr allein bewältigt werden können? Ist Gefahr im Verzug, so ist es unabdingbar Hilfe zu holen bevor die Situation eskaliert. Sind beispielsweise Gegenstände, welche als Waffe verwendet werden könnten in greifbarer Nähe für die bereits aggressive pflegebedürftige Person, so wäre Hilfe zu holen und Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen anzufordern, die richtige Entscheidung. In solchen Situationen kann die richtige Reaktion entscheidend sein und zur Entschärfung oder Eskalation beitragen. Hierbei ist ein hohes Maß an Empathie und auch Erfahrung gefragt. Ein anderes Beispiel wäre, dass die Bewohnerin oder der Bewohner die Aggression direkt gegen die Pflegekraft richtet. Unter diesen Umständen kann es wirkungsvoll sein mit der Pflegehandlung einfach weiter 17 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher fortzufahren, um so das Aggressionspotential abzuschwächen (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 39). 5.2.6. Bestrafung Eine Überforderung der Pflegekraft kann dazu führen, dass diese auf unangemessene, unprofessionelle Weise reagiert, hierzu zählt auch die Bestrafung. Drohungen und Strafen könnten das unerwünschte Verhalten der betreffenden pflegebedürftigen Person eventuell in dieser Situation für den Moment stoppen, jedoch hat dies langfristig keine Wirkung. Im Gegenteil, denn die Angst vor weiteren Bestrafungen kann die Aggression noch weiter schüren und so auch Trotzreaktionen hervorrufen, wie beispielsweise einkoten (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 41). 5.3. Gewaltformen seitens des Pflegepersonals Pflegende sind nicht nur der Gewalt anderer ausgesetzt, sie können auch aktiv Gewalt an Pflegebedürftigen ausüben. Das „Überpflegen“ ist bereits eine subtile Gewaltform, diese wird nur nicht immer sofort realisiert. Im Folgenden werden unterschiedliche Formen der Gewalt zunächst übersichtlich dargestellt und darauf näher beschrieben. Darstellung der Gewaltformen gegen Heimbewohner (Schneider 2006, zitiert in Grond 2007, S. 84): • „Psychische Gewalt: Handgreiflichkeiten, Schubsen, Immobilisieren, Fixieren, falsche Medikamente, Überdosis, Psychopharmaka ohne Einwilligung, künstliche Ernährung wider Willen, Dauerkatheter • Psychische oder emotionale Gewalt: Drohungen, Beleidigungen, Befehle, rüder Umgang, Duzen, Klingel außer Reichweite, Erpressungen, oberflächliche Zuwendung, nachts Waschen, Bedrängen, Einschüchterungen, Verharren auf der Expertenrolle, den Tod prophezeien, unsensibler Umgang mit Sterbenden • Finanzielle Gewalt: Drängen zu Geschenken oder zu Testamentsänderung • Vernachlässigung: Hilfe unterlassen, Nahrung, Kleidung oder Hygienevorenthalten, in Ausscheidungen liegen lassen, Toilettengang, Wärme oder Pflege verweigern, Arzt nicht benachrichtigen • Freiheitsbeschränkung: Bettgitter, Einsperren, Einschließen, Isolieren, Verlegen, 18 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Zivilrechte behindern • Strukturelle Gewalt: Personalmangel, Frühstückszeiten des Personals, rigide Zeitpläne für Essen, Schlafen, Wecken oder Besuche, fester Tagesplan, der nicht an den Bedürfnissen der Bewohner orientiert ist, Verbot von Beziehungen, Störung von Lebensraum und Privatsphäre.Pflegenden geben zu, einmal jährlich in 40% psychische Gewalt und in 10% körperliche Gewalt anzuwenden. In der Altenpflege ist passive Gewalt (z.B. Vernachlässigung) häufiger als aktive, psychische häufiger als körperliche und indirekte häufiger als direkte.“ 5.3.1. Psychische Gewalt Diese Form der Gewalt kommt am häufigsten im Setting der Pflege vor. Verbale Misshandlungen geschehen tagtäglich und beginnen bereits beim Duzen, denn dadurch wertet die Pflegekraft die pflegebedürftige Person bereits ab. Des Weiteren zählen dazu das Dehumanisieren durch das Vermeiden von Gesprächen, das Anschreien, das Missachten der Privatsphäre, sowie Beschimpfungen oder Erniedrigungen und das absichtliche Verspotten der pflegebedürftigen Person (Grond 2007, S. 82). Diese Form der Gewalt hinterlässt keine sichtbaren, äußerlichen Spuren, weshalb sie auch deutlich schwieriger festzustellen ist. Trotzdem ist sie für die Betroffenen spürbar (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 45). 