Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2015 375 Wie prägen Entwicklungen im Bauwesen unsere künftige urbane Welt? Helga Kühnhenrich Lars-Christian Uhlig Wenn wir von idealen urbanen Räumen sprechen, entstehen Bilder in unseren Köpfen von der durchmischten, kompakten europäischen Stadt des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig diskutieren wir über die kommenden Trends, die mit einer nächsten industriellen Revolution zur „Industrie 4.0“ führen und „Smart Cities“ entstehen lassen. Illustrationen dieser smarten Städte sind geprägt von neuartigen Verkehrsmitteln, durchgrünten, großzügigen Freiräumen und imposant hohen Gebäuden. Eine kontinuierliche baulich-räumliche Entwicklung zwischen diesen Bildern ist kaum vorstellbar. Die Produktionsweisen der Industrie 4.0 versprechen eine maximale Individualisierung der Produkte und eine weitgehend automatisierte Herstellung. Damit kommen sie einerseits einem Bauwesen entgegen, das – in einer handwerklichen Tradition stehend – vom Bau als Unikat ausgeht. Andererseits werden neuartige Planungs- und Baumethoden das Bauen ebenso verändern wie Innovationen im Bereich der Baumaterialien. Wie lassen sich diese sich heute abzeichnenden Entwicklungen im Bauwesen bewerten, und wie können sie unsere bestehenden Städte zukünftig verändern? Zahlreiche Disziplinen verwenden den Begriff der Urbanität, der im Zusammenhang mit gebauter und gesellschaftlicher Stadt vielfältige Bedeutungen hat. Und selbst im hier behandelten Kontext von Architektur und Städtebau bleibt er als Schlüsselbegriff oder Modewort vielschichtig und unscharf, der, von vielen Seiten vorgebracht, ganz unterschiedliche Implikationen mit sich bringt. Urbanität benötigt einerseits eine bestimmte Qualität des städtischen Raums, der Häuser, Straßen und Plätze. Andererseits geht es darum, dass dieser gebaute Raum urbanes Verhalten und urbane Lebensstile ermöglicht. Urbanität lässt sich als gesellschaftlicher Zustand umschreiben, welcher den produktiven Austausch zwischen Menschen fördert und dadurch soziale, kulturelle und ökonomische Mehrwerte stimuliert. Er ist charakterisiert durch das Ineinandergreifen von städtebaulichen und sozialen Eigenschaften, die vom jeweiligen Ort und seinem Kontext abhängig sind (Angélil et al.: 52). Urbanität wird vor allem mit dem Bild der europäischen Stadt assoziiert, also der dichten, funktional und sozial durchmischten Stadt, die sich deutlich von ihrem Umland abgrenzt. Die Gesellschaft, die diese (historische) Stadt hervorgebracht hat, exis- Öffentlicher Tanzkurs auf dem Place des Terreaux in Lyon, 2014 Foto: Lars-Christian Uhlig tiert heute nicht mehr. Und auch die Gestalt der kompakten europäischen Stadt löst sich mit dem Beginn der Industrialisierung immer mehr auf (Siebel, 2010: 29). In unseren Idealbildern von Urbanität geht es dennoch zumeist um den Stadtkern, auch wenn seit Ende des Ersten Weltkriegs die Suburbanisierung, das Wachsen an den Rändern der beherrschende Prozess in der Stadtentwicklung ist (Siebel 2010). Helga Kühnhenrich ist Referatsleiterin im Referat Forschung im Bauwesen, Gebäudemanagement im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. helga.kuehnhenrich@ bbr.bund.de Lars-Christian Uhlig ist Projektleiter im Referat Baukultur und städtebaulicher Denkmalschutz im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. [email protected] 376 Helga Kühnhenrich, Lars-Christian Uhlig: Wie prägen Entwicklungen im Bauwesen unsere künftige urbane Welt? Um zu verdeutlichen, wie Entwicklungen im Bauwesen unsere zukünftige Urbanität beeinflussen könnten, bedarf es eines Rückblicks auf einige wesentliche Entwicklungen seit dem Einsetzen der Industrialisierung, der das wechselseitige Verhältnis von Urbanität und Bauwesen schlaglichtartig veranschaulichen will. Das anschließend dargestellte Spektrum aktueller Tendenzen im Bauwesen dient als Basis, um darauf aufbauend Auswirkungen und Beschreibungen für die urbane Welt von morgen oder übermorgen zu entwickeln. Wechselwirkungen zwischen Bauwesen und Urbanität In der vormodernen Zeit des 19. Jahrhunderts war das Bauwesen stark von einer auf handwerkliche Kunst bezogenen Arbeitsweise geprägt. Städte wurden im wahrsten Sinne des Wortes mit der Hand gebaut, was sich auf Baustoffe, Bauteile und Bauweisen sowie die gesamte Logistik und auch die Planung bezog. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich aus dem klassischen Baumeister die Berufsbilder des Architekten und Bauingenieurs heraus. Der durch die Industrialisierung einsetzende Moderne Verkehrsinfrastruktur in historisierender Hülle: Kölner Hauptbahnhof zwischen 1890 und 1900 Quelle: LC-DIG-ppmsca-00813 from Library of Congress, Prints and Photographs Division Bevölkerungs- und damit auch Urbanisierungsdruck führte zu einer Optimierung althergebrachter Bauweisen. Das umfasste die industrielle Produktion von Baustoffen (z. B. genormte Ziegelsteine), die Mechanisierung des Bauens (z. B. Dampfmaschinen und Feldbahnen) und eine arbeitsteilige Planung. Die Verfügbarkeit neuer Baustoffe – z. B. Eisen/Stahl oder armierter Beton – drückte sich zunächst noch nicht architektonisch aus, das Bild der Städte wurde im Historismus des 19. Jahrhunderts vom Rückgriff auf historische Bilder geprägt. Das urbane Gefüge wurde durch andere Impulse verändert, welche die Industrialisierung mit sich brachte: Wachstum und Beschleunigung. Neben der Unterbringung der rasch anwachsenden Stadtbevölkerung mussten Menschen und Güter im industriellen Takt transportiert werden. Die rasante Verbreitung von Eisenbahnen brachte