Biologische Psychiatrie und Seele

Werbung
Forum
Biologische Psychiatrie und Seele
■
F. Müller-Spahn
Psychiatrische Klinik der Universität Basel
Vortrag anlässlich der 32. Jahrestagung der
Deutschsprachigen Gesellschaft für Kunst
und Psychopathologie des Ausdrucks e.V.
in Traben-Trabach vom 29.10.–01.11.1998,
Prof. D. Bürgin zum 60. Geburtstag gewidmet.
besondere der Schizophrenien und Hirnleistungsstörungen, geführt. Diesen modernen bildgebenden Verfahren verdanken
wir faszinierende Einblicke in die Organisationsstruktur und Funktion des menschlichen Gehirns. Mit ihrer Hilfe ist es möglich
geworden, die Aktivierung der verschiedenen Hirnareale beim Denken und der Wahrnehmung fotographisch abzubilden.
Niemals zuvor hat sich unser Wissen über
Prozesse der Informationsaufnahme und
-verarbeitung, über die Funktionsweise des
menschlichen Gehirns sowie die Entstehungsbedingungen psychischer Störungen
so vermehrt wie in der «Dekade des Gehirns», zu der der frühere Präsident der
Vereinigten Staaten, George Bush, das letzte Dezennium dieses Jahrtausends deklariert
hat.
Ziel der neurowissenschaftlichen Techniken ist die Identifizierung genetischer, neuronaler, biochemischer und molekularer
Mechanismen, d. h. der biologischen Organisation von normalen kognitiven und emotionalen Prozessen, und die Suche nach
Modellen zur Erklärung ihrer Störungen
bei psychisch Kranken.
Droht nun die Neurobiologie, die Welt
des Geistes auf physikalische Prozesse im
Gehirn zu reduzieren, werden sich viele
fragen. Unsere Kenntnisse über die biologischen Mechanismen von Wahrnehmung,
Denken und Erinnern werden immer präziser, aber wissen wir damit, wie der immaterielle Geist Einfluss auf den materiellen
Körper nimmt und umgekehrt?
Mit der Molekularbiologie wurde der
Aufbruch in ein neues Zeitalter der Medizin
eingeleitet. Sie löste eine wissenschaftliche
Revolution aus, machte aber auch die Janusköpfigkeit moderner Forschung deutlich:
Einerseits ermöglicht sie bis dahin nicht
vorstellbare Einblicke in die Organisationsstruktur des menschlichen Erbguts, anderseits birgt sie ein gewaltiges Potential an
Missbrauchsmöglichkeiten in sich.
Kritiker argwöhnen, die moderne Molekularbiologie habe sich längst des Menschen
bemächtigt. Verkündete der Biophysiker
Gregory Stock von der University of California in Los Angeles nicht unlängst, «wir
übernehmen gerade die Kontrolle über
unsere eigene Evolution»? Es gäbe keinen
Weg, diese Technik aufzuhalten. Dämmert
damit die Geburtsstunde einer neuen Ethik
herauf? Entfachte nicht erst vor kurzem
der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk
eine heftige Diskussion mit seinen provo-
zierenden Äusserungen über das «autoplastische Potential des Homo sapiens»,
über die «züchterische Steuerung der Reproduktion», er sprach sogar von «Menschenzucht» und «Anthropotechnik». In
seinen «Regeln für den Menschenpark»
entwarf er das Szenario einer zukünftigen
Gesellschaftsform. Wäre demnach die Eugenik, ein Begriff, der übrigens nicht von
den Nationalsozialisten geprägt wurde,
sondern 1883 von Francis Galton, einem
Vetter Darwins, der Königsweg für die
Zukunft der menschlichen Entwicklung?
Protagonisten träumen bereits von einer
neuen Welt ohne Krankheit, frei von Aggressionen, einem humanistischen Weltbild
verpflichtet. Droht Aldous Huxleys Roman
«Schöne neue Welt» mit seinen Alpha- bis
Epsilonmenschen Wirklichkeit zu werden?
Ist die Züchtung von Zweitorganen für
Schwerkranke aus Embryonalzellen nicht
bereits das erklärte und wahrscheinlich
technisch auch lösbare Ziel?
Mit Hilfe der Gentechnologie wird erstmals die Entschlüsselung der molekularen
Strukturen des gesamten menschlichen Erbguts mit seinen etwa 100 000 verschiedenen
Genen möglich. Für viele wurde damit ein
Pakt mit dem Teufel geschlossen, die Seele
aus dem Mittelpunkt menschlicher Existenz
verbannt und ein neuer Sündenfall eingeleitet. Die damit verbundene Entmythologisierung der Grundlagen menschlicher
Existenz und das Vordringen in die letzten
Geheimnisse des Lebens rüttelt an den
ethischen Grundfesten eines traditionellen
Wissenschaftsverständnisses. Das Dilemma
zwischen technisch Machbarem und seiner
moralischen Annehmbarkeit wurde von
Papst Johannes Paul II. in seiner 13. Enzyklika «fides et ratio» 1998 aufgegriffen.