5.3.2. Physische Gewalt Die physische Gewalt beinhaltet jegliche Form von Misshandlungen. Ziel ist es einer anderen Person Schmerz und/oder körperlichen Schaden zuzufügen. Offensichtlich sind hierbei Handlungen, wie etwa Treten, Schlagen, Festhalten etc. (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 44). Jedoch kommt körperliche Gewalt gegen kranke oder pflegebedürftige Menschen deutlich seltener vor. In manchen Fällen wird diese jedoch auch nicht sofort wahrgenommen. Um sich Mehrarbeit zu sparen, werden Bewohnerinnen und Bewohner gelegentlich fixiert und mit Medikamente gegen ihren Willen ruhiggestellt. Sie sind von den Pflegekräften abhängig und müssen unter diesen Umständen gegebenenfalls auch unter Durst, Hunger oder Kälte leiden. Dies geschieht jedoch meist unbewusst und wird sogar als notwendig für erfolgreiches Arbeiten von den Pflegenden betrachtet. Auch das Aufzwingen von Waschhandlungen, Beteiligung an Aktivitäten oder Stören des Schlafes zählen zu psychischer Gewalt (Grond 2007, S. 82). 19 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 5.3.3. Sexuelle Gewalt Bei dieser Form der Gewalt wird die Sexualität als Instrument für Verletzungen und Erniedrigung eingesetzt. Dazu zählen sexuelle Übergriffe aller Art, sexuelle Belästigung, sexueller Missbrauch, sowie Vergewaltigung. Auch diese Form der Gewalt kann auf verbaler Ebene stattfinden. Blicke und einschlägige Äußerungen sind bereits ausreichend. Sexuelle Gewalt ist stets aggressiv und machtdemonstrierend, als möglicher Hintergrund wird ein ausgeprägtes sexuelles Begehren vermutet. Die Opfer werden dabei gedemütigt und erniedrigt (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 48). 5.3.4. Soziale Gewalt Für Pflegende ist es ein Leichtes, soziale Gewalt auszuüben. Dies bezieht sich unter anderem auf das Ein- oder Aussperren von Bewohnerinnen und Bewohnern durch Isolation oder Zwangseinweisungen. Aber auch das Abändern der Besuchszeiten zum Nachteil der Pflegebedürftigen zählt hier dazu (Grond 2007, S. 83). 5.3.5. Fürsorgliche Gewalt Auch diese Form der Gewalt wird oft nicht gleich wahrgenommen. Die Pflegekraft meint es „gut“ mit der pflegebedürftigen Person, nimmt dieser jedoch damit die letzte Autonomie. In dem Glauben, dass die Pflegenden besser wüssten was gut für die Bewohnerin oder den Bewohner ist, wird so auch noch die letzte Selbstständigkeit zu Nichte gemacht (Grond 2007, S. 83). 5.3.6. Vernachlässigung Pflegebedürftiger Menschen Die passive Vernachlässigung, hiermit sind Tätigkeiten, welche vergessen werden könnten, wie die Verabreichung von Flüssigkeit und Nahrung, das Umlagern etc. gemeint (Grond 2007, S. 83). Die Verweigerung der Kommunikation, Ignorieren von Wünschen, Schmerzen und Ängsten sind ebenfalls hier angesiedelt (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 46). Bei der aktiven Vernachlässigung geschehen diese Dinge mit Absicht. Auch Missstände hinsichtlich der Hygiene gehen Hand in Hand mit aktiver Vernachlässigung (Grond 2007, S. 83). 20 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 6. Tötung Pflegende können durchaus zu Täterinnen und Tätern werden, dies wurde ja bereits hinreichend erörtert. Ihre Taten können sogar zum Tode führen. Die Beweggründe hierfür sind jedoch nur schwer nachzuvollziehen. In den wenigsten Fällen liegt eine psychologische Erkrankung vor und ein allgemeines Motiv existiert ebenfalls nicht. Es konnte beobachtet werden, dass häufig jene Pflegebedürftige betroffen sind, die als unheilbar krank gelten oder bereits im Sterben liegen, Gegebenheiten, bei denen das Ableben keine Seltenheit ist (Rotondo 