gänzlich neue Bauwerke hervor. Bahnhofshallen und Brücken wurden aus weit spannenden Trägern errichtet, Viadukte und Hochbahnen durchschnitten die Städte. Der Ingenieurbau ermöglichte den Bau von Verkehrsinfrastruktur, die für das Funktionieren der modernen Stadt notwendig ist und sie zugleich in ihrer Urbanität beeinflusst hat. Allerdings wurden die neuen Bauten domestiziert, indem man sie mit Fassaden, Verkleidungen und Schmuck versah, wie es auch für herkömmliche Gebäude üblich war. Der Deutsche Werkbund zielte seit seiner Gründung im Jahr 1907 auf eine „Orientierung an industriellen Produktionsmethoden, die im Modernisierungsschub der Jahre um 1900 die Prinzipien der Rationalisierung, Normierung und Standardisierung als Prämissen technischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritts erscheinen ließen“ (Durth/Sigel 2009: 12). Dies bezog sich auf alle Maßstabsebenen von der Produkt- bis zur Umweltgestaltung, oder wie es der Architekt Herrmann Muthesius ausdrückte: „Vom Sofakissen zum Städtebau.“ (Durth/Sigel 2009: 12) Unter dem Titel „Der Verkehr“ widmete sich das Jahrbuch des Werkbunds 1914 nicht nur den neuen Verkehrsbauwerken, sondern propagierte zugleich eine neue Perspektive im Städtebau, nach der die Stadt auf den freien Raum der Straßen und Plätze hin betrachtet und gestaltet werden solle, statt als Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2015 ein Gefüge von Bauten. Zugleich beschrieb Peter Behrens, dass die Betrachtung von Stadt aus dem schnellen Vorbeifahren auch nach einer neuen Architektur verlange, die möglichst ruhige, geschlossene Flächen und bündige Fassaden aufweisen sollte (Durth/Sigel 2009: 119 f.). Die Materialien und Techniken, die diese neue Architektur der Moderne ermöglichten, waren bereits entwickelt: Beton (Stahl- und Transportbeton), Skelettbau sowie Flachglas und Pfosten-Riegel-Fassaden. Stahlskelettbau und Aufzug sind neben Klimaanlage und Rolltreppe amerikanische Erfindungen der Jahrhundertwende, die nach Rem Koolhaas weltweit die Architektur und das Bauwesen revolutioniert haben (Koolhaas 1999). Als sich diese Innovationen nach dem Ersten Weltkrieg auch in Deutschland durchsetzten, waren Gebäude von völlig neuen Dimensionen und Formen möglich, die sich in ungeahnter Weise auf den städtischen Raum auswirkten und gänzlich neue Vorstellungen von Urbanität mit sich zogen. Mitte der 1920er-Jahre setzte mit der Währungsreform in Deutschland eine Wirtschaftsentwicklung ein, die der Bauwirtschaft und Stadtentwicklung neue Impulse verlieh (Durth/Sigel 2009: S. 156 ff ). Namentlich Walter Gropius entwickelte als Direktor des Bauhauses nach dessen Übersiedlung von Weimar in die Industriestadt Dessau die Vorstellung einer neuen Architektur, die auf einem einheitlichen Weltbild basieren solle. Er berief sich dabei auf industrielle Grundsätze wie einfache, exakte Formen, die gereiht und vervielfältigt wurden. Mit dem Bau der Siedlung in DessauTörten ab 1926 sollte, gefördert von der neu eingerichteten Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bauwesen (RFG), ein Beitrag zur Industrialisierung des Bauwesen durch die Anwendung neuer Materialien und Baumethoden bei weitgehender Standardisierung der Elemente geleistet werden. Die zweigeschossigen Reihenhäuser entstanden in Zeilen entlang einer Kranbahn als Fabrikationsachse und wurden wie am Fließband aus größtenteils elementierten Bauteilen errichtet. Obwohl wesentliche Protagonisten der modernen Architektur für ein industrialisiertes Bauen eingetreten waren und neben Törten weitere Versuchsbauten der RFG in Frankfurt, Stuttgart und Berlin errichtet wurden, konnte die Bauwirtschaft nicht für die Um- 377 stellung auf eine industrielle, fordistische Produktionsweise gewonnen werden. Die Gründe hierfür mögen zum Teil in der Trägheit der Bauwirtschaft und zum Teil in den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise liegen (Bernhardt/Vonau 2009: 251 f.). Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs fand ein Ereignis statt, das für die Stadtentwicklung und das Bauwesen der Nachkriegszeit im Hinblick auf Urbanität wegweisend war: Die internationale Architektengruppe CIAM verabschiedete 1933 die „Charta von Athen“. Die Erfüllung der vier Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr und deren funktionale (räumliche) Trennung wurden als Schlüssel zu einem modernen Städtebau angesehen. Die Charta war stark von Le Corbusiers Intentionen einer funktionalistischen Stadtplanung und einer Optimierung von Stadt als System geprägt. Die unvergleichlichen Kriegszerstörungen machten es in der Folge möglich, Städte in großen Teilen neu zu strukturieren und sie dabei an den Prinzipien der Charta von Athen auszurichten. Die funktionalistischen Ansätze und das Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt basierten auf den Reformideen zur Überwindung überkommener Stadtstrukturen und den Erfahrungen der verheerenden Luftangriffe auf die dicht besiedelten Städte des 19. Jahrhunderts. Um den großen Bedarf an Wohnraum in der Nachkriegszeit zu decken, hat die Bauwirtschaft weitreichende Maßnahmen der Rationalisierung und Technisierung ergriffen. Turmdrehkräne, die seit dem Wiederaufbau auf den Baustellen Einzug hielten (KBM Kran-und Baumaschinenmuseum, 27.04.2015), wurden zum allgegenwärtigen Symbol des Wirtschaftswunders – zugleich offenbarten sie den immensen Landschaftsverbrauch einer wachsenden Gesellschaft. Die Entwicklungen im Bauwesen der Bundesrepublik während der Nachkriegszeit mussten sich der Kritik aussetzen, dass das Konzept der Zweckmäßigkeit rasch in das der Rentabilität umgewandelt wurde, die „cité radieuse“ verwandelte sich zur Großsiedlung und die plastische Strenge zur Armseligkeit (Schnaidt, 1968: 388). Heinrich Klotz prägte für den Zustand der Gegenwartsarchitektur in den 1970er-Jahren den Begriff „Bauwirtschaftsfunktionalismus“, den mit dem positiv konnotierten Funktionalismus der Klassischen Moderne nichts mehr verband (Klotz 1977). 