Die Diskussion zwischen Anhängern und
Gegnern der modernen Molekulargenetik
gewinnt zunehmend an Schärfe und belebt
aufs neue den alten, leidenschaftlich geführten Disput zwischen «Somatikern» und
«Psychikern» mit der zentralen Frage,
inwieweit psychische Störungen Folge von
Erkrankungen des Gehirns seien oder Ausdruck primärer seelischer Störungen mit
körperlichen Auswirkungen. Unter dem
Diktat der Gene sei die Freiheit der menschlichen Selbstbestimmung bedroht, die Suche
nach einem «biologischen Schlüssel zur
Seele» wird als unzulässiger Eingriff in den
Bauplan der Schöpfung und damit in das
Werk Gottes erlebt. Fragen nach dem biologischen Substrat des Ich, des Bewusstseins
SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
151 ■ 1/2000
Die Psychiatrie lebt seit ihrer Geburtsstunde
als klinisches Fach vor knapp 200 Jahren in
dem Spannungsfeld zwischen Natur- und
Geisteswissenschaften. Die z.T. sehr kontrovers geführte Leib/Seele-Diskussion hat
die Forschung über die biologische Organisation des Denkens, der Gefühle und des
Gedächtnisses enorm beflügelt. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts vollzog die
Psychiatrie einen wichtigen Wandel. Nach
einer Epoche umfassender psychodynamischer, anthropologischer und daseinsanalytischer Forschungsansätze begann das Pendel in das andere Extrem zu schwingen,
in Richtung der sogenannten biologischen
Psychiatrie. Jede psychische Störung hat
eine biologische, soziale und eine psychologische Dimension, insofern ist die ausschliessliche Fokussierung auf einen Teilaspekt menschlichen Denkens und Fühlens,
wie sie in der Vergangenheit von orthodoxen
Vertretern der psychoanalytischen Psychotherapie und Sozialpsychiatrie sowie der biologisch orientierten Psychiatrie gefordert
worden ist, nicht gerechtfertigt. Letztere
beschäftigt sich mit den organischen Grundlagen psychischer Störungen und versucht,
Antworten darauf zu geben, wie das menschliche Gehirn arbeitet und wie sich psychische
Erkrankungen als Folge biologischer Veränderungen beeinflussen lassen. Dies war
zunächst verbunden mit einer intensiven
und konsequenten Suche nach effizienten
und biologisch begründbaren Therapiestrategien. So hat sich z. B. das Grundlagenwissen in der Psychopharmakologie in den
letzten drei Jahrzehnten erheblich verbessert. Die stürmische Entwicklung neuartiger
Untersuchungsmethoden im Bereich der
bildgebenden Verfahren wie der Kernspintomographie und der Positronenemissionstomographie oder in der Molekularbiologie
haben zu neuen Erkenntnissen über mögliche Ursachen psychischer Störungen, ins-
Korrespondenz:
Prof. Dr. med. Franz Müller-Spahn
Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik
der Universität Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
CH-4025 Basel
37
und der Persönlichkeit drängen immer mehr
in den Mittelpunkt einer naturwissenschaftlich orientierten Forschung. Rückt damit
auch der «Genchip» zur Identifizierung gesunder und kranker Erbanlagen bzw. risikomodulierender Gene in den Bereich der
Wahrscheinlichkeit? Darf ein Mensch bereits als potentiell krank betrachtet werden,
wenn er eine genetische Veränderung in
sich trägt, die zu einem erhöhten Risiko
z. B. für eine Alzheimersche Erkrankung
ab dem 60. oder 70. Lebensjahr führen
könne? Wie wird der Einzelne und die
Gesellschaft mit einer derartigen Information umgehen? Ist das Gehirn lediglich
eine Art biologischer Hochleistungsrechner,
dessen filigrane Funktionsweise durch Computermodelle im Rahmen neuropsychologischer Forschung simuliert werden kann?
Könnte nicht der Wunsch entstehen, genetische Tests für Charaktereigenschaften
bzw. Intelligenz kommerziell anzubieten?