2005, S. 5). Zu den beeinflussenden Faktoren zählen Überforderung, Personalmangel, der Mangel an Kommunikation, Strukturelle Unstimmigkeiten und fehlende Supervision. Hinzu kommt, dass die Täterinnen und Täter diese Handlungen nicht als Tötung wahrnehmen. Sie sehen sie oftmals als „Erlösung“, „das Beste“ oder „das Richtige“ an. Pflegende, die morden, sind meist auch sehr engagiert, hoch qualifiziert und gelten als eher unauffällige Personen, denen Kolleginnen und Kollegen eine solche Tat nie zutrauen würden. Im Setting der Pflege wird das Töten auch nicht erwartet und es geschieht meist subtil mit überdosierten Medikamenten (Rotondo 2005, S. 6). Jahrelang kann dies trotz wiederkehrender Warnzeichen, wie einer erhöhten Sterberate während der Dienstzeit der betreffenden Pflegekraft, unentdeckt bleiben. Oftmals bekommen die Täterinnen und Täter bereits prägnante Spitznamen wie „Todesengel“, „Kuss des Todes“, „Hexe“ etc., jedoch wird dies meist humorvoll von Kolleginnen und Kollegen abgetan und es wird wieder zur Tagesordnung übergegangen. Trotz der anhaltenden Todesfälle, werden meist keine weiteren Nachforschungen vom Kollegium angestellt (Rotondo 2005, S. 5-6). Einige Beispiele zur Veranschaulichung: • Im Krankenhaus Wien-Lainz starben auf der Inneren Station unter der Obhut von Rotraud Prager 1987 73 Patientinnen und Patienten. Dies konnte erst 1989 festgestellt werden. Im Vergleich zu zwei anderen Schwestern derselben Station, waren dies 4- bis siebenmal so viele Todesfälle. Im Jahr darauf stiegt die Mortalität auf 123 Patientinnen und Patienten. Was eine 5- bis achtmal höhere Sterberate bedeutet als bei den anderen Schwestern. • 1990 ereigneten sich dreiviertel aller Todesfälle eines deutschen Krankenhauses, während der Dienstzeit von Krankenpfleger Helmut Frey. • Zwischen 1985 bis zur Aufdeckung im Februar 1986 starben während der Dienstzeit von Schwester Michaela Roeder auf der Intensivstation beinahe dreiviertel aller 21 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Patienten (Maisch 1997, S. 163-164). • Pfleger Roger A. hat 27 oft demenzkranke, Pflegebedürftige Menschen mit starken Beruhigungsmitteln oder gar einer Plastiktüte zu Tode gebracht. Die Motive waren Mitleid und Überforderung, er wurde dafür verurteilt. • Der Krankenpfleger Wolfgang L. Ist verantwortlich für 10 Todesopfer in der Psychiatrie in Güterlsloh und wurde wegen Todschlags verurteilt. • Der engagierte Krankenpfleger Stefan L., hatte sich 2006 vor Gericht für 29 Todesfälle in der Klinik Sonthofen zu verantworten. Er tötete seine Opfer durch die Injektion einer Medikamentenmischung • Der Krankenpfleger einer Intensivstation Reinhard B., wurde 1991 wegen siebenfacher Körperverletzung mit Todesfolge in Rheinfelden verurteilt. • Rudi Z., ein Krankenpfleger, wurde 1976 wegen zweifachen Mordes und zweifach versuchten Mordes in einem Altersheim in Wuppertal verurteilt. • Der „Todesengel“ von Wachtberg, Michaela G., erstickte während ihrer Tätigkeit als Pflegeassistentin im Jahr 2006, 9 hilflose Heimbewohnerinnen. Sie wurde dafür zu Rechenschaft gezogen und bestraft (Grond 2007, S. 85). 7. Mitwissende In Lokalen, in der Schule, auf der Straße, beinahe überall wird man mit Übergriffen und Gewalt konfrontiert. In vielen Fällen reagieren Menschen mit Ignoranz aufgrund von Unsicherheit und verschließen sich vor dem Offensichtlichen. Leider schürt dieses Verhalten noch zusätzlich ein Milieu von Gewalt (Bärsch & Rohde 2013, S. 72). Sehr oft beobachten Kolleginnen und Kollegen Gewalt, ausgeübt von anderen Pflegekräften. Die sogenannten „Aufdeckungsbarrieren“ und „Verleugnungsrituale“ tragen dazu bei, dass die Taten unentdeckt bleiben. Sie dienen unter anderem dem Selbstschutz, dem „nicht wahrhaben Wollens“ und der Vermeidung sich mit den Grausamkeiten auseinandersetzten zu müssen. Zu diesen Ritualen gehören (Rotondo 2005, S. 8-11): 7.1. Verharmlosung Hierzu zählt die Vergabe von Spitznamen, wie sie bereits erwähnt wurde. Denn äußert sich im Kollegium bereits erster Verdacht beziehungsweise wird zunächst wahrgenommen, dass 22 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher es bei einer bestimmten Pflegekraft vermehrt zu Sterbefällen gekommen ist, wird dies systematisch mit Humor verleugnet. Dialogform im Kollegium • „Todeskuss“ war der Spitzname eines amerikanischen Intensiv Pflegers, als er von Kolleginnen und Kollegen auf diesen angesprochen wurde, antwortete er, „Ja, heute schnapp ich mir den Nächsten!