4. Zusammenführung - Journal-dl

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4. Zusammenführung
In der anschließenden Zusammenführung der Ergebnisse und Einsichten zu
bzw. in Denk-Bewegungen der einzelnen Begriffspersonen wird sich zeigen,
dass sich die in ihnen angelegten Erkenntnisprozesse weder klassischen Ansätzen der Erkenntnistheorie noch gegenwärtigen feministischen Epistemologien (welche von einem situierten Wissen und einer Positionierung von Wissen ausgehen) zuordnen lassen. Dadurch wird deutlich, dass Begriffspersonen
eine neue Form der queer-intersektionalen Ontoepistemologie möglich und
notwendig machen.
Vor diesem Hintergrund gliedert sich der abschließende Teil meiner Arbeit
in zwei Bereiche, die Facetten einer queer-intersektionalen Ontoepistemologie problematisieren: Zuerst werden erkenntnistheoretische Überlegungen
und Fragen zum In-Begriffspersonen-Denken gestellt. Was macht das In-Begriffspersonen-Denken denkbar? Wie und was verändert dieses Denken? Was
passiert in diesem Denken und auf welche Weise? Und wenn dieses Denken
nicht nur Dinge intelligibel macht, sondern auch Un-Denkbares erfahrbar und
wahrnehmbar werden lässt, wie verändert es dann auch Stimmungen, Gefühle, Affekte und Begehrensweisen? Von wo geht dieses Denken aus, wenn nicht
von etwas Transzendentem und auch nicht von der Empirie oder einem sozialen Ort, wenn angenommen werden muss, dass es überhaupt nichts Identitäres und Statisches gibt, weder Identitäten noch Wahrheiten noch allgemeine
Regeln der Vernunft? Wie ist dieses Denken schöpferisch tätig?
Zum Anderem werden die Konsequenzen daraus für die Praxis der Gender
und Queer Studies analysiert. Was ist das Affizierende an Begriffspersonen?
Woraus speist sich die Heldenhaftigkeit dieser Figuren, wenn nicht aus einer
reinen oppositionellen Widerständigkeit? Wie hängen Affekt und Ereignis zusammen? Und wie unterscheiden sich Kollektive, die sich um solche ereignishaften Figuren herum konstituieren, von anderen identitären Gemeinschaften?
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
4.1 B egriffspersonen D enken :
be wegen , begehren , empfinden
4.1.1 Das Unlehrbare und Undenkbare
1. Beispiel
Die Grenzzone oder das Borderland bestimmen die Denk-Bewegung der Begriffsperson New Mestiza. Schmerz, Scham, aber auch Hoffnung verdichten
sich zu einem »Grenz-Gefühl«, das die Bewegung des »Ent-Grenzens« bzw.
das »Border Thinking« der New Mestiza durchzieht. Gloria Anzaldúa schildert
die Geschichte der Chicana-Frauen im Borderland explizit als eine, die von Verletzungserfahrungen geprägt ist:
»Not me sold out my people but they me. Because of the color of my skin they betrayed
me. The dark skinned woman has been silenced, gagged, caged and bound into servitude with marriage, bludgeoned for 300 years, sterilized and castrated in the twentieth
century. For 300 years she has been a slave, a force of cheap labour, colonized by the
Spaniard, the Anglo, by her own people (and in Mesoamerica her lot under the Indian
patriarchs was not free of wounding). For 300 years she was invisible, she was not heard. Many times she wished to speak, to act, to protest, to challenge. The odds were
heavily against her. She hid her feelings; she hid her truths; she concealed her fire […]«
(Anzaldúa 2007: 44).
»Ent-Grenzen« und »Border-Thinking« sind die zentralen Begriffe im Denken der New Mestiza. Sie sind Affekt- und Empfindungsbegriffe. Der (gefühlte)
Grenz-Raum wirkt auf die Wahrnehmung und das (Selbst-)Bewusstsein der
New Mestiza ein. Es entsteht laut Gloria Anzaldúa ein »New Mestiza Consciousness«, das nach den postkolonialen Theorien von Walter Mignolo auch als
»Border Thinking« bezeichnet werden kann.
Am Beispiel der Begriffsperson New Mestiza wird ein Denken samt der ihm
eigenen Stimmungen begreif bar, wie es sich in einer bestimmten Zeit und an
einem bestimmten Ort entwickelt hat. Die New Mestiza ermöglicht ein Denken
des Un-Denkbaren, ein Denken dessen, was Joseph Vogl und Friedrich Balke
im Hinblick auf Deleuze und Guattari als das »Unlehrbare«1 bezeichnen (vgl.
1 | Balke und Vogl übernehmen den Begriff des »Unlehrbaren« von Pierre Klossowski:
»Bereits in einem Vortrag von 1957 hatte Pierre Klossowski diese Formel vom ›Unlehrbaren‹ zur Kennzeichnung eines anderen Philosophen verwendet, in dessen Nachfolgeschaft er Deleuze rückt: »Nietzsche. ›Dieser Hochschullehrer‹, heißt es dort, ›ausgebildet in wissenschaftlichen Disziplinen, um andere auszubilden und zu belehren, sieht
sich gezwungen, das Unlehrbare zu lehren‹« (Balke/Vogl 1996: 13).
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4. Zusammenführung
Balke/Vogl 1996: 5-25). Die beiden Philosophen argumentieren, dass die Begriffspersonen bei Deleuze und Guattari2 etwa dem lyrischen Ich in Gedichten oder dem_der Erzähler_in in Romanen entsprechen. Sie betonen, dass die
Begriffspersonen jedoch unbedingt von Repräsentationen unterschieden werden müssen: Sie sind nicht die Repräsentant_innen der Denker_innen, fiktive
Figuren oder Personifikationen einer Idee. Vielmehr machen sie ein Denken
in seinen »Idiosynkrasien, seinen Vorlieben, seinen pathischen Wirkungen,
seinen Milieus und seinen Geschwindigkeiten sichtbar« (ebd.: 9).
In diesem Sinne können die Begriffspersonen Sister, Nomadic Subject, New
Mestiza, Cyborg und Drag, deren Denk-Bewegungen bereits vorgestellt wurden,
verstanden werden. Die Bewegungen des Solidarisierens etwa der Sister, des
Frau-Werdens des Nomadic Subjects, des Ent-Grenzens der New Mestiza, des
Vernetzens der Cyborg oder etwa des Re-Inszenierens der Drag ermöglichen
ein Denken der Theorien der Frauenbewegung und der Theorien von Rosi
Braidotti, Gloria Anzaldúa, Donna Haraway und Judith Butler. Dabei geht es
um ein Denken, das sich in spezifischen (auch körperlichen) Bewegungen vollzieht, Begriffe und Konzepte einführt, die sympathisch oder antipathisch sind
und sich mit materiellen Elementen verbinden. Dieses Kapitel widmet sich jenen Elementen des Denkens dieser Begriffspersonen, die oft undenkbar und
unlehrbar bleiben.
Balke und Vogl zufolge forciert Deleuze (und Guattari) innerhalb der Philosophie einen nicht-philosophischen Gebrauch von Begriffen. Die reine Ebene
des Denkens werde durch Begriffe, die von perzeptiven3 und affektiven Kräften durchzogen seien, durchkreuzt (vgl. ebd.: 21). Gerade das, was gemeinhin
vom Denken ausgeschlossen erscheint, weil Denken mit Kognition gleichgesetzt wird, treibe das Denken an. Es meint nicht allein eine »Vorstellung mit
Bewusstsein haben«, Begriffe bilden, erinnern, nachdenken, urteilen, folgern
oder willens sein (vgl. Foppa 1972: 61-104). Balke und Vogl sprechen hier auch
von etwas, das »nicht denkt, nicht gedacht werden kann und dennoch zum
Denken nötigt« (ebd.: 6) und bezeichnen es an einer anderen Stelle als das
»Sinnliche«. Sie legen dar, dass dieses Nicht-Repräsentierbare im deleuzschen
2 | Das sind in der Philosophiegeschichte etwa die Figuren Platons Sokrates, Kierkegaards Abraham oder Descartes’ Eudoxos.
3 | Laut dem Historischen Wörterbuch der Philosophie bedeutet »Perzeption« erfassen, ergreifen oder wahrnehmen (vgl. Janke 1989: 383-386). Deleuze und Guattari
beschreiben Perzeption an mehreren Stellen als Empfindung etwa im Hinblick auf die
Künste: »Man malt, skulptiert, komponiert, schreibt Empfindungen. Die Empfindungen
als Perzepte sind keine auf ein Objekt verweisende Perzeptionen (Referenz): ähneln sie
einer Sache, dann ist es in einer durch ihre eigenen Mittel geschaffene Ähnlichkeit, und
das Lächeln auf der Leinwand ist lediglich aus Farben, Strichen, aus Schatten und Licht
gemacht« (Deleuze/Guattari 2000: 194).
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Denken eine zentrale Stellung einnimmt und letztlich notwendig unbestimmt
bleibt: »[…] es ist vielmehr das ›Begehren nach nichts Benennbarem‹, das
im Denkakt insistiert und durch keine Erkenntnis eines Gegenstands zum
Schweigen gebracht werden kann« (ebd.: 25). Eine ähnliche Denkbewegung
lässt sich auch für die von mir untersuchten Begriffspersonen rekonstruieren. Welche Beziehung unterhalten sie zu einem Nicht-Benennbaren, das in
den Denk-Bewegungen der Figuren agiert? Welche affektiven Elemente wirken etwa im Denken der Sister oder des Nomadic Subjects? Was motiviert zum
Denken der Drag? Was empfindet die New Mestiza? Mit welchen Elementen
verbindet sich die Cyborg? Und wie unterscheidet sich dieses »Andere«, »Ausgeschlossene« von einem sogenannten »anderen Denken«, das bisher oft als
»weiblich« geschlechtlich kodiert war?
Darüber hinaus geht es in diesem Textabschnitt darum, die körperlichen
und leiblichen sowie materiellen Elemente und Dimensionen, die bei Deleuze
und Guattari eher implizit mitverhandelt werden, aufzugreifen und zu verstehen, inwieweit sie auf ein feministisches, queeres, queer-feministisches und
postkoloniales Denken einwirken. In das Denken der Begriffspersonen werden Beziehungen, Bewegungen und Aktivitäten mit einbezogen, von denen
letztere stets mit ihrem unmittelbaren Umfeld verflochten sind, wodurch sie
direkt sozial und historisch kontextualisiert sind. Diese verschiedenen Merkmale von Begriffspersonen können somit verschiedene Qualitäten bekommen
und einmal relational, ein anderes Mal dynamisch oder auch existenziell sein.
Die dynamischen Momente sind (Denk-)Bewegungen(-sweisen) wie »tanzen«
nach Art von Nietzsche. Existenzielle Merkmale können mit Materialitäten,
Körpern, Lebewesen und Ereignissen verbunden sein, die ein Mitdenken
und Dasein bedeuten: zum Beispiel Empedokles und sein Vulkan, Diogenes
und seine Tonne. Als relationale Merkmale werden Beziehungen verstanden,
die im Hinblick auf andere Personen gedacht werden können: etwa die zur
Freund_in, zur Rival_in oder Mitbewerber_in, (vgl. Deleuze/Guattari 2000:
81-84) oder Figuren, die ohne andere Figuren nicht bestehen können: Die Sister wäre eine solche relationale Figur, die im engen Zusammenhang mit dem
Bruder und der Brüderlichkeit steht.
Wenn Deleuze und Guattari analysieren, aus welchen Komponenten ein
Begriff zusammengesetzt ist, so lässt sich dies auch auf die feministischen,
queeren, queer-feministischen und postkolonialen Begriffspersonen übertragen. Dabei geht es jedoch nicht nur um die soeben beschriebenen Merkmale
einer Begriffsperson, sondern auch um Elemente, die die Ereignishaftigkeit
des Denkens bestimmen und oft »un-benannt« bleiben. Deutlich soll dabei
werden, dass die Denk-Bewegungen mit einem (Geschlechts-)Körper und Leib
gedacht und empfunden werden und mit Personen, Materialitäten, Dingen
und Ereignissen in Beziehung stehen. Gerade dieses In-Relation-Sein lässt
sich wiederum als affektive und perzeptive Elemente fassen.
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4. Zusammenführung
Die einzelnen Begriffspersonkomponenten werden im Folgenden zunächst separat und dann in ihrem Zusammenwirken vorgestellt. Die jeweiligen Aspekte sind nicht immer in gleichen Teilen begreif bar. Bei einigen wird
die Denk-Bewegung stärker durch affektive und perzeptive, bei anderen mehr
durch körperlich-leibliche Elemente bestimmt. Die Komponenten der untersuchten Begriffspersonen vollziehen ein spezifisch feministisch-queeres Denken als (1) Bewegen, (2) Begehren (3) und Empfinden (Wahrnehmen). Diese
Begriffspersonen machen ein Denken des Anderen/der Anderen begreif bar,
das ein Spezifikum der Gender Studies ist.
4.1.2 Bewegen: Im Denken Werden
»Diese oder jene Begriffsperson denkt in uns, die vielleicht vor uns gar nicht existierte«
(D eleuze /G uat tari 2000: 79).
2. Beispiel
Wie ich in Bezug auf die Cyborg von Donna Haraway ausgeführt habe, verläuft
die Tätigkeit des Vernetzens sowohl auf einer körperlich-materiellen als auch
auf einer methodisch-erkenntnistheoretischen bzw. diskursiven Ebene über
komplexe Vernetzungsprozesse, die das Denken in der Bewegung des Vernetzens vollzieht. Vernetzen, Verknoten, Verschmelzen, Ent-Grenzen und Andocken, das sind die Bewegungen der Cyborg. Erst die Tätigkeit des Vernetzens
mit Dingen, Gegenständen, Maschinen, Personen, aber auch mit Diskursen
lässt die Cyborg entstehen. Entstehen entspricht hier einer speziellen Form des
Werdens, einer Existenzform, die stets unabgeschlossen bleibt. Als Begriffsperson (und auch als psychosozialer Typ) existiert die Cyborg erst im Moment
dieser agency und kann nur als diese gedacht werden.
Begriffspersonen konstituieren sich durch ein »Tun« bzw. eine Bewegung
und nicht durch ein »Sein«, wie die Cyborg zeigt. Dieses Tun entspricht einem
konstruktivistischen Verständnis und auch einer Philosophie des Werdens.
Beide begreifen Geschlecht oder Ethnizität als etwas Veränderbares, Kontextabhängiges und Interaktives im Sinne des »Doing Difference« und nicht als
natürliche oder gottgewollte Gegebenheit. Das denkende »Doing« der Begriffspersonen bedeutet, dass der_die Denker_in selbst zur Begriffsperson wird,
indem er/sie Denken in der Bewegung der Begriffsperson nachvollzieht bzw.
die Begriffsperson erst in der Bewegung entsteht. Auch der_die Leser_in als
Denker_in wird in der Bewegung der Begriffsperson zu dieser.
Der_die Philosoph_in sollte selbst mit der eigenen Begriffsperson signieren, schreiben Deleuze und Guattari, und meinen damit etwa, dass Nietzsche
mit »Antichrist« oder »Dionysos« unterschreiben sollte. D.h. Nietzsche wird
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
zu und denkt als »Antichrist« oder »Dionysos«. Demzufolge würde beispielsweise Donna Haraway zur Cyborg werden und als diese denken, so wie Gloria
Anzaldúa im Denken zur New Mestiza wird. Die beiden Philosophen verstehen
darunter einen Prozess, in dem die Theoretiker_innen im Denken zu ihren
Begriffspersonen werden und diese wiederum zu etwas Anderem: »Werden ist
nicht ein sein, und Dionysos wird zur gleichen Zeit Philosoph, wie Nietzsche
Dionysos wird. Auch hier machte Platon den Anfang: Er wurde Sokrates, während er zugleich Sokrates Philosoph werden ließ« (Deleuze/Guattari 2000:
74). D.h. der_die Denker_in wird im Moment des Denkens zur Begriffsperson,
die in einer bestimmten Bewegung und Weise denkt. Es handelt sich also nicht
um eine philosophische Aussage, wie Deleuze und Guattari betonen, wenn gesagt wird »ich als Idiot denke, ich als Zarathustra will, ich als Dionysos tanze
etc.« (ebd.: 73) oder, bezogen auf die feministischen oder queeren Begriffspersonen, »ich als Drag parodiere bzw. re-inszeniere«.
Deleuze zufolge würde die jeweilige Begriffsperson in der_dem Denker_
in/Theoretiker_in (und auch in der Leser_in) denken und entsprechend denkend agieren und neue Begriffe erschaffen. Die Beispiele, die Deleuze und
Guattari hier anführen, machen aus dem Stotterer ein stotterndes Denken, aus
dem Richter ein urteilendes und rechtes Denken oder aus dem Freund einen,
der sein Denken teilt (ebd.: 79). Dieser Zugang bedeutet, dass das (performative) Denken gerade das tut, was es ist bzw. wird.
Das Denken der Begriffsperson Schwester etwa ist appellativ, solidarisch
und familiär und denkt das feministische Kollektiv der Schwesternschaft stets
mit. Die Drag wiederum wird durch die paradoxe Bewegung des Ent-UnterWerfens gedacht. Im Bewusstsein, einer heteronormativen Ordnung unterworfen zu sein, durchzieht ihr Denken Widerständigkeit, die parodistisch und
subversiv ist. Aus der Perspektive der Butlerschen Begriffsperson Drag zu denken bedeutet, die binäre Geschlechterordnung zu dekonstruieren, zu parodieren und sie subversiv zu re-inszenieren. Das Braidottische Nomadic Subject ist
von einem Wunsch nach Weiblichkeit angetrieben. Ihr geschlechterdifferentes
Denken ist darauf ausgerichtet, Frau zu werden, ein geschlechtlich verkörpertes Frau-Sein zur Existenz zu bringen, das in sich vielfältig und uneindeutig ist
und sich in die symbolische Ordnung einschreibt. Ent-Grenzen als Bewegung
des Denkens der New Mestiza bricht mit gesellschaftlichen Normen. Anzaldúas grenzüberschreitendes-Denken vollzieht sich in verschiedenen Grenzzonen, »psychological borderlands«, »sexual borderlands« und »spiritual borderlands«, und führt zu einem Bewusstsein und zu einer Wahrnehmung an der
Grenze: »a new mestiza consciousness, una conciencia de mujer. It is a consciousness of the Borderland« (Anzaldúa 2007: 99).
Wenn Deleuze und Guattari behaupten, dass diese oder jene Begriffsperson in uns denke, die vielleicht vor uns gar nicht existierte, dann meinen sie
damit, dass auch die_der denkende Leser_in zur Begriffsperson wird. In dieBrought to you by | Cambridge University Library
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4. Zusammenführung
sem Sinne geht Denken über ein philosophisches Verständnis hinaus, weil
Denken eine spezifische Bewegung des Werdens ist. Deleuze und Guattari
schreiben: »Ich bin nicht mehr ich, sondern eine Fähigkeit des Denkens, sich
zu sehen und sich quer durch eine Ebene zu entwickeln, die mich an mehreren
Stellen durchquert. Die Begriffsperson hat nichts mit einer abstrakten Personifizierung, einem Symbol oder einer Allegorie zu tun, denn sie lebt, sie insistiert« (Deleuze/Guattari 2000: 73). Einige Deleuze-Guattari-Expert_innen
interpretieren diesen Erkenntnisprozess als Denken »in« einem bestimmten
Werk. Daher schreibt der Philosoph Pierre Macherey, dass Deleuze nicht über
Spinoza nachdenkt, sondern »in« Spinoza denke. Er schreibt, dass es Deleuze
eben nicht darum gehe, Spinozas Philosophie objektiv zu beschreiben, sondern die gedankliche Bewegung hervorzubringen, als wäre es das erste Mal
(vgl. Macherey 1996: 55-60). Joseph Vogl beschreibt diesen Zugang zur Bewegung des Begriffs auch als »erlebte Rede«, da er weder eine Aneignung des
philosophischen Denkens noch eine Philosophiegeschichte darstellt. Vielmehr
spreche Deleuze in Spinoza und Spinoza in Deleuze (vgl. Macherey 1996: 55).
Deleuze und Guattari folgen oder wiederholen Philosophie(geschichte)
nicht, sondern vollziehen ihre Gedankengänge sozusagen »von innen heraus«
oder, wie Macherey schreibt, es gehe ihnen darum »von der Mitte her wahrzunehmen und zu verstehen« (vgl. Macherey 1996: 56). Diese Form des Denkens, die durch die Begriffspersonen möglich wird, unterscheidet sich etwa
von einem kontemplativen oder reflexiven Denken, wie es beispielsweise u.a.
durch Platon in die Philosophiegeschichte eingegangen ist und für das er das
Bild der »Ideenschau« verwendet. Denken meint nicht die bloße Anschauung
oder die Betrachtung eines Gegenstands oder eines Problems. Vielmehr wird
die Differenz zwischen Betrachter_in und Forschungs- Gegenstand/Objekt
aufgehoben. Der Forschungsgegenstand, hier das philosophische Problem in
Form einer Begriffsperson, wird zur/zum Denker_in. Es könnte angenommen
werden, dass der Erkenntnisprozess als eine Art Identifikationsprozess verläuft. Dabei muss jedoch zwischen Identifikation und Werden unterschieden
werden. Werden bedeutet eben nicht eine Identifikation mit der Begriffsperson
oder etwa einen Subjektivierungsprozess. Werden bedeutet zu begreifen, indem eine bestimmte Bewegung gedacht wird; es bedeutet, im Denken anders
zu werden. Dieser Vollzug des Denkens meint ein eigenständiges Denken im
Sinne dieser und jener Begriffsperson.