Sind wir letztlich Sklaven unserer Gene und
damit in unserem Verhalten festgelegt –
Charaktereigenschaften als Reflexionen des
Erbguts, die Seele als Schattenbild physikalisch-neurochemischer Prozesse? Auch wenn
diese Fragen noch lange Rätsel aufgeben
werden, scheint doch klar zu sein, dass
sich die menschliche Persönlichkeit aus dem
komplexen Wechselspiel zwischen Anlage
und Umwelt, «nature und nurture» (Francis
Galton, 1822–1911), herausbildet und sich
psychische Phänomene nicht mit monogenetischen Modellen erklären lassen.
Die Klonierung des Schafes Dolly 1997
markierte einen Wendepunkt in den bisherigen naturwissenschaftlichen Traditionen. Damit war erstmals die Schaffung
eines Organismus ohne geschlechtliche Zeugung möglich geworden. Sind damit die
Voraussetzungen für das Klonieren eines
Menschen mit bestimmten, perfekt kontrollierten und geplanten Erbanlagen geschaffen? Wäre eine derartige ungeschlechtliche Fortpflanzung überhaupt im Sinne der
biologischen Evolution? Würde dies nicht
die notwendige Mischung von Erbanlagen
und damit die Anpassung an veränderte
Umweltbedingungen dramatisch erschweren? Kann es das Ziel genetischer Forschung
sein, einen identischen Zwillingsbruder
zu schaffen, der 30–50 Jahre jünger ist?
Derartige, von einem hemmungslosen
Fortschrittsglauben getragene Konzeptionen
lösen Ängste, Misstrauen und Ablehnung
aus. Für die einen bedeuten sie einen
nicht akzeptablen Eingriff in die Schöpfung,
für die anderen ist die Zurückführung der
menschlichen Persönlichkeit auf seine Gene
ein massiver und unzulässiger Reduktionismus. Ist die Hoffnung, das menschliche
Bewusstsein, den Geist und die Seele als
Funktion des Gehirns erklären zu können,
nicht a priori zum Scheitern verurteilt? Sind
sie mit Begriffen aus der Physik, der Molekularbiologie, Chemie und der Informatik
überhaupt definierbar?
Allen naturwissenschaftlichen Bemühungen zum Trotz sind diese fundamentalen
Fragen des Zusammenspiels von Leib und
Seele weitgehend ungeklärt und werden es
vielleicht auch bleiben müssen. Auf letzteres
38
wies bereits Goethe (1789–1830) in seinen
Betrachtungen über die Naturwissenschaft
hin. «Die Natur hat sich soviel Freiheit vorbehalten, dass wir mit Wissen und Wissenschaft ihr nicht durchgängig beikommen
oder sie in die Enge treiben können.»
Frühversuche, dieses Rätsel zu entschlüsseln, wurden bereits von dem Stauffer Kaiser, Friedrich II., unternommen. Es wird
berichtet, dass er Gefangene bei lebendigem Leib habe luftdicht einmauern lassen,
bis sie verstorben seien. Er wollte damit
in Erfahrung bringen, ob beim Öffnen der
Kerker der Geist entweiche.
Die kognitive Neurowissenschaft ist ein
klassisches Beispiel für einen biologisch
orientierten, interdisziplinären Forschungsansatz.
Unter Kognition verstehen wir dabei
jene Prozesse der Informationsaufnahme
und -verarbeitung wie Wahrnehmung, Denken, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Lernen,
Planen, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit
sowie die Urteilsfähigkeit. An die kognitiven
Neurowissenschaften wurde die Hoffnung
geknüpft, menschliches Verhalten durch
physikalische und biochemische Prozesse
im Gehirn erklären zu können. Sie basiert
auf unterschiedlichen Forschungsstrategien:
1. In den sechziger Jahren wurden elektrophysiologische Verfahren entwickelt,
um die Aktivität einzelner Gehirnzellen
zu untersuchen. Damit war die Überprüfung von Informationsverarbeitungsprozessen auf zellulärer Ebene erstmals
möglich geworden.
2. Untersuchungen des Zusammenhangs
zwischen komplexen kognitiven Leistungen, wie z. B. Aufmerksamkeit oder
Entwicklung von Handlungsentwürfen,
scheinen mit Aktivitätsmustern bestimmter Zellen in definierten Hirnregionen zu
korrelieren. Damit war bereits eine differenziertere Analyse der Informationsverarbeitung möglich.
3. Mit Hilfe neuer bildgebender Verfahren
wie der Positronenemissionstomographie wurde eine präzisere Darstellung
normaler und pathologischer Hirnfunktionen während sensorischer, motorischer oder kognitiver Leistungen möglich. Damit verbunden ist die Hoffnung,
neue, funktionsbezogene Kartierungen
neuronaler Systeme zu entwickeln.
