Professor Dr. Everhard Holtmann Politikwissenschaftler im Gespräch

Werbung
Sendung vom 28.5.2013, 21.00 Uhr
Professor Dr. Everhard Holtmann
Politikwissenschaftler
im Gespräch mit Jochen Kölsch
Kölsch:
Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu unserem heutigen
alpha-Forum. Politik ist ein schmutziges Geschäft, so denken viele
Menschen – auch in Deutschland. Politiker haben ein miserables Image.
Das ist eines der Themen, die ich mit unserem heutigen Studiogast
diskutieren möchte, nämlich mit Professor Everhard Holtmann, Politologe
von der Universität Halle-Wittenberg. Herr Holtmann, warum ist das so?
Warum hat die Politik ein so wahnsinnig negatives Image?
Holtmann:
In der Tat hängt das der Politik und den Politikern als ein fast
unausrottbarer Generalverdacht seit Langem an. Das ist einmal deshalb
so, weil es ja in der langen Geschichte der Politik und der politischen
Systeme immer wieder zahlreiche Einzelfälle gegeben hat, bei denen
sich Menschen, die in Amt und Mandat gekommen waren,
unangemessen bereichert haben. Denken Sie hier z. B. an die
römischen Konsuln, für die das Amt des Konsuls vor allem auch
deswegen so attraktiv gewesen ist, weil sie dann eine Provinz für die
eigene Tasche ausbeuten konnten. Oder nehmen Sie Fälle in der
Gegenwart, bei denen es um Amtsmissbrauch und Veruntreuung geht.
Strukturell erklärt sich dieses negative Image dadurch, dass die Politiker
dann, wenn sie in Amt und Würden sind, nicht nur über eine
herausgehobene Position verfügen, sondern ja auch Macht haben. Und
Macht bedeutet nicht nur, Einfluss zu nehmen auf Entscheidungen,
sondern damit verbunden ist ja auch die Befugnis, nicht unerhebliche
Geldbestände zu verteilen, also für die sogenannte Allokation öffentlicher
Mittel zu sorgen. Auch von daher nährt sich ein Grundmisstrauen, dass
Politiker hier nicht tadelsfrei mit dem ihnen anvertrauten Gut umgehen
könnten.
Kölsch:
Und Politiker erhöhen ja auch manchmal Steuern. Der Staatsanteil ist ja
sehr hoch, den wir als Bürger von unserem Geldeinkommen abgeben
müssen.
Holtmann:
So ist es. Das hat etwas zu tun mit der Tradition des Sozialstaates in der
Bundesrepublik. Wobei damit ja auch gleichzeitig angedeutet ist, dass die
Bürgerinnen und Bürger, die Steuern zahlen, entsprechend etwas
zurückbekommen, was z. B. auch an bestimmten Gewährleistungen
erkennbar ist. Die Steuerquote ist übrigens hierzulande noch nicht so
hoch wie z. B. in Skandinavien.
Kölsch:
Wobei die Menschen dort mit ihrer Lebenssituation allerdings auch sehr
zufrieden sind. In Ihrem Buch, das ich anschließend gleich noch explizit
vorstellen werde, fand ich die interessante Tatsache, dass dieses
generell schlechte Image letztlich gar nicht so ganz stimmt. Sie sagen,
dass man sich das schon sehr viel genauer anschauen muss, weil viele
Menschen bei uns die politischen Parteien auf der einen Seite als
katastrophal vertrauensunwürdig empfinden, während sie auf der
anderen Seite diejenige Partei, die sie wählen, doch erheblich positiver
einschätzen.
Holtmann:
Wir können über längere Zeit hinweg durch Umfragedaten auch belegen,
dass sich bis heute immer noch eine Mehrheit der deutschen
Bevölkerung – übrigens in Ost wie in West, wenn auch in Ostdeutschland
in etwas abgeschwächtem Umfang – einer Partei ihrer bevorzugten Wahl
zuordnet. Die Politologen sprechen in diesem Fall von der sogenannten
"Parteiidentifikation". Das heißt, man ordnet sich einer Partei über eine
längere Zeit, also länger als eine Legislaturperiode, auch gefühlsmäßig
zu, weil man dort die eigenen Überzeugungen am besten aufgehoben
findet. Diese Parteibindung ist zwar seit vielen Jahren im Rückgang
begriffen – zumindest die starke Parteibindung –, aber sie ist doch immer
noch prägend und bestimmt auf diese Weise auch das Verhältnis der
Bürgerinnen zur Politik mit.
Kölsch:
Sie haben in Ihrem Buch "Der Parteienstaat in Deutschland" – eine
gewissermaßen trockene, aber, wie ich finde, dennoch wichtige Lektüre
für jeden, der sich ein bisschen politisch interessiert – ausgeführt, dass
das Problem eigentlich nicht darin besteht, dass die Bürger die Parteien
als schwierig und negativ empfinden, sondern dass das letztlich eine
Frage des Zutrauens in die Demokratie insgesamt darstellt. Und genau
das macht dieses Problem so brisant.
Holtmann:
Man muss hier allerdings unterscheiden – und das macht man ja auch
aus guten Gründen – zwischen dem Vertrauen, der Akzeptanz der
Demokratie als Idee auf der einen Seite und dem praktischen
Funktionieren der Demokratie.
Kölsch:
Aber lässt sich das trennen?
Holtmann:
Das kann man zunächst einmal analytisch trennen und das macht auch
Sinn, denn man kann ja auch als demokratisch überzeugter Bürger, also
als Bürger, der die Idee der Demokratie für grundsätzlich gut hält,
durchaus begründet die Einschätzung haben, dass in der Praxis des
demokratischen politischen Systems einiges nicht rund läuft, dass es da
Fehlentscheidungen gibt usw. Das ist also die Frage nach dem
Funktionieren der Demokratie. Wie gesagt, man tut gut daran, beides
auseinanderzuhalten.
Kölsch:
Dennoch, in dem Moment, in dem die Praxis nicht gut funktioniert, wird
doch auch die grundsätzliche Bejahung abnehmen, oder?
Holtmann:
Das ist durchaus eine Gefahr, wenn sich über längere Zeit hinweg die
begründete Einschätzung einstellt, dass da etwas nicht gut funktioniert.