378 Helga Kühnhenrich, Lars-Christian Uhlig: Wie prägen Entwicklungen im Bauwesen unsere künftige urbane Welt? erkennbarkeit der historischen Mitte sowie der Wertschätzung tradierter Baustrukturen von Straße, Platz, Block und Hof. Das Leitbild der historischen europäischen Stadt führte zu Strategien der behutsamen Stadtentwicklung, die auf die Synthese von erhaltenem Baubestand, sorgsamer Modernisierung und ergänzendem Neubau abzielten (Durth 27.04.2015). Von der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 ausgehend, gewann die Methode der „kritischen Rekon­ struktion“ der Stadt große Bedeutung für die Stadtentwicklung in ganz Deutschland. Urbanität durch Dichte: Großwohnsiedlung Ludwigshafen-Pfingsweide, 2009 Foto: Lars-Christian Uhlig Eine wirkliche Industrialisierung des Bauens fand in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht statt. Selbst die Großwohnsiedlungen der 1950er- bis 1970er-Jahre entstanden – trotz einiger Experimente mit Großtafeln – zumeist in traditioneller Bauweise und kleinteiligen Betriebsstrukturen. In der DDR kam es dagegen ab Mitte der 1950er-Jahre zu einer radikalen Industrialisierung des Bauwesens (Durth/Sigel 2009: 500 ff.), die von der Herstellung der Bauelemente (Platten) in großen Fabriken (Kombinaten) bis hin zur Errichtung der Gebäude in einem durchrationalisierten und standardisierten Städtebau reichte. Baustellen wurden zu Montageplätzen umgewandelt. Fehlende Urbanität dieser Plattenbausiedlungen war nach der politischen Wende Ausgangspunkt für zahlreiche Um- und Rückbauten, die bis heute andauern. Im Gegensatz zu den Plattenbauten im innerstädtischen Kontext, die sich ab Anfang der 1980er-Jahre mit regional modifizierten Fassadenelementen in die vorhandenen Strukturen und Maßstäblichkeiten einpassten. Aus der Suche nach Alternativen zum Städtebau der Moderne entwickelte sich seit Mitte der 1970er-Jahre eine breite gesellschaftliche Wertschätzung des Denkmalschutzes. In Verbindung mit dem Aufkommen postmoderner Architektur in den 1980er-Jahren sowie den Bestrebungen zur Rekonstruktion von durch Zerstörung und Abriss verlorenen Bauten und Räumen nach der Wiedervereinigung Deutschlands entwickelte sich eine nahezu sehnsüchtige Bewunderung der historischen europäischen Stadt, die sich auch in der Bauweise eher auf handwerkliche Tradition als auf eine industrielle Moderne beruft. Parallel dazu entwickelte sich ein ökologischer Anspruch der Gesellschaft, die zunehmend mit den bedrohlichen Folgen des Klimawandels und der Notwendigkeit von ressourcenschonenden Bau- und Betriebsweisen konfrontiert war. Die in dieser Hinsicht weit rückständige Sparte des Bauwesens sollte über den kulturellen Anspruch auf ökologisch verantwortliche Projekte hin orientiert werden (Durth/Sigel 2009: 17). In der Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt (IzR 4.2010: 315 ff.) kommen diese beiden Aspekte in besonderer Weise zum Ausdruck. Mit ihr wurde 2007 ein politisches Leitdokument auf europäischer Ebene verabschiedet, das die Qualitäten der dichten, sozial und funktional durchmischten europäischen Stadt mit den Nachhaltigkeitszielen der EU verbinden will. Aktuelle Entwicklungen im Bauwesen Die Kritik an den Folgen der Landschaftszersiedelung und der vergebliche Versuch, mit Großwohnsiedlungen und Entlastungsstädten „Urbanität durch Dichte“ zu erzeugen, führten zu einem breiten gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer Wieder- Nachhaltige Entwicklung ist der Leitbegriff unserer Zeit. Im Bauwesen ist spätestens mit der Einführung der Bewertungssysteme, dem Deutschen Gütesiegel Nachhaltiges Bauen (DGNB) oder dem Bewertungssys- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2015 tem Nachhaltiges Bauen (BNB), im letzten Jahrzehnt die Ausrichtung auf ein nachhaltiges Bauen angestoßen worden. Noch ist es sicherlich zu früh, von einer Theorie des nachhaltigen Bauens oder gar von einem Wandel im Bauwesen zu sprechen. Zweifellos scheint jedoch festzustehen, dass insbesondere die ökologischen Herausforderungen – der Klimawandel und die Ressourcenverfügbarkeit – sowie die gesellschaftlichen Veränderungen sich ähnlich radikal auf das Bauwesen auswirken werden wie die ökonomischen Paradigmen der Industrialisierung oder der aufkommende Individualverkehr im 20. Jahrhundert. Mit der Definition des nachhaltigen Bauens ist der Versuch gestartet worden, das Bauen in eine Denkstruktur zu fassen, welche die Qualitäten der Nachhaltigkeit und damit Zukunftsfähigkeit von Gebäuden in ihrer Komplexität ausgewogen berücksichtigt. Revolutionär ist daran zunächst wenig, denn es stehen konservative Absichten wie die „Kontinuität von natürlicher Umwelt und zivilisatorischen Leistungen sowie der Erhalt zahlreicher Freiheiten“ im Vordergrund (Sauerbruch 2014: 43). Vereinfacht gesagt: In Zukunft wollen wir annähernd genauso leben wie heute. Es scheint sich jedoch abzuzeichnen, dass mit der bloßen Optimierung bestehender Strukturen diese Kontinuitäten nicht gewahrt werden können. Der Konflikt zwischen unseren ressourcenverbrauchenden Gewohnheiten, der wachstumsorientierten Wirtschaft und den negativen Umwelteinwirkungen scheint nur durch ein Umdenken entschärft werden zu können. In diesem Spannungsfeld zwischen dem Festhalten an bestehenden Strukturen und Umwälzforderungen bewegt sich momentan das Bauwesen in Forschung und Praxis. Dabei sind die Treiber dieser Strömungen eher gesamtgesellschaftlicher Natur als intrinsische Kräfte des Bauwesens. In diesem Zusammenhang ist das Bauen als die Sprache oder das Abbild der Gesellschaft zu verstehen, sodass zum einen Entwicklungen durch Gebäude manifestiert und repräsentiert werden und zum anderen neue Tendenzen durch die Trägheit und Langlebigkeit des Bauwesens geformt werden. Diese gegenwärtigen Entwicklungen und Wechselwirkungen sollen im Folgenden anhand einiger wesentlicher Strömungen im Bauwesen veranschaulicht werden. 