“ und alle brachen in Gelächter aus. • Angesprochen als „Todesengel“, wurde Michaela Roeder bei Schichtwechsel von ihren Kolleginnen und Kollegen auf das eventuell bevorstehende Ableben einer Patientin informiert. Sie entgegnete, „Das Häppchen schaff ich bis zum Fußballspiel“, welches am Abend übertragen wurde. • „Traudl, den haben wir für dich aufgehoben“, tönte es bei Schichtübergabe zur „Hexe“ Schwester Prager in Wien, betreffend todgeweihten Patientinnen und Patienten. Sie entgegnete religiös scherzend, „Ja ja, ich hab beim Pepi schon ein Zimmer b'stellt!“. In Lainz stand „Pepi“ bezeichnend für 'Herrgott' und so lachte das Kollegium. Auch ihren Spitznamen betreffend scherzte sie „Ja, ich muss mich halt mal auspendeln lassen. Ich brauch ja nur daneben zu stehn und einen anschaun, schon stribt er. Ich fürcht mich allmählich ja schon, in den Dienst zu gehen.“ Für Außenstehende mag dies nach einem rauen und zynischen Umgangston klingen. Für beteiligte Kolleginnen und Kollegen erschien der offene Umgang als Zeichen eines reinen Gewissens. 7.2. Aufdeckungsbarriere Gefühlsmisstrauen Pflegende nehmen oft wahr, dass etwas nicht stimmt und Vorgänge nicht so ablaufen, wie sie es sollten. Die Taten und Fakten können augenscheinlich klar auf der Hand liegen, doch Beobachterinnen und Beobachter können es nicht glauben. Sie misstrauen ihrer eigenen Wahrnehmung und zweifeln an ihrem Gefühl, bevor sie jemand anderen beschuldigen. 7.3. Aufdeckungsbarriere des Nicht-Ernst-Nehmens Wenn eine Kollegin oder ein Kollege gegenüber dem Vorgesetzten, Bedenken oder einen begründeten Verdacht äußert, so kann es passieren, dass dies nicht ernst genommen wird. Manchmal werden dann auch vom Vorgesetzten nach anderen Gründen gesucht warum die betreffende Pflegekraft angeschwärzt wird. 23 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 7.4. Aufdeckungsbarriere des Übersehens Täter geben oftmals direkte Hinweise zur Tat. Da diese jedoch so offensichtlich sind, werden sie von den beteiligten Kolleginnen und Kollegen oft übersehen. Wie der bereits erwähnte, scherzhafte Umgang mit den zuvor genannten Geschehnissen, denn Beteiligte rechnen nicht damit, dass sie hierbei eigentlich mit der Wahrheit konfrontiert werden. Auch im Falle von Gewalt ohne Todesfolge wird oft geschwiegen. Denn werden interne Schwierigkeiten nach außen getragen, so gilt man unter Kolleginnen und Kollegen als Nestbeschmutzer. Zu schweigenden Dritten gehört laut Grond (2007, S. 97): • „wer als Mittwisser gleichgültig ist: 'Das geht mich nichts an.' • wer fürchtet, als Schlechtmacher den Job zu verlieren • wer Empathieschwund wünscht und immer sachlich bleiben will.“ Dabei gilt, wer Gewalt und Missstände beobachtet und diese verschweigt, macht sich mitschuldig. Jede Person hat eine solche Situation umgehend den zuständigen Stellen zu melden. Mediale Aufmerksamkeit wäre hierbei aber kontraproduktiv. Die Gefahr der Dramatisierung schürt Ängste bei älteren Menschen und trägt dazu bei, dass diese später nicht in einem Pflegeheim untergebracht werden wollen. Die Mitverantwortlichen, wie Träger, Politik, Heim- und Pflegedienstleitung werden nur in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen. Die Konsequenzen sind stets von den betroffenen Pflegenden zu tragen (Grond 2007, S. 97-98). 