Aber in unseren Umfragedaten finden wir derzeit immer noch vor, dass
eine solide Mehrheit in der Bevölkerung mit der Idee der Demokratie
konform geht. Mit der Praxis dessen, was die Politik macht, hat sie
allerdings auch ihre Probleme.
Kölsch:
Sie analysieren in Ihrem Buch ja auch u. a., dass den Parteien das
Personal ausgeht, d. h. man kann allgemein beobachten, dass sich die
Qualifikation derer, die sich auf diese Mühle der Politik einlassen,
insgesamt eher sinkt. Es nimmt auch das Interesse der Menschen an der
Politik, an den politischen Parteien ab. Die Mitgliedschaften der Parteien
gehen seit vielen Jahren kontinuierlich zurück. Wenn es so weitergeht,
werden wir irgendwann gar keine Politiker mehr haben.
Holtmann:
Das ist eine Frage, die schon so mancher Parteistratege gestellt hat.
Wenn der Abstrom der Mitglieder so weitergeht, dann kann man sich
ausrechnen, in welchem Jahr das letzte Parteimitglied das Licht
ausmacht und die Tür der Parteizentrale für immer schließt. Es ist kein
Trost für die Politik, dass das eine Tendenz ist, die auch andere
Großorganisationen erleben wie z. B. Unternehmerverbände,
Gewerkschaften, Kirchen usw. Das verweist darauf, dass der
Mitgliederschwund der Parteien nicht unbedingt nur und ausschließlich
darauf zurückzuführen ist, dass die Akzeptanz der Parteien und der
Politiker so schwach wäre. Stattdessen spielen hier wohl tiefergehende
Wertewandelmomente eine Rolle.
Kölsch:
Aber gerade in Zeiten wie der heutigen Eurokrise wird doch klar, dass die
Wirtschaft als solche nicht alles wird regeln können und wollen. Und
wenn die Wirtschaft es selbst in die Hand nimmt, dann endet es u. U. so
wie bei der Bankenkrise, nämlich katastrophal für alle. Das heißt, die
Politik ist eigentlich der Ort, an dem Gesellschaft organisiert wird und
quasi gerettet werden kann, wo sie wieder zum Funktionieren gebracht
werden kann. Außerhalb der Politik gibt es dafür keinen Ort.
Holtmann:
Es gibt in der Tat keine Alternative zu diesem Modell, also zu dem
Modell, das wir den "Primat der Politik" nennen: Das ist die durch Wahlen
legitimierte Vorrangposition demokratischer Politiker, sich die
Letztentscheidung bei den zentralen Fragen, die die Nation und die
Gesellschaft betreffen, vorzubehalten. Die Bevölkerung realisiert das ja
auch instinktiv – bei aller Kritik an der Politik und den Politikern. Man kann
das z. B. daran erkennen, dass sich in Krisenzeiten die Bürgerinnen und
Bürger doch vermehrt sozusagen um die Exekutive scharen, dort also
gewissermaßen Schutz suchen vor diffusen und manchmal auch sehr
konkreten Fährnissen und Bedrohungen, die beispielsweise aus dem
Bereich der Ökonomie herrühren.
Kölsch:
Die Mitgliederzahlen der Parteien nehmen also ab und es gibt immer
weniger Interesse an der aktiven Politik. Aber auf der anderen Seite gibt
es da z. B. die NGOs, also die Nichtregierungsorganisationen. Diese
nicht parteiorientierten nicht staatlichen Organisationen können nämlich
einen großen Zuwachs verzeichnen. Das heißt, die Menschen in
Deutschland sind ungeheuer aktiv in der Gesellschaft, sind in unendlich
vielen Vereinen usw. Sie engagieren sich zwar nicht mehr in Parteien
und in der aktiven Politik, aber sie machen dennoch Politisches, indem
Sie sich für bestimmte Themen engagieren und dort versuchen, etwas
durchzusetzen.
Holtmann:
Ja, und das ist ja eigentlich auch gut so. Die Politikwissenschaft plädiert ja
eigentlich schon seit Längerem dafür, von einem etwas weiteren
Politikbegriff auszugehen, also die Bandbreite der Tätigkeiten, der
Partizipation nicht nur sehr eng auf den Sektor der Parlamente zu
beschränken. So gesehen holt uns also hier die Wirklichkeit ein. Auf der
anderen Seite ist auch klar, dass damit neuerliche Probleme erzeugt
werden. Denn häufig wird ja die Hinwendung zu Formen der
unmittelbaren, der volksunmittelbaren direkten Demokratie unterfüttert
von einer mehr oder weniger ausgeprägten Abneigung – das ist nicht
einfach nur eine Distanz – gegenüber dem sogenannten
"Parteienbetrieb". Das ist dann aber eine prekäre Konstellation. Denn so
wichtig und notwendig es einerseits ist, dass Bürgerinnen und Bürger ihre
Dinge selbst in die Hand nehmen – das ist ja auch das Urelement der
Demokratie schlechthin –, so unverzichtbar sind andererseits aber auch
die Parteien. Die von Ihnen erwähnten NGOs sind ja so etwas wie ein
Hybrid zwischen bürgerschaftlicher, unmittelbarer, individueller
Partizipation auf der einen und parteienstaatlich organisierter Politik auf
der anderen Seite. Das kommt auch dadurch zustande, dass in
bestimmten Politikfeldern die Problemlagen komplexer geworden sind:
Da bedarf es eben eines Expertenwissens. Dieses Expertenwissen –
und das ist ja, wenn man so will, einer der Keimimpulse für die NGOs –
sucht sich dann nicht zuletzt auch seinen Ort, und zwar in der Tätigkeit
von solchen Nichtregierungsorganisationen.
Kölsch:
Die Menschen nicht nur in Deutschland, aber hier im Besonderen haben
ja eine große Sehnsucht nach der sogenannten Sachpolitik. Das ist diese
Vorstellung, man könnte Politik fern dieser Konflikte und Streitereien, wie
sie unter Parteien üblich sind, betreiben, es könne eine rein an der Sache
orientierte Politik geben. Mir kommt das vor wie der Wunsch nach einem
Obrigkeitsstaat, der von sachlich orientierter Politik befeuert wird. Denn
das ist doch eigentlich eine Chimäre.