Ein aufklärerisches Philosophieverständnis, wie es etwa René Descartes
oder Immanuel Kant formulieren, zielt auf ein »reines« Denken als Bewusstseinsprozess. Von Empfindungen, Sinnlichkeit, Affekten, Begehrensformen,
Körper- und Leiblichkeit muss sich das denkende Ich freimachen. Das Cartesische Cogito etwa hegt Skepsis gegenüber seinem eigenen Erkenntnis- und
Wahrnehmungsapparat und fingiert ein denkendes Ich ohne Körper, Welt und
Verortung. Hannah Arendt beschreibt die Cartesische res cogitans als einsaBrought to you by | Cambridge University Library
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
mes fiktives Wesen, das körperlos und sinnenlos sei (vgl. Arendt 2008 [1979]:
57). Die Figur des Geistersehers bei Kant könnte gut als Widerpart zu den deleuzschen Begriffspersonen gelesen werden. Arendt (2008 [1979]) bemerkt
zu Kants Text »Träume eines Geistersehers erläutert durch die Metaphysik«
(1776), dass es Kant um die Immaterialität des denkenden Ichs gehe. Das denkende Ich wird von Kant mit dem »Zustand des festen Schlafes … bei der völligen Ruhe äußerer Sinne« gleichgesetzt (Kant 2013 [1776]: 49). Arendt schreibt
über diesen Zustand: »Von den Ideen des Schlafes vermutet er [Kant], daß dieselben klarer und ausgebreiteter sein mögen als selbst die klarsten im Wachen,
und zwar deshalb, weil der Körper des Menschen zu der Zeit nicht mit empfunden ist« (Arendt 2008 [1979]: 53). Arendt wertet Kants Geisterseher als »ungeschickten« Versuch, die Geisteserfahrung als Rückzug von der wirklichen
Welt zu erklären (vgl. ebd.: 2008: 54). Seine Figur beschreibt ein Begehren
nach einem reinen »denkenden Ich«, das Körper und Sinnlichkeit ausschließt.
In der Philosophie von Deleuze und Guattari hingegen zwingen gerade diese Elemente zum Denken. Sie lesen philosophische Denkannahmen, die von
einer Bewusstseins- und Subjektphilosophie ausgehen, gegen den Strich.4 Das
Konzept der Begriffspersonen ermöglicht, in den (affektiven) Bewegungen des
Werdens zu denken. Daher sprechen Deleuze und Guattari auch von einem
»ereignishaften« Denken, in dem es darum gehe zu begreifen, warum jemand
etwas gedacht hat, und nicht, was er/sie gedacht hat:
»Es ist immer die gleiche Melancholie, die aus den mittelalterlichen Disputationen und
Quodlibets aufsteigt, in denen man erfährt, was ein jeweiliger Doktor gedacht hat, aber
nicht, warum er es gedacht hat (das Ereignis), und auf die man in vielen Philosophiegeschichten stößt, die die Lösungen Revue passieren lassen, ohne je zu wissen, welches das Problem ist (die Substanz bei Aristoteles, bei Descartes, bei Leibniz…), da
das Problem lediglich ein Abklatsch der Propositionen ist, die ihm als Antwort dienen«
(Deleuze/Guattari 2000: 92).
Das »Warum« des Denkens lässt sich oft daher nur durch das, was das »UnDenkbare« genannt werden könnte, erschließen.
4 | Dass gerade in queer-feministischen Theorien v.a. durch Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien vielfach Kritik an einer androzentrischen Bewusstseinsphilosophie geübt wurde, ist bekannt (vgl. u.a. Alcoff 1993, Haraway 1995a, Harding 1986, Keller
1985).
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4. Zusammenführung
4.1.3 Begehren: Affekt- und Empfindungsbegriffe
»Man muß die Wörter und Dinge, Erfahrungen und Begriffe aufsprengen und öffnen, um ihre Entstehung, das
darin eingekapselte Wissen, die eingelagerten Affekte
und Werte, die aktiven und reaktiven Kräfte zu befreien«
(D eleuze 1987: 75-76).
3. Beispiel
In der Begriffsperson Nomadic Subject drängt der Wunsch nach weiblicher
Subjektivierung zum Denken. Die Philosophin Rosi Braidotti konzipiert ihre
Begriffsperson als Re-Aktion auf fehlende weibliche Repräsentationen im gesellschaftlichen Alltag und in der symbolischen Ordnung. Das Denken des
Nomadic Subjects ist vom Begehren nach weiblich-feministischen Subjektformen, Bildern und Denkformen, nach einem »Frau-Werden«, geleitet, welches
bisher nicht (re-)präsent(iert) war bzw. existierte. Braidotti spricht in diesem
Zusammenhang vom Feminismus der »Sexuellen Differenz«, der Ausdruck
für ein Begehren nach weiblicher Ontologie und einem weiblichen Subjekt ist:
»[…] the feminism of sexual difference is also the active affirmation of women’s
ontological desire, of our political determination as well as our subjective wish
to posit ourselves as female subjects« (Braidotti 1994: 174). Das Begehren nach
dem »Frau-Werden« im Denken des Nomadic Subjects bezieht Braidotti auf
eine nicht-selbstidentische weibliche Identität. Es geht ihr um einen Wunsch,
der darin besteht, Weiblichkeit (im Sinne des intrakategorialen Ansatzes) in
seinen Differenzen zu denken, und danach strebt, in deren Vielfalt »Frau zu
werden« (Kapitel 3.2).
Begriffe können Affekt-Begriffe oder Affekte Begriffs-Affekte sein, so Deleuze
und Guattari (vgl. Deleuze/Guattari 2000: 75). Beim Nomadic Subject wird in
den eingeführten Begriffen bzw. Konzepten des »Frau-Werdens« oder der »Sexuellen Differenz« der Affekt, als Modus eines Begehrens nach Frau-Sein und
Weiblichkeit, besonders deutlich. Nach Deleuze vergegenwärtigen Begriffspersonen jene Affektionen5 (= Ereignisse), die mit der Erschaffung neuer Begriffe
zur Welt gekommen sind (vgl. Deleuze 1988: 64-68), wie etwa die New Mestiza als Grenzfigur, die Sister als Pendant zur Figur des Bruders, das Nomadic
Subject als Subjekt in einer androzentrischen (Wissenschafts-)Landschaft etc.
Affekte sind im Sinne von Deleuze und Guattari von Gefühlen und Empfindungen zu unterscheiden. Sie stehen mit den Begriffspersonen deshalb im
5 | Im Gegensatz zum Begriff des Affekts bezeichnet der Terminus Affektionen das
Tätig-Sein der Affekte, also den Vorgang des Affizierens, durch den Individuen sinnlich
(von Dingen, wie man ursprünglich annahm) affiziert werden (vgl. Deleuze 1988: 64).
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Zusammenhang, weil die Denk-Bewegungen der Begriffspersonen nicht von
Gefühlen und Empfindungen zu trennen sind. Dem Deleuze-Interpret Brian
Massumi zufolge sind Gefühle Ausdruck von Affekten. Auf Begriffspersonen
wirkt ein »Außen« ein, es affiziert und wird von Begriffspersonen als ein spezifisches Gefühl erlebt. Affekt- und Empfindungsbegriffe werden bei den hier
analysierten Begriffspersonen nicht gleichermaßen deutlich: So wird etwa in
der Bewegung der Ent-Grenzung oder des Begriffs Borderland die Verletzung
als Teil der Kolonialgeschichte der New Mestiza mittransportiert (Kapitel 3.3).
Der emotionale Habitus der Sister evoziert Mitgefühl, Nähe, Gemeinschaftsgefühl und Liebe (Kapitel 2). Im Parodieren der Drag wiederum wird, so Butler, der Verlust durch ein Begehrens- und Trauerverbot allegorisiert dargestellt
(vgl. Butler 2013: 18-31, Kapitel 3.5). Und bei der Cyborg kommen keine unmittelbaren Gefühle und Empfindungen zur Geltung, sondern vielmehr Begehrensformen (und Perzepte), etwa nach Trans-Humanität (Kapitel 3.4).
Deleuze und Guattari bezeichnen Begriffspersonen auch als philosophische Sensibilia und beziehen dies auf die Wahrnehmungen und Affektionen,
welche Begriffen eigen sind: »Durch sie werden die Begriffe nicht nur gedacht, sondern wahrgenommen und empfunden« (Deleuze/Guattari 2000:
154). Daher könnten etwa Funktionen oder Begriffe auch als schön bezeichnet
werden. Auch die von den feministisch-queeren Begriffspersonen eingeführten Begriffe und Konzepte wie »Sisterhood«, »Solidarisieren«, »Vernetzen«,
»Borderland«, das »Frau-Werden« oder die »Parodie« etc. sind entsprechend
mit Affekten und Perzepten verbunden. Als Beispiel für solche sympathischen
oder antipathischen Begriffe führen Deleuze und Guattari Marx an, der nicht
nur von Kapital und Arbeit spreche, sondern von den (psychosozialen) Typen
des Kapitalisten und des Proletariers. Begriffspersonen können Deleuze und
Guattari zufolge daher anziehend oder abstoßend sein. Deshalb werden sie von
den beiden Philosophen an einer Textstelle auch als philosophische Einfühlungen beschrieben (vgl. Deleuze/Guattari 2000: 72).
Die Gefühle von Zorn, Scham, Hass, Ekel, Trauer, aber auch Liebe und
Hoffnung der Begriffe/Begriffspersonen sind Effekte von Verletzungen, die
durch sexistische, rassistische, klassistische, ethnische, religiöse und andere
Diskriminierungen und Unterdrückungen verursacht wurden. Gleichzeitig
sind jedoch die Affekt- und Empfindungsbegriffe auch von spezifischem geschlechtlichen und sexuellen Begehren durchdrungen und beide streben in
jeweils unterschiedliche Richtungen. Das Denken der Begriffspersonen affiziert, äußert sich in Gefühlen, löst Begehrensformen aus und setzt einen Werdensprozess in Bewegung (ein Drag-, ein Cyborg-, ein New Mestiza-, ein Sisterhood- und ein Frau-Werden). D.h. das Werden der Begriffspersonen findet
als gleichzeitiger Prozess im Bewegen, im Begehren und im Empfinden statt.
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4. Zusammenführung
Das Begehren der Begriffspersonen
Das Unlehrbare und Undenkbare der Begriffspersonen ist wesentlich mit Begehren verbunden. Begriffspersonen vermitteln nicht alleine Konzepte, Begriffe und Denkweisen, sondern auch Gefühle, Affekte und Wünsche. Die Worte
»Affekt« und »Begehren« haben zwar unterschiedliche Konnotationen, sie
lassen sich aber in den Begriffspersonen kaum trennen, weil das Begehren
durch Affekte wirksam wird. Das Begehren meint hier Affekt als Modus jedes
Antriebs für ein (Anders-)Werden. Bei den hier besprochenen Begriffspersonen im gender-queer-feministischen Kontext hat dieses Begehren auch stets
sexuelle Komponenten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass
eine solche Einschränkung auf Sexualität im Sinne von Deleuze und Guattari
nicht zulässig sein kann.
Deleuze und Guattari weisen mehrfach darauf hin, dass Affekte keine Gefühle
oder Affektionen sind – ebensowenig wie Perzepte (Empfindungen) Perzeptionen
sind. Sie würden die »Kräfte derer, die durch sie hindurchgehen«, übersteigen:
»Die Empfindungen, Perzepte und Affekte, sind Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen. Sie sind, so könnte man sagen, in der
Abwesenheit des Menschen, weil der Mensch, so wie er im Stein, auf der Leinwand oder im Verlauf der Wörter gefaßt wird, selbst eine Zusammensetzung, ein
Komplex aus Perzepten und Affekten ist« (Deleuze/Guattari 2000: 192).
Die Begriffsperson Sister etwa, die oft als Figur der Feminismen indirekt
aus Texten spricht und zumeist als Appellation in Gedichten oder Buchtiteln
sichtbar wird, vermittelt bereits als Anrede oder Name Affekte und Begehrensweisen. »Sister« (aber auch »sisterhood«) ist ein Affekt- und Empfindungsbegriff. Das Begehren der Sister liegt daher nicht nur in der Zuneigung oder
Erotik zu einzelnen anderen Frauen, sondern vor allem im Begehren nach
einem weiblichen Kollektiv und im Sisterhood-Werden. Der Wunsch nach Verschmelzung und Eins-Sein in einer feministischen community wird besonders in den Buchtiteln »Sisterhood is global« (1984) oder »Sisterhood forever«
(2003) plastisch. Dieser affektive Moment der Liebe und des Begehrens in
Feminismen bzw. der Schwesternschaft wird beispielsweise unlängst auch in
einem Vortragstitel der Soziologin Gudrun-Axeli Knapp »Still Loving Feminism« anschaulich.6 Begehrt wird ein feministisch-weibliches Kollektiv, der
politische Gemeinschaftskörper der Schwesternschaft. Das Imaginieren oder
Erleben einer feministischen Gemeinschaft ist eine Form des Genießens des
»feministischen Wirs«.
6 | Die feministische Soziologin Knapp problematisiert in diesem Vortrag die gegenwärtige Dethematisierung und Relativierung der feministischen Kritik und Genderfragen
im vorherrschenden wissenschaftlichen Diskurs (vgl. Knapp 2013).
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Im Unterschied zur Sister wird im Nomadic Subject und in der New Mestiza ein Wunsch nach uneindeutiger weiblicher Subjektivität wirksam. Darüber
hinaus liegt im Begehren der New Mestiza bzw. im New Mestiza-Werden der
Wunsch nach kulturellen, ethnischen, geschlechtlichen und sexuellen Ambivalenzen, Hybridität und Unbestimmtheit, die Formen von Toleranz und Offenheit sind. Das Begehren nach Hybridität und Queerness der New Mestiza
beschreibt Anzaldúa als Toleranz gegenüber Gegensätzen:
»The new mestiza copes by developing a tolerance for contradictions, a tolerance for
ambiguity. She learns to be an Indian in Mexican culture, to be Mexican from an Anglo
point of view. She learns to juggle cultures. She has a plural personality, she operates
in a pluralistic mode – nothing is thrust out, the good the bad and the ugly, nothing
rejected, nothing abandoned. Not only does she sustain contradictions, she turns the
ambivalence into something else« (Anzaldúa 2007: 101).
Dieser »turn« der Ambivalenzen, etwas (Anderes) zu werden, kann als Affekt
des Begehrens bezeichnet werden (da Begehren ja ein Modus des Affekts ist),
in dem es nicht nur um Queerness geht. Das New Mestiza-Werden beinhaltet auch den Wunsch nach Un-Eindeutigkeit, der Wunsch nach dem Werden
zwischen den Kulturen. Darüber hinaus liegen im Heilsversprechen der New
Mestiza eine spirituelle Sehnsucht und ein Verlangen nach einer weiblichen
Erlöserfigur.
Während die Begriffspersonen Sister, Nomadic Subject und New Mestiza in ihrem Denken durch Affekte der Liebe und von einem Begehren nach
einem weiblichen Kollektiv bzw. nach multiplen weiblichen und/oder queeren
Subjektformen affiziert sind, agiert die Begriffsperson Drag, nach Butler, aus
einem unlebbaren und zugleich unbetrauerbaren Begehren heraus (vgl. Butler
2013: 18-32). Dieses, das Butler zufolge an gleichgeschlechtliche Liebesobjekte gebunden ist, überdauert seine (gesellschaftlich verordnete) Nichtung und
Tabuisierung in der Identifizierung mit diesen Objekten. In der leidenschaftlichen Inszenierung (Performance) der Drag, in ihrem Drag-Werden sieht Butler
eine Allegorie der heteronormativen Ausbildung von Geschlechtsidentitäten.
Drag entlarvt zum einen ein schwul-lesbisches Begehren im (zwangs-)heterosexuellen Agieren der Mehrheitsbevölkerung – im hegemonialen Streben danach, eine »echte« Frau, ein »echter« Mann zu sein. Zum anderen offenbart
sie das Ausleben von verleugneten Identifizierungen als ernstzunehmende
Leidenschaft.7
7 | Butler weist aber darauf hin, dass diese Analyse nicht ungefährlich sei: »Deshalb ist
es wichtig zu unterstreichen, daß drag ein Versuch ist, gegengeschlechtliche Identifizierung zu verhandeln, daß aber die gegengeschlechtliche Identifizierung nicht das exemplarische Paradigma für das Denken über Homosexualität ist, obschon es eines sein kann.
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4. Zusammenführung
Für das Denken der Cyborgs scheint die Uneindeutigkeit leitend zu sein. Als
»Geschöpfe in einer Post-Gender-Welt« (Haraway 1995a: 35) heben Cyborgs Dichotomien wie Natur-Kultur, aber auch Geist und Körper, Tier und Mensch,
Organismus und Maschine, öffentlich und privat, Natur und Kultur, Männer
und Frauen auf. Affekte, die durch körperliches Empfinden und leibliche Erfahrungen entstehen, werden hier zu transhumanen A-/Effekten. Das Begehren der Cyborg ist daher widersprüchlich. Begehrt wird ein weibliches Kollektiv
durch die Tätigkeit des Vernetzens, ebenso wie uneindeutige geschlechtlich
maschinell-tierische Wesen, Objekte und v.a. netzartige Gefüge. Das Denken
der Cyborg ist von Empfindungen der Ursprungslosigkeit bestimmt und ermöglicht Verknüpfungsweisen, die ein Begehren nach Verschmelzungen mit
Nicht-Natürlichem, Materialitäten und Diskursen meint. Das Anschließen
oder Verknoten mit Materialität wie Diskursivität kann als allumfassendes Begehren, gewissermaßen als Offenheit sowie als Vereinnahmung erscheinen.
E xperimental Desire 8
Die beschriebenen Begehrensweisen der Begriffspersonen, etwas zu werden
bzw. anders zu werden, lassen sich mit den Konzepten von Deleuze und Guattari vereinbaren. (Deleuze/Guattari 1992: 317-423). Diese unterscheiden sich
von einem Anliegen, wie es etwa Judith Butler verfolgt. In ihrem Buch »Die
Macht der Geschlechternormen« (2009) unterstreicht sie das Prinzip der Selbstbeharrung und meint damit, dass in seinem Sein beharren zu können stets ein
Verlangen der Anerkennung sei: »Wenn wir nicht anerkannt werden können,
wenn es keine Normen der Anerkennung gibt, durch die wir anerkannt werden können, dann ist es nicht möglich, im eigenen Sein zu beharren, und wir
sind keine möglichen Wesen mehr« (Butler 2009: 57). Im deleuzschen Werden
geht es zwar auch um Selbstbeharrung, aber im Sinne der Möglichkeit, etwas
(Anderes) zu werden. Das Verlangen oder das Begehren nach Selbst-Beharrung
weicht einem Begehren, in einem unabschließbaren Prozess des Werdens zu
existieren. Das Begehren wäre dann ein Begehren nach Selbst-Beharrung im
Sinne der Selbstveränderung in der Offenheit des Werdens. Auch stellt sich die
Frage nach Anerkennung im Sinne Butlers nicht, weil Deleuze und Guattari zufolge Begehren nicht aus einem Mangel entsteht. Dieser Ansatz, der Begehren
So gesehen allegorisiert drag eine Reihe melancholisch einverleibender Phantasien, die
die soziale Geschlechtsidentität stabilisieren. Es ist nicht bloß so, daß eine überaus große
Zahl von drag-Darstellern hetero ist, es wäre überdies ein Fehler zu glauben, Homosexualität sei am besten durch die Performativität zu erklären, die drag ist« (Butler 1997: 323).
8 | Der Titel wurde von Elizabeth Grosz’ Beitrag übernommen: Grosz, Elizabeth
(2013): Experimental Desire, Rethinking Queer Subjectivity, in: Hall, E. Donald/Jagose,
Annamarie (ed. 2013): The Routledge Queer Studies Reader, Routledge, London/New
York, 194-211.
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
intrinsisch mit einem Werden verknüpft, das in den Denk-Bewegungen der Begriffspersonen sicht- und begreifbar wird, unterscheidet sich von lacanianischen
und einigen queer-feministischen Konzepten des (sexuellen) Begehrens, deren
Antrieb oft aus einem Mangel erklärt wird (vgl. u.a. Widmer 1990, Butler 2009).
Bekannt sind die Kritiken der feministischen Theorien an lacanianischenpsychoanalytischen Modellen, in denen Frauen zwar Objekte des Begehrens
sind, jedoch kein eigenes weibliches Begehren besitzen (u.a. Irigaray 1980,
Kristeva 1978 oder Cixous 1977). Als Reaktion auf diese androzentrischen und
misogynen Annahmen eines fehlenden weiblichen Begehrens in der symbolischen Ordnung haben feministisch-queere Theoretiker_innen vielfach Alternativ-Entwürfe entwickelt. Auch einige der Begriffspersonen, v.a. das Nomadic
Subject oder die New Mestiza, stehen innerhalb dieses theoretischen Diskurses explizit für ein weibliches oder ein queeres Begehren. Judith Butler (vgl.
Butler 1997) hat etwa ein Gegenmodell des »lesbischen Phallus« entwickelt
und Teresa de Lauretis das Konzept des lesbischen Fetischs entworfen (vgl.
de Lauretis 1996). Die Kritiken an Postulaten einer Nicht-Existenz weiblichen
Begehrens sind vielfältig und widersprüchlich, auch weil der heteronormative
Rahmen der symbolischen Ordnung an sich von einigen Theoretiker_innen
hinterfragt wurde (vgl. Butler 2009: 316). Darüber hinaus hat seit Beginn der
1990er Jahre die Dekonstruktion der Übereinstimmung von sex, gender und
desire zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der Gender und Queer Studies geführt. Die daraus folgenden massiven (Heteronormativitäts-)Kritiken
und queertheoretischen Konzepte haben die Wahrnehmung der Pluralität sexueller Begehrensformen nachhaltig beeinflusst (vgl. u.a. Jagose 2001, Strkyer
2006 etc.).