8. Gewaltvermeidung durch 'Know-how' Eine Zielorientierte und strukturierte Handlungsweise sind die Kennzeichen der Professionalität im Bereich der Pflege. Dazu gehören (Hamborg, Entzian, Huhn & Kämmer 2003, S. 19): • eine stellvertretende Interpretation der Pflegesituation, gestützt von Fachwissen, • das Zusammenwirken von objektivem Pflegebedarf und den tatsächlichen Gegebenheiten der individuellen Situation, • die Befolgung beruflicher Übereinkünfte und Normen. 8.1. Stellvertretende Interpretation der Pflegesituation Professionelle Hilfe bei der Pflege wird meist dann gesucht, wenn sich Angehörige als 24 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Pflegende überfordert fühlen und die Situation nicht mehr tragbar ist. Eine qualifizierte Pflegekraft deutet die Gegebenheiten ohne persönliche Betroffenheit und ist auch emotional nicht involviert. Die erste Aufgabe der professionellen Pflege ist es, die Pflegesituation objektiv einzuschätzen. Dies geschieht geleitet durch Theorie und basiert ebenfalls auf Erfahrung. Hierbei handelt es sich um eine fachlich geleitete Problemerkennung. Die Symptomentwicklung, die Wahrnehmung der Personen und die Pflegebedarfsbeobachtung, tragen bei der systematischen der Ermittlung des Unterstützungs- sowie des Pflegebedarfs bei (Hamborg, Entzian, Huhn & Kämmer 2003, S. 19). 8.2. Zusammenwirken von objektivem Pflegebedarf und den tatsächlichen Gegebenheiten Um im Setting der Pflege professionell handeln zu können, ist interdisziplinäres Fachwissen von größter Wichtigkeit. Zum einen ist die Pflege aus naturwissenschaftlicher Sicht korrekt durchzuführen, wie beispielsweise bei sehr alten, bettlägerigen Personen, die Dekubitus gefährdet sind. Zum anderen leiden diese Personen manchmal unter Lungenmetastasen oder anderen Krankheitsbildern, die Atemnot hervorrufen und wehren sich dementsprechend gegen eine Lagerung. In Situationen wie dieser, bedarf es ein hohes Maß an Empathie, sowie fundiertes Fachwissen um dementsprechend angemessen zu handeln. Welches Ziel, welcher Zweck und welcher Sinn wird mit der Pflegemaßnahme verfolgt? Dies gilt es stets kritisch zu hinterfragen. „Pflegefachlichkeit zeigt sich in der Kompetenz, die objektive Pflegesituation unter Berücksichtigung der individuellen Gesamtsituation planen, gestalten und bewerten zu können.“ (Hamborg, Entzian, Huhn & Kämmer 2003, S. 19) 8.3. Befolgung beruflicher Übereinkünfte und Normen Bei der Befolgung beruflicher Übereinkünfte und Normen sind • Perspektivenwechsel • Körperhaltung • Kommunikation • Verhalten wichtige Faktoren hinsichtlich der sozialpflegerischen Perspektive. Ein Hauptaugenmerk 25 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher der Pflege ist die Zusammenarbeit. Die pflegebedürftige Person muss mit der Pflegehandlung einverstanden sein und einwilligen. Entscheidend ist es hierbei die Menschenwürde und Selbstbestimmung zu achten und eine zufriedenstellende Lösung für alle Betroffenen zu finden, welche auf den ethischen Grundlagen der Pflegearbeit basiert (Hamborg, Entzian, Kuhn & Kämmer 2003, S. 18-19). 9. Prävention Generell lassen sich Präventive Maßnahmen gegen Gewalt in drei Kategorien einteilen, die Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Die Primärprävention beginnt bereits im Kindesalter, Wertschätzung und gegenseitige Rücksichtnahme werden dabei über Jahre gelebt und verinnerlicht, mit dem Ziel aggressives Verhalten und Gewalt gar nicht erst entstehen zu lassen. Umgelegt auf den Pflegebereich bedeutet dies, Risikofaktoren rechtzeitig wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Sekundärprävention zielt auf eine direkte deeskalierende Reaktion in Notsituationen ab. Da Gewalt oft nicht von alleine aufhört, kommen Sekundärmaßnahmen nach oder während Gewaltsituationen, stoppend zu tragen. Die Tertiärprävention beinhaltet jegliche Maßnahmen, die dazu dienen, Gewalt zukünftig zu verhindern. Basis hier ist bereits geschehene Gewalt. Tertiärprävention befasst sich also ausschließlich mit der Nachbearbeitung von Gewalt (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 186). Aggressives Verhalten ist menschlich und tritt nicht nur im Setting der Pflege auf, sondern in allen Lebensbereichen. Um eine langfristige Verhaltensänderung bei einer anderen Person zu erreichen, muss die Bereitschaft, sein eigenes Verhalten zu ändern, gegeben sein (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 56-57). 