Holtmann:
Ich stimme Ihnen da zu. Die Sehnsucht nach der Sachpolitik ist auf der
einen Seite in der deutschen Kultur historisch sehr stark verankert. Auf
der anderen Seite ist sie aber, wenn man das nüchtern betrachtet und
sachlich überprüft, ein Trugbild. Denn es sind kaum Problemlagen
denkbar, bei denen es darum ginge, die eine mögliche bzw. die einzig
sinnvolle Lösung zu ermitteln. Stattdessen sieht der Normalfall so aus,
dass es alternative Lösungen für ein Problem gibt und dass diese
Lösungen jeweils in einem hohen Maße an Interessen orientiert sind.
Das heißt, es geht bei Sachentscheidungen und muss bei
Sachentscheidungen immer um einen kontrollierten Ausgleich der
Konfliktlagen und der Präferenzentscheidungen gehen.
Kölsch:
Es gibt zu dieser Vorstellung einer reinen Sachpolitik ja eine literarische
Vorlage, nämlich die "Betrachtungen eines Unpolitischen" von Thomas
Mann aus dem Jahr 1915. Das heißt, es gibt in Deutschland eine lange
Tradition des unpolitischen Denkens und Fühlens.
Holtmann:
Genau. Wobei man aber Thomas Mann zugutehalten muss, dass er sich
in diesem Punkt in der Weimarer Republik doch anders orientiert hat. Er
ist dann nämlich im Grunde genommen als ein Verteidiger der bereits
parteienstaatlich gelenkten Demokratie aufgetreten.
Kölsch:
Das heißt, das, was wir heute als normal empfinden – ein auf dem Feld
der Politik parteipolitisch organisierter Staat – ist nicht unbedingt eine
Selbstverständlichkeit.
Holtmann:
Ja, das ist durchaus nicht selbstverständlich. Das ist zum einen deshalb
nicht selbstverständlich, weil die deutsche politische Tradition, wie
erwähnt, historisch doch sehr stark und sogar durch den mehrfachen
Wechsel der politischen Systeme hindurch auch obrigkeitsstaatliche
Rudimente beibehalten hat – und das bis weit in die Zeit der
Bundesrepublik Deutschland hinein. Zum anderen ist das nicht
selbstverständlich, weil ja in der Tat teilweise neue Probleme auftauchen,
die sehr wohl nach sachlich fundierten Lösungen rufen. Es ist ja nicht so,
dass man sich von Sachentscheidungen verabschieden müsste, wenn
man von Politik oder von Parteientscheidungen spricht. Nein, die Politik
muss sich fraglos an der Sache orientieren: Die Zypernkrise ist dafür ein
schlagendes Beispiel. Aber, und auch das zeigt die Zypernkrise, es geht
letztlich darum, einen politisch legitimierten Interessenausgleich zu
finden.
Kölsch:
Diese Haltung wäre ja gar nicht so schlimm, wenn da nicht auch
Profiteure auf der politischen Bühne auftreten würden, wenn da nicht
auch Gestalten auftauchen würden, die von der Frustration über die
Parteienpolitik profitieren wollten. Sie haben das mal in einem Buch mit
dem Titel "Die Droge Populismus" zusammengefasst. Sie beschreiben
darin die Risiken und Nebenwirkungen, wenn sich Politik nicht mehr
ausreichend gut vermitteln kann. Wo ist hier sozusagen der Kernpunkt?
Holtmann:
Einer der Ansatzpunkte für den Erfolg populistischer Parolen und
populistischer Szenarien ist psychologisch darin zu suchen, dass viele
Menschen die Umwelt und auch die in die Umwelt hineingreifende Politik
als eine diffuse Bedrohung empfinden – und auch empfinden müssen,
weil ihnen ja auch häufig genug z. B. qualifizierte Informationen fehlen,
um zu einer sicheren Einschätzung von sich selbst in dieser Umwelt
kommen zu können. Das ist gewissermaßen der Humus, auf dem
populistische Angebote gedeihen: Man operiert mit Angstparolen, man
appelliert an untergründige Affekte. Und von diesen Affekten ist dann der
Weg nicht weit zu Feindbildern: Die Feinbilder wiederum bieten einfache
Erklärungsmuster an, die vor allem einen selbst entlasten.
Kölsch:
Das heißt, der Populismus bietet den Menschen etwas an, wonach sie
Sehnsucht haben: eine einfache, klare Erklärung der Welt, einfache,
klare Lösungen und das Gemeinschaftsgefühl einer unpolitischen
Masse. Diese Masse ist natürlich letztlich keineswegs unpolitisch,
sondern sogar hoch politisch.
Holtmann:
Und damit ist eben auch eine zumindest punktuelle vermeintliche
Entlastung verbunden: Man glaubt also, etwas Sicherheit bekommen zu
haben, und merkt nicht, dass das nur ein Illusionstheater ist. Man könnte
das auch mit einer Jahrmarktaufführung vergleichen: Man geht hinein
und hinterher wieder hinaus und ist zunächst einmal zufrieden oder auch
euphorisiert – aber letztlich ist man dann doch wieder sehr schnell in der
Realität angelangt.
Kölsch:
Diese Droge namens Populismus ist ja im Moment in Deutschland
vielleicht auch deswegen nicht so weit verbreitet, weil es uns
wirtschaftlich im Vergleich zu anderen relativ gut geht. Aber ansonsten
finden sich überall in Europa populistische Strömungen: In den
Niederlanden, in Frankreich und auch in Italien gibt es sie. Nicht nur die
letzten Wahlen in Italien waren ungeheuer geprägt von dieser
populistischen Art von Politik.
Holtmann:
Ja. Hier zeigt sich dieses Wechselspiel zwischen sozialer
Verunsicherung auf der einen Seite, die, wie in Italien, auch teilweise
einhergeht mit, vorsichtig ausgedrückt, dem suboptimalen Funktionieren
der politischen Parteien und der sogenannten politischen Klasse. Auf der
anderen Seite hat sie den wachsenden Zulauf für populistische
Erklärungsmuster zur Folge. Neben Deutschland bleibt da eigentlich nur
ein Teil von Skandinavien, von dem man sagen könnte: Das ist nach wie
vor so etwas wie eine Insel der Seligen im Sinne einer stabilen und auch
parteienstaatlich gesteuerten Demokratie.
