(Kognitive) Morphologie © Wolfgang Schulze 2011 Eine Kurzdarstellung Zum Ganzen: http://www.lrz-muenchen.de/~wschulze/SOSE09/grumorph.pdf [Leicht verkürzte Version aus dem Jahr 2009] http://www.lrz-muenchn.de/~wschulze/downloads/einmorph.pptx (Office 2007!) [Umfassende PowerPoint-Präsentation] Erste Grundlagen 1. Die Begriffsdomäne der 'Morphologie' (Auswahl): - Astronomie: Die Gestalt von 'ausgedehnten' (strukturierten) astronomischen Objekten - Biologie: Form und Gestalt eines Organismus oder von dessen Teilen - Geomorphologie: Lehre von der Gestalt von Gelände - Hydromorphologie: Lehre von der Gestalt von Flüssen - Kulturmorphologie: Lehre von der äußeren Gestaltung der Kultur - Linguistik (s.u.) - Mathematik: Theoretisches Modell für digitale Bilder usw. - Narratologie: Struktur von folkloristischen Texten - Psychologische Morphologie: Geisteswissenschaftlich orientierte Tradition in der Psychologie 2. Begriffsgeschichte Begriff basiert auf gr. hê morphê 'die Gestalt' (ἥ μορφή) 'Gestalt, leibesgestalt, Anmut, von Zufälligkeiten etc. befreite 'reine Gestalt', vielleicht zu *mer-bha- 'schimmernde, glänzende [Gestalt]?, vgl. lat. merus 'bloß, rein, unvermischt' < '*hell, klar'; Latein forma als Metathese zu *morpha ??? Goethe: Begriff "Morphologie" von Goethe eingeführt 1796 (Tagebuchnotiz): Gestaltungsgesetze der Natur (von der einfachen zur komplexen Form). Morphologie "soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten" (Morphologie, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz. München 1981; Band 13, p.124) Unabhängig von Goethe: Mediziner Carl Friedrich Burdach (1776-1847), Prof. für Anatomie in Königsberg (prägte auch den Begriff 'Biologie') -> "Morphologie" in einer Veröffentlichung des Jahres 1800. 1 Mit Goethes erstes Heft seiner Schriftenreihe "Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie" (17. Juli 1817) und Burdach's Rede (-> Eröffnungsschrift) zur Gründung des Anatomischen Instituts in Königsberg (13. November 1817) "Über die Aufgabe der Morphologie" wird der Begriff salonfähig und 'modern'. Ab 1820 Morphologie -> Botanik (1820-1825), Geologie (1821-1823), Zoologie (1822), Medizin (1831). Geschichtswissenschaften: Johann Gustav Droysen (1808-1884), Grundriß der Historik, Leipzig 1868 (erste Fassung 1857) "Die Art der historischen Forschung ist bestimmt durch den morphologischen Charakter ihres Materials". In Sprachwissenschaften seit August Schleicher (1859) Friedrich Max Müller (1861) Frederic William ('Dean') Farrar (1831-1903) (1865/70) Bis etwa 1930 allgemeiner Modebegriff (vgl. Vladimir Propp (1985-1970) 1928. Morphologie des Zaubermärchens usw.) 3. Erste Begriffsdefinition (allgemein) 3a. Heutzutage wird Morphologie sowohl für die 'Lehre von X' als auch für 'X' selbst verwendet (analog Semantik, Phonologie, Syntax etc.). 