(Kognitive) Morphologie

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(Kognitive) Morphologie
© Wolfgang Schulze 2011
Eine Kurzdarstellung
Zum Ganzen:
http://www.lrz-muenchen.de/~wschulze/SOSE09/grumorph.pdf
[Leicht verkürzte Version aus dem Jahr 2009]
http://www.lrz-muenchn.de/~wschulze/downloads/einmorph.pptx (Office 2007!)
[Umfassende PowerPoint-Präsentation]
Erste Grundlagen
1. Die Begriffsdomäne der 'Morphologie' (Auswahl):
- Astronomie: Die Gestalt von 'ausgedehnten' (strukturierten) astronomischen Objekten
- Biologie: Form und Gestalt eines Organismus oder von dessen Teilen
- Geomorphologie: Lehre von der Gestalt von Gelände
- Hydromorphologie: Lehre von der Gestalt von Flüssen
- Kulturmorphologie: Lehre von der äußeren Gestaltung der Kultur
- Linguistik (s.u.)
- Mathematik: Theoretisches Modell für digitale Bilder usw.
- Narratologie: Struktur von folkloristischen Texten
- Psychologische Morphologie: Geisteswissenschaftlich orientierte Tradition in der
Psychologie
2. Begriffsgeschichte
Begriff basiert auf gr. hê morphê 'die Gestalt' (ἥ μορφή) 'Gestalt, leibesgestalt, Anmut, von
Zufälligkeiten etc. befreite 'reine Gestalt', vielleicht zu *mer-bha- 'schimmernde, glänzende
[Gestalt]?, vgl. lat. merus 'bloß, rein, unvermischt' < '*hell, klar'; Latein forma als Metathese
zu *morpha ???
Goethe: Begriff "Morphologie" von Goethe eingeführt 1796 (Tagebuchnotiz):
Gestaltungsgesetze der Natur (von der einfachen zur komplexen Form).
Morphologie "soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der
organischen Körper enthalten" (Morphologie, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in
14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz. München 1981; Band 13, p.124)
Unabhängig von Goethe:
Mediziner Carl Friedrich Burdach (1776-1847), Prof. für Anatomie in Königsberg
(prägte auch den Begriff 'Biologie')
-> "Morphologie" in einer Veröffentlichung des Jahres 1800.
1
Mit
Goethes erstes Heft seiner Schriftenreihe "Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur
Morphologie" (17. Juli 1817)
und
Burdach's Rede (-> Eröffnungsschrift) zur Gründung des Anatomischen Instituts in
Königsberg (13. November 1817) "Über die Aufgabe der Morphologie" wird der Begriff
salonfähig und 'modern'.
Ab 1820 Morphologie -> Botanik (1820-1825), Geologie (1821-1823), Zoologie (1822),
Medizin (1831).
Geschichtswissenschaften: Johann Gustav Droysen (1808-1884), Grundriß der
Historik, Leipzig 1868 (erste Fassung 1857) "Die Art der historischen Forschung ist
bestimmt durch den morphologischen Charakter ihres Materials".
In Sprachwissenschaften seit
August Schleicher (1859)
Friedrich Max Müller (1861)
Frederic William ('Dean') Farrar (1831-1903) (1865/70)
Bis etwa 1930 allgemeiner Modebegriff (vgl. Vladimir Propp (1985-1970) 1928. Morphologie
des Zaubermärchens usw.)
3. Erste Begriffsdefinition (allgemein)
3a. Heutzutage wird Morphologie sowohl für die 'Lehre von X' als auch für 'X' selbst
verwendet (analog Semantik, Phonologie, Syntax etc.).
3b. Morphologie betrifft Gestaltvarianz.
-> Gestalt: (hier:) die durch die vier CAUSA-Typen des Aristoteles fixierte Gesamtform
eines Objekts (vereinfacht, vgl. Aristoteles, Phys. II 3, 194b23-35):
Äußere:
Innere:
Causa efficiens: Ursprung von X
Causa finalis: Zweck von X
Causa formalis: Form, Struktur, Muster von X
Causa materialis: Stoffliche Qualität von X
2
efficiens
finalis
Etymologie
Bedeutung
<HASE>
Lautung
Lautreihung (vereinfacht)
materialis/qualitatis
formalis
Ergo: efficiens:
Warum ist das Element so, wie es ist (Herkunft, Grund)?
finalis:
Was 'leistet' das Element?
materialis:
Woraus besteht das Element?
formalis:
(u.a.) Wie sieht die Struktur des Elements aus?