9.1. Pflegerische Professionalität Professionelle Pflege, qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden das beste Fundament für die Prävention von Aggression und Gewalt. Werden Pflegehandlungen mit gegenseitigem Respekt und einfühlsam vorgenommen, können physische und psychische Schmerzen größtenteils vermieden werden und die pflegebedürftige Person fühlt sich unter diesen Umständen gut aufgehoben (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 58). 9.2. Kompetenz auf fachlicher Ebene Darunter fällt die einschlägige Ausbildung im pflegerischen Bereich und die Fähigkeit fächerübergreifendes Wissen richtig zu verknüpfen. Die Pflege erfordert ein hohes Maß an 26 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Empathie, sozialer Kompetenz sowie medizinisches Know-how. Darüber hinaus sind kontinuierliche Weiterbildungen unerlässlich um stets am neuesten Wissensstand zu sein. 9.3. Kompetenz auf sozialer Ebene Wie bereits erwähnt, spielt das Einfühlungsvermögen in diesem Berufsfeld eine tragende Rolle. Die Empathie im Umgang mit anderen Menschen und das Kennen der eigenen Grenzen sind elementar. Zu den sozialen Kompetenzen zählen auch Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, sowie Begabung bei der Gesprächsführung (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 59). 9.4. Organisation der Arbeit Im Pflegealltag ist die Organisation der Arbeitsabläufe essentiell, denn um allen Bewohnerinnen und Bewohnern gerecht zu werden und auch die administrative Arbeit nicht zu vernachlässigen, will jeder Schritt durchdacht sein. Nur durch eine sorgfältige Planung der Tätigkeiten und Pflegehandlungen werden auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so gut als möglich entlastet. Eine lückenlose Dokumentation ist dabei unerlässlich. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ständig am Sammeln von Informationen beteiligt und sorgen somit für eine vollständige Aufzeichnung aller Geschehnisse. Die professionelle Dokumentation ist erforderlich um (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 60): • das Pflegepersonal rechtlich abzusichern • Verhaltensweisen abklären zu können • die Kolleginnen und Kollegen bei Schichtwechsel zu informieren • die Kommunikation mit Angehörigen zu erleichtern • einheitlich zu pflegen • Handlungsweisen gegenüber Vorgesetzten zu rechtfertigen 9.5. Gespräche im Team Um tatsächlich alle Vorgänge zu erfassen, sind regelmäßige Gespräche im Team unverzichtbar. Hier können Probleme, Auffälligkeiten und auch persönliche Belange, etc. nochmals im Kollegium ausgetauscht werden um so gemeinsam die bestmöglichen Lösungsansätze zu erarbeiten (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 62). 27 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 9.6. Supervision Um im Arbeitsbereich der Pflege langfristig einen hohen Qualitätsstandard gewährleisten zu können, braucht es die Supervision. Aufgrund der belastenden Arbeitssituation ist ein neutraler Supervisor, der mit dem Personal diverse Konfliktsituationen mit Hilfe von unterschiedlichen Kommunikationstechniken erarbeitet, meist fördernd (Kienzle & PaulEttlinger 2007, S. 62). 