3b. Morphologie betrifft Gestaltvarianz. -> Gestalt: (hier:) die durch die vier CAUSA-Typen des Aristoteles fixierte Gesamtform eines Objekts (vereinfacht, vgl. Aristoteles, Phys. II 3, 194b23-35): Äußere: Innere: Causa efficiens: Ursprung von X Causa finalis: Zweck von X Causa formalis: Form, Struktur, Muster von X Causa materialis: Stoffliche Qualität von X 2 efficiens finalis Etymologie Bedeutung <HASE> Lautung Lautreihung (vereinfacht) materialis/qualitatis formalis Ergo: efficiens: Warum ist das Element so, wie es ist (Herkunft, Grund)? finalis: Was 'leistet' das Element? materialis: Woraus besteht das Element? formalis: (u.a.) Wie sieht die Struktur des Elements aus? Im Sinne der Gestaltpschologie von Friedrich Sander (1889-1971) 'gegliederte Gesamtheit', dabei gilt Übersummativität ('das Ganze ist mehr als seine Teile') und Inexistenz der Teile 'für sich'. Grosso modo können linguistische Gestalten als 'Wörter' (Lexeme) definiert werden. Gestaltvarianz bedeutet Veränderung des 'Ganzen' aufgrund von Veränderungen in all seinen 'Teilen' Beispiel (sprachlich): Kind -> Kind-er Änderung => -er efficiens Ursprung von -er finalis Plural materialis Lautungstyp (segmental) formalis Endung Kisi (Niger-Kongo, Atlantisch; Guinea, Sierra Leone) (Childs 1995: 220-3 ) 1. ò cìmbù. 3sg leave:PRES:HABITUAL ‘She (usually) leaves.’ 2. ò cìmbú. 3sg leave:PST:PFV ‘She left.’ Änderung (Tonvarianz) efficiens Ursprung des Tonwandels finalis Aspekt materialis Lautungstyp (suprasegmental) formalis Tonwechsel 3 Gestaltvarianz für ein Phänomen kann nur über mehr als ein Phänomen festgestellt werden! Beobachtung von Gestaltvarianz setzt Vermutung über das 'Gemeinsame' (größter gemeinsamer Nenner) voraus: Dabei sollte idealiter eine 'Basisform' beschreibbar sein: a b c d e (a) ist die 'Grundform', (b) und (c) Gestaltvarianten. Gestalten, die Varianten einer Basisgestalt darstellen, bilden ein Paradigma der Basisgestalt. Die gestaltvariierenden Elemente (hier ) stellen für sich genommen ebenfalls 'Gestalten' dar und bilden somit ebenfalls Paradigmata. 3c. Gestaltvarianz ist eine Option, kein 'Muss'! Grundlage für Gestaltvarianz: Eine Basisgestalt wird zu einer anderen Größe hin 'verzerrt' und ändert dadurch seine Gestalt. Terminologisch: Eine Gestalt wird zu einer anderen Gestalt hin 'gebeugt' (flektiert). Damit ist Gestaltvarianz immer abhängig von der Anwesenheit einer anderen Größe. Die Kombination zweier oder mehrerer Größen bedeutet automatisch SYNTAX (Zusammenstellung) Wichtig: Die 'verzerrende' Größe muss nicht dieselbe Gestalt haben wie die 'verzerrte' Größe! 4 Etwa: amic-us lauda-ba-t amic-am Verzerrt durch laudare amicus / ZEIT laudare Gestalt: Symbolisch Symbol Konzept Symbol Sprachen ohne Verzerrung sind 'morphologiefrei', d.h. 'isolierend' vgl.: Vietnamesisch (vereinfacht): cháu đẻi nhà=trẻ Ich gehen Kindergarten 'Ich gehe in den Kindergarten' 3d. Definition (vorläufig) Ein Morphem ist die kontextinduzierte Variation einer Basisgestalt. Echo-Prinzip: Ein Morphem spiegelt Eigenschaften einer kontextuellen Größe in eine Gestalt hinein. Dabei machen die in einem Morphem symbolisierten Eigenschaften seinen semantischen Wert ('Bedeutung'/Funktion') aus. MORPHOLOGIE DER NOMINALPHRASE 1. Definition der Nominalphrase (NP): NP ist dasjenige Segment eines Satzes, das eine (mehr oder minder) komplexe Objektvorstellung innerhalb einer Äußerung kodiert: EV Sprachliches Zeichen: "Satz" Äußerung OV Relation NP FORM OV VP FORM NP FORM 5 Verkürzt: S NP VP NP Flexionsmorphologie ist die offene (das heißt über ein materielles, nicht lexikalisches sprachliches Zeichen angezeigte) Inbeziehungsetzung einer Phrase (NP oder VP) zu kontextuellen und kotextuellen Umgebungen von oder zwischen sprachlichen Äußerungen. Kontext: Inbeziehungsetzung zu extralinguistischen Faktoren: Auswahl: - Erinnerungsbezug, e.g. TEMPUS (Vergangenheit) - Wahrnehmungsbezug , e.g. TEMPUS (Gegenwart) - Vorstellung (imaginatio), e.g. MODUS, TEMPUS (Futur) - Ortsbezug (Lokalisierung) - Prozessbezug (Aspekt) - Negation (der EV) [mit Modus verwandt] - Interrogation [mit Modus verwandt] - Pragmatische Bezüge (Topikalisierung usw.) usw. Die meisten Kontext-Beziehungen sind VP-bezogen, da die VP den 'Kern' einer Ereignisvorstellung abbildet. Etwa: [Sie]NP [eil-te]VP [in die Stadt]NP EV <WISSEN> {-te} Ko-Text: <SIE> <EILEN> <STADT> {sie} {eilen} {in die Stadt} Inbeziehungsetzung zu anderen sprachlichen Zeichen eines Satzes (oder seiner sprachlichen Umgebung => Text) Da NP und VP die wesentlichen Konstituenten eines Satzes sind, gibt es folgende basale Optionen: a. Eine oder mehrere NPs stellen sich (hier: morphologisch (!)) in Beziehung zur VP CASE; Formel: [morph] NP [morph] VP NP 6 b. VP stellt sich (hier: morphologisch (!)) in Beziehung zu einer oder mehreren NPs AGR[eement]:;Formel: NP VP [morph] c. NP [morph] Die Elemente innerhalb einer NP werden (hier:) morphologisch aufeinander bezogen. Dabei ist eines der Elemente der NP 'head' für die anderen Elemente der NP (dependent): Beispiel: Attributsmarker: [morph] [morph] 7 [E1 E2 E3 ]NP d. Die Elemente innerhalb einer VP werden (hier:) morphologisch aufeinander bezogen. Analog zu (c). f. Aus (a) oder (b) resultierende Morphologien werden ganz oder teilweise auf die Elemente einer Phrase (VP) oder NP) verteilt (bei NP = Konkordanz oder NP-Kongruenz): Beispielhaft CASE; Formel: [morph] [E1 E2 E3]NP Vgl. [morph] VP [bon-usE1 amic-usE2]NP Typen der Ko-Text-Bedingungen (Auswahl): - CASE (von NP auf NP, Morphologie an NP) - AGR (von NP auf VP, Morphologie an VP) NP - NP-interne Kongruenz (Attributsmarker, Genus-Kongruenz, Possesivmarkierungen usw.) Hybride Formen (Stellung zwischen Flexion und Derivation), aber in NP-Morphologie zu berücksichtigen: - Numerus - Offene Genus-/Klassenmarkierung, d.h. Genus-/Klassen-Morphen an Nomen, das die Klasse bestimmt, etwa Klassenmarkierung im Swahili) Beispiel: Nominalmorphologie Udisch 1. Affiliation: Ostkaukasisch > Lezgisch > Ost-Samursprachen 2. Basistypologie: Suffix-Agglutinierend mit Tendenz zur Flexion Head- und Dependent-Marking 3. NP-Morphologie: 3.1 NP-interne Wortstellung: Beispiel [DX ATTR N]NP me kala ğar PROX groß Junge 'dieser große Junge' [Posssesor Possessum]NP ğar-i ek' Junge-GEN Pferd 'das Pferd des Jungen' 3.2 Kasus (Dependent Marking) 3.2.1 Kasusmorpheme an Gesamt-NP, keine Kongruenz Beispiel: [me kala ğar]NP-a [beğ-i-ne]VP PROX groß Junge-DAT Sehen:PAST-PASt-3Sg 'Er/sie sah diesen großen Jungen.' 