379 Über die Energieeinsparung hinaus: Gebäude neu denken Seit mehr als 40 Jahren ist Energie das Hauptthema bei Klimaschutzinnovationen im Bauwesen. Nichts hat das Bauen im Bereich des Klimaschutzes regulativ stärker beeinflusst als die Energieeinsparverordnung bzw. die vorangegangene Wärmeschutzverordnung seit 1977. Gepaart mit dem Grundsatz der wirtschaftlichen Vertretbarkeit stehen dabei zunächst Effizienzstrategien im Vordergrund. Die Reduzierung des Energiebedarfs von Gebäuden hat in der Vergangenheit zu einer Entwicklungseuphorie von unterschiedlichen Techniken, Materialien und Konzepten geführt. Leider werden viel zu oft energiesparende Maßnahmen – vor allem bei der Sanierung – auf Wärmedämmung reduziert. Dabei umfasst die energetische Sanierung viel mehr als die Optimierung der Fassadenflächen und bedarf einer sorgfältigen Betrachtung von Gebäudetechnik, Fenster, Decken und Türen. Der Effekt der „Pinsel“-Sanierung, der Fassadendämmung ohne weitere Planung, wird oft Wohnungsbaugesellschaften und anderen Vermietern zum Vorwurf gemacht: Durch energetische Sanierungen können Mieterhöhungen aufgrund der Umlagemöglichkeiten der Sanierungskosten auf die Mieter legitimiert werden (Kopatz 2013: 153 f.). Die dadurch ausgelösten Effekte der Gentrifizierung sind insbesondere in den Innenstädten der Ballungszentren zu beobachten – eine „Verwirtschaftlichung von In- „Pinsel“-Sanierung in Köln, 2015 Foto: Helga Kühnhenrich 380 Helga Kühnhenrich, Lars-Christian Uhlig: Wie prägen Entwicklungen im Bauwesen unsere künftige urbane Welt? Mehrfamiliengebäude im Effizienzhaus Plus Standard, Aktiv-Stadthaus in Foto: Helga Kühnhenrich Frankfurt am Main, Fertigstellung: Juli 2015 Hausfassade als Bioreaktor: BIQ-Algenhaus in Hamburg, Wilhelmsburg-Mitte, 2013 Foto: Lars-Christian Uhlig teressen“ (Maak 2015: 297) tritt ein, der Ruf nach einer sozialtragfähigen Energiewende wird daher umso lauter. Wie kann auch künftig im Sinne der Energiewende und des Klimaschutzes bezahlbarer Wohnraum in den Innenstädten sichergestellt werden? Neben der Gebäudehülle spielt vor allem die Gebäudetechnik bei der Energiebetrachtung von Gebäuden eine große Rolle. Bemerkenswert ist, dass die Marktdurchdringung einer einfachen Technologie – die Solarzelle – den Startschuss für eine revolutionäre Bewegung gegeben hat. Durch neue Möglichkeiten bei der Gewinnung von erneuerbaren Energien ist ein Wandel im Verständnis von Bauen ausgelöst worden: Gebäude werden nicht mehr nur als Energieverbraucher verstanden, sondern auch als Energieproduzenten. Vernetzt mit anderen Gebäuden oder Elektromobilen erzeugt eine neue Gebäudegeneration mehr Energie im Jahr als sie für ihren eigenen Betrieb benötigt. Durch das ambitionierte Ziel, den Gebäudebestand in Deutschland bis zum Jahr 2050 klimaneutral auszurichten und den damit einhergehenden Ausbau erneuerbarer Energiequellen, ist erstmalig der Blick auf energiesparende Maßnahmen erweitert worden: Ein neuer Plusenergiestandard, der Gebäude nicht länger nur als passive Systeme betrachtet, sondern auch energieerzeugende Komponenten von Gebäuden berücksichtigt, setzt sich sukzessiv durch. Auf Bundesebene wurde zur Erforschung und Etablierung eines solchen Gebäudestandards das Förderprogramm „Effizienzhaus Plus“ ins Leben gerufen. Nach der Definition erzeugen Effizienzhäuser Plus nicht nur genügend regenerative Energie, um ihren Bedarf an Heizung, Kühlung, Warmwasserbereitung und Nutzerstrom zu decken, sondern erwirtschaften darüber hinaus noch einen Energieüberschuss in der Jahresbilanz (BMUB 2014: 9 f.). Das von den Gebäuden erzeugte „Plus“ an Energie soll insbesondere für die Elektromobilität oder Quartiersversorgung zur Verfügung stehen. Dabei werden auch vermehrt Fassaden als aktive Bestandteile des Gebäudes neuinterpretiert. Projekte wie das „BIQ-Algenhaus“ in Hamburg, bei dem in Fotobiokollektoren in der Fassade Algen zur Energieversorgung des Hauses kultiviert werden (IBA Hamburg 05.05.2015), zeigen neue Möglichkeiten im Umgang mit der Gebäudehülle auf. Neben der Schutzfunktion vor den Einflüssen solarer Strahlung und Witterung machen sich aktive Fassaden genau diese Umwelteinwirkungen zu Nutzen. Derartige Gebäudekonzepte basieren auf der Vernetzung der unterschiedlichen Energieströme im Haus. Der Trend geht zu einer intelligenten Steue- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2015 rung aller technischen Anlagen, die auch die Haushaltsgeräte mit einbezieht, um so den Energieverbrauch optimal auf die Energieerzeugung abzustimmen. Um die Schwankungen des solaren Energieangebotes auszugleichen, werden insbesondere seit der Umstellung der Einspeisevergütung im Jahr 2014 mehr und mehr Energiespeichersysteme bei derartigen Gebäudekonzepten integriert. Hausbatterien wie Blei-Akkus oder effizientere Lithium-Ionen-Batterien erlauben durch ihre