4. Auch die Informatik hat wesentlichen
Anteil am enormen Wissenszuwachs in
den kognitiven Neurowissenschaften.
So versuchte man mit Hilfe von Computermodellen die Aktivität grosser Nervenzellverbände zu simulieren, um damit
besser die Eigenschaften eines neuronalen Netzwerks verstehen zu können.
Kognitive Prozesse sind in vielerlei
Hinsicht mit Computerprogrammen
vergleichbar, da beide Informationen
aufnehmen, umwandeln, speichern und
wiedergeben.
Das Gehirn ist nur deshalb in der Lage, so
herausragende Leistungen zu vollbringen,
weil seine Bausteine, die Nervenzellen, mit
einer geschätzten Speicherkapazität von
mehr als 100 Billionen Bits exakt und geordnet miteinander verschaltet sind. Die
kognitive Neurowissenschaft beschäftigt
sich in erster Linie mit der neuronalen Repräsentation kognitiver Prozesse, d. h. jede
Wahrnehmung, jeder psychische Vorgang
ist mit einem charakteristischen Aktivitätsmuster in einer bestimmten Population miteinander vernetzter Nervenzellen korreliert.
Das Gehirn verschafft sich mit Hilfe neuronaler Oszillationen bestimmte Aktivierungsmuster, diese gelten als die Voraussetzung
für die Verarbeitung von Informationen.
Sind damit aber Phänomene wie Intuition,
Kreativität und Bewusstsein erklärbar? Wir
vermuten heute, dass mindestens ein Drittel
der etwa einer Billion Nervenzellen direkt
an der Informationsverarbeitung beteiligt
ist. Das Gehirn ist letztlich eine lebenslange Baustelle; Lernen und Gedächtnis
und damit die personale Identität sind
Folge permanenter Umstrukturierungen
der Kontakte zwischen den Nervenzellen.
Das ständige Oszillieren dieses engen
Netzwerks von Nervenzellen und Nervenzellfortsätzen wurde von dem britischen
Biochemiker und Nobelpreisträger Francis
Crick und seinem Kollegen Christoph Koch
als biologisches Substrat des Bewusstseins
bzw. der Gedanken betrachtet. Vielleicht
ist dies nur eine waghalsige Spekulation,
es könnte aber auch ein ebenso simples wie
geniales Erklärungsmodell für den Geist
sein.
Das philosophische Bild der Seele ist
sehr vielgestaltig und empirisch nicht fassbar. Häufig wird – aus meiner Sicht unzulässig – der abstrakte Begriff Seele mit Psyche
gleichgesetzt; hiesse dies doch ein immaterielles Phänomen mit der Endlichkeit des
Seins – sofern die Psyche an die Funktion
des Gehirns gebunden ist – in Beziehung
setzen. Inwieweit in der Psyche die Gestaltungskraft der Seele wirksam wird – sofern
man deren Existenz nicht grundsätzlich in
Zweifel zieht –, lässt sich kaum ermessen. In
diesem Sinne wäre die Seele letztlich die
Matrix, aus der heraus sich die Eigenheiten
der Persönlichkeit entwickelten. Wird die
Psyche jedoch vor dem Hintergrund einer
ausschliesslich biologisch-materialistischen
Sichtweise lediglich als eine Funktion des
Gehirns definiert – wie dies z. B. Eugen
Bleuler 1921 in seiner «Naturgeschichte
der Seele und ihres Bewusstwerdens» formulierte [1], stirbt sie mit dem Gehirn.
Unser Wille und Handeln wäre demzufolge
«begründet in der angeborenen Organisation und den auf diese einwirkenden Einflüssen».
An Erklärungsversuchen zur Lokalisation der Seele im menschlichen Körper hat
es in der Vergangenheit nicht gefehlt. Seit
Jahrtausenden waren die Menschen davon
überzeugt, dass ihr Verhalten durch einen
Geist oder eine Seele gesteuert wird. Zu
den ältesten uns überlieferten Hypothesen
gehören jene von Alkmaion und Empedokles. Alkmaion war davon überzeugt, dass
das Gehirn das Organ des Geistes sein
müsse, und formulierte die sogenannte Gehirnhypothese. Empedokles dagegen sah
das Herz als zentrales Organ geistiger Aktivität an, eine Vorstellung, die wir als Herzhypothese bezeichnen. Platon entwickelte
SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
151 ■ 1/2000
das Konzept einer dreigeteilten Seele und
war davon überzeugt, dass der rationale
Teil im Gehirn liegen müsse, da dieses Organ
dem Himmel am nächsten gelegen sei. Die
unsichtbare und unsterbliche Seele trete aus
dem Reich der Ideen in den Körper ein.