3.2.2 Numerus: SG PL -Ø Allomorphe (lexikalisch bestimmt) -ux,- urux, -umux, -ur Nota: -ux > -ğ- mit Labialisierung des Vokals des nachfolgenden Kasusmorphems 3.2.4 Genus/Klasse: Keine morphologische Markierung 3.2.4 Reihung Kaus/Numerus: Beispiel: Agglutinierend, -PL-CASE me kala adamar-ğ-o PROX groß Mensch-PL-DAT 'diesen großen Leuten' 3.2.5 Morphologische Kasus (Dialekt von Vartashen, Sonderformen unberücksichtigt) Name Basis-Funktion Form ABS(olutiv) S in intrans. Sätzen -Ø Nicht definites O in trans. Sätzen ERG(ativ) A in transitiven Sätzen -en, -in BEN(efaktiv) Benefaktiv -enk'(ena) 8 GEN(itiv) DAT(iv) DAT(iv)2 ABL(ativ) KOM(itativ) ADESS(iv) DIR(ektiv) SUPER(essiv) Possessor IO, def. O in trans. Sätzen Allativ Ablativ Komitativ Adessiv Direktiv Superessiv -(V)i, -un, -in -a, -e, -i-, -u (lex.) DAT + -x DAT + -xo DAT + - xun DAT + -st'a DAT + -č' DAT + -l 3.2.6 Stammbildung für Kasus: 1. Starke Nomina (ohne Stamänderung) 2. Schwache Nomina (mit Stammerweiterung in obliquen Kasus (ohne ABS, z.T. auch ohne ERG oder GEN), nur SG Morphem: -nE.g.: ek'-n-axo Pferd-SE-ABL 'von dem Pferd' 3.2.7 Nominalisierte Adjektive und Demonstrativa: Kasus = Nomen, Stammerweiterung: ABS OBL SG -o-t'- PL -o-t'- 3.2.8 Personalpronomina: Flexion wie Nomen ohne Stammerweiterung, aber kein ERG-Kasus. Suppletivismus im GEN: 1 2 4 5 ABS/ERG zu un yan van GEN bez(i) vi beš(i) ef(i) DAT za va ya va usw. 9 Template zur Verbmorphologie [Vgl. auch: http://www.lrz.de/~wschulze/WS0809/vrbcheck.pdf] Wichtige Begriffe (nur globale Termini, keine einzelsprachlichen Ausprägungen) Agreement Antipassiv-Marker Aspekt Deontisch Diathesen Durativ Imperfektiv Epistemisch Evidential Gegenwart Gerundium Grundform Imperativ Inferential Infinitiv Interrogation Itiv Kausativ Klasse/Genus Konditional Konjunktiv Lokalisierung Masdar Medium Modus Negation Nominalisierung Numerus Optativ Partizip Passiv-Marker Personalflexion Personalität Polypersonalität Polysynthese Präverb Punktuell Perfektiv Reflexivität Sprechakt Tempus Ventiv Verbaladjektiv Verbalphrase Vergangenheit Zukunft Grundfrage: Welche linguistischen Kategorien werden über welche Morpheme (!, vgl. Definition) wie und wo in der Verbalphrase angezeigt? 10 Verbalphrase: Diejenige Phrase eines Satzes, die die Beziehung zwischen zwei (oder mehreren) Referenten einer Äußerung (die in NPs verpackt sind) ausdrückt bzw. die eine NP global in eine Ereignisvorstellung einbettet: Lat. Dt. [amic-us]NP [ama-vi-t]VP [patr-em]NP friend-SG:M:NOM love-PERF-3SG father-SG:M:ACC [d-er Freund]NP [hat ge-lieb-t]VP [d-en Vater]NP LV:PRES:3SG PART:PAST-love-PART:PAST DEF-SG:M:ACC father DEF-SG:M:NOM friend Nota: Deutsch mit diskontinuierlicher VP: Der Freund hat den Vater geliebt. Eine etwas komplexere VP ist z.B. das folgende Beispiel des Archi (Ostkaukasisch, Wortstellung angepasst): [buwa-mu]NP [b-ez diła-b-u a-b-u]VP [xalli]NP mother(II)-ERG III-1SG:DAT early-III-ADV bake-III-bake:PAST bread(III) 'Mutter hat mir das Brot früh (in der Früh) gebacken.' Hier ist Teil der VP: 1. das Verb 2. das Adverb 3. der Indirect Objective abu diłabu bez 'backte' 'früh' 'mir' Analog zur NP kann eine VP also aus einem oder mehreren Konstituenten bestehen, wobei immer ein 'verbaler Kern' gegeben sein sollte, es sei denn, wir haben eine Null-Kopula (ZeroCopula), wie im Russischen: [ženščin-a]NP [Ø]VP [mo-ja mat']NP woman-SG:F:NOM [be:PRES] 1SG:POSS-F:SG:NOM mother:F:SG:NOM 'Die Frau ist meine Mutter.' Linguistische Kategorien können morphologisch markiert werden (analog zur NP) a. an der Grenze der VP b. an verbalen Kern der VP c. an anderen Konstitutenten der VP Also (formal) [X = irgendwelche anderen Konstituenten der VP, V = verbaler Kern]: [X [X [X [X-MORPH X V V-MORPH V V]VP-MOPRH X]VP-MOPRH X]VP X]VP Analog präfixal Relevante Kategorien: a. Kontext-Bezug: Tempus: Der Bezug auf (a) Gedächtnis Vergangenheit; (b) unmittelbaren Reizeingang Gegenwart, (c) Vorstellung Zukunft], mit diversen Unterkategorien. Aspekt: Der Bezug darauf, ob eine Ereignisvorstellung als Prozess (e.g. durativ) oder als abgeschlossen (punktuell) wahrgenommen (aspicere 'anschauen') wird. Modus: Der Bezug auf Grade der Wissenssicherheit oder Grad der Gewissheit/Gegebenheit (epistemisch), e.g. Konjunktiv, Konditional usw. oder auf Forderung nach Gegebenheit eines Ereignisses oder einer Ereignisvorstellung (deontisch), e.g. Imperativ, Optativ, Hortativ usw. 11 Unterkategorie Epistemik: Interrogation (bes. polare Fragen (ja/nein)) Negation: Gewissheit der Nicht-Gegebenheit Inferential: Grad der Zeugenschaft (evidential) bzw. Nicht-Zeugenschaft (Inferential) eines Ereignisses Lokalisierung: Der Bezug auf räumliche Situierung einer Ereignisvorstellung (e.g. über Präverbien, Deutsch auf-legen, unter-legen, an-legen, ab-legen) Unterkategorie: Ausrichtung der Ereignisvorstellung auf Sprecher-/Hörer usw., e.g. Deutsch hin- ('vom Sprecher weg', Itiv) und her- ('zum Sprecher hin', Ventiv). b. Kotext-Bezug: Agreement: Abbildung der Kategorisierung eines oder mehrerer Referenten der Äußerung in der VP Kategorisierung kann erfolgen nach (u.a.!): a. Sprechakt ~ Personalität ( Personalflexion) b. Semantischer Klasse/Genus ( Klassen/Genus-Flexion) c. Numerus Agreement bildet i.d.R. auch diejnigen syntaktischen Eigenschaften ab, die mit den abgebildeten Referenten verbunden sind. Vgl.: Deutsch [Personalflexion]: AGENTIVE VERB OBJECTIVE d-er Mann frag-t d-en Arzt DEF:SG:M:NOM ask-3SG:A DEF-SG:M:ACC doctor Chechen (Ostkaukasisch) [Klassenflexion]: AGENTIVE OBEJCTIVE VERB stag-a baga y-illi-na man-ERG mouth(IV) IV-open-PAST:INFER 'Der Mann (sagt man) öffnete den Mund.' Polypersonalität: Die Abbildung mehr als einer Personenkategorie in der VP, e.g. 12 Dakota (Sioux): ma-ya-ktʰe 1SG:O-2SG:A-kill 'Du tötest mich' Koordinierende und subordinierende Anbindung einer Äußerung an andere Äußerungen (nicht notwendigerweise über VP, ooft auch über lexikalische Formen, e.g. Konjunktionen usw.) Gerundium: Anbindung einer Hintergrundinformation an die Hauptinformation über Nominalisierung des Verbs: Latein: milit-es fortiter pugna-nd-o oppid-um expugna-ver-unt. soldier-PL:NOM brave fight-GER-SG:ABL town-SG:N:ACC capture-PLUPERF-3PL 'Die Soldaten eroberten die Stadt, indem sie tapfer kämpften.' Nota: Die 'Grundform' der Nominalisierung heißt i.d.R. Masdar (Verbalnomen) [arab. Terminus]. In manchen Sprachen fällt der Masdar zusammen mit dem Infinitiv, der eigentlich ein telisches (zielgrichtetes) Gerundium darstellt, dann aber gerne