Deleuze und Guattari gehen in ihrem Konzept von Begehren weder von
gender- und queer-theoretischen noch von lacanianischen-psychoanalytischen
Modellen einer symbolischen Ordnung oder etwa von diskurstheoretischen
Zugängen aus (vgl. u.a. Deleuze/Guattari 1992, 1996). Begehren wäre bei ihnen weder durch Macht noch durch Mangel bestimmt, sondern ein »Strömen«
(»als Vereinigung und Trennung von Strömen«), das an sich nicht (nur) sexuell (oder ödipal) gerichtet ist, sondern sich an vielfältigen unterschiedlichen
Subjekten, Objekten, Gefügen, Gegenständen, Beziehungen etc. festmachen
kann, aber sich von diesen auch wieder »trennt« bzw. lösen kann (vgl. Deleuze
1996: 237). In diesem Sinn wird Begehren als ein Werden begriffen, das aber
an sich in keiner Weise eingeschränkt werden kann – und daher auch nicht
ausschließlich sexuell ausgerichtet ist. Deleuze schreibt über das Begehren:
»Für mich enthält Begehren weder einen Mangel; und ebenso wenig ist es eine Naturgegebenheit; es geht mit einem Gefüge von Heterogenem zusammen, das funktioniert;
es ist ein Prozess im Gegensatz zur Struktur oder Genese; es ist Affekt im Gegensatz zu
Gefühl; es ist ›Diesheit‹ (Individualität eines Tages, einer Jahreszeit, eines Lebens) im
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4. Zusammenführung
Gegensatz zur Subjektivität; es ist Ereignis im Gegensatz zu Ding oder Person« (Deleuze
1996: 237).
Die feministische Theoretiker_in und Deleuze-Interpret_in Elizabeth Grosz
schreibt, dass es Deleuze und Guattari um eine andere libidinale Organisation
gehe:
»[…] rethinking the issue of a different libidinal organization, a mode of living and utilizing bodies and pleasures beyond the regime of sexuality that establish heterocentrism
(and its mode of ideological validation, homophobia) as regulative norms of subjectivity, as well as beyond the regimes of signification and discursivity, the alignments of
power/knowledge that Foucault sees as the necessary conditions for the codification,
reorganization, and production of bodies into and as a series of sexualities« (Grosz
2013: 202).
Laut Grosz eröffnet dieser Zugang von Deleuze und Guattari eine Dimension
der Freiheit, in der Begehren nicht festgeschrieben und ontologisiert werden
kann. Sie bezeichnet dies daher als »Experimental Desire« (Grosz 2013: 194211). Die Philosophin Antke Engel versteht Begehren auch als Bewegung, die
jedoch Fantasieszenarien übermittelt und dabei queere Praxen erzeuge (vgl.
Engel 2011: 3). Bei Engel bewegt sich das Begehren, ähnlich wie bei Deleuze,
auf Andere und Anderes zu, stiftet Verbindungen und wächst über sich hinaus. Damit weicht Engel von Lacans Konzept des Spiegelstadiums ab und hebt
die Potenzialität der Begegnungen von Andersheiten hervor. Das Begehren sei
nach außen gerichtet und laufe normativen hetero- oder homosexuellen, körpernormierenden und rassistischen Konstellationen zuwider (vgl. Engel 2011:
5-6).
In diesem Sinne kann auch das Begehren der Begriffspersonen gelesen
werden. Es kann, muss aber nicht, auf ein sexuelles Begehren eingeschränkt
werden: Sisters begehren sowohl andere Sisters als auch weibliche Kollektive
und einen Kollektivkörper der Schwesternschaft; das Nomadic Subject hat ein
Verlangen nach uneindeutiger weiblicher Subjektivität; für die New Mestiza
liegt der Wunsch in kultureller Hybridität, queerer Weiblichkeit und Spiritualität; das Begehren der Cyborg liegt in der Vernetzung und Verschmelzung
von Mensch-Maschine-Tier; die Drag begehrt das unbetrauerbare Liebesobjekt.
Das Begehren der Begriffspersonen liegt im Anders-Werden. Dabei kann
das Werden in doppelter Weise verstanden werden: als abgeschlossener oder
als offener Prozess. Der Prozess des (Anders-)Werdens, im Sinne von Deleuze
und Guattari, entspricht dann einem Verständnis von queer, das Judith Butler als einen »Ort der kollektiven Auseinandersetzung« beschreibt, der »immer nur neu eingesetzt wird, umgedreht wird, durchkreuzt wird queered von
einem früheren Gebrauch her und in die Richtung dringlicher und erweiteBrought to you by | Cambridge University Library
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
rungsfähiger politischer Zwecke« (Butler 1997: 313). In diesem Sinn kann das
Begehren der Begriffspersonen als Ausdruck für die Potenzialität (der Genderund Queer Studies) interpretiert werden, das ein schöpferisches, mannigfaltiges und unabschließbares Werden meint. Das Begehren als ein unabschließbares Werden kommt auch im Körper-Werden, in der Transformierbarkeit von
Sexualität und Körper zum Ausdruck, das Thema des nächsten Kapitels ist.
4.1.4 Empfinden: Körper handeln und spüren
»Körper tun etwas, und dieses Tun bringt in seiner sozioökonomischen, kulturellen, politischen, historischen,
technischen oder raumzeitlichen Spezifik den Menschen
hervor, der sowohl diesen Körper hat und der gleichzeitig
dieser Körper ist«
(K önig/P erinelli/S tieglitz 2012: 11).
Das Denken in Bewegungen der Begriffspersonen vollzieht sich durch Körper. Erst im Verkörpern werden die geschlechtertheoretischen und philosophischen Probleme der untersuchten Figuren erkennbar. Körper stehen mit anderen Körpern und Materie in Beziehung, int/er/ra/agieren und stellen diese mit
her. Ein ähnliches Verständnis hat Deleuze, der Körper als ein In-Relation-Sein
mit anderen Körpern begreift, die sich gegenseitig affizieren (und mit-erzeugen) können: »›Body‹ for Deleuze is defined as any whole composed of parts,
where these parts stand in some definite relation, and has a capacity for being
affected by other bodies« (Baugh 2005: 30).
Das Handeln der Begriffspersonen macht das Werden der (Geschlechts-)
Körper (Doing Body), ihre (Geschlechter-)Differenzen und -Konstruktionen
begreif bar, das verschiedene Intentionen verfolgt. Die Begriffsperson Sister ist
mit anderen Sisters verbunden, sie affizieren sich und stellen Ähnlichkeit und
Gleichheit unter Frauen als Frauen auch über Körperidentifikationen her. Für
das Nomadic Subject ist im Frau-Werden der Körper in seiner sexuellen Differenz, in Beziehung und Abgrenzung zu »männlich-neutralen bzw. unmarkierten« Körpern zentral. Die New Mestiza affirmiert den uneindeutigen, hybriden
(Raum-)Körper. Die Cyborg erweitert ihre Körpergrenzen durch ein Vernetzen
mit und Andocken an Artefakten, Maschinen und Tieren und die Drag deckt
durch Re-Inszenieren die Einverleibung von Geschlechter-Normen auf.
Die (Denk-)Bewegungen der jeweiligen Begriffspersonen sind in diesem Sinne
auch Körperpraktiken, aus denen sie sich konstituieren (appellieren, solidarisieren, familiarisieren, verkollektivieren/Frau-Werden/ent-grenzen/vernetzen/re-inszenieren). Das Körper-Handeln der Begriffspersonen meint ein singuläres Ereignis in einem Denkprozess, »ein Körper (in Bewegung)-Denken«.
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4. Zusammenführung
Das Agieren der untersuchten Begriffspersonen macht daher vor allem die
Veränderbarkeit, Potenzialität und Vielfalt der (Geschlechts-)Körper, Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten denkbar. Es sind genau die sich verändernden geschlechtlichen Körper in Bewegung, durch die neue Begriffe und neue
(philosophische) geschlechtertheoretische Probleme erkennbar werden. Es
wird deutlich, dass Körper und Geschlechtsidentitäten weder naturhaft noch
rein diskursiv konstruiert sind, sondern sich in einem vermittelnden Prozess
fortlaufend wandeln. Die Philosophin Andrea Maihofer interpretiert den Materialisierungsprozess der Geschlechtskörper als materielle Realität sowie als
kulturelle und historische Konstruktionen:
»Ausdrückliches Ziel ist aber, sich die Materialität des Geschlechtskörpers als etwas
vorzustellen, was von der Macht oder der Norm des biologischen Geschlechts hervorgebracht wird, also als etwas, was vorher nicht existiert hat, ohne zugleich zu behaupten,
der Geschlechtskörper und seine sexuellen Unterschiede würden von der Norm des biologischen Geschlechts erzeugt, existierten also vorher nicht. Mit dem ›Prozeß der Materialisierung‹ ist folglich die Hervorbringung der Wirkung und Bedeutung von Materialität
gemeint« (Maihofer 1995: 89).
Im Tätigsein der Begriffspersonen als Verkörperungsprozess (Embodying)
werden Probleme ausagiert sowie Konzepte und Begriffe vermittelt. In Anlehnung an Deleuzes nicht-identitäres Körperverständnis, das ein in Beziehung-Sein mit und ein Affiziert-Sein von Körpern meint, aber auch darüber
hinausgeht, geht es in diesem Kapitel um ein Körper-Handeln, -Werden und
-Empfinden. Das Konzept des »Embodiment« bzw. »Embodying« umfasst
diese verschiedenen Körpermodi in ihrer Prozesshaftigkeit. Die Biologin und
Genderforscherin Sigrid Schmitz grenzt den Begriff des »Embodiment« vom
»Embodying« ab: »Denn Verkörperung und Embodiment sind statische Begriffe, die Zustände oder Ergebnisse von Verkörperungsprozessen beschreiben. Körper sind aber dynamisch, permanent in Bewegung – in Motion. Die
Begriffe Verkörperung und Embodiment greifen also zu kurz, um Körperformung, -gestaltung und -agency einzufangen« (Schmitz/Degele 2010: 19).
Die Theorie des Embodiment bzw. Embodying geht bei ihrem Verständnis
von Körper und Leib sowie Wahrnehmung und Empfindung von phänomenologischen Ansätzen aus, welche ebenso für deren Erklärungen von (Körper-)
Selbsttechnologien als auch für innerkörperliche Veränderungen maßgeblich
sind. Zudem wird der Körper als Bedeutungs- und Zeichenträger verstanden sowie als eigenständige Akteur_in (vgl. Schmitz/Degele 2010, Waskul/
Vannini 2006). Für alle vorgestellten Begriffspersonen sind Körper- (bzw.
Materie-)Handeln, als auch ein spezifisch geschlechtliches Leib-Spüren und
Körper-Wahrnehmen in einem int/er/ra/aktiven Werden von Relevanz. Im Folgenden werden Körper-Handeln, -Werden und -Spüren der Begriffspersonen,
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
die gleichzeitig stattfinden und Ausdruck von Affekten, Begehren und Gefühlen sind, getrennt analysiert. Dies geschieht auch deswegen, weil bestimmte
Körpervorgänge von Begriffspersonen in Theorietexten nicht gleichermaßen
problematisiert werden, sondern einzelne Aspekte stärker in den Vordergrund
rücken als andere.
Körper Handeln: Doing Body — Body Agency
4. Beispiel
Die Drag konstituiert sich, nach Butler, durch Performance und subversives
Parodieren. Es sind Formen des Körper-Handelns, die die Drag erzeugen und
zugleich in diesem körperlichen Tun – als Re-Inszenierung – das Problem
der Einverleibung von Geschlechter-Normen aufdecken. Die Imitation von
Weiblichkeit oder Männlichkeit der Drag, so Butler, macht deutlich, dass der
geschlechtliche Körper performativ hergestellt wird und keine ontologische
Substanz ist. Die Geschlechtskörper entstehen durch wiederholte Zuschreibungen und performatives Handeln. Mit dem Soziologen Dennis Waskul und
dem Medien- und Kulturwissenschaftler Phillip Vannini, die sich mit Embodiment-Theorien auseinandergesetzt haben, kann dieser Prozess als »Doing
Body« bezeichnet werden: »people do not merely ›have‹ a body – people actively
do a body« (Waskul/Vannini 2006: 6).
Für die Körperpraktiken der Begriffspersonen, insbesondere der Drag, ist das
Konzept der »Agency«9, der Handlungsfähigkeit, zentral. Der Begriff »Agency« ist mit Kraft, Macht, Tätigkeit und Wirkung konnotiert (vgl. Lummerding
2005) und trifft nicht nur auf Subjekte, sondern auch auf die Körper selbst und
auf Materie zu. So wird etwa bei der Cyborg das Körperhandeln auf das Tätigsein der Materie (und Diskurse) erweitert, in dessen intraaktivem Prozess sie
als Akteur_in »wird«. Sowohl in Haraways Ansatz als auch in den AkteursNetzwerktheorien werden Gegenstände, Dinge, Technik und Wissen zu handelnden Akteur_innen. Mit der Begriffsperson Cyborg hat Haraway Ansätze
9 | Auch die handlungstheoretischen Ansätze gehen davon aus, dass Körper hergestellt werden und herzustellen vermögen. In den Gender Studies sind sie vor allem durch
die interaktionistischen Ansätze der Soziologen Harold Garfinkel und Erving Goffman
bekannt geworden. Die berühmte Studie über »Agnes« von Garfinkel, einer Mann-zuFrau-Transsexuellen, zeigt nicht nur, dass Geschlecht bzw. Geschlechtlichkeit eine
soziale Konstruktion ist, die durch permanente Darstellungsarbeiten aufrechterhalten
werden muss, sondern auch den interaktiven Konstruktionsprozess des Erkennens (vgl.
Villa 2011: 94-95). Das bedeutet, dass nicht nur über Gesten, Mimik, Kleidung, Beziehungsformen Geschlecht und Geschlechtskörper konstruiert werden, sondern diese
müssen von ihrem Gegenüber auch auf entsprechende Weise interpretiert werden.
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4. Zusammenführung
des New Feminist Materialism skizziert: Dieser Zugang vertritt die Annahme,
dass Substanz und Materie keine Objekte, sondern ein Tun im Sinne des »Tätig-Sein der Dinge« sind. Daher gilt sowohl für Körper als auch für Dinge der
Doppelcharakter der Agency als Handlungsfähigkeit, die einerseits Machtverhältnissen unterworfen ist und andererseits aus diesen erzeugt wird.
Die Politikwissenschaftlerin Lois McNay, die sich in ihrer Studie »Gender
and Agency« (2000) u.a. mit dem Konzept der Performance von Butler auseinandergesetzt hat, unterstreicht besonders den normativen Charakter der
Handlungsfähigkeit. Sie schreibt, dass sich Normen durch Körpereinschreibungen materialisieren und ein stabiles Subjekt und Körperselbst herstellen.
Gleichzeitig betont sie auch die Potenzialität der Agency, Normen zu unterwandern: »The performative construction of gender identity causes agency
in that the identificatory processes, through which norms are materialized,
permits the stabilization of a subject who is capable of resisting the norms«
(McNay 2000: 35).
Judith Butler problematisiert in ihrem Buch »Die Macht der Geschlechternormen« (2009) den Begriff der Normen und argumentiert, dass Gender weder genau das bedeutet, was man »ist«, noch das, was man »hat«. Laut Butler
ist Gender ein Apparat, durch den die Produktion und Normalisierung des
Männlichen und Weiblichen passiert. Dieser sogenannte Gender-Apparat ist
verwoben mit hormonellen, chromosomalen, psychischen und performativen
Formen, die Gender voraussetzen und annehmen (vgl. Butler 2009: 74). Für
Butler stellt sich die Frage, welche Abweichung von Normen etwas anderes
sein könnte, außerhalb der Entschuldigung und Begründung von Autoritäten.
Mögliche Agency- oder Materialisierungsprozesse von Begriffspersonen
könnten eine Antwort auf Butlers Frage sein. Sie, die Materialisierungsprozesse, eröffnen gerade die Veränderlich- und Transformierbarkeit der Körper (und
Geschlechtsidentitäten) im Spannungsfeld von Materialität und Konstruktion/
Norm. Das Besondere im Körper-Handeln der Begriffspersonen ist, dass in
sie zwar Normierungs- und Disziplinierungsprozesse eingeschrieben werden,
während sie zugleich aber an ihnen »scheitern«, diese verfehlen, bewusst oder
unbewusst von diesen abweichen, sie que/e/ren und dadurch feministische,
feministisch-queere, postkoloniale, transhumane und transgender Körper erzeugen, die andere Weisen von Denk-Bewegungen ermöglichen. Die Agency,
die sich im Körper-Handeln und in Körper-Praktiken ausdrückt, ist zugleich
ein Prozess des Körper-Werdens, der sich von normativen Körpern unterscheidet, wie die Begriffspersonen deutlich machen.
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Becoming Body
Die Körper der Sister und der Gemeinschaftskörper Schwesternschaft weichen von einem männlichen Corpus ab und bilden eine »imaginierte Weiblichkeit« jenseits von »Männerphantasien«. Auch das Nomadic Subject und die
New Mestiza schaffen Alternativen zu hegemonialen androzentrischen und
westlichen Körperimaginationen und -bildern. Das Nomadic Subject forciert
mit dem Konzept der »Sexuellen Differenz« nicht nur eine Einschreibung in
»die« symbolische Ordnung, sondern materialisiert im »Frau-Werden« einen
weiblichen Körper in physischer, psychischer und imaginärer Hinsicht. Sie
setzt das »Borderland« mit dem Körper der New Mestiza gleich, der »ausgebeutet«, missbraucht und verletzt wurde und auch den hegemonialen westlichenmännlichen Normen angepasst werden sollte. Anzaldúa nimmt jedoch eine
Umwertung der Werte vor, indem sie die Bewegung des Ent-Grenzens positiv
besetzt und den uneindeutigen, hybriden und queeren Körper der New Mestiza zu einem neuen Menschenbild erhebt. Einen radikalen Bruch mit vorherrschenden Körpervorstellungen hat Donna Haraway vollzogen. Im Vernetzen
der Cyborg materialisiert sich ein Körper jenseits von humanistischen Ideen,
der das Informationszeitalter verkörpert. Haraway nahm bereits sehr früh die
posthumanistische Dezentrierung des Menschen, den Ansatz des New Materialism, vorweg.
Für Begriffspersonen gilt es stets, ein »anderer« Geschlechtskörper zu werden. Prozesse performativen Wiederholens, Scheiterns, Verfehlens oder ein
bewusstes nicht-normiertes Körperhandeln bedeuten ein »Körper-Werden«,
»becoming body« (Colebrook 2001) oder besser »becoming an other body«.
Theoretiker_innen wie Judith Butler, Rosi Braidotti10 oder Gloria Anzaldúa
verstehen unter »becoming body« sichtbar, anerkannt und intelligibel zu werden (siehe Kapitel 3.2). Hingegen mit Deleuze gesprochen, findet ein Körper-Werden außerhalb einer symbolischen Ordnung und ödipaler Strukturen
statt bzw. ein Überschreiten dieser Setzungen und Limitierungen. Ein und
dieselbe Begriffsperson kann daher je nach theoretischem und politischem
Anspruch über unterschiedliche Zugänge von »becoming body« erklärt werden.
Ich möchte behaupten, dass die Begriffspersonen Sister, Nomadic Subject
und New Mestiza ein Körper-Werden innerhalb der symbolischen Ordnung
eher anstreben und begehren als die anderen untersuchten Begriffsperso10 | Butlers und Braidottis Zugänge widersprechen sich v.a. im Hinblick auf Deleuzes
Ansatz des Begehrens und der Affirmation. Trotzdem ist für beide Theoretiker_innen
gesellschaftliche Anerkennung und die Annahme einer symbolischen Ordnung – auch
wenn diese nicht einen zweigeschlechtlichen Rahmen bildet – zentral (vgl. Butler 2009:
316-18).
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4. Zusammenführung
nen. Aus ihrer Perspektive sind sie Disziplinierungs- und Normierungsformen unterworfen, in denen sie jedoch weder repräsentiert noch symbolisiert
werden. Gleichzeitig ermöglichen diese Machtstrukturen im Sinne Foucaults auch Widerstand (siehe Kapitel 3.5), sind produktiv, indem sie neue
Körper und Sexualitäten hervorbringen. Das Körper-Werden dieser Begriffspersonen wird als Verfehlen von Normen und/oder als bewusster Widerstand
begriffen.
Die Gender- und Körperforscherin Margrit Shildrick nimmt in ihrem Artikel »Prosthetic Performativity« (2009) u.a. Bezug auf Foucaults Machtkonzept
und unterstreicht das Spannungsverhältnis zwischen Disziplinierung und
Unterwerfung sowie die daraus hervorgehende Produktivität:
»Despite some substantial signal of where ›bodies and pleasures‹ might subvert normative stability, Foucault is clearest in setting out the impressive array of disciplinary
techniques that are aimed at the singular body in all its aspects, but above all in its
pleasures (Foucault 1979, 1980). As he shows, far from originating in an instinctual,
biological ground, sexuality is always in a state of dynamic process that is neither predetermined nor fully open to intentional possibilities. Instead, sexuality is organized by
power in its grip on bodies and their materiality, their forces, energies, sensations and
pleasures’ (Foucault 1979: 155)« (Shildrick 2009: 117).
Die Kritik der Begriffspersonen Sister, Nomadic Subject und New Mestiza liegt
zu einem wesentlichen Teil in der Benennung und Reflexion jener Machtstrukturen, von denen sie selbst als körperliche, begehrende Wesen hervorgebracht werden, von denen sie aber zugleich verschwiegen und unbenannt
bleiben.