Im Sinne der Gestaltpschologie von Friedrich Sander (1889-1971) 'gegliederte
Gesamtheit', dabei gilt Übersummativität ('das Ganze ist mehr als seine Teile') und
Inexistenz der Teile 'für sich'.
 Grosso modo können linguistische Gestalten als 'Wörter' (Lexeme) definiert
werden.
 Gestaltvarianz bedeutet
Veränderung des 'Ganzen' aufgrund von Veränderungen in all seinen 'Teilen'
Beispiel (sprachlich):
Kind
->
Kind-er
Änderung => -er
efficiens
Ursprung von -er
finalis
Plural
materialis
Lautungstyp (segmental)
formalis
Endung
Kisi (Niger-Kongo, Atlantisch; Guinea, Sierra Leone) (Childs 1995: 220-3 )
1.
ò
cìmbù.
3sg
leave:PRES:HABITUAL
‘She (usually) leaves.’
2.
ò
cìmbú.
3sg
leave:PST:PFV
‘She left.’
Änderung (Tonvarianz)
efficiens
Ursprung des Tonwandels
finalis
Aspekt
materialis
Lautungstyp (suprasegmental)
formalis
Tonwechsel
3
 Gestaltvarianz für ein Phänomen kann nur über mehr als ein Phänomen festgestellt
werden!
Beobachtung von Gestaltvarianz setzt Vermutung über das 'Gemeinsame' (größter
gemeinsamer Nenner) voraus: Dabei sollte idealiter eine 'Basisform' beschreibbar
sein:
a
b
c
d
e
(a) ist die 'Grundform', (b) und (c) Gestaltvarianten.
 Gestalten, die Varianten einer Basisgestalt darstellen, bilden ein Paradigma der
Basisgestalt.
 Die gestaltvariierenden Elemente (hier
) stellen für sich genommen
ebenfalls 'Gestalten' dar und bilden somit ebenfalls Paradigmata.
3c. Gestaltvarianz ist eine Option, kein 'Muss'!
Grundlage für Gestaltvarianz:
Eine Basisgestalt wird zu einer anderen Größe hin 'verzerrt' und ändert dadurch
seine Gestalt.

Terminologisch: Eine Gestalt wird zu einer anderen Gestalt hin 'gebeugt' (flektiert).
Damit ist Gestaltvarianz immer abhängig von der Anwesenheit einer anderen
Größe.
 Die Kombination zweier oder mehrerer Größen bedeutet automatisch
SYNTAX (Zusammenstellung)
Wichtig: Die 'verzerrende' Größe muss nicht dieselbe Gestalt haben wie die
'verzerrte' Größe!
4
Etwa:
amic-us
lauda-ba-t
amic-am
Verzerrt durch
laudare
amicus / ZEIT
laudare
Gestalt:
Symbolisch
Symbol Konzept
Symbol
 Sprachen ohne Verzerrung sind 'morphologiefrei', d.h. 'isolierend'
vgl.:
Vietnamesisch (vereinfacht):
cháu
đẻi
nhà=trẻ
Ich
gehen
Kindergarten
'Ich gehe in den Kindergarten'
3d. Definition (vorläufig)
Ein Morphem ist die kontextinduzierte Variation einer Basisgestalt.
Echo-Prinzip: Ein Morphem spiegelt Eigenschaften einer kontextuellen Größe in
eine Gestalt hinein.
Dabei machen die in einem Morphem symbolisierten Eigenschaften seinen
semantischen Wert ('Bedeutung'/Funktion') aus.
MORPHOLOGIE DER NOMINALPHRASE
1. Definition der Nominalphrase (NP):
NP ist dasjenige Segment eines Satzes, das eine (mehr oder minder) komplexe
Objektvorstellung innerhalb einer Äußerung kodiert:
EV
Sprachliches Zeichen: "Satz"
Äußerung
OV
Relation
NP
FORM
OV
VP
FORM
NP
FORM
5
Verkürzt:
S
NP
VP
NP
Flexionsmorphologie ist die offene (das heißt über ein materielles, nicht lexikalisches
sprachliches Zeichen angezeigte) Inbeziehungsetzung einer Phrase (NP oder VP) zu
kontextuellen und kotextuellen Umgebungen von oder zwischen sprachlichen Äußerungen.
