raketenspuren dt. 6. Aufl. Q_7.3 LVD

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raketenspuren dt. 6. Aufl. Q_7.3 LVD:raketenspuren dt. 5. Aufl.
30.04.2008
Der Schuß in den
Weltraum
Am frühen Nachmittag des 3. Oktober 1942 wölbt
sich blauer, nur leicht bedeckter Himmel über Peenemünde. Von der nahen See weht eine frische
Brise. Fast könnte man glauben, einen Ort unberührter Einsamkeit und friedlicher Stille vor Augen
zu haben – eine seltsame Idylle fernab aller Fronten. Doch der Schein trügt. Über Prüfstand 7 liegt
Ruhe vor dem Sturm.
Wer sich im dicht bewaldeten Gelände der Heeresversuchsanstalt einen Aussichtspunkt an einem Fenster oder auf einem Gebäudedach sichern konnte,
schaut seit 12 Uhr ungeduldig in Richtung See.
Denn trotz höchster Geheimhaltungsstufen und
streng kontrollierter Sicherheitszonen hatte es sich
im größten Hochtechnologiezentrum des Dritten
Reiches unter den gut 10 000 Beschäftigten herumgesprochen: Das vierte Versuchsmuster der
Fernrakete A 4 steht am Prüfstand 7 kurz vor dem
Start.
Um 15.58 Uhr schiebt sich dann unter Brüllen und
Dröhnen der Raketenkörper über die Waldlinie hinaus. Feuer und Rauch schießen in die Höhe. Der Befehl zum Start war durch Oberst Dornberger über
Mikrophon an die Prüfstandsingenieure gegeben
worden. Was weiter geschieht, kann die Führungsriege am Fernsehschirm verfolgen. Peenemünde ist
mit der modernsten Technik ausgerüstet.
Im getarnten Bunker im Kiefernwald sitzen Physiker, Ingenieure und Soldaten an Schalthebeln und
Kontrollinstrumenten – eine erfahrene Truppe, die
mit geschulten Blicken den Aufstieg der Flüssigkeitsrakete verfolgt und jedes Signal des immer schneller dahinrasenden Geschosses registriert. Es ist der
fünfte Startversuch innerhalb der letzten acht Monate, den sie verfolgen. Nach zwei Fehlschlägen im
März und Juni war das dritte Projektil im August bereits für 25 Sekunden auf Steigflug gekommen, dann
aber durch vorzeitigen Brennschluß des SauerstoffAlkohol-Gemischs wieder abgestürzt. Da die damals
erreichte Gipfelhöhe bei fast zwölf Kilometern lag,
wurde der Start als Erfolg verbucht. Die Rakete hatte
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wie geplant dabei 1,9fache Schallgeschwindigkeit
erreicht. Mit solchen Parametern war man bereits in
technisches Neuland vorgestoßen.
Allerdings, in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde waren die Ziele wesentlich höher gesteckt.
Das Aggregat 4 (A 4) war die erste Fernwaffe der
Wehrmacht, die seit 1940 als „kriegsbrauchbar“
galt. Nach den Vorstellungen ihrer Konstrukteure
um Wernher von Braun und seiner 1 300 Fachwissenschaftler sollte die Rakete eine Sprengladung
von 750 Kilogramm über eine Mindestdistanz von
200 bis 300 Kilometern tragen und dabei möglichst
genau das anvisierte feindliche Ziel treffen. So steht
denn auch für Oberst Dornberger, seit 1936 Chef
der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und Spiritus rector der deutschen Raketenproduktion, in
diesem dritten Kriegsjahr so ziemlich alles auf dem
Spiel.
Bereits im Sommer 1941, nach der verlorenen
Luftschlacht um England, hatte Dornberger bei Hitler und dem Oberkommando mit seinem Raketenprojekt nahe Vergeltungshoffnungen geweckt. Neben der „materiellen Wirkung“ der Waffe wurden
damals „größte moralische Erfolge“ versprochen.
Mit dem Aggregat 4, das rechnerisch sogar eine
Reichweite von über 300 Kilometern erreichen
konnte, wollte man vor allem die Briten treffen und
terrorisieren, zum Beispiel London mit einem Dauerbeschuß in Schutt und Asche legen. Doch bislang,
so wenigstens konstatierten die Militärs und Nazigrößen enttäuscht, war alles Theorie und Utopie
von „Raketenspinnern“ geblieben.