Interpretiert man den Prozess des »becoming body« im Sinne von Deleuze,
liegt der Fokus nicht auf den Einschreibungen der Körper durch Disziplinierung, sondern auf dem Überschreiten von Normen, auf der Produktivität, Veränderung und Vervielfältigung von Körpern und Sexualitäten. Nach Deleuze
stehen Körper in Beziehung zu anderen Körpern, affizieren sich und bilden
sogenannte Assemblagen, Gefüge aus Verhältnissen, Affekten und Materialitäten, die sich fortlaufend transformieren. Für die Cyborg und die Drag trifft
der deleuzianische Zugang des »becoming body« eher zu als für die anderen
untersuchten Figuren. Ihre Körper erscheinen fragmentierter, uneindeutiger
und in sich vielfältiger, als die von jenen Gestalten, in denen es primär um ein
Frau-Werden geht.
Margrit Shildrick, die den deleuzianischen Ansatz für die Disability- und
Queer Studies sowie für deren Körperverständnis produktiv macht, konzentriert sich ebenso auf die radikale Subversion und auf Brüche, die die Körperregulierungen unterwandern. Sie betont, dass behinderte Menschen mit
Prothesen in ihrer Inter- und Konkorporalität unerwartete Verbindungen einBrought to you by | Cambridge University Library
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
gehen und wie andere Minoritäten ein neues Denken und neue Praxen eröffnen. Sie vergleicht diese Brüche mit der Erfahrung von Weiblichkeit. Binaritäten wie body/machine; active/passive; biology/technology; interior/exterior
werden dekomponiert und eine Vielfalt von nicht repressiven Formen hervorgebracht (vgl. Shildrick 2009: 122). Sie schreibt über das Körper-Werden bei
Deleuze:
»The fragmented body is reconceived as the body-without-organs, the body in process
of corporeal becoming, that mobilise desire as a fluid indeterminacy that has no fixed
aim or object, and which could always be otherwise. Instead of figuring the conventional ideal of autonomous action, separation and distinction, Deleuzian embodiment
persists only through the capacity to make connections, both organic and inorganic,
and to enter into new assemblages – which in turn are disassembled« (Shildrick 2009:
121).
Deleuzes Ausführungen zum fragmentierten Körper können mit dem »becoming body« der Cyborg zusammengelesen werden, die unterschiedliche
Verbindungen, Vernetzungen und Körperverschmelzungen eingeht. Für die
Drag trifft auch ein fragmentiertes Körperverständnis bzw. die Neubesetzung
von partialen Körperteilen zu, darüber hinaus ähnelt ihr queeres Begehren
gewissermaßen dem, was Deleuze als Fluidität und Ungerichtetheit bezeichnet.
Körper-Spüren
Körper-Handeln und -Werden sind von Affekten und Perzepten durchzogen
und werden von diesen bestimmt. Perzepte (Wahrnehmungen und Empfindungen) lenken den Prozess des Körper-Werdens, weil mit der Empfindung
ein Begehren nach einem anderen Geschlechts-Körper-Werden wirksam wird.
Das ist besonders gut am Beispiel des Nomadic Subjects nachvollziehbar. In
ihm wird das (anatomische) Frau-Sein als sexuelle Differenz affirmiert und
grundlegend für weibliche Subjektivität erachtet. Braidotti schreibt: »I am sexed. I have been a woman – socially and anatomically – for as long as I have
existed, that is to say, in the limited scale of my temporality, forever« (Braidotti
1994: 187).
Braidotti weist in ihrer Nomadic Theory eine einfache essentialisierende
Weiblichkeitsvorstellung zurück. Frau-Sein basiert laut ihr auf einem komplexen Körperverständnis, das weder biologisch noch alleine sozial zu verstehen ist. Der Körper sei eine libidinöse Oberfläche, ein Feld von Kräften, das
durch sexuelle Differenzen bestimmt werde. Das Nomadic Subject verkörpert
ein Frau-Sein und Frau-Werden und will eine verkörperte weibliche Genealogie erschaffen. Darüber hinaus impliziert das (körperliche) Frau-Sein (und
-Werden), trotz Unterschieden zwischen Frauen, ein weibliches Empfinden
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4. Zusammenführung
und Denken, das in einer geschlechterdifferenten Wahrnehmung bzw. in der
sexuellen Differenz zum Ausdruck kommt.
Das Nomadic Subject spürt und empfindet (körperlich) eine spezifische, vor
ihrer Konstituierung unbekannte Weiblichkeit. Es ermöglicht, dass sexuelle
Differenz, Frau-Sein, »nicht nur gedacht, sondern empfunden und wahrgenommen« (Deleuze/Guattari 2000: 154) werden können; und zwar in einer
Gesamtheit, der gegenüber die einzelnen Worte stets bruchstückhaft anmuten. Anders als der Begriff selbst, der informiert und zugleich affiziert, machen Begriffspersonen auch jene Stimmungen und Affekte spürbar, die das
verbindende Durchdenken aller Begriffe einer Immanenzebene hervorbringt.
Diese Empfindungen sind also nicht einzelnen Begriffen zuordenbar, sondern
entziehen sich anderen Formen des Begreifens. Auch alle weiteren untersuchten Begriffspersonen transportieren Affekte, welche bei ihrem Durchreisen
von Begriffen ausgelöst und sinnlich spürbar werden. Was empfunden wird,
ist eine Weise, wie Begriffspersonen die Welt wahrnehmen und mitteilen – oft
ist dies ein geschlechtsspezifisches Empfinden.
Der Begriff »Empfindung« wird in der neuzeitlichen Philosophie etwa
bei Descartes vom Bewusstsein und von einer wissenschaftlichen Erkenntnis abgegrenzt. Empfindungen (lat. sensus) wären laut Descartes »konfuse
und dunkle« Bewusstseinsinhalte, wie etwa Farben, Gerüche, Geschmäcker,
die sich von klaren und deutlichen Ideen unterscheiden. Sie werden durch
äußerliche Einwirkungen bestimmt, die innerlich entsprechend sinnlich
wahrgenommen werden (vgl. Goerdt 1972: 456-476). Der Philosoph und Neukantianer Hermann Cohen schreibt über Empfindungen Folgendes: »Unter
allen Mitteln des Bewusstseins ist Empfindung das unbeschreiblichste, zweideutigste und zugleich unabweichlichste und am entschiedensten die Objektivität ansprechende und aussagende. Daher ist es das Fundament des Sensualismus und der Stein des Anstoßes für den Idealismus« (Cohen 1987 [1871]:
753-754).
In der Philosophie von Deleuze und Guattari sind Empfindungen, Perzepte und Affekte Begriffen inhärent.11 Allerdings schreiben sie auch, dass
Empfindungen bzw. Perzepte nicht unmittelbar bewusst wahrnehmbar seien,
sondern in Begriffen und der Erkenntnis mitschwingen und nicht gedacht,
sondern nur empfunden werden können (vgl. Deleuze 2000: 191-237). Bei
den untersuchten Begriffspersonen wirken schwesterlich-familiäre Perzepte,
11 | Der Deleuze-Interpret Marc Rölli betont, dass sich das Denken in Begriffen von
reinen Empfindungen oder Wahrnehmungen unterscheide. Das Denken könne aber diesen Unterschied begrifflich rekonstruieren und würde auf die Bedingungen referieren,
die ihnen vorausliegen, nämlich die Affekte und Perzepte. Rölli analysiert in Bezug auf
Deleuze und Guattaris Denken, dass das Nicht-Philosophische Vorfeld auf den Gegenstand des Denkens verweise (vgl. Rölli 2012: 229).
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
»Border«-Perzepte, sowie maschinell-tierische und geschlechterambivalentqueere Perzepte; die nicht bewusst vermittelten Empfindungen von Begriffspersonen, die trotzdem ausgedrückt werden, können nur begrenzt zur Sprache gebracht werden. Empfindungen, die Begriffspersonen über den Körper
wahrnehmen, können in der Denk-Tätigkeit als ein körperliches Spüren wirksam werden, beispielsweise Schmerz oder Verletzung: das Spüren der New
Mestiza, sich weiblich fühlen wie das Nomadic Subject. Jene Empfindungen,
die Begriffspersonen explizit benennen, die sie sinnlich wahrnehmen, drücken sie oft über Gefühle oder über ein Begehren aus, wie der emotionale
Habitus der Schwester oder das Begehren nach Anders- und Queer-Werden
der Cyborg oder der Drag. Empfindungen der untersuchten Begriffspersonen
werden mit einem Körper in unterschiedlichen Intensitäten wahrgenommen.
Wenn Empfindungen über ein bloßes sinnliches Wahrnehmen hinausgehen,
bewusst reflektiert bzw. sprachlich ausgedrückt werden, dann wird im Spüren auch ein sozial vermitteltes Körperwissen wirksam. Daher fragt PaulaIrene Villa am Beginn ihres Kapitels zu Geschlechtskörper und leiblichem
Empfinden: »Was ist mit den Gefühlen und Empfindungen, die so eng an
unseren Körper und insbesondere unsere geschlechtliche Existenz gekoppelt
sind?« (Villa 2011: 213).
In der phänomenologischen Leibphilosophie, aber auch in der deutschen
Philosophie, wird zwischen den Begriffen Leib und Körper unterschieden.
Unter Leib wird ein subjektives Spüren und Fühlen und das Leib-Seele-Verhältnis verstanden, »wohingegen der Begriff des Körpers auf die soziale Prägung und Vermitteltheit des Leibes abzielt« (Villa 2011: 215), so Villa. Sie führt
an einer anderen Stelle den Gedanken aus, dass zwischen affektivem Leiberleben und sozialem Körperwissen ein Zusammenhang bestehe, der den
Effekt habe, ein Geschlecht zu empfinden, das sozial konfiguriert sei. Das Zusammenwirken von Körper und Leib wird in der Phänomenologie Helmuth
Plessners über die zentrische und exzentrische Position erklärt (vgl. Plessner
1975). Plessner versteht unter der zentrischen Positionalität ein »authentisches« Binnenerleben des eigenen Körpers (beispielsweise Schmerzgefühle
oder subjektives Temperaturempfinden). Hingegen bedeute die exzentrische
Position die bewusste bzw. reflexive Wahrnehmung des In-der-Umwelt-Seins
(vgl. Plessner 1975: 131).12 Bezogen auf den Geschlechtskörper schreibt Villa,
dass der Leib so erlebt wird, wie die Körperformen strukturiert seien. Sie bezieht sich auf die bekannte Studie zu Transsexualität (1993) von Gesa Linde12 | Villa führt einige Beispiele für diesen Zusammenhang an. Sie erklärt etwa Rückenschmerzen als ein Körper-Spüren, das auf eine zentrische Ebene verweist. Auf einer exzentrischen Ebene können diese Rückenschmerzen wahrgenommen werden, die mit
einer Körperhaltung am Arbeitsplatz zusammenhängen und durch Sport vermieden werden können (vgl. ebd.: 223).
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4. Zusammenführung
mann, die davon ausgeht, dass das subjektive Leiberleben mit dem sozial vermittelten Körperwissen zusammenhängt bzw. dieses nachhaltig beeinflusst.
Villa argumentiert im Sinne Lindemanns, dass etwa Busen, Vagina, Penis
oder Männerbrust eine spezifisch geschlechtliche Wirkung auf die leibliche
Realität hätten und ein »Geschlecht-Spüren« meinen. Daher würden Körperformen ein sozial objektives Geschlecht bilden und entsprechend empfunden werden: »Auf den (Geschlechts-)Körper bezogen, heißt dies, dass der Leib
(als unmittelbares Binnenerleben) immer schon Körper ist, dass aber beide
Dimensionen nicht zusammenfallen« (ebd.: 254). Auch ein geschlechtliches
Begehren liege außerhalb des Leibes und würde von sozialen Normen vorgegeben sein und entsprechend empfunden werden. Geschlechtermechanismen wie etwa Heteronormativität würden, so Villa, auch deshalb so nachhaltig wirksam sein, weil »die zugrunde liegenden Normen (mehr oder weniger
stark) mit Haut und Haar empfunden werden« (ebd.: 225).
Die zentrischen und exzentrischen Positionen bzw. das Zusammenwirken von subjektiv erlebtem Leib und scheinbar »objektivem« Körperwissen
wird bei der Begriffsperson Nomadic Subject besonders anschaulich. Für Braidotti ist der soziale und anatomische weibliche Körper grundlegend für ein
»Frau-Sein« bzw. »Frau-Werden«. Sie geht zwar von nicht-normierten Weiblichkeitsvorstellungen aus und beschreibt diese als in sich vielfältig und different, bedeutend bleibt aber in ihrer Argumentation die Geschlechterdifferenz
zwischen Männern und Frauen an sich. D.h. es besteht eine Binnendifferenz
unter Frauen, jedoch die symbolische Ordnung, die zweigeschlechtlich gedacht wird, bleibt erhalten. Der sozial vermittelte Prozess des Körperwissens
beschränkt sich mehr oder weniger auf Zweigeschlechtlichkeit und wird weiblich-leiblich erlebt.
Wie in Braidottis oben zitierter Aussage deutlich wird, meint das FrauSein, sich selbst als körperliche Frau wahrnehmen, empfinden und spüren zu
können: »I am sexed. I have been a woman for as long I have existed, […]« (Braidotti 1994: 187). Die von Villa angesprochene Verschränkung von Körper und
Leib würde im Hinblick auf das Nomadic Subject bedeuten, dass das leibliche
Empfinden durch den Körper auch sozial hergestellt sei: »Die durch soziale
Prozesse konstruierten Normen des Geschlechts, die das Körperwissen bilden,
bewirken durch ihre Verschränkung mit dem Leib, dass wir uns so fühlen, wie
es uns unser Körper ›bedeutet‹« (Villa 2011: 253).
Ähnliches gilt für die Begriffsperson Sister. Schwestern-Perzepte werden
»gespürt«, aber nicht bewusst reflektiert und wahrgenommen. Sie entstehen
aus den verwobenen Empfindungen des Frau-Seins und Schwestern-Seins
wie sie besonders im Begriff der Frauensolidarität wirksam werden. Die Verschränkung von sozialem Körperwissen (Frau-Sein) und leiblicher Empfindung im Begriff der Frauensolidarität beruht auf der Herstellung von Nähe
und Gemeinsamkeit aufgrund desselben Geschlechts, das entsprechend
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
empfunden wird. Verstärkt wird diese Nähe und Gemeinsamkeit durch die
Erzeugung von verwandtschaftlichen Verhältnissen zwischen Frauen. Die
Beziehungen unter Frauen/Feministinnen werden auch als schwesterlich
erlebt und wirksam. Schwestern-Perzepte evozieren einen emotionalen Habitus, der sich im Gefühl von Familiarität ausdrückt und leiblich wahrnehmbar wird.
Das Denken der New Mestiza wird zwar auch durch uneindeutiges FrauSein wahrgenommen, das jedoch durch einen tiefliegenden Schmerz mitbestimmt wird. Gloria Anzaldúa setzt das Grenzland/Borderland zwischen Mexiko und den USA, das durch die Kolonialgeschichte »verletzt« wurde und ein
tiefe »Wunde« trägt, mit ihrem Körper gleich: »1,950 mile-long open wound
dividing a pueblo, a culture, running down the length of my body, staking fence rods in my flesh, splits me splits me me raja me raja« (Anzaldúa 2007: 24).
Die offene Wunde symbolisiert eine (räumliche) Grenze, die sich in den Körper
von Anzaldúa bzw. der New Mestiza einschreibt. Anzaldúa setzt das Grenzland und ihren weiblichen (chicana) Körper als Zone der Verletzung gleich. In
dieser Ununterscheidbarkeit bestimmen sie beide die Wahrnehmung der New
Mestiza. Die Wunde dient als sichtbares Zeichen von gefühlter Gewalt (vgl. Ahmed 2004: 27). Das Körper-Spüren bzw. -Empfinden der New Mestiza wird in
Analogie zu einem Raum-Gefühl gesetzt und führt zum (Selbst-)Bewusstsein,
das Anzaldúa als »New Mestiza Consciousness« bezeichnet.
Anders als bei der Sister, dem Nomadic Subject und der New Mestiza, bei denen
Weiblichkeit empfunden wird (wenn auch auf ganz unterschiedliche Weisen),
entstehen bei der Cyborg und der Drag geschlechtliche Körperempfindungen,
die bislang nicht intelligibel (und daher abnorm) waren. Jenseits von (Hetero-)
Normativität und der vorgegebenen symbolischen Ordnung wird von diesen
beiden Begriffspersonen das nicht Kategorisierbare als uneigentliches Körpergefühl spürbar, das zwar empfindbar, jedoch (noch) nicht intelligibel ist und
nicht gesellschaftlich anerkannt wird (vgl. Butler 2009: 346). Die maschinelltierischen und queeren Perzepte der Cyborg und der Drag werden von Donna
Haraway und Judith Butler als körperliche Prozesse bezeichnet, nicht jedoch
explizit als sinnliche Empfindungen ausgedrückt. Beispielsweise beschreibt
Haraway an unterschiedlichen Textstellen des »Manifests für Cyborgs«, dass
die Cyborg sich aus der Verschmelzung von menschlichen, tierischen und
maschinellen Fragmenten konstituiert, die aus der Vernetzung von Kommunikations- und Biotechnologien erzeugt werden: »Vielleicht können wir auf
ironische Weise aus unseren Verschmelzungen mit Tieren und Maschinen
lernen, etwas Anderes als der Mensch, die Verkörperung des westlichen Logos, zu sein« (Haraway 1995a: 62). Die Körperakte der Drag bezeichnet Butler
als Imitation und Parodie, weil sie die Inszenierungen der Geschlechtsidentitäten, der normativen und konstruktiven Charakter, aufdecken: »Dennoch ist
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4. Zusammenführung
dieses Scheitern, ›real‹ zu werden und das ›Natürliche‹ zu verkörpern, meiner Ansicht nach eine konstitutive Verfehlung aller Inszenierungen der Geschlechtsidentität, weil diese ontologischen Orte grundsätzlich unbewohnbar
sind« (Butler 1991: 215).
Im Gegensatz zur Sister, dem Nomadic Subject und der New Mestiza werden
bei der Cyborg und der Drag bloße Perzepte, jedoch nicht leibliche Empfindungen vermittelt. Für diese beiden Begriffspersonen gilt im Besonderen, was
Deleuze und Guattari über einen sogenannten Empfindungsblock schreiben,
der nicht gedacht, sondern nur empfunden werden kann. Empfindungskomplexe werden, wie die beiden Philosophen darlegen, von Figuren selbst gespürt
oder sie können sich in einem Werdens-Prozess und in Visionen spüren lassen
(vgl. Deleuze/Guattari 2000: 224). Dieser Komplex aus Affekten und Perzepten wird, wie sie erläutern, in unterschiedlichen Medien erfasst, etwa in der
darstellenden Kunst in der Skulptur im Stein, in der bildenden Kunst auf der
Leinwand oder in der Literatur in Wörtern. Zwar schreiben die beiden Autoren
vorwiegend der Kunst Affekte und Perzepte zu, heben aber auch hervor, dass
Begriffspersonen Begriffsempfindungen und Empfindungsbegriffe transportieren können:
»Perzepte und Affekte, Landschaft und Gesichter, Sehen und Werden. Aber definieren
wir den philosophischen Begriff nicht auch durch das Werden, und fast mit denselben
Ausdrücken? Und doch sind die ästhetischen Figuren nicht mit den Begriffspersonen
identisch. Vielleicht gehen sie ineinander über, in die eine oder die andere Richtung, wie
Igitur oder Zarathustra, aber doch nur in dem Maße, wie es dort Begriffsempfindungen
gibt und Empfindungsbegriffe« (Deleuze 2000: 209).
In-Begriffspersonen-Denken bedeutet daher denken durch Begriffe und Empfindungen. Empfindungen werden entweder als Komplex von Affekten und
Perzepten wie bei der Cyborg oder Drag wahrgenommen; sie werden als Körperprozesse jedoch nicht als sinnlich erlebt beschrieben. Oder aber Empfindungen werden leiblich geäußert, sind bereits durch soziales Körperwissen
vermittelt, wie bei der Sister, dem Nomadic Subject und der New Mestiza. Insgesamt gehen jedoch die Prozesse von Körper-Handeln, -Werden und -Empfinden ineinander über und bedingen sich gegenseitig.
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
4.1.5 »Das Innerste und absolute Außen des Denkens« 13
»Man möchte sagen, DIE Immanenzebene sei zugleich
das, was gedacht werden muß, und das, was nicht gedacht werden kann. Sie wäre es, das Nicht-Gedachte im
Denken. Sie ist der Sockel aller Ebenen, jeder denkbaren
Ebene immanent, der es nicht gelingt, jene zu denken.
Sie ist das Innerste im Denken und doch das absolute
Außen«
(D eleuze 2000: 69).
Ein bedeutungsvoller Zugang innerhalb der Erkenntnistheorien, der von
einem Wissenschaftsideal der Aufklärung ausgeht, setzt das Subjekt der Erkenntnis als nicht-empirischen Begriff voraus. Es wird davon ausgegangen,
dass die konkreten Erkenntnisproduzent_innen keinen entscheidenden Einfluss auf den Gegenstand des Erkennens haben, sondern eine »neutrale« (Forschungs-)Position einnehmen. In der Philosophiegeschichte wird das Erkenntnissubjekt etwa als »denkende Substanz« bei Descartes, als »denkendes Ich«
bei Kant oder als ein »reines« Bewusstsein vorgestellt (vgl. Singer 2008: 285).