Pufferleistungen eine höhere Eigennutzung des selbsterzeugten Stroms (BMUB 2014: 41). Die Erfahrungen mit solchen Speichersystemen oder aber auch die auf heutige Ansprüche übersetzte Eisspeichertechnologie befinden sich erst noch in den Anfängen (Mayer 2014: 46 f.). Sie unterstützen jedoch den Effekt, dass das Gebäude als Minikraftwerk ein aktiver Teil des Versorgungsnetzes und die solitäre Betrachtung von Gebäuden mehr und mehr aufgebrochen wird. Im Quartier können die unterschiedlichen Potenziale von Gebäuden in ihrer Energiegewinnung und ihrem Energieverbrauch künftig über ein intelligentes Stromnetz ausgeglichen werden. Das Gebäude verändert seinen Charakter als statisches Objekt und wird mehr und mehr über seine „Smartness“ definiert. Welchen Einfluss diese neue Intelligenz von Gebäuden auf das Verhalten ihrer Bewohner und Nutzer haben wird, bleibt abzuwarten. Schon heute zeigen sich neben der eigentlich intendierten Vernetzung von Energieströmen steigende Komfortansprüche. 381 Behaglichkeit und Komfort im Gebäude. Im Bereich des betreuten Wohnens werden diese Techniken zu sogenannten Ambient Assisted Living (AAL) Systemen eingesetzt, die ein längeres selbstbestimmtes Leben vor allem für Ältere und Kranke ermöglichen. Über die Energieeinsparung hinaus kommt zur Technisierung folglich eine fürsorgliche Komponente, vor allem für unsere alternde Gesellschaft, hinzu. Hanno Rauterberg bezieht dies auf alle Wohnbereiche: „Zuerst wird das Haus intelligent, dann entwickelt es ein Bewusstsein.“ Künftig wird das Haus zum „Hüter“ (Rauterberg 2014: 26), bei dem der Kühlschrank, der sich vorher mit den Gewichtsdaten der Waage abgestimmt hat, den Einkaufszettel auf das Smartphone sendet. Jedoch sind bei der Technisierung der Gebäude sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten zu beobachten. Während im Bestand Licht, Heizung und Fenster meist noch flächendeckend per Hand zu bedienen sind, sind Lüftungsanlagen im Neubau und die Steuerung der Heizung über Smartphones und Tablets in ambitionierten Gebäuden Standard geworden. Nicht mehr die Qualität der Architektur wird verkauft, sondern die Energie- und Komfortperformance – so die Marketingstrategie. Technik, das Allerheilmittel? Getrieben von dem Gedanken, dass Technik die Effizienzsteigerung im Gebäude übernimmt, regelt ein Komplex von ITund Kommunikationstechnologien das Zusammenspiel von Gebäuden, Geräten und ihren Nutzern. Juhani Pallasmaa führt diesen „überraschenden Erfolg der Hightech-Architektur“ darauf zurück, dass „die Technik die Objektivierung des Denkens auf ein historisches Extrem gebracht hat“ (1995: 37 f.). Die innere Logik der Technik steht über der Reflektion unseres Verhaltens, entlastet uns bei der Energieeinsparung und eröffnet neue Geschäftsmodelle und Absatzmärkte. Nicht mehr der Mensch allein, sondern auch Sensoren, künstliche Nasen, Regelungstechniken, die mit Wetterprognosen verknüpft sind, sorgen für Nutzerdisplay des Effizienzhauses Plus der Bundesregierung in Berlin, 2015 Foto: Helga Kühnhenrich 382 Helga Kühnhenrich, Lars-Christian Uhlig: Wie prägen Entwicklungen im Bauwesen unsere künftige urbane Welt? Allerdings herrscht eine große Diskrepanz zwischen den Versprechungen der Hersteller und der tatsächlichen Verlässlichkeit und Praxistauglichkeit der eingebauten Systeme. Die Komplexität der technischen Anlagen, deren Vernetzung und Bedienung durch den Nutzer ist weder auf der Umsetzungsebene – bei den Handwerkern und Betreibern – befriedigend angekommen noch durch Normen konsequent reguliert. Eine einheitliche Systemstrategie ist bisher nicht vorhanden, die vermeintliche Interoperabilität der einzelnen Komponenten sowie der Schutz der personenbezogenen Daten im Gebäude sind nicht annährend auf einem Mindestniveau gesichert. Es herrscht ein wahrer „fragmentierter Techniksalat“ (Uhlig 2015: 7). Eine große Herausforderung wird es für die Normungsinitiativen sein, die Komplexität dieser smarten Zukunft, der digitalen Welt mit seinen neuen Techniken und Akteuren auf einfache Systeme zu abstrahieren und gesetzlich zu strukturieren. Es ist offenbar, dass einheitliche Standards als Wegbereiter notwendig sind – eine zeitnahe Verständigung darauf ist derzeit noch nicht abzusehen. Der Klimawandel ist schon da Klimawandel ist jedoch nicht nur im Sinne von klimaschützenden oder -schonenden Maßnahmen einer der Haupttreiber für Veränderungen im Bauwesen. Bauten müssen mehr und mehr auf die Wetterereignisse, die durch den Klimawandel hervorge- Hochwasserschutz in Regensburg, 2015 Foto: Lars-Christian Uhlig rufen werden, angepasst werden. Obwohl Deutschland aufgrund des gemäßigten Klimas bisher von extremen Auswirkungen des Klimawandels weitestgehend verschont geblieben ist, wird die Klimaanpassung als eine Facette von Resilienz das Bauwesen permanent beeinflussen (BBSR 2015: 4 f.). Die einschlägigen Regelwerke gewährleisten schon heute einen hohen Grundschutz der Gebäude, der durch die vorgegebenen Sicherheitsbeiwerte über die durchschnittlichen Wetterereignisse hinausgeht. Jedoch werden vor allem im Bereich des Hochwasserschutzes in Deutschland weitergehende Maßnahmen prognostiziert. In den letzten Jahren steigt das Bewusstsein dafür, dass diese Maßnahmen nicht allein nach funktionalen Aspekten und im Hinblick auf die Erfüllung bestimmter Kennzahlen errichtet werden. Sie betreffen oft attraktiven Lebensraum entlang von Flüssen, dessen technische Ertüchtigung zugleich als Poten­ zial für eine Aufwertung des öffentlichen Raums genutzt werden kann (Bundesstiftung Baukultur 2014: 86) Mehr Stadtbewohner, mehr