in eine allgemeine 'Grundform' überführt wird. Vgl. Deutsch (BF = basic form) MASDAR GERUNDIUM INFINITIV Zu-m Schreib-en fehl-t mir d-ie Zeit to-DEF:SG:N:DAT write-BF lack-3SG:PRES 1SG:DAT DEF-F:SG:NOM time Ich freu-e mich darauf zu schreib-en 1SG:NOM be=happy-1SG:PRES REFL:ACC KATAPH:LOC to write-FB ich schreib-en kann 1SG:NOM be=able:1SG write-BF Nota: Masdars, Gerundien und Infinitive können diverse semantische bzw. funktionale Spezifikationen erfahren. Partizip (Verbaladjektiv): Integration eines Verbs in eine NP, wobei zwischen dem Nomen der NP und einem der Aktanten des eingebetteten Verbs Ko-Referenz herrscht: 13 => Der Winter kommt + Der Winter wird kalt D-er komm-end-e Winter wird kalt DEF-M:SG:NOM cold come-PART:PRES-RECT winter become:PRES:3SG [RECT = rectus, nicht oblique Form] Nota: In einigen Sprachen kann das Partizip über eine Adverbialform wieder in die VP re-integriert werden und e.g. zur Tempusbildung dienen, e.g. Deutsch: Vgl. Das Das D-ie Frau hat d-as Buch ge-schrieb-en DEF-F:SG:NOM LV:PRES:3SG DEF-N:SG:ACC book das Kind ist das Buch ist ADVERB klein-Ø geschrieben-Ø ATTRIBUT klein-e Kind => geschrieben-e Buch => PART:PAST-write-PART:PAST c. Syntaktische Umstellungen (Diathesen) Zum Ganzen u.a. http://www.lrz.de/~wschulze/WS0910/syn0910d.pdf a. Passiv-Marker: Eine (hier:) morphologische Markierung in der VP, dass der nichtzentrale Referent in Objective-Funktion (traditionell: 'transitives Objekt') ins Zentrum der Äußerung gestellt wird und kodiert wird wie Referent in Subjective-Fuktion (traditionell: 'intransitives Subjekt'). [Stark vereinfacht] E.g. Latein puell-a amic-um vide-t girl-F:SG:NOM friend-M:SG:ACC see:PRES-3SG 'Das Mädchen sieht den Freund'. => amic-um a puell-ā vide-t-ur friend-M:SG:NOM of girl-F:SG:ABL see:PRES-3SG-PASS 'Der Freund wird von dem Mädchen gesehen.' b. Antipassiv-Marker: Eine (hier:) morphologische Markierung in der VP, dass der nicht-zentrale Referent in Agentive-Funktion (traditionell: 'transitives Subjekt') ins Zentrum der Äußerung gestellt wird und kodiert wird wie Referent in SubjectiveFunktion (traditionell: 'intransitives Subjekt'). [Stark vereinfacht, siehe http://www.lrz-muenchen.de/~wschulze/antipas2.pdf] Inuktitut: Miki-upA arnaqO Miki-ERG woman:ABS 'Miki küsst die Frau.' kunik-p-anga kiss-TR-3SG:A+3SG:O 14 => arna-mikO>LOC MikiA>S kunik-si-ju-q woman-INSTR kiss-AP-ITR-3SG:A>S Miki:ABS 'Miki küsst eine Frau.' c. Andere Zentrierungsverfahren: Reflexivität/Medium: Markierung der Bezüglichkeit der Ereignisvorstellung auf das referentielle Zentrum einer Äußerung ('Subjekt') Medium: Rückbezüglichkeit der Verbalhandlung Griechisch: ὁ γεωργ-ὸς παρα-σκεσάζ-ει σιτί-α DEF:SG:M:NOM farmer-SG:M:NOM PV-prepare:PRES-3SG:PRES food-N:PL:ACC 'Der Bauer bereitet das Essen (für jemand anderen).' ὁ γεωργ-ὸς παρα-σκεσάζ-εται σιτί-α DEF:SG:M:NOM farmer-SG:M:NOM PV-prepare:PRES-3SG:PRES:MED food-N:PL:ACC 'Der Bauer bereitet (für) sich das Essen.' Reflexiv: Rückbezüglichkeit eines Referenten (ohne zusätzliche NP-Reflexiva eher selten, oft mit Übergang zu Medium): 15 Russisch: mat' mother:F:SG:NOM ode-la syn-a dress-PAST-F:SG son-M:SG:GEN 'Die Mutter zog