Kölsch:
Die Gründung der sogenannten Anti-Parteien signalisiert ja diesen
massiven Rückgang des Vertrauens in die etablierte Politik. Man sollte
vielleicht noch einmal hervorheben, dass Vertrauen eigentlich den
Kernbegriff der Politik überhaupt darstellt.
Holtmann:
Ja, Vertrauen ist deshalb ein Kernbegriff, weil sich die Demokratie in
modernen Großflächenstaaten und komplexen Gesellschaften wie der
unseren nur über repräsentative Mechanismen vermitteln kann, also über
Verbände, über Parteien, über NGOs und meinetwegen auch über
Bürgerinitiativen. Der Bürger ist hierbei immer angehalten, den Politikern,
an die er mittels Wahlen die Macht und Entscheidungsbefugnis delegiert,
einen gewissen Vertrauensvorschuss mitzugeben. Dieser Vorschuss auf
etwas, was hoffentlich so sein wird, wie sich das der Bürger wünscht,
macht den Kern dieser Vertrauensbeziehung aus. Deshalb ist Vertrauen
in der Tat eine Schlüsselgröße für jede Demokratie.
Kölsch:
Was kann man denn tun, um dieser Droge "Populismus" etwas
entgegenzusetzen? Man sieht ja in Frankreich, wo die beiden großen
politischen Lager ein ungeheuer schlechtes Image haben, dass eine
rechtsnationale Partei immer größere Wahlerfolge einfährt und die Politik
immer stärker prägt. Was kann man dagegen tun?
Holtmann:
Man darf nicht nachlassen, Problemlagen zu erklären, auch wenn man
nicht immer gleich durchschlagenden Erfolg mit seiner Botschaft hat. Und
man darf sich nicht vom Populismus dahingehend anstecken lassen,
dass man den Menschen etwas Falsches erzählt, dass man den
Menschen Honig um den Mund schmiert oder versucht, sie mit falschen
Botschaften zu füttern. Denn das wird im Laufe der weiteren politischen
Ereignisse sehr schnell als eine Chimäre entlarvt und ist daher keinesfalls
hilfreich. Im Grunde genommen müssen also Politiker manchmal in
gewisser Weise auch eine unpopuläre Vorbildfunktion übernehmen.
Wenn z. B. aus Haushaltskonsolidierungsgründen gespart werden muss,
dann kann man nicht den einen, die einem vielleicht nahe stehen, eine
Schonung versprechen, während man auf der anderen Seite die Fahne
der massiven Konsolidierung zum Fenster hinaus hängt.
Kölsch:
Das heißt, Politik muss für die Breite der Bevölkerung ausreichend
gerecht sein.
Holtmann:
Ja, das ist ganz, ganz wichtig. Und genau das ist es, was auch den
Zustand der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland kennzeichnet,
die ja im europäischen Maßstab noch bemerkenswert stabil ist. In den
Umfragekurven sehen wir jedoch, dass seit Längerem eine mehr oder
weniger große Mehrheit der Bevölkerung – in Ostdeutschland ist das
noch einmal stärker ausgeprägt als in Westdeutschland – der
grundsätzlichen Auffassung ist, dass es hierzulande nicht gerecht zugeht.
Kölsch:
Sind das die Empfänger von Hartz IV?
Holtmann:
Nein, das sind nicht nur die, sondern das sind auch viele andere – weil
das ja die Mehrheit der Bevölkerung ist. Denn die Quote der Menschen,
die dieser Ansicht sind, schwankt zwischen 50 und 60 Prozent und liegt
manchmal sogar bei mehr als 60 Prozent. Das ist also ein Grundgefühl,
das sich durch alle Schichten der Gesellschaft zieht. Das hat sicher
jeweils ganz spezielle und unterschiedliche Motivationen, aber dieses
Gefühl ist da. Hier muss die Politik versuchen anzusetzen, auch wenn
das nicht von heute auf morgen geht.
Kölsch:
Handelt da die Politik schlicht falsch, weil sich die politischen Eliten, weil
sich die sogenannte politische Klasse zu weit entfernt von der
Bevölkerung?
Holtmann:
Es gibt eine strukturell bedingte Tendenz, dass sich Berufspolitiker von
ihrer Wählerschaft entfernen. Das aber nicht, weil sie machtversessen
oder weil sie zynisch sind, sondern weil das schlicht und einfach der
professionelle Politikbetrieb so mit sich bringt. Das heißt, diese
Berufspolitiker verfügen über ein Spezialwissen und müssen auch, wenn
Entscheidungen anstehen, verhandeln können – zumal dann, wenn
wichtige Entscheidungen anstehen, wenn Entscheidungen anstehen, die
innerhalb der Bevölkerung kontrovers diskutiert werden. Berufspolitiker
müssen solche Entscheidungen dann vorbereiten und entscheidungsreif
machen: und das geht nur über Verhandlungen. Sie müssen dazu z. B.
mit Minderheiten verhandeln. Im Föderalismus müssen sie meinetwegen
auch mit einer gegenläufigen Mehrheit im Bundesrat verhandeln. Das
bedeutet aber, dass so eine Entscheidung intransparent wird: Man kann
komplizierte Verhandlungen nicht öffentlich auf dem Markt betreiben.
Kein Unternehmerverband, keine Gewerkschaft käme z. B. auf die Idee,
Tarifverhandlungen öffentlich zu führen. Aber weil diese Verhandlungen
nicht öffentlich sind, stärkt das eher das Misstrauen in die Politik und sorgt
mit dafür, dass die gefühlte Distanz zwischen dem Gros der Bevölkerung
einerseits und andererseits den Politikern, die professionell handeln
sollen und handeln müssen, vergrößert wird. Das ist übrigens auch eine
Tendenz, die in Ost- wie in Westdeutschland inzwischen gleichermaßen
ausgeprägt ist.
Kölsch:
So etwas wie die Eurokrise zu managen, versteht ja ohnehin kaum noch
jemand und auch die Wirtschaftswissenschaftler sind hier ja in der Regel
überfordert. Aber auch hier gibt es immer wieder den Wunsch nach ganz
einfachen Lösungen. Da heißt es z. B.: "Wir wollen unsere D-Mark
wieder haben, weil wir damit das ganze Problem nicht hätten." Die Leute,
die so etwas fordern, bedenken natürlich die ganzen Implikationen nicht
mit. Die Politik muss einerseits die Stimmungslage dieser Menschen
verstehen können, sie muss das aber auch bearbeiten und vermitteln.