9.7. Balintgruppe Der Psychoanalytiker Michael Balint, entwickelte ursprünglich eine Art Reflexionsgruppe für Ärzte. In dieser wurde die Arzt-Patienten-Beziehung mit Hilfe eines Psychotherapeuten thematisiert. Balint ging davon aus, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient erheblichen Einfluss auf die Erkrankung der Patientin/des Patienten hat. Die Balintgruppe zielt darauf ab, die Beziehung zwischen Arzt und Patientin/Patient und somit auch die Behandlung zu verbessern. Dieses Konzept hat sich im Laufe der Zeit modifiziert und kommt nun in mehreren Berufsgruppen, unter anderem auch bei Pflegenden, zum Einsatz (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 190). 9.8. Weiterbildung Wie viele andere Disziplinen, ist auch die Pflegewissenschaft eine Wissenschaft, die sich ständig verändert und weiterentwickelt. Neue Erkenntnisse werden gewonnen und im Pflegebereich adaptiert. So braucht es auch engagiertes Pflegepersonal, welches gewillt ist neue Wege zu gehen und nicht vor Fort- und Weiterbildung zurückschreckt (Kienzle & PaulEttlinger 2007, S. 63). 9.9. Selbstpflege Wie auch schon zuvor beschrieben, ist die Selbstpflege ein elementarer Aspekt um im Pflegeumfeld langfristig bestehen zu können und auch mit Aggression und Gewalt umgehen zu können. Die Pflegekraft ist ständigem Druck ausgesetzt, denn die „Arbeit am Menschen“ muss trotz Zeit- und Personalmangels nach bestem Wissen und Gewissen verrichtet werden. Die Psychohygiene setzt hier an, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen und ein Burnout zu verhindern. Zur persönlichen Ausgeglichenheit tragen Faktoren, wie ein positives Selbstbild, Entspannung, Freiheitsbeschäftigung, persönliche Beziehungen, sowie Erholungsphasen wesentlich bei (Kienzle & Paul-Ettlinger 2007, S. 63). 28 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 10. Ausblick Die Tatsache, dass die Lebenserwartung kontinuierlich steigt, hat gravierende Auswirkungen auf das gesamte Gesundheitssystem. Mit steigendem Alter steigt auch das Krankheitsrisiko und somit auch der Pflegebedarf. Um diesem Umstand gerecht zu werden, bedarf es einer vollständigen Neuausrichtung der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Die Pflege von älteren Personen gewinnt hierbei zunehmend an Bedeutung. Ziel wäre es, Pflege menschlich orientiert, effektiv und leistbar zu gestalten (Osterbrink & Andratsch 2015, S. 135). Es besteht die Gefahr, dass die Anzahl der misshandelten Pflegebedürftigen ebenfalls mit dem Anstieg des Lebensalters einhergeht. „Epidemiologische Zahlen der WHO zeigen, dass in allen Ländern der europäischen Region Gewalt und Misshandlung gegenüber alten Menschen ein Thema ist; Schätzungen zufolge sind pro Jahr etwa vier Millionen alte Menschen im europäischen Raum dem ausgesetzt. Das volle Ausmaß des Problems ist unbekannt.“ Osterbrink & Andratsch 2015, S. 136) Das Bewusstsein der Gesellschaft ist dafür jedoch noch nicht ausreichend geschärft, obwohl jeder von uns eines Tages betroffen sein könnte, wird Gewalt in der Pflege nur selten thematisiert. Um die bestmögliche Pflege zu gewährleisten, bedarf es zunächst an Aufklärung. Nur so können Missstände aufgezeigt, künftig verhindert und die entsprechenden Organe wie Politik, Träger, etc. zur Verantwortung gezogen werden. Das Pflegewesen sollte von Grund auf durchleuchtet werden, um so in Zukunft angemessenen Rahmenbedingungen für die Gestaltung einer gewaltfreien Pflege zu schaffen. Professionelle Pflegekräfte, Empathie, Supervision, Fort- und Weiterbildung sollten dabei das Fundament bilden. 29 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher 11. Schlussfolgerung Das kontinuierliche Auftreten von Gewalt im Pflegebereich zeigt, dass diesem Thema künftig dringend mehr Aufmerksamkeit zu Teil werden sollte. Pflegende und pflegebedürftige Personen sind täglich physischen und auch psychischen Gewaltsituationen ausgesetzt, um dies weitgehend zu vermeiden, muss im Interesse aller gehandelt werden. Bezüglich der Ansätze eines gewaltfreien Umgangs kristallisierte sich während meiner Recherchen zu diesem Thema schon bald heraus, dass dies nur bedingt möglich ist. Die Ansprüche an die