Der griechische Philosoph Aristoteles,
der die Gehirnstrukturen gut kannte, vertrat
die Auffassung, dass das Herz als Quelle
geistiger Aktivitäten zu gelten habe, da es
«warm und aktiv sei» und das Gehirn aufgrund seiner «Kälte und Inaktivität» zur
Kühlung des Blutes dienen müsse, und
unterschied die vegetative Seele von der
sensitiven und rationalen.
Psychische Störungen waren bereits in
der Antike bekannt und wurden im Vorgriff
auf heutige biologische Modelle von Hippokrates im Sinne einer Störung des VierSäfte-Gleichgewichts erklärt, z. B. die Depression bei Überwiegen der schwarzen
Galle. August Bier [2] wies in seinem Buch
«Die Seele» 1939 darauf hin, dass Hippokrates keineswegs, wie von vielen Geschichtsschreibern behauptet, das Gehirn
als Sitz der Seele bezeichnet habe. «Die
das Weltall erfüllende Seele werde vielmehr
eingeatmet und in erster Linie vom Gehirn
verarbeitet so wie der Magen die Nahrung
verdaue. Aber neben dem Gehirn bemächtige sich auch der übrige Körper, insbesondere das Herz, das Ohr und das Zwerchfell
der eingeatmeten Seele.»
Im christlichen Mittelalter erfreute sich
die empirische Forschung keines besonders
hohen Ansehens, Krankheit wurde in erster
Linie als Strafe Gottes für sündhaftes Verhalten aufgefasst. Psychische Störungen
wurden vor allem im Zusammenhang mit
dämonischen Einflüssen und Besessenheit
gesehen.
Unsere neuzeitlichen Vorstellungen von
Geist und Verstand wurden im wesentlichen durch die dualistische Sichtweise des
französischen Philosophen, Mathematikers
und Naturwissenschaftlers René Descartes
(1596–1650) geprägt. Platons Begriff einer
dreigeteilten Seele wurde durch den eines
einheitlichen freien, umfassenden und unsterblichen Geistes ersetzt. Dieser sei immateriell und damit von dem materiellen
Körper zu trennen. Letzterer wurde als eine
streng nach naturwissenschaftlichen Gesetzen arbeitende Maschine begriffen, die von
der freien, unsterblichen Seele gesteuert
werde. Der menschliche Leib wurde damit
zum Objekt der naturwissenschaftlichen
Forschung, während der menschliche Geist,
die res cogitans, der Kirche überlassen
wurde. Cogito ergo sum, ich denke, also bin
ich, dieses berühmte Diktum von Descartes
wurde zum Credo der modernen Naturwissenschaften. Er lokalisierte den Geist
in die Zirbeldrüse (Epiphyse) ausgehend
von der Beobachtung, dass dies die einzige
nicht bilateral angelegte Struktur des Nervensystems sei. Descartes dualistische Sichtweise übt noch heute einen beträchtlichen
Einfluss auf die westliche Natur- und Geisteswissenschaft aus. Seine Trennung von
Körper und Geist trug zur Verkümmerung
des philosophischen Denkens und Wissens
in der Medizin bei. Eine philosophische
39
Interpretation des Krankseins wurde damit
erschwert, die Heilkunst im klassischen
Sinne des Wortes zur biologischen Technik
reduziert. Diese Betrachtungsweise habe
nach Ansicht von Emil Kraepelin (1856–
1926), dem Nestor der deutschsprachigen
Psychiatrie, «einer wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie ausserordentlich
hindernd im Wege gestanden, da sie das
Forschungsobjekt derselben aus dem Bereiche der Erfahrungswissenschaft in denjenigen der Spekulation verpflanzte». Psychische
Folgen von somatischen Erkrankungen wurden in der Folgezeit ähnlich vernachlässigt
wie körperliche Auswirkungen psychischer
Konflikte, ein Umstand, auf den der amerikanische Neurologe Antonio Damasio wiederholt hingewiesen hat. Ohne Zweifel hat
diese Sichtweise aber auch zu wichtigen
Impulsen in der Naturwissenschaft geführt.
Die Argumentation zugunsten einer Lokalisation von bestimmten Hirnfunktionen
und damit der anatomischen Basis zur Beschreibung von Charaktereigenschaften begann mit der sogenannten phrenologischen
Theorie der beiden Anatomen Franz Josef
Gall und Caspar Spurzheim im 18. Jahrhundert. Bereits sehr früh machte Gall die
Beobachtung, dass Menschen mit einem
guten Gedächtnis grosse, hervortretende
Augen hätten, und schloss daraus, dass
ein besonders gut entwickeltes Gedächtnis
hinter den Augen lokalisiert sein müsste.