Kontext:
Inbeziehungsetzung zu extralinguistischen Faktoren:
Auswahl:
- Erinnerungsbezug, e.g. TEMPUS (Vergangenheit)
- Wahrnehmungsbezug , e.g. TEMPUS (Gegenwart)
- Vorstellung (imaginatio), e.g. MODUS, TEMPUS (Futur)
- Ortsbezug (Lokalisierung)
- Prozessbezug (Aspekt)
- Negation (der EV) [mit Modus verwandt]
- Interrogation [mit Modus verwandt]
- Pragmatische Bezüge (Topikalisierung usw.)
usw.
Die meisten Kontext-Beziehungen sind VP-bezogen, da die VP den 'Kern' einer
Ereignisvorstellung abbildet.
Etwa:
[Sie]NP [eil-te]VP [in die Stadt]NP
EV
<WISSEN>
{-te}
Ko-Text:
<SIE> <EILEN> <STADT>
{sie} {eilen} {in die Stadt}
Inbeziehungsetzung zu anderen sprachlichen Zeichen eines Satzes
(oder seiner sprachlichen Umgebung => Text)
Da NP und VP die wesentlichen Konstituenten eines Satzes sind, gibt es folgende
basale Optionen:
a.
Eine oder mehrere NPs stellen sich (hier: morphologisch (!)) in Beziehung zur
VP
CASE; Formel:
[morph]
NP
[morph]
VP
NP
6
b.
VP stellt sich (hier: morphologisch (!)) in Beziehung zu einer oder mehreren
NPs
AGR[eement]:;Formel:
NP
VP
[morph]
c.
NP
[morph]
Die Elemente innerhalb einer NP werden (hier:) morphologisch aufeinander
bezogen.
Dabei ist eines der Elemente der NP 'head' für die anderen Elemente der NP
(dependent):
Beispiel: Attributsmarker:
[morph]
[morph]
7
[E1
E2
E3
]NP
d.
Die Elemente innerhalb einer VP werden (hier:) morphologisch aufeinander
bezogen.
Analog zu (c).
f.
Aus (a) oder (b) resultierende Morphologien werden ganz oder teilweise auf
die Elemente einer Phrase (VP) oder NP) verteilt (bei NP = Konkordanz oder
NP-Kongruenz):
Beispielhaft CASE; Formel:
[morph]
[E1 E2 E3]NP
Vgl.
[morph]
VP
[bon-usE1 amic-usE2]NP
Typen der Ko-Text-Bedingungen (Auswahl):
- CASE (von NP auf NP, Morphologie an NP)
- AGR (von NP auf VP, Morphologie an VP)
NP
- NP-interne Kongruenz (Attributsmarker, Genus-Kongruenz, Possesivmarkierungen
usw.)
Hybride Formen (Stellung zwischen Flexion und Derivation), aber in NP-Morphologie zu
berücksichtigen:
- Numerus
- Offene Genus-/Klassenmarkierung, d.h. Genus-/Klassen-Morphen an Nomen, das
die Klasse bestimmt, etwa Klassenmarkierung im Swahili)
Beispiel: Nominalmorphologie Udisch
1. Affiliation: Ostkaukasisch > Lezgisch > Ost-Samursprachen
2. Basistypologie:
Suffix-Agglutinierend mit Tendenz zur Flexion
Head- und Dependent-Marking
3. NP-Morphologie:
3.1 NP-interne Wortstellung:
Beispiel
[DX ATTR N]NP
me
kala ğar
PROX groß Junge 'dieser große Junge'
[Posssesor Possessum]NP
ğar-i
ek'
Junge-GEN Pferd 'das Pferd des Jungen'
3.2 Kasus (Dependent Marking)
3.2.1 Kasusmorpheme an Gesamt-NP, keine Kongruenz
Beispiel:
[me kala ğar]NP-a
[beğ-i-ne]VP
PROX groß Junge-DAT
Sehen:PAST-PASt-3Sg
'Er/sie sah diesen großen Jungen.'