Holtmann:
Sie muss das, was sie macht, vor allem erklären können. Hierbei macht
die Politik aber gelegentlich auch sogenannte Stockfehler, wie die
Zypernkrise ebenfalls gezeigt hat. Es war von Anfang an eigentlich klar,
das hätte den Finanzministern auch klar sein müssen, dass es eine
Garantie für Guthaben der Bankkunden unterhalb von 100000 Euro gibt.
Das ist ja nicht zuletzt auch das, was damals Frau Merkel und auch Peer
Steinbrück öffentlich kommuniziert haben. Gut, man kann sagen, solche
Stockfehler passieren unter extremen Belastungen. Aber das zeigt noch
einmal, wie wichtig Erklärungen sind.
Kölsch:
Sie haben jetzt schon mehrmals diesen Vergleich Ost – West gebracht.
Sie sind Professor an der Universität Halle-Wittenberg, stammen aber
aus Nordrhein-Westfalen und haben sich in Bayern, genauer gesagt in
Erlangen in Politischer Wissenschaft habilitiert. Danach sind Sie nach
Halle-Wittenberg gegangen, d. h. Sie selbst haben einen relativen
Systemwechsel vollzogen, indem Sie in eine Umgebung gegangen sind,
die 40 Jahre lang vom Sozialismus geprägt war. Wie haben Sie das
erlebt?
Holtmann:
Das war eine zunächst einmal weitgehend unvorbereitete Erfahrung. Für
uns Politologen ist die deutsche Einigung genauso unerwartet
gekommen wie für alle anderen Wissenschaftler. Es gab daher dafür
keine Blaupausen in der Schublade, die man hätte nehmen und sie dann
anwenden können – ganz abgesehen davon, dass sich das die
Menschen in der dann ehemaligen DDR nicht hätten gefallen lassen.
Das war im Rückblick und ohne jede Nostalgie doch eine sehr
aufregende Zeit, weil eben auch viel Neues probiert werden konnte und
musste. Das war ein Handeln unter Bedingungen der Unsicherheit, weil
wir ja auch immer auf die nicht intendierten Folgen unseres Handelns
achten mussten. Als Universitätsmenschen waren wir damals dabei
freilich in einem ungleich bescheideneren Maße gefordert als
beispielsweise Politiker.
Kölsch:
Sie sind wann nach Halle gegangen?
Holtmann:
Ich bin 1992 nach Halle gewechselt.
Kölsch:
Also ziemlich unmittelbar nach der Vereinigung.
Holtmann:
Ja, wobei aber spätestens zu diesem Zeitpunkt, und das wissen wir
heute ja, gewisse Strukturentscheidungen fast schon abgeschlossen
waren. Nehmen Sie z. B die Tätigkeit der Treuhand, die ja noch zu DDRZeiten von der ersten frei gewählten Volkskammer gesetzlich eingerichtet
worden war. Die Treuhand war etwas, was auch die Bürgerrechtler der
DDR als Begriff sympathisch finden konnten. 1992 waren die von der
Treuhand zu verantwortenden Strukturentscheidungen ja schon
weitgehend umgesetzt worden – mit den enormen Folgen und
Umbrüchen, die das für die Menschen in der ehemaligen DDR hatte.
Kölsch:
Das war damals ja eine äußerst triste Umgebung, in die Sie da
gekommen sind. Ich war 1990 selbst mal in Halle und auch in Wittenberg
und habe mir das angesehen: Das war ja doch eine sehr graue Welt, die
ganz nach "klassischer" DDR aussah.
Holtmann:
Ja, das stimmt auf der einen Seite. Wir hatten aber andererseits damals
nicht so sehr viel Zeit, uns architektonisch zu orientieren. Halle hieß ja zu
DDR-Zeiten aufgrund des fortschreitenden Verfalls die "Diva in Grau"
und uns war schon auch klar, dass es in dieser Stadt ein ungeheures
bauliches Potenzial gab. 20 Jahre später sieht es nun auch ganz anders
aus als damals. Das hatte sich damals auch schon angekündigt, obwohl
wir natürlich nicht wussten, wie lange das dauern würde. Die meisten
Prognosen, wie sich eine Gesellschaft, die aus zwei Gesellschaften
zusammenwachsen sollte, entwickeln würde, waren ja im Hinblick auf
den Zeitkorridor viel zu optimistisch.
Kölsch:
Das heißt, das dauerte und dauert alles viel, viel länger, als damals alle
gedacht haben. Sie haben dort dann auch irgendwann einmal einen
Sonderforschungsbereich etabliert: Es liegt ja auch nahe, dass man als
aus dem Westen stammender Politologie genau diesen
Transformationsprozess untersucht.
Holtmann:
Ja, das haben wir zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen der
Universität Jena über elf Jahre in eineinhalb Dutzend Teilprojekten
interdisziplinär erforscht. Das war eine, wie ich meine, sehr fruchtbare
Kooperation, die wir da gemacht haben. Wir haben allerdings erst zehn
Jahre nach der Einigung damit angefangen, also zu einem Zeitpunkt, an
dem wir vor allem über die langfristigen Folgen der Einheit forschen
konnten.
Kölsch:
Was sind denn die wesentlichen Themen, Fragen und Ergebnisse, auf
die Sie dabei gestoßen sind?
Holtmann:
Ein gut begründetes Arbeitsfeld war z. B. die Entwicklung von
Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Wir konnten dabei nachzeichnen, was
die Zerschlagung und der Zerfall der großen DDR-Kombinate mit sich
gebracht hat: nicht nur eine flächendeckende Deindustrialisierung
vormals großindustrieller Gebiete, sondern auch den Wegfall einer
ganzen Reihe von sozialen und wirtschaftlich wichtigen Funktionen. Die
DDR-Kombinate waren damals, wie man sagen kann, so etwas wie ein
"Mädchen für alles". Die frühere Arbeiterbewegung hatte ja den Spruch:
"Du bist Mitglied in der Arbeiterbewegung von der Wiege bis zur Bahre."