den Sohn an.' mat' ode-l-a-s' mother:F:SG:NOM dress-PAST-F:SG-REFL 'Die Mutter zog sich an.' Paiwan (Austronesisch, Taiwan): ki-pacay timadju REFL-kill (s)he:NOM 'Er/sie tötet(e) sich.' d. Kausativa: Einführung eines zusätzlichen Referenten, der die eigentliche Ereignisvorstellung bewirkt (d.h. der als sie verursachend verstanden wird). Tsou (Austronesisch, Taiwan) [Quelle: Gu-Jing Lin]: mi-ta bonụ to tacụmụ ‘e amo COP:AF-3SG eat:AF OBL 'Der Vater aß die Banana.' banana NOM father i-si poa-bonụ to tacụmụ to ino ‘e amo COP:OF-3SG CAUS-EAT:AF OBL banana mother NOM father OBL 'Die Mutter ließ den Vater die Banane essen.' [Nota: AF = Agentive Focus (Hervorhebung von A); OF = Objective Focus (Hervorherbung von O)] Koreanisch [Seungju Yeo 2005]: John-i aki-lul caki-uy pange-eyse ca-wu-ess- ta. John-NOM baby-ACC self-GEN room-LOC sleep-cause-PAST-IND 'John ließ das Kind in seinem (eigenen) Zimmer schlafen.' Positionelle Aspekte: Generell gilt auch beim Verb: Eher derivative Morphologie steht näher zum Stamm als Flexionsmorphologie. Türkisch: et-me-yecek-ler-di eat-NEG-FUT-3PL-PAST:EVID 'sie werden nicht gegessen haben' et-me-yecek-miş-siniz eat-NEG-FUT-PAST:INFER-2PL 'Ihr werdet wohl nicht gegessen haben.' Ägyptisch-Arabisch: ma-t-gīb-u-l-ha-hum-š NEG-2:IMPERF-bring-PL-IO-3SG:F-3PL:O-NEG 'Bringt sie ihr nicht!' Polysynthetische Strukturen bringen vor allem auch lexikalisches Material in den Verbstamm ein (Inkorporation): Chukchee [Skorik 1961]: t-ə-meyŋ-ə-levt-pəğt-ə-rkən 1SG:S-great-head-hurt-PRES-1 'Ich habe starke Kopfschmerzen' Abschließende Nota: In flektierenden Systemen können mehrere derartige Funktionen/Kategorien in einer morphologischen Form verpackt werden. 16 Gewisse Präferenzen (Auswahl!) Tempus+Agreement Modus+Agreement Agreement+Numerus(+Tempus/Modus) Genus/Klasse+Numerus Agreement+Medium Agreement+Passiv Gerundium+Kasus Präverb+Aspekt Technisches: Für Kürzel in den interlinearen Glossen siehe z.B. die Leipzig Glossing Rules (http://www.eva.mpg.de/lingua/pdf/LGR09_02_23.pdf [bitte nicht ganz unkritisch übernehmen!] Einige Grundbegriffe (Definitionen) 1. Morpheme: Ein Morphem ist ein sprachliches Zeichen, das sich über seine Formseite (Artikulation) und Inhaltsseite (Funktion(Bedeutung/Konzept) definiert: 1.1 Formseite: Die Formseite eines Morphems heißt Morph. Sie ist charakterisiert durch: 1.1.1 Artikulation (Laut bzw. Lautfolge, tonale Varianz) 1.1.2 'Gebundenheit': ein Morphem kann über sein Morph nicht unabhängig geäußert werden. 1.2 Inhaltseite: Morph aktiviert wird. Dieser konzeptuelle Bereich kodiert eine kategoriellen Bereich der Sprache (Grammatik) oder fügt semantische Informationen zu einem Lexem hinzu, so dass eine 'neues' Lexem entsteht ( Derivation). 2. Allomorphie: Die formale (artikulatorische) Varianz eines Morphems, bedingt durch: 2.1 Stellung und Kontakt mit Nachbarlauten 2.2 Lexikalische Distribution (Formklassen) 3. Archimorphem: Die formale Repräsentation eines Morphems, ohne dass eine Ausgangsform genannt werden kann. Ein Archimorphem existiert nur in seinen allomorphen Ausprägungen. 