Davon ausgehend überprüften beide die
äusseren Merkmale des Schädels auf Erhöhungen und Vertiefungen und brachten
dies in engen Zusammenhang mit bestimmten Fertigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen, die sie Vermögen nannten. Eine Vorwölbung des Schädels war damit Ausdruck
einer besonders aktiven Hirnregion und
demzufolge einer speziellen Fähigkeit. Ihrer
These zufolge wies z. B. eine Person mit einer
Vorwölbung im Bereich des Processus mastoideus bzw. der Hinterhauptschuppe ein
besonders sinnliches Verhalten auf, andere
Regionen wiesen auf eine erhöhte Streitlust
oder Verschlossenheit hin. Die phrenologische Theorie geriet aber trotz ihrer zunächst
bestechenden Argumentation schon bald
in Verruf, nicht zuletzt deshalb, weil sich ihre
Vermutung, das Gehirn sei aus unabhängig
voneinander arbeitenden Einheiten zusammengesetzt, als falsch erwiesen hatte. Auch
entsprach die sogenannte Vermögenspsychologie nicht dem tatsächlichen Verhalten.
Die Funktion der Hirnrinde und des
Hirnstamms war lange Zeit Gegenstand
unterschiedlichster Spekulationen. Reichhardt [3] vermutete im Hirnstamm das
Bindeglied zwischen Seele, Gehirn und
Körper und vertrat die Auffassung, dass er
in engen Beziehungen zu jenen seelischen
Prozessen stünde, die «man als das Triebwerk
zum Denken und Fühlen bezeichnen» könne. Für Ewald war der Cortex der Sitz der
Intelligenz, der Thalamus dagegen für die
höheren Gefühle sowie die Medulla oblongata und das Höhlengrau des dritten Ventrikels für die Triebe verantwortlich. Eugen
Bleuler (1857–1939) [4] befürchtete 1925,
dass der Hirnrinde nurmehr die Rolle eines
«beratenden Konversationslexikons» zuge-
billigt werde. Küppers [5] bot eine noch
simplifiziertere Sichtweise an, indem er «die
Seele» in «ein paar Ganglienzellen am
Boden des dritten Ventrikels» lokalisierte.
1859 unternahm der Physiker, Psychologe
und Philosoph Fechner (1801–1887) [6] den
Versuch, eine «psychophysische Massformel» zu entwickeln, d. h. eine einfache
mathematische Beziehung, mit der man den
Übergang vom Körperlichen in das Seelische
beschreiben könne. Dieser Versuch musste
zwangsläufig scheitern, Seele als Lebenskraft, als Abbild der Harmonie des Körpers (Pythagoras), als selbstbewusster Geist
(Eccles) [7], lässt sich nicht als einfach
messbare Grösse beschreiben. Diese Folgerung zog Immanuel Kant (1724–1804) [8]
bereits 50 Jahre vorher. Eine exakte psychologische Forschung sei problematisch, da
man Seelisches nicht wissen könne, und nur
was sich messen liesse, sei auch mathematisch berechenbar. Otto Creutzfeld, einer
der führenden Naturwissenschaftler der Gegenwart, bestätigt diese Sichtweise und zieht
folgenden Schluss: «Es gibt tatsächlich keine
Möglichkeit, die Existenz von Bewusstsein
und Geist in biochemischen, biophysikalischen oder anatomischen Begriffen zu definieren oder gar zu beweisen.» Heute wissen
wir, dass Emotionen ein integraler Bestandteil kognitiver und biologischer Prozesse
und auf die enge Wechselwirkung zwischen
neokortikalen Regionen und den phylogenetisch sehr alten Strukturen des Stammhirns zurückzuführen sind, dabei scheinen
der Hypothalamus und die Amygdala eine
Schlüsselrolle einzunehmen. Ein Erklärungsmodell für dieses komplexe Zusammenspiel bot der australische Physiologe
und Nobelpreisträger John Eccles mit seinen
grundlegenden Arbeiten zur Erregungsübertragung an den Synapsen an; ihm zufolge hängt die Interaktion zwischen Geist
und Gehirn von der Anordnung der zerebralen Neurone in sogenannten Modulen
ab, die ihrerseits ein subtiles inneres dynamisches Leben besitzen, das auf der «kollektiven Interaktion seiner vielen Tausenden
von Neuronenbestandteilen basiert». Die
heutige naturwissenschaftlich orientierte
Kognitionsforschung lässt häufig den Aspekt der untrennbaren Verbindung zwischen
Denken und Gefühl ausser acht. Vielleicht
hat Gustav Mahler recht, wenn er meint,
«die einzige Wahrheit auf der Erde sei unser
Gefühl».