3.2.2 Numerus:
SG
PL
-Ø
Allomorphe (lexikalisch bestimmt) -ux,- urux, -umux, -ur
Nota: -ux > -ğ- mit Labialisierung des Vokals des nachfolgenden
Kasusmorphems
3.2.4 Genus/Klasse: Keine morphologische Markierung
3.2.4 Reihung Kaus/Numerus:
Beispiel:
Agglutinierend, -PL-CASE
me
kala adamar-ğ-o
PROX groß Mensch-PL-DAT
'diesen großen Leuten'
3.2.5 Morphologische Kasus (Dialekt von Vartashen, Sonderformen unberücksichtigt)
Name
Basis-Funktion
Form
ABS(olutiv) S in intrans. Sätzen
-Ø
Nicht definites O in trans. Sätzen
ERG(ativ)
A in transitiven Sätzen
-en, -in
BEN(efaktiv) Benefaktiv
-enk'(ena)
8
GEN(itiv)
DAT(iv)
DAT(iv)2
ABL(ativ)
KOM(itativ)
ADESS(iv)
DIR(ektiv)
SUPER(essiv)
Possessor
IO, def. O in trans. Sätzen
Allativ
Ablativ
Komitativ
Adessiv
Direktiv
Superessiv
-(V)i, -un, -in
-a, -e, -i-, -u (lex.)
DAT + -x
DAT + -xo
DAT + - xun
DAT + -st'a
DAT + -č'
DAT + -l
3.2.6 Stammbildung für Kasus:
1. Starke Nomina (ohne Stamänderung)
2. Schwache Nomina (mit Stammerweiterung in obliquen Kasus (ohne ABS, z.T. auch
ohne ERG oder GEN), nur SG
Morphem:
-nE.g.:
ek'-n-axo
Pferd-SE-ABL 'von dem Pferd'
3.2.7 Nominalisierte Adjektive und Demonstrativa:
Kasus = Nomen, Stammerweiterung:
ABS
OBL
SG
-o-t'-
PL
-o-t'-
3.2.8 Personalpronomina:
Flexion wie Nomen ohne Stammerweiterung, aber kein ERG-Kasus. Suppletivismus im
GEN:
1
2
4
5
ABS/ERG
zu
un
yan
van
GEN
bez(i)
vi
beš(i)
ef(i)
DAT
za
va
ya
va
usw.
9
Template zur Verbmorphologie
[Vgl. auch: http://www.lrz.de/~wschulze/WS0809/vrbcheck.pdf]
Wichtige Begriffe (nur globale Termini, keine einzelsprachlichen Ausprägungen)
Agreement
Antipassiv-Marker
Aspekt
Deontisch
Diathesen
Durativ  Imperfektiv
Epistemisch
Evidential
Gegenwart
Gerundium
Grundform
Imperativ
Inferential
Infinitiv
Interrogation
Itiv
Kausativ
Klasse/Genus
Konditional
Konjunktiv
Lokalisierung
Masdar
Medium
Modus
Negation
Nominalisierung
Numerus
Optativ
Partizip
Passiv-Marker
Personalflexion
Personalität
Polypersonalität
Polysynthese
Präverb
Punktuell  Perfektiv
Reflexivität
Sprechakt
Tempus
Ventiv
Verbaladjektiv
Verbalphrase
Vergangenheit
Zukunft
Grundfrage:
Welche linguistischen Kategorien werden
über welche Morpheme (!, vgl. Definition)
wie und
wo
in der Verbalphrase angezeigt?
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Verbalphrase: Diejenige Phrase eines Satzes, die die Beziehung zwischen zwei (oder
mehreren) Referenten einer Äußerung (die in NPs verpackt sind) ausdrückt bzw. die eine NP
global in eine Ereignisvorstellung einbettet:
Lat.
Dt.

[amic-us]NP

[ama-vi-t]VP

[patr-em]NP
friend-SG:M:NOM
love-PERF-3SG
father-SG:M:ACC
[d-er Freund]NP
[hat ge-lieb-t]VP
[d-en Vater]NP
LV:PRES:3SG PART:PAST-love-PART:PAST DEF-SG:M:ACC father
DEF-SG:M:NOM
friend
Nota: Deutsch mit diskontinuierlicher VP: 
Der Freund hat den Vater geliebt.
Eine etwas komplexere VP ist z.B. das folgende Beispiel des Archi (Ostkaukasisch,
Wortstellung angepasst):
[buwa-mu]NP
[b-ez
diła-b-u
a-b-u]VP
[xalli]NP
mother(II)-ERG
III-1SG:DAT
early-III-ADV
bake-III-bake:PAST
bread(III)
'Mutter hat mir das Brot früh (in der Früh) gebacken.'
Hier ist Teil der VP:
1. das Verb
2. das Adverb
3. der Indirect Objective
abu
diłabu
bez
'backte'
'früh'
'mir'
Analog zur NP kann eine VP also aus einem oder mehreren Konstituenten bestehen, wobei
immer ein 'verbaler Kern' gegeben sein sollte, es sei denn, wir haben eine Null-Kopula (ZeroCopula), wie im Russischen:
[ženščin-a]NP
[Ø]VP
[mo-ja
mat']NP
woman-SG:F:NOM
[be:PRES]
1SG:POSS-F:SG:NOM mother:F:SG:NOM
'Die Frau ist meine Mutter.'