Das kann man in gewisser Weise analog auch auf die Funktionen eines
großen Kombinats übertragen: Diese Kombinate waren ebenfalls für
alles da: Das ging bis zum Schulbus für die Kinder. All das fiel dann
natürlich weg mit dem Untergang der Kombinate und verstärkte neben
dem ökonomischen Strukturbruch auch die Lebenssituation in einem
verunsichernden Maße. Damit einher ging aber noch etwas, unter
dessen Folgen wir bis heute als Marktwirtschaft leiden: Die betrieblichen
Ausbildungsfunktionen wurden weitgehend abgebaut. Das heißt, man
delegierte diese Ausbildungsfunktionen an den Staat, an den
sogenannten zweiten oder dritten Arbeitsmarkt. Dies wiederum hatte
langfristige Folgen, denn das macht sich derzeit in einem fast schon
dramatisch steigenden Fachkräftemangel in der ostdeutschen Industrie
bemerkbar, obwohl diese sehr viel kleiner strukturiert ist als die
westdeutsche.
Kölsch:
Es ist ja so, dass sich die Menschen in den neuen Bundesländern bei
den Wahlen ganz anders verhalten als die Menschen in den alten. Denn
in den neuen Bundesländern gibt es eine Ostalgie, die nicht nur die
älteren Menschen betrifft. Das, was Sie soeben von den Kombinaten
gesagt haben, traf in gewisser Weise ja auch für die DDR als Staat zu:
Es wurde für alles gesorgt. Genau das fiel dann aber weg. Die Menschen
sehnen sich daher nach dieser Heimat, nach dieser Sicherheit usw.
zurück. Bleibt das so oder gibt es da nun doch eine Entwicklung?
Holtmann:
Ich denke, das wird nicht so bleiben, wie es war und wie es ist, zumal ja
die jüngere Generation in vielem doch eine deutlich gewandelte
Einstellung hat. Sie hat z. B. auch ein tendenziell kritischeres DDR-Bild –
wenn sie überhaupt ein DDR-Bild hat, wie man allerdings einschränkend
hinzufügen muss. Denn hier gibt es in der Tat auch durchaus
bedenkliche Informationsdefizite. Aber wenn die jüngere Generation ein
DDR-Bild hat, dann ist das doch deutlich distanzierter als dasjenige der
Erfahrungsgeneration der DDR. Das heißt, da bewegt sich etwas.
Bestimmte Strukturschwächen und Strukturprobleme der
Politiklandschaft in Ostdeutschland verlängern sich andererseits aber
noch bzw. dauern noch an. Die politischen Parteien sind nach einem
kurzen Aufschwung, bei dem sie so etwas wie einen Massenzulauf
hatten, teilweise in die Marginalität abgeglitten. Die FDP war ja z. B. nach
der Vereinigung der Partei in den Jahren 1990/91 für einige Monate
sogar eine Massenpartei mit mehren 100000 Mitgliedern. Ende 1992 war
sie das dann schon nicht mehr und war mit 60000, 70000 Mitgliedern im
Grunde genommen komplett auf das Format des westdeutschen
Standards zusammengeschrumpft. Die ostdeutsche Parteienlandschaft
war also von Anfang an anders, und das nicht nur dadurch, dass es die
PDS als SED-Nachfolgepartei gab. Die PDS stellte ja zunächst einmal
diesen Sonderfall einer ostdeutschen regionalen Interessenpartei dar.
Dann aber schaffte sie es eben doch auch in das gesamtdeutsche
Parteiensystem. Die ostdeutsche Parteienlandschaft war also nicht nur
wegen der PDS anders, sondern sie war auch deswegen anders, weil
die aktiven Kerne der Parteien von Anfang an sehr viel kleiner gewesen
sind. Es fehlten also die historisch gewachsenen Milieus, die in
Westdeutschland nach 1945 die großen Volksparteien mit einer lange
Zeit stabilen Trägerbasis und einem lange Zeit auch verlässlichen
Personalreservoir ausgestattet hatten. Vereinfacht gesagt: die
Gewerkschaften bei der SPD und ebenso vereinfacht gesagt, die Kirchen
bei den Unionsparteien. Diese Milieu-gestützte Parteitradition war durch
Abfolge von NS-Staat und dann DDR-Staat 55 Jahre lang nachhaltig
unterbrochen worden. Deshalb waren die Parteien schon 1990 in ihrem
Personalreservoir sehr viel bescheidener aufgestellt gewesen.
Kölsch:
Ich denke, einen Punkt muss man hier unbedingt auch erwähnen: dass
gerade in diesem Teil Deutschlands, der langjährig kommunistisch
gewesen ist, die Rechtsradikalen so viel Zulauf bekommen haben und
auch weiterhin noch haben. In den neuen Bundesländern gibt es die
einzigen Regionen in Deutschland, die tatsächlich ernsthaft mit diesem
Problem zu kämpfen haben.
Holtmann:
Wenn man sich das mal genauer anschaut, dann stellt man fest, dass
das kein ostdeutsches Alleinstellungsmerkmal ist. Wenn man sich das
mal in den 60er, 70er, 80er und 90er Jahren im Westen anschaut, dann
sehen wir, dass die NPD und die Partei "Die Republikaner"(REP) in
Westdeutschland in die Parlamente eingezogen sind: In BadenWürttemberg kamen die "Republikaner" sogar zwei Mal in Folge in den
Landtag. Der Rechtspopulismus und der Rechtsextremismus ist also
kein singulär ostdeutsches Problem. Gleichwohl sind Rechtsextreme im
ostdeutschen Parteienspektrum auch und wegen der vergleichsweise
schwächeren Ausgangsposition der demokratischen Parteien ein Faktor,
der verstärkt ins Auge fällt. Wir kommen hier bei diesem Punkt vielleicht
noch einmal auf den Anfang zurück: Das liegt eben auch daran, dass
sich in Lebenslagen, die durch Verunsicherung und Zukunftsängste
gekennzeichnet sind, die populistischen und in diesem Fall auch die
rechtspopulistischen Angebote verschärft Geltung verschaffen können.