Anders verlaufen Erkenntnisprozesse mittels feministischer, queerer,
queer-feministischer und postkolonialer Begriffspersonen, die epistemologische Figuren und Wissensvermittler_innen sind und geschlechtsspezifische
Probleme erkennbar und begreif bar machen. Sie affizieren Denker_innen und
Leser_innen und machen diese selbst zu Begriffspersonen. Die Begriffspersonen führen nicht nur neue Begriffe und Konzepte der Gender und Queer
Studies ein, indem sie sie verkörpern, sondern auch, weil sie diese Themen
ausagieren, fühlen und wahrnehmen. Damit heben sie die Distanz von Subjekt-Objekt bzw. zwischen Forscher_in/Denker_in und Forschungsgegenstand im Erkennen auf. Sie sind weder bloße Erkenntnissubjekte noch -objekte, sondern beides zugleich und ermöglichen v.a. ein queer-feministisches
Denken, Erkennen und Werden.
Feministische Erkenntnis- und Wissenschaftsforscher_innen haben epistemologische Fragen nach Erkenntnis, ihren Bedingungen und Gegenständen
auf eine andere Art und Weise gestellt, etwa als Vertreter_innen der Aufklärung. Ihr Interesse war dabei vor allem auf das vermeintlich »neutrale« Subjekt der Erkenntnis gerichtet, das in einer patriarchalen Wissenschaftskultur
eine androzentrische Perspektive einnimmt. Ausgehend von der Problemstellung, was aus feministischer Sicht ein Erkenntnissubjekt konstituiert bzw. wie
es positioniert ist, frage ich nach den Erkenntnismöglichkeiten in Begriffs13 | Der Titel wurde dem unten stehenden Zitat von Deleuze entnommen (Deleuze
2000: 69).
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4. Zusammenführung
personen. Dabei wird die feministische Erkenntnistheorie um Ansätze einer
»Queeren Epistemologie« (Dietze/Haschemi/Michaelis 2007) erweitert und
mit dem Konzept der Immanenzebene von Deleuze und Guattari, welches unmittelbar mit dem Entwurf der Begriffsperson zusammenhängt, in Verbindung gebracht.
Auf der Immanenzebene: queer-situiertes Wissen
»Die Schaffung der Begriffe hat keine andere Grenze als
die Ebene, die sie bevölkern, die Ebene selbst aber ist
unbegrenzt, und ihr Entwurf richtet sich allein nach den
zu erschaffenden Begriffen, die sie verbinden, oder nach
den zu erfindenden Personen, die sie erhalten soll«
(D eleuze /G uat tari 2000: 89).
Die untersuchten Begriffspersonen sind in verschiedenen Tätigkeits- und
Handlungsfeldern und – bis auf die Sister – in queeren Zeiten und Orten kontextualisiert. Die Zwischenräume und Körper, in denen sie sich verorten, sind
eindeutig uneindeutig: Das Grenzland der New Mestiza, der Zwischenraum
des Nomadic Subjects, der Cyberspace bzw. das Netzwerk der Cyborg und die
Queerbar der Drag sowie ihre hybriden und uneindeutigen Körper entsprechen Standpunkten, die sie einnehmen und von denen aus sie ihre (Lebens-)
Welt14 erfahren und erkennen, die jedoch nicht identitär festzuschreiben ist.
Das Wissen und die Erkenntnis, die durch diese Begriffspersonen ermöglicht werden, können daher im Sinne der feministischen Epistemologie als »situiert« (vgl. u.a. Haraway 1995a) bezeichnet werden. D.h. die Begriffspersonen,
als Wissens- und Erkenntnissubjekte und -objekte sind sozial und kulturell
eingebettet, besitzen eine Körperlichkeit und werden von spezifischen (patriarchalen) Macht- und Herrschaftsverhältnissen konstituiert. Donna Haraway plädiert in ihrem Beitrag »Situiertes Wissen« für eine Verkörperung und
Verortung von Wissen und gegen verantwortungslose und nicht lokalisierbare
Erkenntnisansprüche (vgl. Haraway 1995a: 83). Begriffspersonen können kulturellen Werten und Normen verbunden sein oder mit ihnen brechen. Zudem
14 | Der Begriff »Lebenswelt« wird bei Merleau Ponty in der »Phänomenologie der Wahrnehmung« als gewissermaßen vorwissenschaftlich verstanden: »Danach ist der Mensch
›im ontologischen Sinn‹ In-der-Welt-sein (etre-au-monde). Das tritt zutage, wenn man
auf die natürliche L. zurückgeht und Epoché von den objektivierenden Wissenschaften
vollzieht. Einer vorurteilsfreien Deskription der ›vorprädikativen‹ reinen Erfahrung zeigt
sich, daß das Bewußtsein als durch den Leib in die Welt eingehendes ursprünglich und
untrennbar mit der Welt als seiner ›L.‹ vereint, an seine Situation und deren Horizonte
gebunden und so wesenhaft endlich ist« (Mühlmann (1980): 152).
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
nehmen sie spezifische Positionen innerhalb der Wissenschaftslandschaft
ein, feministische, postmoderne, postkoloniale, netzwerktheoretische und v.a.
queere, und agieren von diesen aus. Die feministische Erkenntnistheoretikerin
Mona Singer fasst das Konzept des »Situierten Wissens« zusammen:
»Wir nehmen ›wahr‹ aus einer bestimmten Denksozialisation heraus, mit bestimmten Interessen und Weltbildern im Hintergrund, mit einer bestimmten körperlichen Verfasstheit, mit wahrnehmungsverlängernden und -verändernden technologischen Mitteln, beschränkt und geprägt durch materielle Bedingungen, soziale und natürliche Umwelten«
(Singer 2008: 286).
Denken und Erkennen in Begriffspersonen bedeutet daher für Denker_innen/
Leser_innen, Standpunkte und Bewegungen aus einer bestimmten Perspektive nachzuvollziehen, wahrzunehmen und emotional zu erfassen. Zentral
im Konzept des »Situierten Wissens« ist die Annahme, dass Wissen stets von
einer konkreten Verortung und Verkörperung bestimmt wird. Im Unterschied
dazu bedeutet Kontextualisierung im Hinblick auf das Denken in Begriffspersonen, dass diese erst im Denkakt (der zu einer je spezifischen Erkenntnis
führt) selbst vollzogen wird.
Die untersuchten Begriffspersonen15 vertreten jedoch nicht allein feministisch
situierte Wissenspositionen, sondern nehmen darüber hinaus auch queer-intersektionale Perspektiven auf Lebenswelten ein. Sie teilen zwar mit den feministischen Erkenntnistheorien die Idee der Situiertheit von Wissen, erweitern
jedoch den Blickwinkel der feministischen Position um eine bestimmte Art
der Perspektivenverschränkung, die ich hier als »Das Andere der Anderen
Denken« bezeichne.
Die Forscher_innen Gabriele Dietze, Elahe Haschemi und Beatrice Michaelis haben sich in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Intersektionalität und
Queer Theory (2007) insbesondere auch mit einer »Queeren Epistemologie«
auseinandergesetzt. Gerade für die Untersuchung der Begriffspersonen eignet
sich ihr Ansatz besonders gut, weil diese Figuren in den meisten Fällen eine
Kritik an einem weißen, heteronormativen Mittelstandsfeminismus darstellen – indem sie etwa den Ansatz von queerer Intersektionalität bzw. Diversität verkörpern und damit über feministische Theorieansätze hinausgehen.
Als »differences within« bezeichnen Dietze et al. diesen Zugang, der innerhalb der Gendertheorien durch Schwarzen- und Transnationalen-Feminismus
zu einer Selbstkritik und Umgestaltung geführt hat (vgl. Dietze/Haschemi/
Michaelis 2007: 112). Mit der Einnahme einer queeren intersektionalen Pers15 | Ausgenommen ist die Begriffsperson Sister, insofern sie als universell, homogen,
weiß und westlich imaginiert wird.
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4. Zusammenführung
pektive können multiple, aufeinander bezogene Machtverhältnisse fokussiert
und kritisiert werden. Queere Epistemologien weisen nach Dietze et al. über
Heteronormativitätsanalysen hinaus und verstehen Gender als interdependente Kategorie (vgl. Dietze et al. 2007: 109). D.h. Gender wird immer schon als
ethnisiert, sexualisiert und lokalisiert verstanden.
Das Forschungskollektiv benennt aber auch eine Problematik, die ein solcher intersektionaler Zugang mit sich bringt und die in der Festschreibung
und dem vermeintlich identitären Charakter von Kategorien liegt. Daher schlagen sie vor, dass sich Queer Theory und Intersektionalität gegenseitig als kritische Methodologien »kontrollieren« sollen (Dietze/Haschemi/Michaelis 2007:
139). Weiteres betonen die Forscher_innen, dass Intersektionalität queer gelesen auch eine zeitliche Dimension beinhaltet, durch welche Kategorien nur
für einen bestimmten Zeitraum Geltung haben und somit veränderbar blieben
(ebd. 108-139).
Für die Begriffspersonen ist hier vorläufig vor allem der umgekehrte Zugang »queer-intersektional« bedeutsam, der eine »Ko-Präsenz oder Simultanität von Positionierungen« (Dietze/Haschemi/Michaelis 2007: 139) innerhalb
einer Person (Begriffsperson) meint. Demnach treffe auf die Begriffsperson
Sister vorwiegend das feministische Konzept des situierten Wissens zu, während das Nomadic Subject, die New Mestiza, die Cyborg und die Drag besser
mit dem Modell queer-intersektionaler »Positionierungen« verstanden werden
können: Begriffspersonen begreifen, so gesehen, ihre Umwelt durch einen
nicht-normativen Körper und nehmen dabei eine queer-intersektionale Perspektive ein.
In gewisser Weise findet auch in der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix
Guattari eine Situierung des Wissens statt. Dafür verwenden sie allerdings ein
völlig anderes Vokabular. Ein Erkenntnis-Begriff hätte keinen Sinn, wenn er
nicht zu einem »Bild des Denkens« in Beziehung stünde. Ein »Bild des Denkens« bezeichnen die beiden Philosophen auch als Immanenzebene, unter der
sie etwas Vorphilosophisches verstehen, etwas, das (ausschließlich) außerhalb
der Philosophie existieren kann, jedoch von dieser vorausgesetzt werde. Bild,
Person und Begriff hingen zusammen, insofern der Begriff auf ein solches Bild
verweist und ebenso auf eine Begriffsperson, welche es brauche (vgl. Deleuze/
Guattari 2000: 93). Wie der Begriff der »Immanenz« besagt, geht es hier um
eine Ebene, die dem Denken vorausgeht und sich vom Begriff der Transzendenz, der das Überschreiten der sinnlichen Erfahrung meint, unterscheidet.
Marc Rölli, der sich mit dem Konzept der Immanenz bei Deleuze auseinandergesetzt hat, erklärt, dass vorphilosophische Annahmen den Kontext bilden, aus dem ein »Bild des Denkens« entwickelt wird. Die vorphilosophische
Errichtung einer Immanenzebene, so Rölli, stellt innerhalb der Philosophie
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
einen Bezug zur Nicht-Philosophie oder zu einem Außen her (vgl. Rölli 2011:
40). In den Ausführungen von Deleuze und Guattari heißt es dazu:
»Vorphilosophisch meint nicht Präexistentes, sondern etwas, das nicht außerhalb der
Philosophie existiert, wenngleich es von dieser vorausgesetzt wird. Es sind ihre inneren
Bedingungen. Das Nicht-Philosophische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie
als die Philosophie selbst und bedeutet, daß die Philosophie nicht hinlänglich auf bloß
philosophische oder begriffliche Weise verstanden werden kann, sondern in ihrem Wesen sich auch an die Nicht-Philosophen wendet« (Deleuze/Guattari 2000: 49).
Wenn Deleuze und Guattari die Immanenzebene als das »Innerste und das
absolute Außen im Denken« (Deleuze/Guattari 2000: 69) beschreiben, dann
sind damit jene Elemente des Nicht-Philosophischen gemeint, die zu einer Situierung und Kontextualisierung des Wissens und Erkennens beitragen. Allerdings bleiben die beiden Philosophen abstrakt, wenn es um die Bestimmung
des Innersten bzw. des Äußersten der Philosophie geht. Sie beschreiben es als
die »Materie des Seins« oder als »intuitives Verständnis« (vgl. Deleuze/Guattari 2000: 48-49). Der Verweis von Rölli, dass die Immanenz die Einheit der
traditionellen Gegensätze von Geist und Materie, Leib und Seele, Denken und
Ausdehnung suggeriere, mag für ein Verständnis richtungsweisend sein. Das
Denken würde gemäß Deleuze und Guattari, so Rölli, von außen stimuliert
werden und einen Bezug zum Nicht-Denken, zum Beispiel zum Affektiven
und Wahrnehmbaren, herstellen (vgl. Rölli 2011: 38-39). Gerade dieses Außen
der Philosophie, die Nicht-Philosophie, kann im weitesten Sinne auch als »Situiertheit des Denkens« (vgl. ebd.) und als Kontext, d.h. als vorphilosophische
Annahme, begriffen werden. Dazu schreibt Rölli:
»Das ›was nur empfunden werden kann‹, erschüttert die Seele, macht perplex und zwingt
zum Denken. Und nicht allein in Begriffen bewegt sich das philosophische Denken, sondern es geht noch weiter, indem es auf die nicht-philosophischen Bedingungen reflektiert, die es verursacht haben – und die somit (noch einmal sei es gesagt) innerhalb der
Philosophie wiederkehren (als vorphilosophische Ebene, die möglichst immanent entworfen werden muss, wenn mit ihr das philosophisch unbedingte Außen der Affektivität
etc., d.h. die Nicht-Philosophie, adäquat gedacht werden soll« (Rölli 2011: 41).
Deleuze und Guattari schreiben, dass jede_r Philosoph_in seine eigene Immanenzebene herstellt, auf der Begriffspersonen und Begriffe angesiedelt sind.
Das »Außen« des Denkens beeinflusst die vorphilosophische Immanenzebene. Wenn nun jede_r Denker_in ein eigenes neues Bild, eine neue Immanenzebene gefunden hat, dann variieren gemäß Deleuze und Guattari diese im
Lauf der Geschichte. Sie schreiben, dass etwa die Ebene bei den Griechen,
im 17. Jahrhundert und heute nicht dasselbe wären: »[…] weder dasselbe Bild
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4. Zusammenführung
des Denkens noch derselbe Stoff des Seins« (Deleuze/Guattari 2000: 47). Im
Gegensatz zu den Konzepten des situierten Wissens kann die Immanenzebene
jedoch nicht als konkrete Verortung oder Verzeitlichung gedacht werden. Und
auch Begriffspersonen können nicht auf ihre historischen, sozialen und politischen Zusammenhänge zurückgeführt werden, eben weil sie niemals bloßer
Effekt dieser Strukturen sind, sondern – im Sinne von Ereignissen – mit ihnen
brechen. Deshalb können lediglich Sozialfiguren mit dem Konzept des »Situierten Wissens« erfasst werden. Eine Begriffsperson ist zwar auch situiert,
aber ihre Situation ist jeweils eine absolut singuläre, welcher ein Ereignis entspricht, aus dem sie sowie die ihr zuordenbare Immanenzebene hervorgehen.
Mit Immanenzebene ist eine bestimmte Weise des Denkens gemeint, die im
weitesten Sinne als kontextualisiert interpretiert werden kann. Als solche vorphilosophische Ebene beschreiben die beiden Philosophen u.a. die Zugangsweise »eines subjektiven und impliziten Verständnisses« des »Ich denke« bei
Descartes (vgl. Deleuze/Guattari 2000: 49). Mit diesem Beispiel machen sie
deutlich, dass auch diese vermeintlich »neutrale« Erkenntnisposition letztlich
situiert ist. Weiters führen sie als Immanenzebene das »virtuelle Bild eines
Bereits-Gedachten« bei Platon oder etwa das »vorontologische Verständnis des
Seins« bei Heidegger an (vgl. ebd.).
»Die Begriffspersonen […] vollziehen jene Bewegungen, die die Immanenzebene des Autors beschreiben […]« (Deleuze/Guattari 2000: 72). Im Hinblick
auf die untersuchten Begriffspersonen bedeutet dies, dass die unterschiedlichen Bewegungen der Begriffspersonen wie »Solidarisieren«, »Frau-Werden«,
»Vernetzen«, »Ent-Grenzen« und »Re-inszenieren« die Immanenzebenen
ihrer Theoretiker_innen wie die von Gloria Anzáldua, Rosi Braidotti, Judith
Butler, Donna Haraway oder feministischen Kollektiven darstellen. Das »Bild
des Denkens« oder die Immanenzebenen der Begriffspersonen können daher
im weitesten Sinne auch als Situiertheit bezeichnet werden. Im Unterschied
zu diesen geht die Immanenzebene aber über die Kontextualisierung von Verzeitlichung und Verortung hinaus. Auf dieser Ebene werden unterschiedliche
Kräfteverhältnisse wie emotionale, affektive und unbewusste Komponenten
wirksam, die durch »äußerliche« Verhältnisse bestimmt sind. Durch das Konzept der Immanenzebene wird das queer-feministisch situierte Wissen und
Erkennen materialisiert und gefühlt wahrgenommen. Der Fokus wird auf der
Immanenzebene dahingehend verschoben, dass das Außen der Philosophie
im Denken ein vorgestelltes »Bild« erzeugt. Während beim situierten Wissen
die konkreten zeitlichen, sozioökonomischen und geopolitischen Umstände
Einfluss auf Denken und Erkennen nehmen, umfasst die Immanenzebene
das je Körperliche/Leibliche/Materielle und Affektive/Emotionale im Denken.
Damit rückt dieses Konzept das Tätigsein des Denkens, das mit einem Außen
»vernetzt« ist bzw. in direkter Verbindung steht, in den Mittelpunkt. Im situierten Wissen, ob feministisch oder queer-intersektional, werden wiederum
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Macht- und Herrschaftsverhältnisse erkennbar, die auf der Immanenzebene
nur implizit verhandelt werden. Die Positionierung des Wissens scheint jedoch
mehr eine Verortung denn ein (Denk-)Prozess zu sein und neigt dazu, das
Subjekt der Erkenntnis als (selbst-)identitär vorauszusetzen. Das Denken in
Begriffspersonen unterscheidet sich jedoch vom Konzept des »Situierten Wissens«. Die Situierung von Wissen meint etwa in den gängigen Haraway-Rezeptionen oder Singer zufolge eine ganz konkrete materielle und körperliche
Verortung, die die Interessen und Wahrnehmung der Erkennenden bestimmt.
Denken und Erkennen in Begriffspersonen dreht diesen Vorgang um. Die Perspektive und Wahrnehmung der Begriffspersonen bestimmt die Kontextualisierung von Wissen und »materialisiert« sich im Denken.
Diesen beiden Konzepten, dem der feministisch und/oder queerer intersektionalen Positionierungen und jenem der Immanenzebenen, füge ich ein
weiteres hinzu, das ein Denken und Erkennen in Begriffspersonen adäquat
erklären kann. Das Spannungsverhältnis zwischen der Positionierung bzw.
Verortung einerseits und dem Prozess des Denkens der Begriffsperson andererseits wird dabei nicht aufgelöst, sondern in eine andere Denkperspektive
transferiert.
Begriffspersonen als (queere) Assemblagen
Begriffspersonen sind im Paradox der Bewegung und Positionalität kontextualisiert. Ich interpretiere also den Ansatz des »Situierten Wissens« in Bezug auf
Begriffspersonen neu. Kontextualisierung meint hier nicht mehr die Feststellung eines konkreten Ortes, sondern ist die Benennung der Denk-Bewegung
einer Begriffsperson. Die Denk-Bewegung beschreibt eine Form der Verortung, indem sie die Figur mit verschiedenen materiellen und affektiven Elementen in Beziehung setzt. Das Nomadic Subject konstituiert sich etwa durch
die Bewegung der De-Territorialisierung, des Umherziehens. Seine Verortung
liegt sowohl in der Bewegung selbst und in den Verhältnissen, die es mit seiner Umwelt eingeht, als auch in einem nicht-identitären weiblichen Körper.
Im Nomadic Subject wird das Begehren nach Weiblichkeit und Frau-Werden
wirksam. Die New Mestiza konstituiert sich ebenso durch de-territoriale Bewegungen des Ent-grenzens und in ihrer Beziehung zum Borderland. Affektive
Kräfte des Werdens treiben sie zu einem »New Mestiza Consciousness« an.
Die Cyborg vernetzt sich mit maschinellen, nicht-humanen Elementen, weshalb ihr Körper nicht an der Haut endet, wie Haraway schreibt. Butlers Drag
wiederum setzt sich aus queeren körperlichen Komponenten und Gesten zusammen, die vor allem durch das Begehren, etwas singulär anderes zu werden,
getragen sind. Die Drag konstituiert sich durch ihr Verhältnis zum Publikum,
auf der Bühne und durch die Performance; die Begriffsperson Sister, insofern
sie eine vermeintlich universale Position einnimmt, fühlt sich mit anderen
Schwestern weltweit verbunden.
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4. Zusammenführung
Ein intersektionales Denken bleibt der Tätigkeit des Kategorisierens verpflichtet und arbeitet somit entweder mit abgrenzbaren Kategorien und Identitäten oder mit interdependenten Kategorien. Der Vorteil, den das Assemblagen-Konzept demgegenüber bietet, wird vom Forschungskollektiv Dietze,
Haschemi und Michaelis durchaus in wesentlichen Punkten erkannt und benannt. Er liege darin, dass dieser Denkansatz sich auf Modi des Seins und
Handelns konzentriere (vgl. Dietze/Haschemi/Michaelis 2007: 137). Deswegen schlagen sie eine »Verwebung« beider Konzepte vor16 (vgl. ebd.). Dabei
übersehen sie allerdings, dass diese Denkweisen in ganz grundlegender Art
miteinander inkompatiblel sind. Während nämlich die Arbeit mit Kategorien
ihrem Wesen nach deduktiv vorgeht und es als gegeben ansieht, dass es Tatsachen gibt, die unabhängig von ihrer Repräsentation existieren, ist ein Denken
in Assemblagen ein zutiefst induktiver Vorgang, der sich mit der Suche nach
Kategorien und Repräsentationen schon deshalb nicht vereinbaren lässt, weil
dafür eine grundlegende Trennung zwischen Objekt und Subjekt Voraussetzung ist, die ein radikales Denken der Immanenz nicht zulässt.