Linguistische Kategorien können morphologisch markiert werden (analog zur NP)
a. an der Grenze der VP
b. an verbalen Kern der VP
c. an anderen Konstitutenten der VP
Also (formal) [X = irgendwelche anderen Konstituenten der VP, V = verbaler Kern]:
[X
[X
[X
[X-MORPH
X
V
V-MORPH
V
V]VP-MOPRH
X]VP-MOPRH
X]VP
X]VP
Analog präfixal
Relevante Kategorien:
a. Kontext-Bezug:
Tempus: Der Bezug auf (a) Gedächtnis  Vergangenheit; (b)
unmittelbaren Reizeingang  Gegenwart, (c) Vorstellung 
Zukunft], mit diversen Unterkategorien.
Aspekt: Der Bezug darauf, ob eine Ereignisvorstellung als
Prozess (e.g. durativ) oder als abgeschlossen (punktuell)
wahrgenommen (aspicere 'anschauen') wird.
Modus: Der Bezug auf Grade der Wissenssicherheit oder Grad
der Gewissheit/Gegebenheit (epistemisch), e.g. Konjunktiv,
Konditional usw. oder auf Forderung nach Gegebenheit eines
Ereignisses oder einer Ereignisvorstellung (deontisch), e.g.
Imperativ, Optativ, Hortativ usw.
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Unterkategorie Epistemik:
Interrogation (bes. polare Fragen (ja/nein))
Negation: Gewissheit der Nicht-Gegebenheit
Inferential: Grad der Zeugenschaft (evidential)
bzw. Nicht-Zeugenschaft (Inferential) eines
Ereignisses
Lokalisierung: Der Bezug auf räumliche Situierung einer
Ereignisvorstellung (e.g. über Präverbien, Deutsch auf-legen,
unter-legen, an-legen, ab-legen)
Unterkategorie: Ausrichtung der Ereignisvorstellung auf
Sprecher-/Hörer usw., e.g. Deutsch hin- ('vom Sprecher
weg', Itiv) und her- ('zum Sprecher hin', Ventiv).
b. Kotext-Bezug:
Agreement: Abbildung der Kategorisierung eines oder
mehrerer Referenten der Äußerung in der VP
Kategorisierung kann erfolgen nach (u.a.!):
a. Sprechakt ~ Personalität ( Personalflexion)
b. Semantischer Klasse/Genus ( Klassen/Genus-Flexion)
c. Numerus
Agreement bildet i.d.R. auch diejnigen syntaktischen
Eigenschaften ab, die mit den abgebildeten Referenten
verbunden sind.
Vgl.:
Deutsch [Personalflexion]:
AGENTIVE
VERB
OBJECTIVE
d-er Mann
frag-t
d-en Arzt
DEF:SG:M:NOM
ask-3SG:A
DEF-SG:M:ACC
doctor
Chechen (Ostkaukasisch) [Klassenflexion]:
AGENTIVE
OBEJCTIVE VERB
stag-a
baga
y-illi-na
man-ERG
mouth(IV)
IV-open-PAST:INFER
'Der Mann (sagt man) öffnete den Mund.'
Polypersonalität: Die Abbildung mehr als einer
Personenkategorie in der VP, e.g.
12
Dakota (Sioux):
ma-ya-ktʰe
1SG:O-2SG:A-kill
'Du tötest mich'
Koordinierende und subordinierende Anbindung einer
Äußerung an andere Äußerungen (nicht notwendigerweise
über VP, ooft auch über lexikalische Formen, e.g.
Konjunktionen usw.)
Gerundium: Anbindung einer Hintergrundinformation
an die Hauptinformation über Nominalisierung des
Verbs:
Latein:
milit-es
fortiter
pugna-nd-o
oppid-um
expugna-ver-unt.
soldier-PL:NOM
brave
fight-GER-SG:ABL
town-SG:N:ACC
capture-PLUPERF-3PL
'Die Soldaten eroberten die Stadt, indem sie tapfer kämpften.'
Nota: Die 'Grundform' der Nominalisierung heißt i.d.R. Masdar
(Verbalnomen) [arab. Terminus]. In manchen Sprachen fällt
der Masdar zusammen mit dem Infinitiv, der eigentlich ein
telisches (zielgrichtetes) Gerundium darstellt, dann aber gerne
in eine allgemeine 'Grundform' überführt wird.