Das allerdings sollte mit dem 3. Oktober 1942 anders werden. Als der 14 Tonnen schwere Raketenkörper der A 4 an diesem Tag nicht nur mühelos vom
Peenemünder Boden abhebt, sondern bald auch
stabil im Überschallbereich dahinschießt, scheinen
für die Peenemünder Wehrmachtsoffiziere und Entwicklungsingenieure die Sterne wirklich näher zu
rücken. Und als dann nach fünf Minuten Flugzeit der
Raketenkörper in der Ostsee 192 Kilometer östlich
von Peenemünde aufschlägt, herrscht Gewißheit:
Die deutsche Wehrmacht kann auf eine neue Waffe
setzen, für die es zu dieser Zeit keine Abwehr gibt
– eine Fernrakete, die den Zugang zum Weltraum
eröffnet und damit auch dem Krieg neue Dimensionen bahnt.
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Nach sechsjähriger Entwicklungsarbeit gelingt im Oktober 1942 in
Peenemünde der erste Start einer
Fernrakete, die später von der
Nazipropaganda als „Wunderwaffe“
V 2 gefeiert wird
Generalfeldmarschall Wilhelm
Keitel, Chef des OKW (v.l.),
erwartet von den Peenemünder
Raketenbauern (Generalmajor
Walter Dornberger, v.r.) eine
frontreife Vergeltungswaffe, die
vorwiegend gegen England
eingesetzt werden soll
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raketenspuren dt. 6. Aufl. Q_7.3 LVD:raketenspuren dt. 5. Aufl.
1 Dornberger, Walter:
Peenemünde. Die Geschichte der
V-Waffen. Frankfurt/M., Berlin
1989, S. 27
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Oberst Dornberger hält an diesem Abend im Peenemünder Kasino eine „Lobrede vor den engsten
Mitarbeitern“. Folgt man seinen Lebenserinnerungen, will er damals erklärt haben: „Dieser 3. Oktober 1942 ist der erste Tag eines Zeitalters neuer
Verkehrstechnik, dem der Raumschiffahrt.“1
Tatsache ist, daß sich an diesem Oktobertag die
Vision einer flüssigkeitsgetriebenen Rakete in die
Realität einer „kriegsbrauchbaren“ Fernwaffe verwandelte, die ab September 1944 als „Vergeltungswaffe“ V 2 vorwiegend gegen London gerichtet wird
und Tod und Verwüstung bringt. Je intensiver sich
in diesen Jahren die Wissenschaftler und Ingenieure
von Peenemünde um die Komplettierung ihrer technischen Systeme mühen, um so tiefer und unentrinnbarer geraten sie in moralische Schuld. Ob sie
sich als überzeugte Nationalsozialisten oder unpolitische Ingenieure verstehen, am Zweck ihrer Rakete kann spätestens seit Beginn des zweiten Weltkrieges kein Zweifel mehr aufkommen – ebenso-
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wenig wie an ihrer freiwilligen Einbindung in die Ideologie und Kriminalität des Dritten Reiches. Allen Beteiligten mußte klar sein: Die Spur der Peenemünder
Raketen führt von der Hölle eines Konzentrationslagers bis in die Trümmerstätten eines Angriffskrieges.
Als sich am Abend jenes 3. Oktober 1942 die Herren von Braun und Dornberger mit anderen Offizieren und Direktoren der Heeresversuchsanstalt in
der Zinnowitzer Nobelherberge „Schwabes Hotel“
einfinden, um noch ein Glas Rotwein auf den Erfolg
zu trinken, ahnen sie eines gewiß nicht: Nicht einmal drei Jahre später werden sich im gleichen Hotel
– und möglicherweise auch am gleichen Stammtisch – erneut Offiziere über Start- und Aufschlaggeschwindigkeiten der A 4 unterhalten – nur: Sie
sprechen russisch und kommen aus Moskau. Einen
von ihnen, Major Sergej Koroljow, wird man später „Vater der sowjetischen Wostok-Raumschiffe“
nennen.
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