Die Genderforscherin Jasbir K. Puar arbeitet u.a. in ihrer Studie »Terrorist Assemblage« (2007) und in einem Beitrag zu Intersektionalität, Assemblage und
Affektpolitik (2011) mit dem Konzept der Assemblage. Sie betont, dass dieser
Zugang Queerness nicht als Identität oder Anti-Identität verstehe, sondern als
ein räumlich und zeitlich kontingentes Gefüge. Durch ihn verschiebt sich das
Erkenntnisinteresse von Vorstellungen intersektionaler Identitäten hin zu Affekten, Taktilitäten und ontologischen Konzepten. Am Beispiel der terroristischen Körperlichkeit führt sie aus, wie sich der Fragenhorizont verschiebt.
Anstatt nach der Bedeutung und der Funktion zu fragen, wie es einer Identitäts- oder einer Repräsentationspolitik entspräche, gewinnt die Frage an Dringlichkeit, was diese terroristische Körperlichkeit tut (vgl. Puar 2009: 272). Puar
wendet sich gegen das Konzept der Intersektionalität, weil es zu einer Stärkung
des Subjekts, und zwar zu einem bestimmten Subjekt, das durch eine identitäre Kategorie bestimmt sei, führe. Die Hervorkehrung einer besonderen Differenz würde Identität befördern und Exklusionen erzeugen. Sie argumentiert,
dass Intersektionalität als eine Hermeneutik der Positionalität gedacht werde,
die über Verortung, Spezifität und Überkreuzung Rechenschaft ablege (vgl.
Puar 2009: 281). Sie schreibt: »Identität ist ein Effekt von Affekt, ein Eingefangenes, das vorschlägt, was man ist, indem es seine retrospektive Ordnung maskiert und somit seine ontogenetische Dimension – was man war – durch die
16 | Um kritik- und handlungsfähig bleiben zu können, sehen sie einen »strategischen
Kategorialismus« für notwendig an und lehnen eine konsequente Abkehr von Kategorisierungen ab (vgl. Dietze/Haschemi/Michaelis 2007: 138). Eine überaus relevante Fragestellung, die zu behandeln im Rahmen der vorliegenden Arbeit aber nicht möglich ist.
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Verkleidung einer illusorischen Zukünftigkeit: was man ist und weiterhin sein
wird« (Puar 2009: 283). Eine Position wäre Puar zufolge jedoch eine Version,
ein Punkt in einer dauerhaften Bewegung. Assemblagen befinden sich in Bewegung und verharren nicht in einer Positionalität, sondern gehen aus Interaktionen hervor. In ihnen mischen oder trennen sich Partikel oder Elemente
zu instabilen Einheiten, die unmöglich konkreten Kräften, Zeiten, Räumen
oder Körpern zuordenbar sind; und sie brechen mit Linearität, Kohärenz und
Dauerhaftigkeit (vgl. Puar 2009: 286).
Queere Begriffspersonen entsprechen Assemblagen, weil sie sich durch ein
Tun konstituieren und in diesem Tun mit unterschiedlichen Elementen und
Intensitäten in Relation stehen. Allerdings trifft das Konzept der Assemblage
für die Begriffsperson Sister, sofern diese als identitäre Figur vorgestellt wird,
nicht zu. Zwar konstituiert sie sich auch durch verschiedene Tätigkeiten, jedoch
der Bezugsrahmen bleibt der imaginären Vorstellung einer homogenen globalen Schwesternschaft verhaftet. Das innovative an (queeren) Begriffspersonen
ist, dass sie als bewegliche Gefüge zu einer queeren Epistemologie befähigen,
Kräfteverhältnisse – auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse – sowie materielle und affektive Elemente in das Erkennen mit einbeziehen und diese darüber
hinaus für Leser_innen im Denken spür- und wahrnehmbar machen. Sie ermöglichen einen Erkenntnisprozess, der über ein bloßes Verstehen hinausgeht
und so zu einem affektiven Erleben und Verstehen in Begriffspersonen wird.
Die Ontoepistemologie der Begriffspersonen:
Denken und Erkennen durch (affektives) Werden
Ein affektives Erleben und Verstehen in Begriffspersonen wurde in den letzten
Kapiteln als Denk-Bewegung beschrieben. Die Tätigkeiten des Denkens, durch
die sich Begriffspersonen konstituieren, werden sowohl von Autor_innen als
auch von Leser_innen als Denk-Bewegungen, als Verstehensprozesse, nachvollzogen. Begreifen in Begriffspersonen bleibt kein äußerliches Betrachten,
sondern wird im Denken gewissermaßen einverleibt und gespürt. Dieses Tätig-Sein des Denkens wurde von Nachahmungs- und Dis-Identifikationsprozesse abgegrenzt und als »Im Denken Werden« interpretiert. Das Drag-Werden, Cyborg-Werden, New Mestiza-Werden und Frau-Werden meint, in der
Denk-Bewegung etwas anderes zu werden. Das Streben danach etwas zu begreifen (z.B. das Wesen der Drag zu Begreifen) verändert und im Moment des
Begreifens vollzieht sich die Transformation. Dabei dient die Vorstellung der
Begriffsperson mehr einem Konstrukt. Sie wird zwar als abgeschlossene Figur
oder Person eingebildet, setzt sich jedoch aus unterschiedlichen Komponenten
und Bewegungen zu einem Gefüge bzw. zu einer Assemblage zusammen. Das
Denken in Begriffspersonen bzw. queeren Assemblagen differenziert sich im
Verstehensprozess als Erkennen, Begreifen und Werden aus.
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4. Zusammenführung
Im Sinne der Physikerin Karen Barad kann dieser erkenntnistheoretische
Vorgang in Begriffspersonen auch als Ontoepistemologie (vgl. Barad 2008
und 2012) bezeichnet werden. D.h., die Trennung zwischen Erkenntnistheorie
und Ontologie ist verschoben und nicht mehr eindeutig auszumachen. Dieser Zugang anerkennt, dass das Subjekt der Erkenntnis wesentlichen Einfluss
auf den Forschungsgegenstand nimmt und ein »reines, objektives« Erkennen
nicht möglich ist – im Gegenteil. Daher entsteht der Gegenstand der Erkenntnis erst im Vollzug des Verstehens. Dieses Mit-Herstellen des Forschungsgegenstandes im Erkenntnisprozess verweist auf seine ontologische Seite (auf
Fragen des Seins und Werdens).17 Es besteht also Barad zufolge eine Verwobenheit zwischen Subjekt und Objekt der Forschung, sowie dem Apparat der Beobachtung. Bedeutungen und Materie bringen sich gegenseitig hervor, stehen
in einem Wechselverhältnis und intraagieren (vgl. Barad 2012: 43).
Erkenntnis- und Seinspraxen gehen im Denken und Verstehen in Begriffspersonen ineinander über. Deshalb kann auch von einem spezifischen »(Gender-)Werden« gesprochen werden. Trotzdem trifft das skizzierte Konzept der
Ontoepistemologie von Barad nur teilweise auf die Begriffspersonen zu. Barad
geht nämlich dezidiert von einem Materialismus aus, in dem Materie nicht als
passive Substanz verstanden wird, sondern ein »Tätigsein von Dingen« meint.
Im Konzept der Ontoepistemologie materialisiert sich Materie u.a. auch durch
(Beobachtungs-)und Analyse-Praxen. Das Konzept der Begriffspersonen ist jedoch nicht auf einer empirischen, sondern auf einer theoretischen Ebene angesiedelt. Barad hingegen analysiert v.a. physikalische Phänomene, in denen
sich Materie durch spezifische Praktiken materialisiert, die sie als ontoepistemologische Prozesse bezeichnet (vgl. 2012 Barad: 100).
Das Konzept der Begriffspersonen kann deshalb mit dem der Ontoepistemologie kompatibel sein, weil sich die Vorstellungsbilder bzw. Denkvollzüge gewissermaßen in der Denker_in selbst materialisieren, verleiblichen und
»werden«. Begriffspersonen bleiben kein abstraktes Denken, eine bloße Idee,
sondern werden zur Denker_in selbst. D.h., es findet eine affektive Ontoepistemologie statt, die sich zwischen Denker_in, Denken (als Apparat der Beobachtung) und Begriffsperson aufspannt. Was hier sich als Materie/Substanz/
Körper/Leib materialisiert, ist die Denker_in selbst im Werden einer Begriffsperson. An dieser Stelle wiederholt sich meine Überlegung, dass durch Denken eine Form von Materialisierung stattfindet. Denker_innen vollziehen in
17 | Donna Haraway hat beispielsweise mit der Begriffsperson Cyborg das Konzept der
Ontoepistemologie vorweggenommen, indem sie von einer materiell-semiotischen Akteur_in spricht. Die Cyborg setzt sich im Tätigsein des Vernetzens aus materiellen Komponenten und diskursiven Praxen zusammen. Das bedeutet, dass in der wechselseitigen
Intraaktion zwischen Diskurspraktiken, in der die Forscher_in involviert ist – bei Barad
wären es die Laborapparate – und Materie erst die Begriffsperson Cyborg erzeugt wird.
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
der Denk-Bewegung der Begriffspersonen Erkenntnis- und auch Seinspraktiken, die nicht voneinander zu trennen sind. Wenn Deleuze schreibt: »Es ist
das Schicksal des Philosophen, seine Begriffsperson(en) zu werden, während
zugleich diese Personen zu etwas anderem werden als das, was sie geschichtlich, mythologisch oder landläufig sind (Platons Sokrates, Nietzsches Dionysos, Kues Idiota.)« (Deleuze/Guattari 2000: 73), dann findet sozusagen eine
Intraaktion zwischen Philosoph_in, Denk-Apparat als Denkbewegung und
Begriffsperson statt. Erkenntnissubjekt und -objekt werden eins bzw. das Erkenntnissubjekt wird zu etwas anderem und auch das Objekt »der Begriffsperson« wird im Beispiel von Deleuze zu etwas anderem, nämlich Dionysos
wird selbst zum Philosophen. Begriffspersonen, Denker_in und Begriffe sind
miteinander verwoben und bringen sich in einem Werdens-Prozess gegenseitig hervor. Denken und Erkennen durch Werden entsteht jedoch erst durch
affektive Momente im Begreifen der Begriffspersonen.
Vom Intensiven im Denken
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Begriffspersonen als queere Assemblagen nicht nur Begriffe und Konzepte transportieren und verkörpern, sondern
auch zu einem emotionalen Verstehen und affektiven Werden befähigen. Das
affektive unbegriffliche Nachvollziehen der (Denk-)Bewegungen in Begriffspersonen auf der Immanenzebene ist Teil des Verstehens- und Erkenntnisprozesses. Das Begreifen, Ergriffen-Werden und das Begehren Begriffspersonen
zu werden sind eine Form des rationalen und emotionalen Verstehens. Im Erkennen werden daher Affekte und Begehren aktiviert, die durch ein Außen,
durch äußerliche Relationen auf der Immanenzebene oder im »Bild des Denkens« bzw. im situierten Wissen angesiedelt sind.
Im vorigen Kapitel wurden sowohl die Affekt- und Empfindungsbegriffe der Begriffspersonen, als auch deren Begehren analysiert, die eben dieses
Außen gewissermaßen aktualisieren. Rölli schreibt im Hinblick auf Deleuze,
dass es durch philosophische Begriffe gelingen kann, das Außen des Denkens
zu internalisieren. Dieses »Außen«, das der Kontext bzw. die Wirklichkeitsnähe der Begriffspersonen benennt, drückt sich etwa bei der New Mestiza im
Schmerz als Erfahrung einer kolonialen Geschichte oder beim Nomadic Subject als ein Begehren nach Repräsentation von Weiblichkeit aus, die Frauen
vorenthalten wurde.
Vorphilosophische Annahmen setzen sich aus Erfahrungen und einem
nicht-begrifflichen Verständnis von Affekten und Perzeptionen (Wahrnehmungen) zusammen. Als Varianten der Nicht-Philosophie formen sie »Bilder
des Denkens« bzw. Immanenzebenen (vgl. Balke/Rölli 2011). Insofern wäre
dieses Vorphilosophische nichts Präexistentes, sondern etwas, das innerhalb
der Philosophie existiert (vgl. Deleuze/Guattari 2000: 49). Die Philosophie
hänge von (äußerlichen) Problemen und Fragen ab, die von einer »WirklichBrought to you by | Cambridge University Library
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4. Zusammenführung
keitsnähe« und von einer »Einstellung des Empirismus« profitieren (Rölli
2012: 308). Gerade dieses Außen bewegt zum Denken, wie Deleuze schreibt:
»Vom Intensiven zum Denken – stets ist es eine Intensität, durch die uns das
Denken zustößt« (Deleuze 1992: 188). Rölli zufolge wäre dies ein Außen, das
»nach innen gefaltet« bzw. »wiederholt« werde, ein »autoreferentielles« Schaffen von Ereignissen. Dieses »Außen«, dass die vorphilosophische Ebene bzw.
ein »Bild des Denkens« bestimmt, ist die Immanenz selbst, die innerhalb der
Begriffspersonen wirksam wird und affiziert. Die Immanenz bedeutet bei Deleuze gewissermaßen das Leben. Er schreibt: »Ein Leben ist überall, in allen
Augenblicken, die von diesem oder jenem lebenden Subjekt durchlaufen und
von diesen oder jenen erlebten Objekten gemessen werden: ein immanentes
Leben, das die Ereignisse oder Singularitäten mit sich reißt, welche sich in den
Subjekten und Objekten nur aktualisieren« (Deleuze 1996: 31).
Begriffspersonen ermöglichen durch ihre Vermittlungsform ein Denken,
Erkennen und Verstehen, in denen Äußerlichkeit und Intensität verkörpert
und versinnlicht in Denkbewegungen wahrgenommen werden können. In der
Perspektive der Begriffspersonen zu denken, meint nicht nur, ein spezifisch
situiertes und verkörpertes Wissen zu empfinden, sondern auf der Immanenzebene die Denkbewegung von Begriffspersonen nachzuvollziehen. Die DenkBewegung bedeutet gewissermaßen die Situierung von Wissen, die sich in der
Denker_in materialisiert. In Begriffspersonen (als queere Assemblagen) zu
erkennen, heißt, in den Beziehungen von Intensitäten und materiellen Elementen zu begreifen. Das geht über einen rationalen Erkenntnisprozess hinaus. Das Begriffspersonen-Werden ist ein Prozess, der affiziert und infiziert.
Die Affekte und Begehrensweisen sind in hohem Maße ansteckend, sobald sie
wirksam werden. Die Ansteckung durch Begriffspersonen ist ein emotionales
und auch rationales Verstehen, eine Weise der Dis-Identifizierung.
4.2 A ffek tive V erkollek tivierungen
Die untersuchten Begriffspersonen Sister, Nomadic Subject, New Mestiza, Cyborg und Drag sind Ikonen der westlichen Women-, Gender-, Queer- und Transgender Studies und Repräsentant_innen für neue Frauen- bzw. Geschlechterbilder. Als Vorbilder stehen sie – bis auf die Sister – für ein Paradoxon, nämlich
das der allgemeinen »Partikularität« (universalen Singularität) in der Geschlechterforschung. Dieses Paradoxon meint, dass die in sich oft uneindeutigen Begriffspersonen, trotz ihrer singulären und partikularen Positionen, zugleich für eine Allgemeinheit innerhalb der Gender Studies stehen.
Während vorwiegend die »weiße« Sister einen universellen Emanzipationsanspruch erhoben und Differenzen, Diversität und Partikulationsinteressen unter Frauen nivelliert hat – und im Gegenteil Homogenität postulierte,
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
ähnlich der Figur des Bruders oder des Arbeiters –, grenzen sich die anderen
untersuchten Figuren von ihr ab. Wie in der Kritik an der Begriffsperson Sister
und der Idee einer global sisterhood deutlich wurde, bedeutet Universalität,
dass partikulare Interessen privilegiert und hegemonial gesetzt, während andere verdrängt und ausgeschlossen werden (vgl. Žižek 2013: 132). Gerade das
Verworfene und Ausgegrenzte zeigt sich in den Denk-Bewegungen der intersektionalen Begriffspersonen wie des Nomadic Subjects, der New Mestiza, der
Cyborg und der Drag, die in sich mannigfaltig, verschieden und partikulär sind.
Daher stellt sich die Frage, ob und inwieweit die untersuchten intersektionalen Begriffspersonen Anti-Held_innen bzw. Repräsentant_innen neuer
Menschenbilder sind, wenn sie nicht mehr als universelle Emanzipationsfiguren auftreten. Wie erklärt sich das Paradoxon, dass uneindeutige Begriffspersonen zu (allgemeinen) Begehrens- und Identifikationsfiguren werden?
Inwiefern und auf welche Weise können sich Gender-Interessierte mit diesen
Begriffspersonen (dis-)identifizieren, wenn sie in sich vielfältig sind und keine
(eindeutigen) Befreiungsgestalten sind?
Dieses Kapitel gliedert sich nach folgenden Fragestellungen: (1) Inwieweit
können Begriffspersonen als Anti-Held_innen oder als Vorbilder verstanden
werden? (2) Wie affizieren sie ihre Leser_innenschaft und Aktivist_innen? (3)
Welche communities gehen daraus hervor?
Zunächst werde ich die Frage der weiblichen bzw. feministischen Held_innen debattieren, inwieweit es überhaupt weibliche Held_innenfiguren gibt und
inwieweit Begriffspersonen diesen angehören. Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Unterschiede zwischen klassischen Heldenfiguren und feministischen, feministisch-queeren, queeren und postkolonialen Anti-Held_innen
werden problematisiert. Daran anschließend frage ich, was das Affizierende
der Begriffspersonen ist und zu einem Begehren nach Dis-Identifikation und
einem Geschlechter-Werden führt. Dabei fokussiere ich auf die affektiven Momente, die ein community building hervorbringen und »vorgestellte« Gemeinschaften erzeugen. Es interessiert mich besonders, welche Gestalt diese nichtidentitären Kollektive annehmen.
4.2.1 Die Anti-Held_in als der »Neue Mensch«?
Das Dilemma von glaubhaften weiblichen Heldenkonstruktionen wird u.a. von
Gabriele Dietze in ihrem Buch zu »hartgesottenen« Privatdedektiv-Heldinnen
(Hardboiled Woman: Dietze 1997) problematisiert. Dietze gibt zu bedenken,
dass die Heldenfigur und Heldenlegenden männlich okkupiert und durch
spezifische Eigenschaften wie Einsamkeit, Ehrgeiz, Dominanzverhältnis und
Gewalt und durch eigene Rollenzuweisungen charakterisiert seien. Frauen
werden vorwiegend die Rollen der »Bitch Goddess« oder des »Virgin Victim«
zugeschrieben (Dietze 1997: 224). Daher stellt sich die Frage: Wie können
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4. Zusammenführung
weibliche Held_innen jenseits eines gesellschaftlich stereotypen Geschlechterimaginären aussehen? Und können Begriffspersonen auch als Held_innen
definiert werden?
Der Heldenmythos, der mit Freiheit im Dienst einer höheren Sache verbunden wird, z.B. im Dienste der Nation (vgl. Mosse 1996: 72), trifft am ehesten auf die Begriffsperson der »weißen« Sister zu – jedoch im Sinne einer
Umkehrung von patriarchalen Verhältnissen. Sie, die weiße Sister, steht für
Gleichheit, Autonomie und für die Befreiung aller Frauen weltweit. Während
die Begriffspersonen Nomadic Subject, New Mestiza, Cyborg und Drag keinem/r
eindeutigen Geschlecht, Ethnizität, Sexualität oder Klasse zuordenbar sind,
verschiebt sich bei ihnen auch die Vorstellung, einer »einzigen und eindeutigen« Idee treu zu bleiben.
Die Sister lässt sich v.a. in feministischen Utopie-Romanen der neuen
Frauenbewegung wiederfinden, in denen sie eine Gegen-Geschichte zu patriarchalen Verhältnissen und Lebensweisen erzählt. Sie kann daher auch als
Anti-Heldin bezeichnet werden. Während sie in Theorietexten oder in Textüberschriften nur indirekt als appellative, solidarische, verkollektivierende und
familiarisierende Figur in Erscheinung tritt (siehe Kapitel 2, insbesondere 2.2),
wird sie in weißen-westlichen Utopie-Romanen oft konkret als heroische Einzelfigur oder als Kollektiv erzählt.
Als Held_in widerspricht sie traditionellen Frauenrollen und übt Berufe
bzw. Tätigkeiten aus, die herkömmlich als »männlich« definiert wurden, wie
etwa Naturwissenschaftlerin (vgl. Russ 1981), Kämpferin bzw. Abenteurerin
(Piercy 1993) oder Politikerin. Zudem weicht sie von normativen weiblichen
Biografien ab, vereinbart männlich codierte Berufsinteressen mit Mutterschaft
und nimmt eine tragende gesellschaftliche Position ein (vgl. Holland-Cunz
1988: 320).
Darüber hinaus werden die Sisters in einigen Utopie-Romanen auch als
(Held_innen-)Kollektiv beschrieben, wie etwa in Herland (Gilman 1986) oder
Die Verschwörung der Balkis (Wittig 1980). Die von Männern »befreiten« Frauengesellschaften leben oft in basisdemokratisch oder anarchistisch organisierten politischen Systemen, zumeist harmonisch und in Eintracht mit der Natur.