Dichte, mehr Grün Darüber hinaus bringen die Klimaerwärmung und die Nachverdichtung von Ballungszentren eine Rückbesinnung auf Naturelemente und Sehnsucht nach Grün in der Stadt mit sich. Neben dem „Urban Gardening“ erfreut sich nicht zufällig der „Bosco Verticale“ des Architekten Stefano Boeri in Mailand einer hohen Aufmerksamkeit in den Medien. Dieses Projekt steht sinnbildlich dafür, dass mit den Menschen und der immer dichteren Bebauung auch die Natur Einzug in die Stadt hält und sogar vertikal gestapelt werden kann. Abgesehen von den gestalterischen Qualitäten, der Lebendigkeit der Fassaden im Wechsel der Jahreszeiten und der begünstigenden Wirkung auf das Wohlbefinden in der Stadt gewinnen begrünte Gebäude auch aufgrund ihrer günstigen Kompensationswirkung für das Stadtklima mehr und mehr an Bedeutung. So wird durch die vorhandenen Pflanzen der Gebäudebegrünung die Luftfeuchtigkeit erhöht (z. B. durch Regenwasserverdunstung), Kohlendioxid gespeichert, Feinstaub gebunden und vor Sonneneinstrahlung und akustischer Belastung geschützt, wodurch die Lebensqualität gesteigert und Energie gespart wird. Gleichzeitig Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2015 383 keine Berücksichtigung in den einschlägigen Regelwerken wie der EnEV. Die Bewertungssysteme zum Nachhaltigen Bauen sind hier einen Schritt weiter – Lebenszyklusberechnungen und Ökobilanzen sind integrale Bestandteile der Bewertung. Jedoch beschränkt sich diese meist sehr theoretische Betrachtung auf Projekte, die ohnehin schon einen hohen Anspruch verfolgen. Eine Ressourceneffizienz ist noch nicht im Mainstream des Bauwesens angekommen, findet jedoch mehr und mehr an Anklang. Pflanzenwand des CaixaForum von Patrick Foto: Lars-Christian Uhlig Blanc, Madrid, 2010 tragen die treffend bezeichneten „Living Walls“ zur Biodiversität und Artenvielfalt von Insekten und Vögeln in dicht bebauten städtischen Räumen bei (Pfoser et al. 2014: 161). Die bislang relativ unbeachtete, systematische Integration der Begrünung in das architektonische Konzept sowie in den Gebäudebetrieb wurde in den letzten Jahren vermehrt in Forschungsprojekten untersucht und insbesondere der Nachholbedarf von Normungen an der Schnittstelle zwischen Bautechnik und Gartenbau identifiziert (Köhler/Nistor 2015: 184). Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die ersten Visionen von Fassaden- und Dachflächen als kultivierte Ackerflächen und Gewächshauszonen in der Stadt flächendeckend umgesetzt werden. Muck Petzets eingängiger Aufruf „Reduce, Reuse, Recyle“ (2012: 5) auf der 13. Internationalen Architekturbiennale in Venedig in 2012, Vorreiterprojekte wie der anlässlich der IBA 2013 aus lösbaren Verbindungen errichtete WoodCube in Hamburg (IBA Hamburg 05.05.2015) oder der „Urban Mining“Ansatz, Städte als Rohstofflager zu nutzen, schärfen den Diskurs über den Umgang mit Ressourcen im Bauwesen. Es geht dabei um die Nutzung von Bau- und Abbruchabfällen als hochwertige Recyclingbaustoffe, um die Vermeidung von Bauabfällen auf der Baustelle bis hin zu neuen Geschäftsmodellen wie die durch Michael Braungart und William McDonough angestoßene Cradle-toCradle-Bewegung. Effizienzstrategien wie Minimierung des Abfalls oder der optimierte, rezyklierbare Materialeinsatz werden mehr und mehr mit Ansätzen durchsetzt, die Effektivität bzw. das Denken in Stoffkreisläufen und das Ideal „einer Welt ohne Bauen ohne Abfall? Wenn wir bauen, verbrauchen wir unweigerlich Ressourcen und Energie. Doch momentan widmet sich das Bauwesen beiden Feldern sehr unausgewogen. Wie sehr das Bauwesen gegenwärtig auf die Energieeffizienz in der Nutzungsphase von Gebäuden ausgerichtet ist, wird bei der Betrachtung der Gesamtbilanz von Bauwerken offensichtlich. Der gesamte Lebenszyklus eines Gebäudes – von der Förderung der Rohstoffe über die Herstellung der Baustoffe bis zum Abbruch und Rückbau – findet bisher Holzbau aus lösbaren Verbindungen: WOODCUBE in Hamburg, Foto: Lars-Christian Uhlig Wilhelmsburg-Mitte, 2013 384 Helga Kühnhenrich, Lars-Christian Uhlig: Wie prägen Entwicklungen im Bauwesen unsere künftige urbane Welt? Abfall“ (Braungart/McDonough 2003: 91) verfolgen. Die schiere Tatsache, dass künftig der Großteil der Ressourcen nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen wird und das Abfallaufkommen stetig wächst, zeugen von dem hohen Entwicklungspotenzial dieser heute noch eher avantgardistischen Strömungen und Pilotprojekte. Entsprechen die heutigen Gebäude allen Anforderungen unserer Gesellschaft? Leitkonzepte wie „Design for all“ oder „Universal Design“ dominieren die Absichtserklärungen zeitgemäßer und in gewisser Hinsicht auch zeitloser Architekturen. Entwurfs- und Designprinzipien richten sich nicht an eine spezifische Anspruchsgruppe wie beispielsweise mobilitätseingeschränkte Menschen, sondern verfolgen die Zugänglichkeit und Teilhabe an allen alltäglichen Lebensbereichen. Gebäude sollen je nach Lebenssituation auf die individuellen Bedürfnisse anpassbar sein. Doch inwiefern decken wir tatsächlich die Bandbreite unserer Gesellschaft mit unseren Wohnungsformen ab? Trotz der alternden Gesellschaft in Deutschland ist der Anteil der Wohngebäude, die auch im Alter ohne weitere Hilfe bewohnbar sind, weiterhin gering. Die Ursachen dafür liegen meist im hohen Aufwand für Bestandsumrüstungen und der mangelnden Einsicht, den Neubau von Anfang an auf unterschiedliche Lebenssituationen auszurichten (BBSR 2014: 21). Thomas Jocher plädiert für die Schaffung von lebenslauftauglichem Wohnraum und hat dazu eine Planungshilfe für den anpassbaren Wohnungsneubau