Kölsch:
Ist das etwas, das bleiben wird? Im Jahr 2019 wird ja die besondere
Unterstützung der neuen Bundesländer auslaufen. Das heißt, nach 30
Jahren wird diese Gegend Deutschlands wirtschaftlich nicht mehr
besonders gefördert werden. Möglicherweise wird dann in wirtschaftlicher
Hinsicht sogar einiges wieder wegbrechen, was wiederum bedeutet,
dass die Menschen dann noch stärker verunsichert werden, weil es noch
weniger Arbeitsplätze geben wird. Das heiß, die Situation in den neuen
Bundesländern wird dann noch schwieriger werden. Oder wird sich die
dortige Situation in den noch verbleibenden sechs Jahren doch
weitgehend konsolidieren?
Holtmann:
Das wird in der Tat eine sehr schwierige Gratwanderung sein. Die Politik
ist sich parteiübergreifend im Grundsatz einig, dass es keinen Solidarpakt
III – einfach nur als schlichte Verlängerung des Solidarpakts II – mehr
geben kann und geben wird. Aber auf der anderen Seite wird es auch
noch nach 2019 strukturelle Hilfen und Transferleistungen geben
müssen. Ein Beispiel dafür: Die eigene Steuerkraft der ostdeutschen
Gebietskörperschaften, also der Länder und der Kommunen, wird auch
2019 noch um etwa 30 Prozent hinter der von vergleichbaren
westdeutschen Gebietskörperschaften zurückbleiben. Das heißt, es wird
hier auch fürderhin ein strukturelles Gefälle geben. Unter solchen
Bedingungen für die verfassungsrechtlich festgeschriebene
Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen zu sorgen, wird sehr schwierig
sein. Das heißt, das wird Ostdeutschland auch noch nach 2019 nicht aus
eigener Kraft stemmen können. Ostdeutschland wird das aber auch trotz
zurückgenommener Transferleistungen ab dem Jahr 2019 nicht müssen,
denn z. B. die EU-Hilfen werden nicht alle bis dahin ausgelaufen sein.
Aber es wird schon jetzt darauf ankommen, und das machen ja auch
jetzt die ostdeutschen Länder, die Haushalte zu konsolidieren, also –
Stichwort "Schuldenbremse" – keine weiteren Schulden mehr
aufzunehmen. Und es wird darauf ankommen, z. T. auch schmerzhafte
und in ihren Folgen manchmal nicht vorausberechenbare
Entscheidungen zu treffen. Wir diskutieren in Sachsen-Anhalt derzeit z.
B. über drastische, um nicht zu sagen fast schon dramatische Kürzungen
im Bereich des Hochschulsektors.
Kölsch:
Wenn man durch Ostdeutschland fährt, dann glaubt man das schier gar
nicht, denn es gibt dort überall neue Straßen und wunderbar restaurierte
Häuser. Das heißt, optisch ist das alles gar nicht so zu erkennen. Ich
weiß aber nicht, wie es in den Menschen dort aussieht – das wissen Sie
vielleicht besser. Ist dieser Transformationsprozess, diese quasi
Verwestlichung, diese Selbstverständlichkeit einer westlichen Kultur in
den Menschen selbst bereits angekommen?
Holtmann:
Es ist völlig klar und eindeutig, dass die Infrastrukturlücke, die es 1990 in
Ostdeutschland gegeben hat, inzwischen so gut wie geschlossen ist.
Hierüber gibt es auch unter den Experten keinerlei Dissens. Ebenso klar
und eindeutig ist, dass sich die überwältigende Mehrheit der
Ostdeutschen quer durch alle Schichten und Altersgruppen die DDR
nicht zurückwünscht. Man ist also auch grundsätzlich angekommen im
vereinten Deutschland. Aber wenn man auf die individuelle Ebene geht
und wenn man sich vor allem auch sogenannte Problemregionen
anschaut, die im gesamtdeutschen Maßstab immer noch durch
überdurchschnittliche Formen der Abwanderung gekennzeichnet sind,
also des demografischen Wandels, der sich eben auch in Westmobilität
bemerkbar macht, dann stellt man fest, dass dort immer noch
vergleichsweise viel Unsicherheit und Verunsicherung anzutreffen ist. Da
mögen teilweise auch Depression, Lethargie und Gleichgültigkeit
vorhanden sein. Wir erforschen das ja z. T. auch, denn wir fragen, wie
Menschen unter solchen Bedingungen gewissermaßen ihre eigenen
persönlichen Entwicklungsguthaben einschätzen und an was sie das
festmachen und ob und inwieweit sie unter vielleicht auch manchmal
prekären Bedingungen doch in der Lage sind, so etwas wie Optimismus
zu entwickeln. Denn auch dafür gibt es, glücklicherweise, wie man sagen
kann, nicht nur vereinzelte Anhaltspunkte.
Kölsch:
Nun ist ja das Thema "Politik", um unser Gespräch auch mal wieder auf
Gesamtdeutschland zu beziehen, doch eine große Herausforderung:
sowohl für die praktische Politik und die Politiker wie vielleicht auch für die
Politologen, die da Anregungen und Handreichungen geben können
bzw. könnten. Wohin sollte man sich denn politisch entwickeln, um diese
vorhin schon erwähnten und für Gesamtdeutschland geltenden Defizite
im Hinblick auf die politischen Parteien abzubauen? Sollte es auch bei
uns so etwas wie Urwahlen geben oder gar Primaries?
Holtmann:
Man kann ein Stück weit versuchen, das durch innerparteiliche Flexibilität
aufzufangen. Sie haben die Stichworte dafür bereits genannt. Aber wenn
man sich das genauer anschaut, dann ist das ja fast schon grotesk. Es ist
nämlich nicht so, dass die sogenannten etablierten Parteien gewisse
Sperren gegenüber Neumitgliedern oder potenziellen Interessenten
aufrichten würden. Im Gegenteil, sobald jemand kommt und seine Nase
in die viel verschrienen Hinterzimmer der Ortsvereinssitzungen steckt,
schlägt ihm eine Art von Erwartungshaltung entgegen: Man serviert ihm
gewissermaßen bestimmte Parteifunktionen und -ämter auf dem Tablett.