Gilman beschreibt etwa das Frauenkollektiv in ihren Roman Herland: »Sie
hatten sich zweitausend Jahre lang völlig ohne Männer entwickelt. Davor gab
es nur haremähnliche Traditionen. Sie kannten keinen analogen Begriff für
unser Wort Heim und ebenso wenig für unser Wort romanischen Ursprungs
Familie« (Gilman 1986: 129).
Die Politologin Barbara Holland-Cunz, die sich in einer umfassenden Studie
mit feministischen Utopie-Romanen auseinandergesetzt hat, charakterisiert
die Motivation der feministischen (Anti-)Heldinnen folgendermaßen:
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
»Aus dem privaten Willen zum Überleben erwächst die Erkenntnis, daß nur die Rettung
der Welt, ihre grundlegende Veränderung, noch Hoffnung auf (weibliches Über-)Leben
verspricht. Die private Sehnsucht der Frau nach Leben wird so feministisch politisiert
und motivisch heroisiert. Die Befreiung der Frau führt in feministisch-theoretischer
Schlüssigkeit zur Befreiung/Heilung/Rettung der Welt. Selbstbewußt und zugleich beschwörend/unsicher erwartet die Bewegung gesellschaftliche Veränderung nur noch
aus weiblicher Perspektive. Die Frau wird die Welt retten – oder beide werden vernichtet« (Holland-Cunz 1988: 357).
Der Wunsch nach Rettung und Befreiung durch die schwesterlichen (Anti-)
Held_innen, der latent auch Teil von theoretisch feministischen Texten sein
kann, wird in den utopischen Schriften ausgesprochen. Die Sisters ringen in
Utopia gegen ein patriarchales System von Frauenhass, Naturzerstörung, Sexismus, Rassismus und gegen patriarchale Institutionen wie »die« Kleinfamilie oder gegen eine geschlechtersegregierte Arbeitsteilung (vgl. Holland-Cunz
1988: 357). Der gesellschaftliche Zusammenhang wird meist durch Frauensolidarität bestimmt. Das Verständnis einer einfachen Dichotomie bzw. Trennlinie zwischen patriarchalen Tätern und weiblichen Opfern entspricht den
Mustern der klassischen Heldensagen, in denen das unterdrückte Volk von
einem Heroen oder einem schwesterlichen (Anti-)Held_in/nen Kollektiv (der
Frauenbewegungen) befreit wird. Allerdings wurde dieses dichotome TäterOpferschema, wie bekannt ist, von Feminist_innen vielfach als imaginärer
Wunsch kritisiert (vgl. etwa Thürmer-Rohr 1983).
Die Theoretikerinnen Rosi Braidotti und Gloria Anzaldúa hingegen haben ihre
Begriffspersonen Nomadic Subject und New Mestiza als uneindeutige und hybride weibliche Protagonist_innen in ihre theoretischen Konzepte eingeführt,
die eine geschlechtliche Binarisierung und eine eindeutige ethnische Zuordnung nicht mehr zulassen. In Braidottis philosophischem Konzept des Nomadic Subjects geht es um einen »Frau-Werdens-Prozess«, der keine fixe Identität
annimmt. Das Nomadic Subject beinhaltet autobiografische Aspekte, und als
Protagonistin des nomadischen Konzepts steht sie für eine weibliche Vision.
Gerade der Moment der Erschaffung von (alternativen) weiblichen Subjektformen und weiblichen Vorbildern trifft zum Teil auch auf andere Begriffspersonen zu und entspricht daher sowohl der Idee des »Neuen Menschen« als auch
der der Widerstandsfigur wie auch jener der Anti-Heldin. Braidotti stilisiert
das Nomadic Subject als eines, dass ein spezifisches nomadisches Bewusstsein
gleich der foucaultschen Gegen-Erinnerung (countermemory) innehat. Sie
verwendet explizit die Formulierung, sich gegen den hegemonialen »Strom«
zu erinnern und eine »Rebellion« des subjektivierten Wissens zu beschließen
(vgl. Braidotti 1994: 25). Widerstand, Autonomie, weibliche Repräsentation
bzw. Ikonografie und das Anliegen nach gesellschaftlicher Veränderung werBrought to you by | Cambridge University Library
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4. Zusammenführung
den an unterschiedlichen Textstellen deutlich: »Thinking is life lived at the
highest possible power – thinking is about finding new images, new representations. Thinking is about change and transformations« (Braidotti 1994: 101
vgl. auch 95-11).
Auch die New Mestiza, die sich als feministisch-queere und hybride Grenzgängerin zwischen Kulturen, Sprachen, Orten und Klassen bewegt und außerhalb
von heteronormativen Ordnungen, kann als Widerstandsfigur interpretiert
werden. Borderlands handelt ebenso von einem (autobiografischen) »WerdensProzess«, den Gloria Anzaldúa im Vorwort beschreibt: »I am a border woman.
I grew up between two cultures, the Mexican (with a heavy Indian influence)
and the Anglo (as a member of a colonized people in our own territory)« (Anzaldúa 2007: Preface to First Edition). Die New Mestiza steht in Opposition
zur patriarchalen und westlichen Dominanzkultur (vgl. Anzaldúa 2007: 24-35,
109). Ihren Widerstand gegen westliche Hegemonie und ihr Begehren nach
kulturell-ethnischen Ambivalenzen, Hybridität und Toleranz, drücken sich
im Konzept »cultura mestiza« aus und führen Anzaldúa auf ihre eigenen geschichtlichen Erfahrungen als Chicana-Frau zurück: »My Chicana identity is
grounded in the Indian woman’s history of resistance« (Anzaldúa 2007: 43).
Darüber hinaus begründet die Begriffsperson New Mestiza als eine (religiöse)
Erlösungs- und Utopiefigur eine neue Kultur und ein anbrechendes Zeitalter.
Sie steht für ein neues Menschen- und Frauenbild, das aus Elementen der indigenen und spirituellen Vergangenheit und einer künftigen hybriden Mestiza-Kultur zusammengesetzt ist. Darin sind kulturelle, sexuelle und religiöse
Toleranz als besonders hohe Werte beschrieben.
Im weitesten Sinne sind auch die Cyborg und die Drag Widerstands- und
Emanzipationsfiguren, brechen aber radikaler mit den gängigen Vorstellungen von normativen Geschlechterbildern als etwa das Nomadic Subject oder die
New Mestiza, indem sie etwa über den (heteronormativen) Rahmen der symbolischen Ordnung hinausgehen. Sie zählen zu den bekanntesten Ikonen der
Gender und Queer Studies.
Die Cyborg als Mensch-Maschine-Gestalt wurde in der Populärkultur
durch die Figur der Lara Croft, die übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten
besitzt, v.a. in Filmen und Spielkonsolen bekannt. In feministisch-queeren
Utopie-Romanen der neuen Frauenbewegung verqueeren Cyborg-Held_innen
in frauendominierten und antirassistischen Gesellschaften oft Geschlechtsidentitäten, Lebensweisen, Beziehungsformen und Reproduktionsmöglichkeiten. Die feministisch-queeren Cyborgs aus Utopie-Romanen (wie etwa Planet
der Frauen (Russ 1981) oder Er, Sie und Es (Piercy 1993) und die theoretische
Begriffsperson Cyborg beeinflussen sich vice versa. Die Naturwissenschaftshistorikerin und Biologin Donna Haraway kombiniert post- und transhumane
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Affekte der Maschinenhaftigkeit der Cyborg mit held_innenhaften und widerständischen Aspekten, die sie den »women of color« zuschreibt. Aufgrund
von Unterdrückungserfahrungen würden diese über ein revolutionäres und
emanzipatives Potenzial verfügen. Dieses subversive »Cyberbewusstsein« der
»women of color« ist nicht nur revolutionär konnotiert, sondern beinhaltet,
der Medientheoretikerin Susanne Lummerding zufolge, ebenso Dimensionen eines Erlösungsdiskurses (vgl. Lummerding 2005: 89). Die Cyborg dient,
wie die New Mestiza, als Projektionsfläche für eine Widerstands- und für eine
Erlösungsfigur. Darüber hinaus wird sie v.a. als »neues Menschenbild« des
Bio- und Informationzeitalters des späten 20. Jahrhunderts imaginiert. Sie läutet einen Paradigmenwechsel in den Technoscience ein. In ihren utopischen
Bezügen greift sie auf »alte« Schöpfungsmythen wie etwa Pygmalion zurück
und nimmt zukunftsweisende Konzepte und Vorstellungen von künstlichem
Leben, Prothetik, Viren und Gentechnologie vorweg. Gerade diese Begriffsperson eröffnet auf eindrückliche Weise visionäre Momente und die damit
verbundenen Projektionen, Wünsche und Begehrensformen des Zukünftigen.
Die Drag, die als queere Ikone durch subversive Parodie und Performance
heteronormative Zweigeschlechtlichkeit infrage stellt, entspricht eher einem
Star oder einer Diva18 der Populärkultur als einer klassischen (Anti-)Held_in.
Ähnlich wie die Begriffsperson Sister, entsteht die Drag aus einer (realen) Sozialfigur. Sie weist Überschneidungen und Nachbarschaftszonen zu unterschiedlichen Existenzweisen und Konzepten von Trans*, beispielsweise von
Transvestiten, Cross-dressern, Transsexuellen, Transgender19, Genderqueer20
18 | Die Nähe zur Figur des Stars und der Diva verbindet die Drag und die Cyborg.
Wie die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen schreibt, lösen
Stars Mitte des 19. Jahrhunderts die Figur des Helden ab. Stars sind Verschränkungen von Erlöser- und Identifikationsfiguren und unterscheiden sich vom Helden folgendermaßen: »Denn wenn der klassische Held dadurch einer kollektive Sinnstiftung
dienen konnte, dass er denkwürdige und meisterhafte Taten vollbrachte, so hält der
Star sein Publikum vor allem durch einen Einblick in seine Intimität in Bann« (Bronfen
2010: 82).
19 | Susan Stryker definiert Transgender in ihrem Buch »Transgender History«: »I use
it in this book to refer to people who move away from the gender they were assigned
at birth, people who cross over (trans-)the boundaries constructed by their culture
to define and contain that gender. Some people move away from their birth-assigned
gender because they feel strongly that they properly belong to another gender in which
it would be better for them to live; others want to strike out toward some new location,
some space not yet clearly defined or concretely occupied« (Stryker 2008: 1).
20 | Genderqueer ist eine Mischung aus Transgender und Queer Praxen: »›Queer‹ is
usually associated with sexuality, but from the beginning a vocal minority insisted on
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4. Zusammenführung
oder Camps21, auf. Historische Unterschiede und Gemeinsamkeiten von verschiedenen Trans* werden, wie die Gender- und Sexualforscherin Susan Stryker zeigt, beispielsweise in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs »Travestie« deutlich (vgl. Stryker 2008: 17).
In den Performances der Drag-Queens und -Kings ist gewissermaßen ihr
Kultstatus angelegt. Mit dem Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« (1991)
von Judith Butler wird die Drag auch in den Gender und Queer Studies populär und aufgrund ihrer Wirkmächtigkeit wird ihr ein paradigmatischer Status
zugeschrieben. Vor allem der Dokumentarfilm »Paris is Burning« (1990), den
Judith Butler in ihrem Buch »Körper von Gewicht« (1997) bespricht, unterstreicht den divenhaften Charakter der Drag. Dieser Film dokumentiert die
»drag balls« der afroamerikanisch-latino, schwulen und transgender community in New York Mitte der 1980er Jahre. Er zeigt eine Szenerie von DragWettbewerben, in denen es ähnlich eines Modenschau-Wettbewerbs um die
Beurteilung von »Echtheit«, Schönheit und Tanzleistungen von Diven geht.
Die untersuchten Begriffspersonen agieren als Anti-Held_innen und
repräsentieren oft auch das, was in der abendländisch-westlichen Kulturgeschichte als der »Neue Mensch« 22 konzipiert wurde. Der »Neue Mensch« ist
the importance of transgender and gender-variant practices for queer politics« (Stryker
2010: 20).
21 | Als Camps werden jene Drags bezeichnet, insbesondere Drag-Queens, die sich
durch Theatralik, Stilisierung, das Übertriebene und einen speziellen Humor charakterisieren, so Schirmer (vgl. Schirmer 2010: 24).
22 | Die Vorstellung des »Neuen Menschen« geht auf das Christentum zurück und
findet in Jesus als Menschen-Sohn seine Verkörperung. Die Idee des »Neuen Menschen« drückt ein Selbstbewusstsein aus, das eine veraltete, geschichtliche Epoche
überwinden soll und zu Beginn einer neuen Zeit steht (vgl. Arndt/Dierse 1980: 11121117). In diesem Sinne sind die Überlegungen auch mit Revolutions- und Utopievorstellungen verwandt. »Der Arbeiter« von Karl Marx gilt als das bekannteste Beispiel für
den »Neuen Menschen«, der in die Idee einer emanzipierten Menschheit eingebettet
ist. Und auch im Sozialismus und bei den Utopist_innen werden »Neue Menschen«
entworfen, die eine neue Gesellschaftsform repräsentieren. Die von Revolutionären,
Aufklärern, Künstlern und Diktatoren erschaffenen Gestalten lösen damit eine christliche Vorstellung ab, in der nur Gott Schöpfer sein kann. Im Mittelalter etwa kommt
allein Christus als Gottmensch die Vorbildfunktion zu. So heißt es etwa bei Thomas von
Aquin: »Das menschgewordene Wort hat uns in sich ein Vorbild für das rechte Tun gegeben. Der Mensch stand sichtbar vor uns, aber war nicht nachahmenswert; Gott war
nachahmenswert, aber nicht sichtbar für uns« (Thomas von Aquin; zit.n. Helmer 2001:
1184). Mit der Aufklärung hat sich der Mensch selbst zum Schöpfer erkoren, sich der
Welt ermächtigt, und die Idee, dass nur Christus als Gottmensch Vorbild sein kann,
wurde verworfen. Besonders plastisch wird diese Idee vom »Neuen Menschen« etwa in
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
zumeist eine männliche Erlösergestalt, die die alten Gesellschaftsformen ablöst. Die »Neue Frau« (»The New Woman«), die zur Zeit des Fin de Siècle in
westlichen Ländern als Sozial- und Fiktivfigur in Erscheinung tritt, gilt als
explizite Ausnahme. Vor allem in der Weimarer Republik der 1920er Jahre
wird sie als emanzipierte, junge, urbane Bürgerin dargestellt (vgl. Herzog
2002). Die untersuchten Begriffspersonen transportieren daher nicht nur
theoretische Konzepte, sondern stehen auch für die Idee des »Neue Menschen«, der »Neuen Frau« oder des »Neuen Geschlechts«. Die utopischen
Momente sind jedoch bei den jeweiligen Figuren unterschiedlich stark ausgeprägt. D.h. dass noch Anzustrebende und noch nicht Erreichte, das jedoch
durchaus umsetzbar wäre, wird bei diesen Figuren als konkrete Utopie, als
bereits verwirklicht dargestellt. Der Paradigmenwechsel oder das Anbrechen
eines neuen Zeitalters wird als bereits vollzogen inszeniert: Die Sisters stehen
für eine geschlechterdemokratischere Gesellschaft mit starker Bindung an
das eigene Geschlecht, das Nomadic Subject für eine neue weibliche Genealogie, die Cyborg für ein (künftiges) Informationszeitalter, die New Mestiza
für eine Kultur »beyond ethnicity« und die Drag für ein Zeitalter jenseits
der Heteronormativität. Diese Auf-, Umbrüche und Neuanfänge in Form von
imaginären geschlechtlichen Gestalten und Begriffspersonen können auch
als Strategien der Selbstermächtigung, Selbsterschaffung und Autonomie
gelesen werden. In den Konzepten der New Mestiza und des Nomadic Subjects wird das Brechen mit patriarchalen und kolonialen Kulturen und Normativitäten auch als Beginn neuer (Selbst-)Bewusstseinsformen verstanden
(»a new mestiza consciousness« und »nomadic consciousness«).
Die Begriffspersonen als »neue Menschen« entsprechen Vorbildern, denen
der Philosoph Thomas Macho zwei Grundbedeutungen zuschreibt: Zum einen
beinhalten sie einen antizipierenden Entwurf, einen Versuch einer Repräsentation von Zukunft, zum anderem, so Macho, würden sie normativen Idealen
entsprechen, wie etwa einem des Heiligen, des Kreativen oder des Heroischen,
denen junge Menschen nachstreben (vgl. Macho 2011: 14). Die untersuchten
Begriffspersonen sind nicht nur theoretische Konzepte, sondern darüber hinaus Vorbilder bzw. »role-models« und »examples« der Gender Studies und
damit Affizierungs- und Begehrensfiguren zugleich.
Nietzsches philosophischem Werk »Also sprach Zarathustra« (1893). Wie bekannt ist,
erschafft Nietzsche in diesem »Bildungsroman« einen »Neuen Menschen«, den er als
»Übermensch« bezeichnet, der die (alten) christlichen Werte und Vorstellungen überwinden soll.
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4. Zusammenführung
4.2.2 Queere Affizierungen
Die »Fan-Gemeinde« macht Personen zu »Models«, Stars oder Anti-Held_innen, die zu Liebes- und Nachahmungsobjekten stilisiert werden. Für Genderund Queer-Interessierte können Begriffspersonen zu solchen (emanzipativen)
Begehrensfiguren werden. Allerdings erheben die untersuchten Begriffspersonen mit Ausnahme der »weißen« Schwester keine homogenen Identitätsansprüche, wie es etwa für klassische Emanzipationsfiguren – wie etwa den
Arbeiter – üblich ist. Der politische Theoretiker Ernesto Laclau unterscheidet
die gegenwärtigen Emanzipationsformen von jenen der Zeit der Moderne. Es
bestehe eine Diversität sozialer Forderungen, so Laclau, sowie eine Vielzahl sozialer Akteur_innen. Dennoch können diese in der Lage sein, einen Konsens
zu bilden (vgl. Laclau 2013: 10). Das Phänomen von Emanzipationen im Plural
spiegelt sich in den Begriffspersonen wider. Sie sind nicht nur divers und vielfältig, sondern auch in sich heterogen.
Daher frage ich in diesem Kapitel nach den nicht-selbstidentischen Identifizierungsprozessen, also nach denen zwischen heterogenem Publikum und
den hybriden Begriffspersonen (wie etwa dem Nomadic Subject, der New Mestiza, der Cyborg oder der Drag). Kann überhaupt noch von Identifizierung gesprochen werden? Und, wenn ja, wie ist eine Identifikation mit dem Paradoxon
der Vielheit und Inklusion möglich?
Zudem wird die Frage virulent, auf welche Weise Begriffspersonen ihre
Leser_innenschaft affizieren? Welche Bedeutung hat das Affizierende? Besteht
ein einziger benennbarer Affekt, der alle Leser_innen gleichermaßen anstecken kann, obwohl Begriffspersonen uneindeutig und vielfältig sind? Oder affizieren nicht vielmehr unterschiedliche Momente ihre Leser_innen, und eine
monokausale Erklärung ist nicht möglich?
4.2.3 Von Projektionen, Identifizierungen und Dis-Identifizierungen
Wünschen, Begehren und Projizieren sind Teile des Identifizierungsprozesses
mit Begriffspersonen. Als Voraussetzung für die Fragestellung, wie zunächst
aus Begriffspersonen Begehrensfiguren werden und aus Begehrensfiguren
wiederum diverse gender und queere communities entstehen, muss zwischen
unterschiedlichen Leidenschaften und zwei Dis-Identifizierungs-Modellen
differenziert werden. Die feministische Figur Sister des weißen Feminismus begehrt Ähnlichkeit, Selbst-Identifikation und Spiegelung mit anderen
Schwestern. Das Paradoxon der Identifizierungen mit Vielheit und Andersheit
trifft auf uneindeutige Begriffspersonen zu.
Ein identitäres Selbstverständnis von »Frau-Sein« in der Figur Sister hat
zu Vorstellungen von Gleichheit im Kollektiv der Schwesternschaft geführt,
wie sie v.a. am Beginn der zweiten Frauenbewegung von einem hegemonialen
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
weißen, westlichen Feminismus imaginiert wurden. Der Wunsch bzw. das Begehren nach Spiegelung der Sisters untereinander und nach Verschmelzung
im weiblichen Kollektivkörper der Schwesternschaft (global sisterhood) legen
psychoanalytische Erklärungsversuche nahe, wie den von Sigmund Freud
in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921/1974) und jenen von Jacques
Lacan in seinen Ausführungen zum »Spiegelstadium« (siehe Kapitel 2.4).
Das phantasmatische Streben nach Ganzheit, nach Eins-Sein im weiblichen
schwesterlichen Kollektiv, welches ein Begehren nach Selbst-Identität ausdrückt, wurde, wie bekannt ist, von den »women of color« vielfach als Ausgrenzung und Diskriminierung nicht-westlicher Frauen kritisiert.
Um das Phänomen der Identifikation bzw. Dis-Identifikation mit uneindeutigen Begriffspersonen nachzuvollziehen, sind die Ansätze des Performance-Theoretikers José Esteban Muñoz (1999) weiterführend. Sie versprechen eine Erklärung der »Dis-Identifikation« und gehen über die Analyse des
Verhältnisses zwischen Held_in und Publikum hinaus.
Aktivist_innen und Leser_innen, die sich mit hybriden Begriffspersonen
identifizieren, tun dies aufgrund von deren Uneindeutigkeiten. Das Begehren
nach identifikatorischer Nachahmung geht von der Queerness, von der radikalen Unbestimmbarkeit dieser Begriffspersonen aus, in welcher sich Identitäten verflüssigen. Die untersuchten Begriffspersonen changieren zwischen
den Geschlechtern, Kulturen, Ethnizitäten, Klassen, dem Tierischen und dem
Maschinellen. Im Identifizieren mit Begriffspersonen der zweiten Ordnung
wirkt der Wunsch nach Unbestimmbarkeit und Uneindeutigkeit, wie ihn u.a.