Vgl. Deutsch (BF = basic form)
MASDAR
GERUNDIUM
INFINITIV
Zu-m
Schreib-en
fehl-t
mir
d-ie
Zeit
to-DEF:SG:N:DAT
write-BF
lack-3SG:PRES
1SG:DAT
DEF-F:SG:NOM
time
Ich
freu-e
mich
darauf
zu
schreib-en
1SG:NOM be=happy-1SG:PRES
REFL:ACC
KATAPH:LOC
to
write-FB
ich
schreib-en
kann
1SG:NOM be=able:1SG
write-BF
Nota: Masdars, Gerundien und Infinitive können diverse semantische
bzw. funktionale Spezifikationen erfahren.
Partizip (Verbaladjektiv): Integration eines Verbs in eine NP, wobei
zwischen dem Nomen der NP und einem der Aktanten des
eingebetteten Verbs Ko-Referenz herrscht:
13
=>
Der Winter kommt + Der Winter wird kalt
D-er
komm-end-e
Winter wird
kalt
DEF-M:SG:NOM
cold
come-PART:PRES-RECT
winter
become:PRES:3SG
[RECT = rectus, nicht oblique Form]
Nota: In einigen Sprachen kann das Partizip über eine Adverbialform
wieder in die VP re-integriert werden und e.g. zur Tempusbildung
dienen, e.g. Deutsch:
Vgl.
Das
Das
D-ie Frau
hat
d-as Buch
ge-schrieb-en
DEF-F:SG:NOM
LV:PRES:3SG
DEF-N:SG:ACC
book
das Kind ist
das Buch ist
ADVERB
klein-Ø
geschrieben-Ø
ATTRIBUT
klein-e
Kind =>
geschrieben-e Buch =>
PART:PAST-write-PART:PAST
c. Syntaktische Umstellungen (Diathesen)
Zum Ganzen u.a. http://www.lrz.de/~wschulze/WS0910/syn0910d.pdf
a. Passiv-Marker: Eine (hier:) morphologische Markierung in der VP, dass der nichtzentrale Referent in Objective-Funktion (traditionell: 'transitives Objekt') ins Zentrum
der Äußerung gestellt wird und kodiert wird wie Referent in Subjective-Fuktion
(traditionell: 'intransitives Subjekt'). [Stark vereinfacht]
E.g. Latein
puell-a
amic-um
vide-t
girl-F:SG:NOM
friend-M:SG:ACC
see:PRES-3SG
'Das Mädchen sieht den Freund'.
=>
amic-um
a
puell-ā
vide-t-ur
friend-M:SG:NOM
of
girl-F:SG:ABL
see:PRES-3SG-PASS
'Der Freund wird von dem Mädchen gesehen.'
b. Antipassiv-Marker: Eine (hier:) morphologische Markierung in der VP, dass der
nicht-zentrale Referent in Agentive-Funktion (traditionell: 'transitives Subjekt') ins
Zentrum der Äußerung gestellt wird und kodiert wird wie Referent in SubjectiveFunktion (traditionell: 'intransitives Subjekt').
[Stark vereinfacht, siehe http://www.lrz-muenchen.de/~wschulze/antipas2.pdf]
Inuktitut:
Miki-upA
arnaqO
Miki-ERG
woman:ABS
'Miki küsst die Frau.'
kunik-p-anga
kiss-TR-3SG:A+3SG:O
14
=>
arna-mikO>LOC MikiA>S
kunik-si-ju-q
woman-INSTR
kiss-AP-ITR-3SG:A>S
Miki:ABS
'Miki küsst eine Frau.'
c. Andere Zentrierungsverfahren: Reflexivität/Medium: Markierung der
Bezüglichkeit der Ereignisvorstellung auf das referentielle Zentrum einer Äußerung
('Subjekt')
Medium: Rückbezüglichkeit der Verbalhandlung
Griechisch:
ὁ
γεωργ-ὸς
παρα-σκεσάζ-ει
σιτί-α
DEF:SG:M:NOM
farmer-SG:M:NOM
PV-prepare:PRES-3SG:PRES
food-N:PL:ACC
'Der Bauer bereitet das Essen (für jemand anderen).'