4. Morphophonologie: Die lautliche Varianz einer lexikalischen Einheit, ohne dass zusätzliches artikuliertes Material eingebracht wird, wobei die Varianz aber Funktionen etc. in Analogie zu Morphemen hat (e.g. Ablaut). 5. Derivationsmorphologie: Die artikulatorische Varianz/Erweiterung einer lexikalischen Einheit durch Morphe, wobei neue lexikalische Einheiten entstehen. 6. Flexionsmorphologie: Die artikulatorische Varianz/Erweiterung einer lexikalischen Einheit durch Morphe, um eine Beziehung der lexikalischen Einheit zu anderen Größen anzuzeigen: 6.1 Kontext: Die morphologische Anzeige der Inbeziehungsetzung einer lexikalischen Einheit mit außersprachlichen Größen (Tempus, Aspekt, Modus, Lokalisierung, Perspektive usw.) 6.2 Kotext: Die morphologische Anzeige der Inbeziehungsetzung einer lexikalischen Einheit mit anderen lexikalischen Einheiten in der Satz- oder Textumgebung der gegebenen lexikalischen Einheit (e.g. Kasus, Agreement usw.) 17 7. Affix: Morpheme, die wortartengebunden eine flexionsmophologische Funktion erfüllen. 7.1 Suffix: Der lexikalischen Einheit folgendes Affix 7.2 Präfix: Der lexikalischen Einheit vorangehendes Affix 7.3 Infix: In die lexikalische Einheit integriertes Affix 7.4 Circumfix: Mehrteiliges (diskontinuierliches) Affix, das der lexikalischen Einheit sowohl vorangeht als auch folgt. 8. Klitikon: Morpheme, die nicht wortartengebunden an lexikalische Einheiten treten können und meist eine 'freie' lexikalische Variante haben: 8.1 Enklitikon: Ein nachfolgendes Klitikon 8.2 Proklitikon: ein vorangehendes Klitikon 8.3 Endoklitikon: Ein in die lexikalische Einheit integriertes Klitikon 8.4 Amphiklitikon: Ein mehrteiliges (diskontinuierliches) Klitikon, das der lexikalischen Einheit sowohl vorangeht als auch folgt. 9. Agglutinierend: Eine Morphologie, die Morpheme mit funktionaler Eindimensionalität beinhaltet (one form, one meaning). 10. Flektierend: Eine Morphologie, die Morpheme mit funktionaler Multidimensionalität beinhaltet (one form, more than one meaning). 11. Agglutinationskette: Syntaktische geregelte Abfolge (feste Positionierung) von Morphemen in einer agglutinierenden Struktur. 12. Phrase: Eine linguistische Einheit, die von 1 bis n lexikalische Elemente beinhalten kann und als Ganzes eine syntaktische Funktion übernimmt. Flexionsmorpheme treten i.d.R. zunächst an Phrasen. 12.1 NP = Nominalphrase: Derjenige Komplex in einer Äußerung, der sich auf eine Objektvorstellung bezieht. 12.2 VP = Verbalphrase: Derjenige Komplex in einer Äußerung, der sich auf den relationalen Bereich einer Ereignisvorstellung bezieht. 13. Konkordanz/Kongruenz: Die parallele morphologische Markierung von Elementen einer Phrase. 14. Agreement: Die Abbildung von kategoriellen Zuordnungen bestimmter NPs in der VP. 14.1 Person: Kategorisierung nach Sprechaktaspekten 14.2 Klasse: Kategorisierung nach semantischen Klassen 14.3 Numerus: Kategorisierung nach Aspekten der Quantifikation 15. Case (Kasus): 15.1 Die Abbildung von Mustern von Ereignisvorstellungen in einer oder mehreren NPs 15.2 Die Anzeige einer kontextuellen Einbindung von NPs (bes. lokal) 16. Pragmatische (morphologische) Marker: Morpheme, die lexikalischen Einheiten einen pragmatischen Wert zuweisen. 18