zusammengestellt. Hiernach müssen Wohnungen nicht von vornherein Online-Tool: Ready – vorbereitet für altengerechtes Wohnen Quelle: www.readyhome.de Maximalstandards aufweisen, sie sollten jedoch grundsätzliche „besuchsgeeignet“ und vorbereitet – „ready“ – sein (ebd.: 7). Aber nicht nur das Altersgefüge, sondern auch mobilere und flexiblere Lebensformen der heutigen Gesellschaft stellen tradierte Vorstellungen der idealen Wohnform in Frage. Eine Gesellschaft, die „weniger an Orte und Familien gebunden“ ist als früher (Polis 2015: 34 f.) drängt auf den Wohnungsmarkt der Ballungszentren. Dieser Trend zur Individualisierung lässt sich auch in der wachsenden Anzahl von Einpersonenhaushalten ablesen (Statistisches Bundesamt 27.04.2015). Jedoch scheinen soziale Bindungen dadurch nicht an Bedeutung zu verlieren, vielmehr herrscht ein höheres Bedürfnis an individueller Mitgestaltung, Beteiligung und Zugehörigkeit zu temporären, selbstgewählten Gemeinschaften (Ginski/ Koller/Schmitt: 13). Integrierte Planungs- und Bauprozesse Im Zuge unseres durch die Digitalisierung neu strukturierten Kommunikationsverhaltens werden Nachbarschaften in neuen Modellen wie „Car-Sharing“ oder „Co-Working-Spaces“ gedacht. Diese digitale Durchdringung der Gesellschaft schlägt sich auch in unseren Alltagsroutinen nieder. Viele Bereiche des täglichen Lebens wie Kommunikation, Konsum oder Mobilität sind „digitalisiert“ – durch Algorithmen strukturiert und organsiert. Unser dadurch in durchgängigen Prozessketten geschultes Denken wirkt sich auch auf das Verständnis von Bauen und Planen aus. Das aufkommende Building Information Modeling (BIM) bietet hierzu die Möglichkeit, in einem Datenmodell ein Gebäude konsequent und einheitlich über den gesamten Lebenszyklus abzubilden. In BIM wird der Schlüssel zu einer integraleren Planung gesehen, die besonders in Deutschland aufgrund der kleinteiligen Struktur des Bauwesens gefordert wird. Sicherlich besitzt die Etablierung von BIM das Potenzial, die durch die heterogene Akteurslandschaft vorprogrammierten Dokumentationsbrüche in Planungs- und Bauprozessen zu minimieren. Beflügelt wird dies von der Hoffnung der Bauwirtschaft, vor allem die in Verruf geratenen deutschen Großbaustellen im Sinne von Kosten- und Termintreue effizienter abwickeln zu können. Eigens dafür Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2015 wurde 2015 eine „planen-bauen 4.0 – Gesellschaft zur Digitalisierung des Planens, Bauens und Betreibens mbH“ gegründet, die Institutionen und Verbände aus den Bereichen Planung, Bauen und Software zusammenschließt (BAK – Bundesarchitektenkammer 05.05.2015). Ob jedoch BIM allein den anvisierten Wandel unserer Planungskultur einlösen wird, ist abzuwarten. Viele weitere Einflussgrößen wie die Organisationsstrukturen der Baubetriebe, die Etablierung der computerbasierten Planungs- und Fertigungstechnologien, unsere Baulogistik sowie schließlich auch das Vergabewesen werden zusätzlich die künftigen Entwicklungen prägen. Wie könnte unsere urbane Welt der Zukunft aussehen? Wie beschrieben ist das Bauwesen von den verschiedenen industriellen Revolutionen der vergangenen 150 Jahre weitgehend unbeeindruckt geblieben. Während Innovationen vor allem in den Bereichen der technischen Gebäudeausrüstung oder der Baustoffe zu finden sind, sind die eigent­ lichen Planungs- und Bauprozesse heute im Wesentlichen von jahrzehntealten Richt­ linien, Normen und Standards geprägt. Unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ wird seit einigen Jahren, von der Bundesregierung befördert, die Informatisierung der Fertigungstechnik in einer „intelligenten Fabrik“ (Smart Factory) vorangetrieben. Die Kennzeichen einer starken Individualisierung der Produkte (bis zur Einzelanfertigung) und einer flexibilisierten Produktion sowie die weitreichende Integration von Kunden und Geschäftspartnern in die Wertschöpfungskette sind weitgehend kompatibel mit den Anforderungen im Bauen. Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung der Planungs- und Bauprozesse (z. B. BIM), gepaart mit technischen Entwicklungen in den Bereichen der Robotik lassen die Vorstellung zu, dass sich die Baustelle zukünftig zur Smart Factory entwickeln könnte. Auf der Grundlage einer vollständigen digitalen Modellierung eines Gebäudes werden just-in-time die Baustoffe und Bauteile angeliefert. Drohnen, Roboter und 3D-Drucker unterstützen den Menschen beim millimetergenauen Bauen und dem sofortigen Vernetzen des Gebäudes mit der Infrastruktur seiner Umgebung. Durch die 385 vollständige geometrische Erfassung der Baustelle wird das Planen und Bauen im Bestand künftig kaum aufwändiger als der Neubau. Die Weiternutzung bestehender Bauteile und der darin gebundenen grauen Energie wird eine selbstverständliche Praxis des vollständig auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Bauens. Mittels cyber-physischer Systeme werden neue Bauteile oder ganze Gebäude in den Bestand eingefügt und stärken so die bestehende europäischen Stadt, weil das Bauen im kontext- und strukturlosen Raum von Suburbia, der Zwischenstadt oder in den Metrozonen dann nicht mehr einfacher und billiger sein wird. Die Integration aller am Bau Beteiligten in den Planungs- und Bauprozess verkürzt darüber hinaus signifikant die Bauzeiten, Baustellen in den dichten und durchmischten Städten werden wesentlich schneller abgeschlossen sein, und durch eine optimierte Logistik wird die Belastung für die Umgebung reduziert. Wenn wir morgen oder übermorgen die Energiewende geschafft und den vollständigen Umstieg auf erneuerbare Energien