ὁ
γεωργ-ὸς
παρα-σκεσάζ-εται
σιτί-α
DEF:SG:M:NOM
farmer-SG:M:NOM
PV-prepare:PRES-3SG:PRES:MED
food-N:PL:ACC
'Der Bauer bereitet (für) sich das Essen.'
Reflexiv: Rückbezüglichkeit eines Referenten (ohne zusätzliche NP-Reflexiva
eher selten, oft mit Übergang zu Medium):
15
Russisch:
mat'
mother:F:SG:NOM
ode-la
syn-a
dress-PAST-F:SG
son-M:SG:GEN
'Die Mutter zog den Sohn an.'
mat'
ode-l-a-s'
mother:F:SG:NOM
dress-PAST-F:SG-REFL
'Die Mutter zog sich an.'
Paiwan (Austronesisch, Taiwan):
ki-pacay
timadju
REFL-kill
(s)he:NOM
'Er/sie tötet(e) sich.'
d. Kausativa: Einführung eines zusätzlichen Referenten, der die eigentliche
Ereignisvorstellung bewirkt (d.h. der als sie verursachend verstanden wird).
Tsou (Austronesisch, Taiwan) [Quelle: Gu-Jing Lin]:
mi-ta
bonụ to
tacụmụ
‘e
amo
COP:AF-3SG
eat:AF
OBL
'Der Vater aß die Banana.'
banana
NOM
father
i-si
poa-bonụ
to
tacụmụ
to
ino
‘e amo
COP:OF-3SG
CAUS-EAT:AF
OBL
banana
mother
NOM
father
OBL
'Die Mutter ließ den Vater die Banane essen.'
[Nota: AF = Agentive Focus (Hervorhebung von A); OF = Objective Focus (Hervorherbung von O)]
Koreanisch [Seungju Yeo 2005]:
John-i
aki-lul
caki-uy
pange-eyse
ca-wu-ess-
ta.
John-NOM
baby-ACC
self-GEN
room-LOC
sleep-cause-PAST-IND
'John ließ das Kind in seinem (eigenen) Zimmer schlafen.'
Positionelle Aspekte:
Generell gilt auch beim Verb: Eher derivative Morphologie steht näher zum Stamm
als Flexionsmorphologie.
Türkisch:
et-me-yecek-ler-di
eat-NEG-FUT-3PL-PAST:EVID
'sie werden nicht gegessen haben'
et-me-yecek-miş-siniz
eat-NEG-FUT-PAST:INFER-2PL
'Ihr werdet wohl nicht gegessen haben.'
Ägyptisch-Arabisch: ma-t-gīb-u-l-ha-hum-š
NEG-2:IMPERF-bring-PL-IO-3SG:F-3PL:O-NEG
'Bringt sie ihr nicht!'
Polysynthetische Strukturen bringen vor allem auch lexikalisches Material in den
Verbstamm ein (Inkorporation):
Chukchee [Skorik 1961]:
t-ə-meyŋ-ə-levt-pəğt-ə-rkən
1SG:S-great-head-hurt-PRES-1
'Ich habe starke Kopfschmerzen'
Abschließende Nota: In flektierenden Systemen können mehrere derartige
Funktionen/Kategorien in einer morphologischen Form verpackt werden.
16
Gewisse Präferenzen (Auswahl!)
Tempus+Agreement
Modus+Agreement
Agreement+Numerus(+Tempus/Modus)
Genus/Klasse+Numerus
Agreement+Medium
Agreement+Passiv
Gerundium+Kasus
Präverb+Aspekt
Technisches: Für Kürzel in den interlinearen Glossen siehe z.B. die Leipzig Glossing Rules
(http://www.eva.mpg.de/lingua/pdf/LGR09_02_23.pdf [bitte nicht ganz unkritisch
übernehmen!]
Einige Grundbegriffe (Definitionen)
1. Morpheme: Ein Morphem ist ein sprachliches Zeichen, das sich über seine Formseite (Artikulation)
und Inhaltsseite (Funktion(Bedeutung/Konzept) definiert:
1.1 Formseite: Die Formseite eines Morphems heißt  Morph. Sie ist charakterisiert durch:
1.1.1 Artikulation (Laut bzw. Lautfolge, tonale Varianz)
1.1.2 'Gebundenheit': ein Morphem kann über sein Morph nicht unabhängig geäußert werden.
1.2 Inhaltseite:
Morph aktiviert wird. Dieser konzeptuelle Bereich kodiert eine kategoriellen Bereich der Sprache
(Grammatik) oder fügt semantische Informationen zu einem Lexem hinzu, so dass eine 'neues' Lexem
entsteht ( Derivation).
