Was macht Kinder stark? Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz Martin Holtmann Martin Holtmann LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Klinik für PsychiatrieBochum und Psychotherapie Kinderund Jugendpsychiatrie, des Kindesund Jugendalters PsychotherapieZI&Mannheim Psychosomatik Entwicklungsrisiken haben unterschiedliche Folgen Nicht alle Kinder, die Risiken ausgesetzt sind, werden auffällig Gesunde Entwicklung trotz traumatischer Erfahrungen Zerbrechen nicht an schwieriger Lebenssituation Welche Schutzfaktoren bewahren das Kind trotz Risiko vor negativen Entwicklungsverläufen? erschweren die Entstehung einer Störung? fördern die Anpassung des Kindes? Was macht Kinder stark? Resilienz Nicht unveränderlich angeboren, sondern erworbene Fähigkeit kontextabhängig: z.B.: – gute Intelligenz: weniger Delinquenz, aber mehr internalisierende Störungen – misshandelte Kinder: große Probleme in der sozialen Entwicklung, aber z.T. gute schulische Leistungen Der Klassiker: Die KAUAI Study Prof. Emmy Werner University of California Children of Kauai alle Kinder, die im Jahr 1955 auf der Insel geboren wurden (n=698) Längsschnittstudie – Begleitung seit der Schwangerschaft – Untersuchungstermine: postpartal, 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahre – Zahlreiche Datenquellen Ziele – Untersuchung der körperlichen, kognitiven und sozialen Entwicklung – Ursprünglich: Erfassung der negativen Auswirkungen biologischer und psychosozialer Risikofaktoren Children of Kauai Hochrisikogruppe mehr als 4 Risikofaktoren (z.B. Frühgeburt, Armut, psychisch kranke Eltern) • mit 10 Jahren: Hochrisiko ~75%: schwere Lern- und Verhaltensstörungen • mit 18 Jahren: ~60%: Depressionen, Straffälligkeit, unerwünschte Schwangerschaft „Resiliente“ Gruppe entwickelte sich zu „leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen“ Resilient Positive Selbsteinschätzung Soziale Kompetenzen Selbstwirksamkeit Personale Resilienz Stressbewältigungskompetenzen Selbstregulation Problemlösefähigkeiten Die English-Romanian-Adoption Study Dauer der frühkindlichen Deprivation • Dosis-Wirkung von Vernachlässigung und Misshandlung • Möglichst frühes Unterbrechen ist Prävention! Entwicklung von Kindern heroinabhängiger Müttern DFG-geförderte retrospektive Studie 57 Babys mit neonatalem Abstinenzsyndrom Zur Zeit der Untersuchung: Kinder zwischen sechs und 15 Jahre alt – Gruppe 1: kontinuierlich bei biologischen Eltern – Gruppe 2: frühe Fremdbetreuung (nach ~ ½ Jahr) – Gruppe 3: späte Fremdbetreuung (nach ~ 2 Jahren, mehrere Wechsel) – Kontrollgruppe S. Schiemann, Diss. KJP Uni Frankfurt 2006 Entwicklung von Kindern heroinabhängiger Müttern Beste Entwicklung bei frühem stabilen Zuhause Bei mehren Betreuungswechseln oder später Adoption: Entwicklungsrisiken – Begabung – Psychosoziale Anpassung – Angst, Depression, Kontaktschwierigkeiten, soziale Probleme Aber bei allen Kindern mit Heroin in Schwangerschaft: – Aufmerksamkeitsprobleme – aggressives Verhalten – exekutive Probleme S. Schiemann, Diss. KJP Uni Frankfurt 2006 „Good enough environment“! Fördernde Umweltbedingungen können schützen und kompensieren Aber: nicht alle biologischen Risiken vollständig kompensierbar. Biologie und Umwelt prägen. Bleiben Kinder bei ihren Eltern mit gravierenden Problemen, sollten diese von Anfang an Hilfsangebote bekommen. Wenn Adoption oder Pflegschaft notwendig werden: nicht zögern! Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten KiGGS & BELLA ~ 10% psychisch auffällig, weitere ~12% wahrscheinlich auffällig Damit sind NICHT gemeint: Befindlichkeitsstörungen, Entwicklungsphänomene, … sondern: Ängste: 10% Störungen des Sozialverhaltens: 7.6% Depression: 5.4% ADHS: 2.2% nach: Ravens-Sieberer et al. Bundesgesundheitsblatt (2007) Soziale Benachteiligung: Risikofaktor für psychische Erkrankungen Familiäre Belastungen erhöhen das Risiko für psychische Erkrankung Psychische Erkrankung der Eltern: Risiko erhöht um Faktor 4.0 Elterliche Belastung: Risiko erhöht um Faktor 4.7 Aktuelle Familienkonflikte: Risiko erhöht um Faktor 4.9 Risikofaktoren können durch Schutzfaktoren ausgeglichen werden, z.B. gutes Familienklima – – – – Eingehen auf Sorgen und Nöte des anderen Zuhören Gemeinsame Unternehmungen Ermutigung zu Vertrauen, Autonomie und Eigeninitiative Aber: Bei Kindern mit sehr hoher Belastung wirken Ressourcen nicht mehr protektiv! Wille et al. (2008) Eur Child Adolesc Psychiatry Wir brauchen eine Familienperspektive Familiäre Weitergabe von Veranlagungen für Erkrankungen, Erziehungsstilen, Bewältigungsstilen, Misshandlungserfahrungen, ... Beispiel ADHS fast 50% der Kinder mit ADHS haben einen betroffenen Elternteil ausgeprägte ADHS-Symptomatik bei Eltern begrenzt die Verbesserung bei den Kindern Beispiel Depression ~ 60 % der Kinder von Eltern mit einer Depression entwickeln im Verlaufe der Kindheit & Jugend eine psychische Störung Prävention greift nur, wenn die elterliche Depression behandelt ist. z.B. Beardslee et al. 2003, Garber et al. 2009, Sonuga-Barke et al. 2002, Jans et al. 2012 Von der Kunst des Schwimmens „Der Strom des Lebens: ein reißender Fluss“ Pathogenese: Wie ist jemand da hinein geraten und wie kann man diese Person daraus retten? Salutogenese: Wie wird jemand ein guter Schwimmer? Salutogenese: Wie entsteht Gesundheit? Ausgangspunkte – KZ-Überlebende: trotz erlittener Qualen körperlich und seelisch gesund. – Anna Freud: Waisenkinder aus KZ, bei denen vor allem die Kindergruppe protektiv war Fragen – Wie schaffen Menschen es, sich von Krankheiten zu erholen? – Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremster Belastungen nicht krank werden? Kohärenzsinn als Grundhaltung „… umfassendes, dauerhaftes und dynamisches Vertrauen, dass das Leben und seine Anforderungen verstehbar, handhabbar und sinnerfüllt sind.“ (Antonovsky 1979) Aaron Antonovsky 1923-1994 Theorie ist aufgrund der hohen Komplexität kaum überprüfbar. Religion, Spiritualität, Werte: Schutz oder Risiko? Zwischen – Halt und Repression – Freiheit und Fremdbestimmung Wie beurteilen wir die Veränderung bisher haltgebender Werte? Wie stellen wir uns zur zunehmenden Infragestellung von Religion? Prävention & Therapie Verbessertes Verständnis protektiver Prozesse: Ansatzpunkt für die Entwicklung von Prävention und Therapie Hoffnung: die Chance für eine gelungene Entwicklung zu erhöhen. Ziele: Selbstregulation & Selbstwirksamkeit Familiäres Klima Prävention Fokus auf psychosozial benachteiligte Familien & Eltern mit eigenen Belastungen Behandlung für Eltern und Kind: „Zwei-GenerationenProgramme“ „Feinfühligkeit“ und Konsequenz Hausbesuche sinnvoll Bei Teilnahme an Förderprogrammen: seltener Missbrauch, bessere Schulleistungen, weniger straffällig Auch die Gesellschaft profitiert Übersetzung in den Alltag Wissen um Schutzfaktoren nützt wenig, wenn – bedürftige Familien nicht erreicht werden. – Therapietreue nicht gewährleistet ist. Unterstützung – im Familienstreit – bei Gesundheitsproblemen – am Arbeitsplatz Schutzfunktion – Integratives nachbarschaftliches Leben – Angebote der Jugendhilfe – Recht auf gewaltfreie Erziehung Zum Weiterlesen Opp, Fingerle, Freytag (Hrsg.) Was Kinder stärkt: Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München: Reinhardt (2008). Resilienz - die Kraft, die Mut macht. Martin Holtmann LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochumund Psychotherapie Klinik für Psychiatrie Kinder- und Jugendpsychiatrie, des Kindes- und Jugendalters Psychotherapie & Psychosomatik ZI Mannheim