1937 stellte der amerikanische Wissenschaftler Papez die gewagte Frage: «Ist Emotion ein Produkt der Magie oder ist es ein
physiologischer Prozess, der von anatomischen Mechanismen abhängt?» Papez vermutete, dass das emotionale Gehirn in erster
Linie ein Produkt des sogenannten limbischen Systems sei. Heute wissen wir, dass das
limbische System nicht nur für das emotionale Gedächtnis, sondern auch für eine
Vielzahl anderer kognitiver Prozesse wichtig
ist.
Die Kontroverse Soma versus Psyche hat
die Diskussion über die inneren Beziehungen zwischen Medizin und Philosophie,
zwischen naturwissenschaftlichem Grundverständnis und den Sinnfragen des Lebens
SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
151 ■ 1/2000
in den vergangenen 200 Jahren geprägt. Mit
Wilhelm Griesingers (1817–1868) Postulat,
dass psychische Störungen Folge von Erkrankungen des Gehirns seien, wurde die
Psychiatrie in den Kreis der naturwissenschaftlichen medizinischen Fächer aufgenommen. Auch für Emil Kraepelin gehörte diese Fachdisziplin «dem Kreise der
ärztlichen Wissenschaften an und bedient
sich wie diese letzteren bei ihren Untersuchungen der Hülfsmittel und Methoden
wissenschaftlicher Forschung».
Während für Kant die Psychiatrie ein
Teilgebiet der Philosophie war, für die Protagonisten des Animismus wie Johann
Heinroth Geisteskrankheiten als Folge der
Sünde begriffen wurden und erbliche Faktoren in diesem Kontext keine Rolle spielten, da die Seele immer wieder neu von
Gott verliehen werde, versuchen moderne
Molekulargenetiker psychische Störungen
in Zusammenhang mit genetischen Veränderungen zu erklären. Die ausschliesslich
biologisch orientierte Psychiatrie läuft dabei
Gefahr, das Innenleben des Menschen, die
Fragen nach der Entstehung von Intuition
und Kreativität und den Ursprüngen des
Geistes und des Bewusstseins auszuklammern und sich in einem strengen behavioristischen Sinne als Naturwissenschaft, die
sich ausschliesslich auf die objektive Beobachtung menschlichen Verhaltens bezieht,
zu definieren. Für den amerikanischen Psychologen J. B. Watson (1878–1958), einen
klassischenVertreter des Behaviorismus, war
die Gemütsbewegung lediglich eine ererbte,
schablonenhafte Reaktion; bezüglich der
Seele vertrat er die Auffassung, dass «kein
Mensch sie je berührt und sie in einer Versuchsröhre gesehen habe» und teilte damit
Rudolf Virchows (1821–1902) Meinung: «Ich
habe bei tausenden Sektionen keine Seele
gefunden».
«Mit dem methodologischen Reduktionismus einer sich als angewandte Naturwissenschaft verstehenden Medizin musste
folgerichtig auch das Atmosphärische eines
philosophischen Denkens und Wissens
mehr und mehr verkümmern» (Schipperges
und von Engelhart 1980) [9]. Oswald Bumke
(1877–1950) [10] wies in seinem Buch «Gedanken über die Seele» bereits 1941 darauf
hin, dass die «naturwissenschaftliche Medizin die Tendenz habe, sich dem Exakten
zu unterwerfen, statt es zu nutzen, der Arzt
selber scheine zum Techniker» geworden
zu sein. Diese Tendenz zur blossen Technik
werde gesteigert mit der «Einschränkung
der naturwissenschaftlichen Forschung auf
das Exakte und der Verkümmerung des
Sinnes für das Biologische, des morphologischen Sehens, des Erspürens im Lebendigen». Bumke war es auch, der geltend
machte, dass es «ausser der naturwissenschaftlichen Erkenntnis in der Psychiatrie
auch eine verstehende Einsicht» gäbe. Mit
naturwissenschaftlicher Forschung würden
Fortschritte erzielt, mit den Mitteln des
Verstehens aber eine Welt von Sinngehalten
eröffnet. Der Arzt der Seele sei für den
modernen Menschen zum «Techniker der
Seele geworden, der das Glück wieder
herstellen könne».
40
Dieser Vortrag hat mehr Fragen aufgeworfen, als er imstande war, zu beantworten,
aber dies liegt in der Natur der Grundproblematik der Faustschen Frage, «was die
Welt im Innersten zusammenhält».