vollzogen haben, verliert das Thema Energieeffizienz seine Dominanz für das Bauwesen. Während die im urbanen Raum unsichtbaren Speichertechnologien eine Notwendigkeit für die Nutzung von Energie ist, die natürlichen Schwankungen unterliegt, können die bis dahin erreichten Maßnahmen der Energieeinsparung kritisch hinterfragt MX3D Brückenprojekt: Industrieroboter drucken eine Kanalbrücke aus Stahl Abbildung: MX3D in Amsterdam, Projektrealisierung für 2017 geplant 386 Helga Kühnhenrich, Lars-Christian Uhlig: Wie prägen Entwicklungen im Bauwesen unsere künftige urbane Welt? werden. Bereits heute regen sich Widerstände gegen das Einpacken von Gebäuden, das nicht nur zur thermischen Isolierung der Gebäudehülle, sondern auch zu einer Abschottung zwischen Innen und Außen oder privatem und urbanen Raum führt. Das solare Zeitalter, in dem erneuerbare Energie im Überfluss vorhanden ist, befördert die europäische Stadt, die über Jahrhunderte gewachsen ist, weil die Denkmale und Altbauten in ihrem Erscheinungsbild belassen werden können. Dieses Bild aus vielfältigen baulichen Zeugnissen ist ein wesentlicher Faktor für Urbanität und die Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt. Die energetische Vernetzung der Gebäude ermöglicht einen Ausgleich und damit die Koexistenz energiereicher und energiehungriger Häuser. Wohingegen die Anmutung von Neubauten in höherem Maße angemessen auf die urbane Situation reagieren kann als durch die Zweckrationalität der Energieeinsparung bestimmt zu sein. In dem Maße, in dem die Energieeffizienz an Wichtigkeit verliert, gewinnt die Ressourceneffizienz an Bedeutung für das nachhaltige Bauwesen. Gleichzeitig befördert urbane Dichte das Bewusstsein für Ressourceneinsatz in jeglicher Hinsicht. Daraus ergeben sich Strategien der Weiternutzung, Adaption und Ergänzung der bestehenden baulichen Strukturen zu Ungunsten von Abriss und Neubau. Das Bild der Stadt wird also vom – bereits heute gesellschaftlich weit akzeptierten – behutsamen Erneuern und Weiterbauen des Bestandes geprägt sein statt von den radikalen Visionen futuristischer Architekturen und Stadträume. Während auf der stoff­lichen Ebene die Effizienz durch die Optimierung des Materialeinsatzes bestimmt wird, geht es auf der räumlichen Ebene um den Flächenverbrauch pro Kopf. Da urbane Lebensweisen durch Dichte und Mehrfachnutzung von öffentlichen und gemeinschaftlichen Bereichen einen effizienteren Umgang mit der Ressource Raum in sich tragen, werden – angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung (BBSR 2015, Raumordnungsprognose 2035: 9) – Maßnahmen ergriffen, welche die Ausdehnung und den Neubau an den Rändern der Stadt weitgehend unterbinden. Die Konzentration der Bevölkerung auf die Kernstädte gelingt, weil im Sinne nach- haltiger Entwicklung die Kosten für den Rückbau aller neuen Gebäuden und Infrastrukturen als Zukunftsabgabe bereits bei der Erstellung zu entrichten sind. Zugleich werden flächensparende Wohnmodelle entwickelt, die den Wohnraum besser Ausnutzen und im Hinblick auf Gestaltung und Komfort eine Alternative zu den Altbauwohnungen bieten. Das 30 ha-Ziel in Bezug auf die Flächenversiegelung Deutschlands wurde durch ein 30 m2-Ziel ergänzt, das im Neubau den Wohn­flächenverbrauch pro Kopf auf diesen Wert beschränken will. Die Akzeptanz solcher Ziele wird durch das Erstarken der Suffizienz-Bewegung befördert, die im Sinne des nachhaltigen Bauens Genügsamkeit und angemessenen Umgang mit Bausubstanzen verfolgt. Bestimmte Funktionen werden aus dem privaten Wohnbereich ausgelagert, der dadurch aber keinesfalls an Komfort verlieren muss. Gemeinschaftseinrichtungen sparen Ressourcen, stärken Nachbarschaft und sozialen Zusammenhalt, zugleich können sie Geschäftsgrundlage für neue urbane Dienstleistungen sein. Die hier skizzierten Spekulationen gehen von der Annahme aus, dass die Ausrichtung auf eine nachhaltige Gesellschaft und ein nachhaltiges Bauwesen zu positiven urbanen Entwicklungen führt. Die europäische Stadt der Zukunft kann also sehr viel von der historischen europäischen Stadt in sich tragen. Rem Koolhaas beschreibt eine andere Perspektive. Er betont, dass vor allem solche technischen Entwicklungen von der Gesellschaft akzeptiert werden, die Nachhaltigkeit zusammen mit gesteigertem Komfort und Sicherheit befördern. Mit diesem Dreiklang aus Nachhaltigkeit, Komfort und Sicherheit wird eine bessere Stadt der Zukunft – der Smart City – beschrieben, die von kommerziellen Interessen und deren Akteuren vermarktet wird (Koolhaas 29.04.2014). Wenn sich die Stadt in Zukunft tatsächlich an diesen Zielen ausrichten sollte, stellt sich die Frage, was aus dem Ideal der europäischen Stadt mit ihren gesellschaftlichen Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird. Diese unterschiedlichen Perspektiven auf Stadt verdeutlichen, dass es einen Bedarf gibt, die verschiedenen Interessen an der urbanen Zukunft gesellschaftlich zu verhandeln. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2015 387 Literatur Angélil, Marc; Christiaanse, Kees; Lampugnani, Vittorio Magnago; Schmid, Christian; Vogt, Günther, o.J.: Nationales Forschungsprogramm NFP65 – Neue urbane Qualität. Urbane Potenziale und Strategien in metropolitanen Territorien – am Beispiel des Metropolitanraums Zürich. ETH Zürich. BAK – Bundesarchitektenkammer, 05.05.2015, PM 07/15: Dem digitalen Planen, Bauen und Betreiben gehört die Zukunft, Zugriff: https://www.bak.de/ presse/presse-1/pm-07-15-dem-digitalen-planenbauen-und-betreiben-gehoert-die-zukunft/. 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