Das macht man schlicht auch deswegen, weil nur so wenig Leute da
sind, die das machen wollen. Das ist natürlich auch eine Chance für
Jüngere. Und wenn wir uns die Daten der Parteimitgliederstatistik
anschauen, dann stellen wir fest, dass zwar auf der einen Seite immer
noch – wenngleich in den letzten Jahren in abgeschwächter Form – die
Gesamtzahl der Parteimitgliedschaften zurückgeht. Bei den Grünen ist
sie relativ stabil, die Piraten haben einen relativ kurzen Aufschwung
erlebt, sind aber inzwischen auch wieder vergleichsweise zurückgestutzt
worden. Aber wenn man das mal nach Generationen, nach
Altersgruppen aufschlüsselt, dann erkennt man, dass in den letzten drei,
vier Jahren bezogen auf die Gesamtmitgliedschaft prozentual doch
wieder vermehrt jüngere Leute in den Parteien aktiv werden, jüngere
Männer wie Frauen. Denn auch das ist ja noch ein weiterer Punkt: Die
deutschen demokratischen Parteien leiden ja, wenn auch in
unterschiedlicher Ausprägung, nach wie vor auch an einer zumindest
numerischen Dominanz der Männer.
Kölsch:
Der Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim hat nachgewiesen, dass die
Parteien im Wesentlichen entscheiden, wer bei uns im Land
Machtpositionen einnimmt, d. h. die Bevölkerung hat ja nicht ganz zu
unrecht dieses Ohnmachtsgefühl: Die Bevölkerung kann zwar wählen,
aber nur das, was ihr von den Parteien serviert wird. Denn man kann ja
noch nicht einmal die Liste verändern – zumindest nicht bei Landtagsund Bundestagswahlen. Das heißt, die Parteien behalten sich hier sehr
viel Machtkompetenz im eigenen Bereich.
Holtmann:
Ich glaube, das sind eigentlich zwei Punkte, die Sie da ansprechen. Da
gibt es auf der einen Seite die Frage, ob man die Listen bei Landtagsoder auch Bundestagswahlen etwa nach dem Beispiel der bayerischen
Kommunalwahlen flexibilisieren sollte, ob man also innerhalb der Liste
einer Partei häufeln könnte und damit auf die Reihung Einfluss nehmen
könnte. Darüber kann man diskutieren. Aber ich möchte hier zu
bedenken geben, dass diese Landeslisten der Parteien – die ja nebenbei
auch demokratisch legitimiert sind, weil sie auf Parteitagen diskutiert und
abgestimmt werden, nachdem die Ortsvereine ihre entsprechenden
Vorschläge gemacht haben – auch den Zweck haben, für die
Parteiarbeit, für die Fraktionsarbeit unverzichtbaren Experten sichere
Plätze zu geben. Es braucht in einer Fraktion eben auch den
Haushaltsexperten oder die Verkehrsexpertin usw. Wenn das alles dann
aber total durcheinander geworfen wird und solche Experten nicht zum
Zuge kommen, dann kann das eben nachteilige Folgen für die
Fraktionsarbeit haben. Und genau das kann dann wiederum beim Bürger
den Eindruck erwecken, dass die Politiker im Bundestag und in den
Landtagen nichts taugen, weil sie nichts zustande bringen. Das heißt,
auch dieser Vorschlag hat, wie so häufig, zwei Seiten. Nun noch eine
Bemerkung zu diesem vielberufenen Popanz der Parteipatronage, also
zur Ansicht, es seien die Parteien, die ihre Leute in die Machtpositionen
bringen. Wir haben empirische Studien darüber und diese Studien zeigen
sehr nüchtern, dass Parteipatronage, also die Förderung eines
Parteimitglieds, heute nicht möglich ist, ohne dass es sich zumindest um
entsprechende professionelle Kandidaten handelt. Die Vorstellung, dass
da altgediente Funktionäre, die 30 Jahre lang sozusagen ihre Marken
geklebt haben, aber von der Sache überhaupt keine Ahnung haben, mit
irgendwelchen Austragsstüberl-Posten in Wohnungsgesellschaften oder
wo auch immer versorgt werden, ist empirisch nicht haltbar. Wir wissen
das, wie gesagt, aus empirischen Studien, die z. B. von unseren
Düsseldorfer Kollegen gerade neu gemacht worden sind:
Professionalität, d. h. die sachkundige Qualifikation, ist auch dort
unabweisbar, wo Parteien sozusagen einen politischen Zugriff auf die
Ämter haben.
Kölsch:
Um das gegen Ende unserer Sendung noch einmal ein wenig
zusammenzufassen: Wir leben also politisch gesehen in der besten aller
möglichen Welten?
Holtmann:
Mit dieser Behauptung würde ich nicht unbedingt d'accord gehen wollen,
denn das hieße ja, dass wir uns ab sofort unsere kritischen
Anmerkungen versagen und verkneifen müssten. Nein, so ist das nicht,
und es ist ja auch gut so, dass darüber immer wieder diskutiert wird. Aber
aus solchen Diskussionen entstehen dann ja auch konstruktive
Vorschläge. Und genau das macht ja nicht nur gesellschaftlichen,
sondern auch politischen Wandel aus.
Kölsch:
Und diesen sehen Sie in einer konstruktiven Weise in unserem Lande
gegeben.
Holtmann:
Es gibt zumindest viele Kräfte und Faktoren, die diesen Wandel kritisch
begleiten und auch konstruktiv vorantreiben. Nehmen Sie z. B. die
Tatsache, dass es die Bundesrepublik, wenn man das in längeren
Zeiträumen betrachtet, ja mehr als einmal vermocht hat, zunächst einmal
systemoppositionelle Parteien wie z. B. die Grünen oder auch die
Linkspartei in das etablierte Parteiensystem zu integrieren. Das zeigt ja
doch eine bemerkenswerte Anpassungs- und auch Reformfähigkeit
unseres Parteiensystems.
Kölsch:
Um den Anfang noch einmal aufzunehmen: Demokratie ist eine
schlechte Regierungsform – ausgenommen alle anderen. Insofern ist
zwar vieles ärgerlich, aber eben auch letztlich das beste Mögliche, was
wir haben können. Herr Professor Holtmann, ich bedanke mich sehr
herzlich für das Gespräch. Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, ich
hoffe, auch Sie haben aus dieser Lehrstunde für die Demokratie ein
wenig für sich profitieren können. Vielen Dank fürs Zuschauen.
© Bayerischer Rundfunk
Herunterladen