Pflege sind sehr hoch. Diesen unter enormen Belastungen sowohl physischer als auch psychischer Natur bei verhältnismäßig geringer Entlohnung gerecht zu werden, gestaltet sich sehr schwierig. Werden die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen kann ein hoher Wirkungsgrad von Gewaltfreiheit erzielt werden. Als Ansätze dienen hier präventive Maßnahmen seitens der Pflege wie Pflegerische Professionalität, Fachkompetenz, Sozialkompetenz, Arbeitsorganisation, Teamgespräche, Supervision, Weiterbildung, Selbstpflege. Ziel ist es, Gewalt zur Gänze zu verhindern. Doch selbst die Anwendung sämtlicher Methoden zur Förderung der Gewaltprävention, ist keine Garantie für einen vollkommen gewaltfreien Umgang im Pflegebereich. Dieser lässt sich nicht in der Realität umsetzen, zumal auch die Definition von Gewalt subjektiv ist und jede Person darunter etwas anderes versteht. Pflegende sowie Pflegebedürftige sind Menschen und bleiben Menschen, auch unter Berücksichtigung aller gewaltverhütenden Faktoren kann Gewalt niemals gänzlich ausgeschlossen werden. Nicht alle pflegebedürftigen Personen erfreuen sich bester geistiger Gesundheit, somit haben sie oft keinen Einfluss mehr auf ihr Verhalten anderen gegenüber. Gewalt, die von pflegebedürftigen, oftmals kranken Menschen ausgeht, kann demnach kaum verhindert werden. Die zusätzliche Erschwernis, die für Pflegekräfte im Umgang mit gewalttätigen Patientinnen und Patienten besteht, darf niemals als Ausrede verwendet werden, um ihrerseits mit Gewalt zu reagieren. Es ist dennoch essentiell auf die Herausforderungen, denen sich Pflegende tagtäglich stellen müssen, aufmerksam zu machen, diese nicht unter den Teppich zu kehren oder zu verharmlosen, sondern ihnen größtmögliche Unterstützung und Anerkennung zukommen zu lassen. Die Arbeit mit Menschen ist genauso erfrischend, wie unvorhersehbar, nichts ist auszuschließen. Allerdings kann das Verhalten anderer durch das eigene beeinflusst werden und genau diese Tatsache sollte niemals außer Acht gelassen werden. 30 Bachelorarbeit: Gewalt im Pflegebereich Kerstin Wutscher Literaturverzeichnis Bärsch, T, Rohde, M (2013) Deeskalation in der Pflege. 2. Auflage, Books on Demand, Norderstedt. Grond, E, (2007) Gewalt gegen Pflegende. Hans Huber Verlag, Bern. Hamborg, M, Entzian, H, Huhn, S, Kämmer, K (2003) Gewaltvermeidung in der Pflege Demenzkranker. Modelle für alle Fälle. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart. Hörl, J, Spannring, R (2001) Gewalt gegen alte Menschen. In: Gewalt in der Familie, Nr. 4, S. 305-342. Online verfügbar unter: file:///C:/Users/KikiWuuu/Downloads/gewaltbericht4%20(4).pdf, zuletzt geprüft am 04. 11. 2016. Kienzle, T, Paul-Ettlinger, B (2007) Aggressionen in der Pflege. 3. Auflage, W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart. Maisch, H (1997) Patiententötungen. Dem Sterben nachgeholfen. Kindler, München. Osterbrink, J, Andratsch, F (2015) Gewalt in der Pflege. Verlag C.H. Beck oHG, München. Rotondo, R (2005) Vortrag: Wenn Pflegende Patienten töten... Online verfügbar unter: http://www.supervision-hamburggesundheitswesen.de/rotondo/download/patiententoetung_vortrag_2005.pdf, zuletzt geprüft am 25. 10. 2016 Schirmer, U, Mayer, M, Martin, V, Vaclav, J, Gaschler, F, Özköylü, S (2006) Prävention von Aggression und Gewalt in der Pflege. Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH, Hannover. Schneider, C (2006) Gewalt in Pflegeeinrichtungen. Erfahrungen von Pflegenden. Schlütersche, Hannover. Schulz, P-M, (2014) Gewalterfahrungen in der Pflege. Das subjektive Erleben von Gewalt in Pflegebeziehungen. 2. Auflage, Mabuse-Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Weltgesundheitsorganisation (2003) Weltbericht Gewalt und Gesundheit: Zusammenfassung. Online verfügbar unter: http://www.who.int/violence_injury_prevention/violence/world_report/en/summary_ge.pdf zuletzt geprüft am 04. 11. 2016. 31