Wenn man die Bedeutung von Denkprozessen und Empfindungen akzeptiert,
und daran gibt es keinen Zweifel, sollte man
sich auch bemühen, ihre komplexen biologischen und sozialen Mechanismen zu verstehen. Vor allem mit Hilfe molekularbiologischer Methoden haben wir sehr viel über
die Kommunikation zwischen den Zellen
und innerhalb der Zellen erfahren. Nach
wie vor sind wir jedoch noch weit davon
entfernt, das Zusammenspiel zwischen Geist
und Körper voll zu begreifen. Vielleicht
«atmet die Seele durch den Körper», wie
dies der Neurologe Antonio Damasio [11]
so treffend formuliert hat. So bleibt die
Frage nach den inneren Beziehungen
zwischen Körper und Seele nach wie vor
ungeklärt. Darüber kann auch die atemberaubende Entwicklung der vergangenen
Jahrzehnte in den Naturwissenschaften nicht
hinwegtäuschen. Die uralte und immer wieder aktuelle Schicksalsfrage der Menschheit
nach den inneren Verbindungen von Geist,
Psyche und Soma, nach dem biologischen
Substrat der menschlichen Persönlichkeit
und nach der Eigenverantwortlichkeit des
Einzelnen angesichts der Macht des Genoms
wird zunächst weiterhin ein Mysterium bleiben. Es zu ergründen, ist die gemeinsame
Aufgabe der Philosophie, Psychologie und
Biologie. Die Empirie bedarf der Hermeneutik. Die moderne Naturwissenschaft ist
ohne geisteswissenschaftliche Einbindung
fragwürdig. Derzeit besteht offenbar eine
allgemeine Tendenz, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Funktion des Gehirns überzubewerten. Es bleibt zu hoffen,
dass sich die Medizin wieder auf ihre tiefen
metaphysischen Wurzeln besinnt. Die Seele
wird nie eine mit naturwissenschaftlichen
Methoden berechenbare Grösse sein. Verbunden mit der Explosion unseres genetischen Wissens ist der Wunsch nach Realisierung utopischer Ziele, etwa die Schaffung
eines bestimmten Menschentypus mit sozial
erwünschten Charaktereigenschaften, die
jeweils Ausdruck des politischen und gesellschaftlichen Klimas und des daraus
resultierenden Menschenbilds sein könnten.
Ihn zu erfüllen, kann und darf nicht zur
Aufgabe der Molekulargenetik werden. Ich
möchte mit einem Zitat von Goethe in
seinen Betrachtungen über die Naturwissenschaft schliessen: «Der Mensch muss bei
dem Glauben verharren, dass das Unbegreifliche begreiflich sei, er würde sonst
nicht forschen.» und an anderer Stelle: «Das
schönste Glück des denkenden Menschen
ist es, das Erforschliche erforscht zu haben
und das Unerforschliche ruhig zu verehren».
Die unendliche Geschichte der inneren
Beziehungen zwischen Leib und Seele wird
noch um viele Kapitel verlängert werden.
Die Vision, den Schleier über den letzten
Geheimnissen des Lebens zu lüften, ist faszinierend, aber vermutlich nicht realisierbar.
Die ausschliesslich biologische Fundierung
seelischer Vorgänge dürfte ein Mysterium
SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
bleiben. Möglicherweise verweigert sich die
Biologie in dieser Hinsicht den in sie gesetzten Hoffnungen.
Literatur
1
Bleuler E. Naturgeschichte der Seele
und ihres Bewusstwerdens.
Berlin: Julius Springer; 1921.
2
Bier A. Die Seele. München, Berlin:
Lehmann; 1939.
3
Reichhardt M. Hirnstamm und Psychiatrie.
Mschr Psychiatr 1928;68:470.
4
Bleuler E. Lokalisation der Psyche.
Allg Z Psychiatr 1924;80:305.
5
Küppers E. Die Auflösung des Leib-SeeleProblems. Arch Psychiatr 1925;74:565.
6
Fechner GT. Elemente der Psychophysik.
Leipzig: Breitkopf und Här tel; 1907.
7
Popper KR, Eccles JC. Das Ich und sein
Gehirn. München, Zürich: Piper; 1982.
8
Kant I. Anthropologie. Sämtliche Werke,
Bd VII. Leipzig: Voss; 1868.
9
von Engelhardt D, Schipperges H.
Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhunder t.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; 1980.
10 Bumke O. Gedanken über die Seele.
Berlin: Springer; 1941.
11 Damasio AR. Descar tes’ Irr tum.
München, Leipzig: List; 1996.
151 ■ 1/2000
Herunterladen