2. Allomorphie: Die formale (artikulatorische) Varianz eines Morphems, bedingt durch:
2.1 Stellung und Kontakt mit Nachbarlauten
2.2 Lexikalische Distribution (Formklassen)
3. Archimorphem: Die formale Repräsentation eines Morphems, ohne dass eine Ausgangsform
genannt werden kann. Ein Archimorphem existiert nur in seinen allomorphen Ausprägungen.
4. Morphophonologie: Die lautliche Varianz einer lexikalischen Einheit, ohne dass zusätzliches
artikuliertes Material eingebracht wird, wobei die Varianz aber Funktionen etc. in Analogie zu
Morphemen hat (e.g. Ablaut).
5. Derivationsmorphologie: Die artikulatorische Varianz/Erweiterung einer lexikalischen Einheit
durch Morphe, wobei neue lexikalische Einheiten entstehen.
6. Flexionsmorphologie: Die artikulatorische Varianz/Erweiterung einer lexikalischen Einheit durch
Morphe, um eine Beziehung der lexikalischen Einheit zu anderen Größen anzuzeigen:
6.1 Kontext: Die morphologische Anzeige der Inbeziehungsetzung einer lexikalischen Einheit mit
außersprachlichen Größen (Tempus, Aspekt, Modus, Lokalisierung, Perspektive usw.)
6.2 Kotext: Die morphologische Anzeige der Inbeziehungsetzung einer lexikalischen Einheit mit
anderen lexikalischen Einheiten in der Satz- oder Textumgebung der gegebenen lexikalischen Einheit
(e.g. Kasus, Agreement usw.)
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7. Affix: Morpheme, die wortartengebunden eine flexionsmophologische Funktion erfüllen.
7.1 Suffix: Der lexikalischen Einheit folgendes Affix
7.2 Präfix: Der lexikalischen Einheit vorangehendes Affix 7.3 Infix: In die lexikalische Einheit
integriertes Affix
7.4 Circumfix: Mehrteiliges (diskontinuierliches) Affix, das der lexikalischen Einheit sowohl vorangeht
als auch folgt.
8. Klitikon: Morpheme, die nicht wortartengebunden an lexikalische Einheiten treten können und
meist eine 'freie' lexikalische Variante haben:
8.1 Enklitikon: Ein nachfolgendes Klitikon
8.2 Proklitikon: ein vorangehendes Klitikon
8.3 Endoklitikon: Ein in die lexikalische Einheit integriertes Klitikon
8.4 Amphiklitikon: Ein mehrteiliges (diskontinuierliches) Klitikon, das der lexikalischen Einheit sowohl
vorangeht als auch folgt.
9. Agglutinierend: Eine Morphologie, die Morpheme mit funktionaler Eindimensionalität beinhaltet
(one form, one meaning).
10. Flektierend: Eine Morphologie, die Morpheme mit funktionaler Multidimensionalität beinhaltet
(one form, more than one meaning).
11. Agglutinationskette: Syntaktische geregelte Abfolge (feste Positionierung) von Morphemen in
einer agglutinierenden Struktur.
12. Phrase: Eine linguistische Einheit, die von 1 bis n lexikalische Elemente beinhalten kann und als
Ganzes eine syntaktische Funktion übernimmt. Flexionsmorpheme treten i.d.R. zunächst an Phrasen.
12.1 NP = Nominalphrase: Derjenige Komplex in einer Äußerung, der sich auf eine Objektvorstellung
bezieht.
12.2 VP = Verbalphrase: Derjenige Komplex in einer Äußerung, der sich auf den relationalen Bereich
einer Ereignisvorstellung bezieht.
13. Konkordanz/Kongruenz: Die parallele morphologische Markierung von Elementen einer Phrase.
14. Agreement: Die Abbildung von kategoriellen Zuordnungen bestimmter NPs in der VP.
14.1 Person: Kategorisierung nach Sprechaktaspekten
14.2 Klasse: Kategorisierung nach semantischen Klassen
14.3 Numerus: Kategorisierung nach Aspekten der Quantifikation
15. Case (Kasus):
15.1 Die Abbildung von Mustern von Ereignisvorstellungen in einer oder mehreren NPs
15.2 Die Anzeige einer kontextuellen Einbindung von NPs (bes. lokal)
16. Pragmatische (morphologische) Marker: Morpheme, die lexikalischen Einheiten einen
pragmatischen Wert zuweisen.
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