Gender und Queer Interessierte auch äußern.
Umgekehrt analysiert Jose Esteban Muñoz die Dis-Identifikation queerer
und hybrider Menschen mit einer hegemonialen, oft weißen Kultur. Als »identities-in-difference«, in Anlehnung an die Chicana-Feminist_innen Gloria
Anzaldúa und Cherríe Moraga, bezeichnet Muñoz diese hybriden Subjekte,
für die jedoch Identifikation und Nachahmung über andere Mechanismen
verlaufen (vgl. Muñoz 1999). Die Queers of Colors hätten ihm zufolge andere Strategien der Identifizierung einschlagen müssen, weil bloße Anpassung
und Assimilierung in einer heteronormativen, weißen Dominanzkultur für
sie nicht möglich gewesen wäre. In Muñozs Konzept, das auf dem Ansatz der
Intersektionalität basiert, werden hegemoniale Identifizierungs- und Projektionsflächen, wie sie etwa weiße Schauspieler_innen bieten, in transformierter
Weise in die eigene Identität aufgenommen. Muñoz beschreibt beispielsweise
eine autobiografische Sequenz des afroamerikanischen Schriftstellers James
Baldwin, der als Kind in der Identifikations- und Projektionsfläche von Bette
Davis Schutz und Zuflucht vor seinem Vater gesucht habe: »So here, now, was
Bette Davis, on the Saturday afternoon, in close-up, over a champagne glass,
pop-eyes popping. I was astounded. I had caught my father not in a lie, but in
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4. Zusammenführung
an infirmity. For here, before me, after all, was a movie star: white and if she
was white and a movie star, she was rich: and she was ugly… […] and when she
moved, she moved just like a nigger« (Muñoz 1999: 15).
Michel Pêcheux, auf den sich Muñoz bezieht, unterscheidet zwischen Identifizierung und »Gegenidentifizierung«, wobei letztere ein aktives Ablehnen
eines Identifikationsprozesses meint. Die Disidentifikation wäre eine weitere
Möglichkeit, mit der Ideologie gegen die Ideologie zu arbeiten und die kulturellen Logiken zu transformieren. Damit ist gemeint, dass zwar eine Form
der Identifikation mit einem Vorbild aus der hegemonialen Kultur stattfindet,
diese jedoch auf kreative Weise umgewandelt wird und so in die eigene Persönlichkeit aufgenommen werden kann. Muñoz beschreibt diese Form der
Dis-Identifikation als Überlebensstrategie für queere Menschen in einer Mehrheitsgesellschaft und deren Medien. Die Taktik sei, sich auf widerständische
Weise mit der hegemonialen Kultur zu dis-identifizieren und dabei die multiplen Komponenten wie class, race und sexuality, die an einem solchem Prozess
beteiligt sind, mit einzubeziehen.23
Das Konzept der Dis-Identifikation kann insofern auf die Beziehung von
Leser_innenschaft und Begriffsperson angewendet werden, als dieses Verhältnis nicht durch Selbstidentität, sondern ganz im Gegenteil durch das NichtIdentitäre bestimmt wird. Gender und queer Interessierte disidentifizieren
sich mit den Begriffspersonen des Nomadic Subject, der Cyborg, der New Mestiza und der Drag gerade deshalb, weil sie hybrid sind. Anders als bei Muñoz
sind jedoch die Positionen der Begehrensfiguren nicht identitär (weiß) festgelegt. Bedeutet bei Muñoz Dis-Identifikation, dass die Queers of Color eine
hegemoniale Position imitieren, so trifft das in diesem Fall nicht zu. Ein heterogenes gender und queer interessiertes Publikum dis-identifiziert sich
keineswegs mit einer hegemonialen Dominanzkultur, sondern vielmehr mit
deren »Abjects«, mit Begriffspersonen, die Anteile des gesellschaftlichen Verworfenen integriert haben. Muñozs Konzept der Disidentifikation kann auf die
Relation von Publikum und Begriffspersonen insofern adaptiert werden, als
beide Positionen gequeert sein können und daher Identifikationsprozesse über
nicht-identitäre Bezüge verlaufen. Er analysiert eine spezifische Machtkonstellation zwischen den Queers of Color und den Menschen der Dominanzkultur.
23 | Der Philosoph Slavoj Žižek spricht nicht von Dis-Identifikationen, sondern von
Des-Identifizierung und fragt: »Lässt sich diese Logik der Desidentifikation nicht überall
wahrnehmen, vom einfachsten Fall wie ›Ich bin nicht nur Amerikaner (Ehemann, Arbeiter, Demokrat, schwul usw.), sondern hinter all diesen Rollen und Masken ein Mensch,
eine komplexe einzigartige Persönlichkeit‹ (wo gerade die Distanz zu dem symbolischen
Merkmal, das meine gesellschaftliche Position bestimmt, die Wirksamkeit dieser Bestimmung garantiert) bis hin zu dem komplexeren Fall eines Spielens mit multiplen
Identitäten im Cyberspace?« (vgl. Žižek 2013: 134).
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Aufgrund der Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind, dis-identifizieren
sich die Benachteiligten mit der hegemonialen Gesellschaft. Dieser Gedanke
kann auch auf die Beziehung von gender und queeren Interessierten und Begriffspersonen übertragen werden. Zentral erscheint mir, dass in der Disidentifikation Transformationsprozesse mit den Begriffspersonen stattfinden, die
sich von einfachen Spiegelungen und Gegenidentifizierungen unterscheiden.
In den »Imitations- und Nachahmungsprozessen« mit den Begriffspersonen
geht es darum, sich mit queeren Anteilen des Anderen und Fremden zu disidentifizieren bzw. diese als Stärkung der eigenen Andersheit zu empfinden.
Muñoz stellt ein Modell vor, das sowohl für gender und queer Interessierte
der Minderheits- als auch für die der Mehrheitsgesellschaft Formen der DisIdentifikation ermöglicht, das ich als Identifikationen in Differenz im Gegensatz zur Selbst-Identifikation bzw. Spiegelung bezeichne. Das Konzept ermöglicht, alternative Identifikationsprozesse zu verstehen, indem nicht Gleichheit,
sondern Queerness, Anderswerden und das Fremde begehrt werden. »Das
Andere der Anderen« ist das zentrale Moment der Dis-Identifikation mit
den intersektionalen Begriffspersonen. Begriffspersonen machen vielfältige,
mannigfaltige Dis-Identifikationsangebote, die gerade durch ihre Offenheit
sexuelle und geschlechtliche Queerness vermitteln und dadurch auf ihr Publikum eine besondere Form von Anziehungskraft ausüben. Die Relationen,
Dis-Identifikationen und Projektionen, die die Leser_innenschaft mit hybriden Begriffspersonen eingehen, können diesen Ansatz jedoch nur teilweise
erklären. Offen bleibt, wie eine Dis-Identifikation zwischen Leser_in und Begriffsperson entsteht.
4.2.4
Queere Intensitäten:
Spannungen, Unterbrechungen, Irritationen
Begriffspersonen affizieren oft ihre Leser_innenschaft. Durch ihre Un-Eindeutigkeit, die eine Dekonstruktion von Binarität, Identitätsprinzipien und
Heteronormativität vollzieht, können sie eine Faszination bei ihrem Publikum
auslösen. Ich lehne mich hier an das Konzept der VerUneindeutigung von Antke Engel in ihrem Buch »Wider der Eindeutigkeit« (2002) an:
»Zwei unterschiedliche Machtmechanismen, Normalisierung und Hierarchisierung, organisieren die Regime der Geschlechterdifferenz und Heteronormativität. Der Binarität kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu. So lässt sich zeigen, wie Binarität und
Identitätsprinzip ineinandergreifen, aber durch ein Konzept der Differenz als différance
unterminiert wird. Aus dieser Argumentation heraus begründet sich eine Strategie der
Veruneindeutigung. Sie zielt auf eine queere Umarbeitung von Geschlecht und Sexualität, um bestehende Machtverhältnisse anzufechten« (www.antkeengel.de/diss.html,
9.9.2014).
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4. Zusammenführung
Diese Faszination an Uneindeutigkeit kann als Zustand der Spannung, Intensität und Unerwartetheit beschrieben werden. Diese unkategorisierbaren Begriffspersonen bewirken durch Unterbrechung von normierten Vorstellungen
eine Irritation, die ich als Ereignis und als Affekt – als ein Intermezzo – im
Denken interpretieren möchte. Die Einbildung bzw. Imagination der Begriffspersonen steht im Gegensatz zu den bisher gewohnten eindeutigen, identitären, heteronormativen oder ethnischen Vorstellungsbildern. Es wird möglich,
dass das Un-Begreif bare, in Form von Begriffspersonen, ins Denken einfällt.
Ohne zu erkennen, was konkret passiert, kann sich die Ununterscheidbarkeit
als Irritation und Spannung, als das Unlehrbare und Unbegreif bare, im Denken ereignen.
Das Unlehrbare und Undenkbare der Begriffspersonen kann mit dem Philosophen Alain Badiou auch als ein Ereignis bezeichnet werden. Das Ereignis passiert unerwartet und bricht in das Gewohnte ein. Badiou beschreibt in
seinem Buch über den Apostel Paulus (2009), in welcher Weise ein Ereignis
Menschen zu einer sozialen Gemeinschaft vereint. Für den Philosophen bedeutet das paulinische Ereignis die Kreuzigung und Auferstehung von Christus. Die Erschütterung durch dieses Ereignis lässt ein neues christliches Subjekt entstehen, das eigenschaftslos und nicht identitär ist. Die neue christliche
Gemeinschaft entsteht im gemeinsamen Bekenntnis zu einem unmöglichen
Ereignis. Sie ist weder identitär noch wird sie über gemeinsame Werte oder
Abstammungen gebildet. Badiou führt diesen Gedanken aus:
»Die paulinische Zäsur bezieht sich in Wirklichkeit auf die formalen Bedingungen und
die unvermeidlichen Konsequenzen eines Wahrheitsbewusstseins, das in einem Ereignis wurzelt, einem Ereignis, das zwar von jeder objektivistischen Bindung an die partikularen Gesetze einer Welt in einer Gesellschaft losgelöst, aber dennoch konkret dafür
prädestiniert ist, sich in eine Welt und in eine Gesellschaft einzuschreiben. […] Paulus
ist ein Gründer, insofern er einer der allerersten Theoretiker des Universalen ist« (Badiou
2009: 132).
Wenn Badiou Paulus als den allerersten Theoretiker der Universalität bezeichnet, versteht er darunter jedoch, dass Paulus eine »singuläre Universalität«
eingeführt hat. Das »Singulär Universale« bedeutet, dass das Singuläre das
jeweilige Moment des Überschreitens, der Bruch ist, der mit dem Ereignis einhergeht und zum Gewohnten, Normalen und Herkömmlichen eine Differenz
oder eine andere, neue Perspektive eröffnet. Mit dem Universalen hingegen ist
die übergemeinschaftliche Wahrheit gemeint, die durch das (jeweilige) Ereignis
ermöglicht wird. Der Bruch, das Ereignis oder die Wahrheit kann, wie Badiou
schreibt, jeweils nur individuell erlebt werden: »Die Wahrheit ist ganz und gar
subjektiv (sie gehört der Ordnung eines Bekenntnisses an, das eine das Ereignis
betreffende Überzeugung ausdrückt). Es wird als gegen jede Subsumtion ihres
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Werdens unter ein Gesetz polemisiert« (Badiou 2009: 23). Das Gemeinsame
wäre das Überschreiten, das Neue und der Anfang zugleich, das sich für jeden
nur singulär ereignen kann. Das Konzept der »Singulären Universalität« bedeutet, dass das Subjekt des Ereignisses bzw. der Wahrheit Universalität und
Partikularität gleichermaßen verbindet. Die Unterbrechung, das Intermezzo,
durch das Ereignis wirkt affizierend. Es verändert und verschiebt die Perspektiven von Menschen.
Auf die untersuchten hybriden Begriffspersonen angewandt, bedeutet etwa
das Frau-Werden den Bruch mit der symbolischen Ordnung. Die New Mestiza
ist das Ereignis einer westlichen Dominanzkultur, die Drag ist eine Zäsur in
der Heteronormativität und die Cyborg hebt die bisherigen Vorstellungen von
Humanität aus den Angeln.
Im Ereignis, das jeweils nur singulär erlebt werden kann, aber von unterschiedlichen Menschen geteilt wird, als ein Anderes-Anfangen (siehe Kapitel
3.2), vollzieht sich ein Bruch mit herkömmlichen Sichtweisen. Die Begriffspersonen affizieren, indem sie gewohnte Denk- und Handlungsweisen irritieren.
Der Affekt bedeutet die Intensivierung der Figur als Singularisierung. Oder
der Affekt kann, mit der Medien- und Kulturwissenschaftlerin Marie-Luise
Angerer gesprochen, als Intervall verstanden werden, »als das, was schon ist,
aber noch nicht in Aktion, das, was bereits vorbei ist, aber noch nicht bewusst
ist: ›in-between time after before but before after‹« (Angerer 2010: 1).
Angerer bezieht sich in ihren Affekt-Studien mehrfach auf den Philosophen Brian Massumi24, der von einer »Autonomie von Affekten« (2002)
spricht. Massumi zufolge werden Affizierungen durch Intensitäten und Irritationen ausgelöst, die nicht begreif bar sind, weil sie un- oder vorbewusst
wirksam werden. Affekte werden durch spezifische Situationen, vor allem
durch Bilder, Handlungen, Gesten oder Aussagen freigesetzt und zunächst
ausschließlich körperlich wahrgenommen. Im Augenblick der Affizierung
bestehen, Massumi zufolge, allein die Wahrnehmung und deren Intensität,
ohne kognitive Verarbeitung und Reflexion über das Ereignis, das im Moment
24 | Die Soziologin Deborah Gould, die sich in ihrer Studie zu »Moving Politics« (2009)
mit dem emotionalen Habitus in der Aids-Bewegung auseinandergesetzt hat, verwendet
ebenso das Affekt-Konzept von Massumi. Sie macht u.a. auf die affektive Ontologie aufmerksam, ein Aspekt, der in den cultural und linguistic turn kaum beachtet wurde: »With
the term affect, I am trying to preserve a space for human motivation that is nonconscious, noncognitive, nonlinguistic, noncoherent, nonrational, and unpredetermined
– all qualities that I argue play a role in political action and inaction. An affective ontology opens up a conceptual space that has shrunk considerably with the rise of rational-actor theories in the social sciences and has been difficult to inhabit in light of the
important claims of the cultural and linguistic turns about the centrality of linguistic
meaning-making practices in social life« (Gould 2009: 23).
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4. Zusammenführung
stattfindet. Die Soziologin Deborah Gould, die ebenso mit Massumis Zugang
arbeitet, definiert Affekt:
»Drawing on the work of philosopher Brian Massumi (1987, 2002, 2003), I use the term
affect to indicate nonconscious and unnamed, but nevertheless registered, experiences of bodily energy and intensity that arise in response to stimuli impinging on the
body. These experiences are registered in that organism senses the impingement and
the bodily effects, but nonconscious in that sensing is outside of the individual’s conscious awareness and is of intensities that are inchoate and as yet inarticulable« (Gould
2009: 20).
Der Begriff »Affekt«, der in der antiken Philosophie auch »Leidenschaft« bedeutet hat (Lanz 1971: 430-432), bezeichnete bei Aristoteles »ein Empfangen
einer äußeren Einwirkung«, einen Zustand bzw. ein Erleiden der Seele. Darüber hinaus wurden im Verständnis der antiken philosophischen Lehren Affekte durch Schmerz und Lust verursacht und in verschiedene Kategorien wie
etwa in Zorn oder Furcht eingeteilt.
Für Massumi sind Affekte weder positiv noch negativ gerichtet, sondern sie
sind bloße Intensitäten, die durch starke Emotionen und Irritationen hervorgerufen und wahrgenommen werden:
»Intensity is qualifiable as an emotional state, and that state is static – temporal and
narrative noise. It is a state of suspense, potentially of disruption. It is like a temporal
sink, a hole in time, as we conceive of it and narrativize it. It is not exactly passivity,
because it is filled with motion, vibratory motion, resonation. And it is not yet activity,
because the motion is not of the kind that can be directed (if only symbolically) toward
practical ends in a world of constituted objects and aims (if only on screen)« (Massumi
2002: 26).
Nach Massumi wird der Affekt, der unassimilierbar, virtuell und offen ist, oft
in verkörperter Weise deutlich. Die Begriffspersonen bedeuten diese verkörperten Differenzen. Sie werden als Empfindungsaffekte wahrgenommen und
sind eine Freiheit und Offenheit im Denken. Sie sind in sich mannigfaltig,
queer und eröffnen den Leser_innen dadurch vielfältige Geschlechterbilder,
ohne bereits begreif bar zu sein. In queeren Affizierungen, die Freiheit und
Möglichkeiten schaffen, liegt ein virtuelles Werden. Queere Begriffspersonen
sind im badiouschen Sinne Ereignisse, sie lösen bei ihren Leser_innen Affekte aus, ein Begehren nach einem Anders-Werden, das jedoch noch unbegrifflich und nicht rational ist. In der Wahrnehmung, im Intervall liegt, nach der
Medientheoretikerin Marie-Luise Angerer, der Übergang vom »Begehren zum
Affekt«, zur »Nachahmung des Begehrens« (vgl. Angerer 2012). Diesen Nachahmungsaffekt bzw. die Nachahmung des Begehrens würde ich im Sinne von
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Deleuze als »Werden« bezeichnen, das sich dezidiert vom psychoanalytischen
Konzept der Identifizierung unterscheidet.
4.2.5 Uneindeutig-Werden
»Begriffsperson-Werden« bedeutet im Vollzug der Bewegungen der Sister oder
der Cyborg, der New Mestiza oder des Nomadic Subjects oder der Drag zu denken (Kapitel 4.1.2). Diese Denkbewegungen des Werdens nachzuvollziehen,
bedeutet in gewissem Sinne auch, einen Erkenntnisprozess zu durchlaufen.
Über eine theoretische Ebene hinaus besteht etwa in konkreten Bewegungskontexten das Phänomen, dass Denker_innen/Leser_innen im wortwörtlichen (empirischen) Sinne oft ganz konkret zu den jeweiligen Begriffspersonen werden. Die hier analysierten Begriffspersonen können im Alltagsleben
als psychosoziale Typen bzw. Sozialfiguren beschrieben werden, die für spezifische gesellschaftliche Kontexte stehen. In der Theorie werden sie zu Begriffspersonen, die bestimmte Denkmöglichkeiten eröffnen. Die Leser_innen
dieser Begriffspersonen werden in doppelter Weise zu ihren eigenen Begriffspersonen, indem sie sie denken, aber auch indem sie handeln wie diese. In
queer-feministischen Kontexten sind die Werdensprozesse besonders deutlich
erkenn- und wahrnehmbar, beispielsweise in Form des Cyberfeminismus, der
Sisterhood oder dem Chicana-Feminismus. Die Deleuzsche Aussage, dass Begriffspersonen keine abstrakten Personifizierungen seien, sondern leben und
insistieren, wird auf unerwartete Weise real. Über diesen Prozess des Werdens
schreiben Deleuze und Guattari, dass es dabei weder um Ähnlichkeit, Imitation noch um Identifikation gehe. Etwa das »Tier-Werden« eines Menschen
meine eben nicht, dass jemand, der ein Mensch ist, ein Tier lediglich nachahmt oder sich in ein Tier verwandelt und somit letztlich ein Tier ist. Den
beiden Philosophen zufolge bedeutet das Werden eine fortlaufende Bewegung,
die sie als »Block des Werdens« bezeichnen, in dem gerade nicht ein finaler
Zustand erreicht werden soll (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 325). Es gehe um das
Werden selbst, dessen Prozess ein Begehren sei. Dieser Prozess des Begehrens
kann durch eine Intensität, durch ein Ereignis bzw. einen Affekt ausgelöst werden. Der Affekt der untersuchten Begriffspersonen liegt in der Queerness, im
Begehren, uneindeutig zu werden. Diese Uneindeutigkeit, die mit Intensitäten
aus Differenzen und Hybridität aufgeladen ist, kann die gender und queeren
Leser_innen affizieren:
Eine Drag- oder eine Cyborg-Werden, eine New Mestiza- oder ein Nomadic
Subject-Werden meint im Sinne von Deleuze und Guattari keine nachahmenden oder mimetischen Prozesse. Es geht nicht um Imitation bzw. bloße Wiederholung, sondern um die Differenz der Wiederholung in der Bewegung,
um einen Prozess des Werdens in einem spezifischen Kontext. (Hybride)
Begriffsperson-Werden bzw. Uneindeutig-Werden findet aber nicht isoliert
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4. Zusammenführung
von einem spezifischen Gefüge statt, sondern in Relationen zu bestimmten
Menschen, Orten und Dingen: »Werden heißt, ausgehend von Formen, die
man hat, vom Subjekt, das man ist, von Organen, die man besitzt, oder von
Funktionen, die man erfüllt, Partikel herauszulösen, zwischen denen man
Beziehungen von Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit herstellt, die dem, was man wird und wodurch man wird, am nächsten sind. In
diesem Sinne ist das Werden der Prozess des Begehrens« (Deleuze/Guattari
2000: 371). Marie-Luise Angerer, die sich in ihren Zugang zu Affekttheorien
auf Massumi und Deleuze bezieht, spricht jedoch nicht von einem »Werden«,
sondern problematisiert »die Frage der Nachahmung«. In einer »Soziologie
des Begehrens« oder auch in einer »Affekt-Soziologie«, so Angerer, gehe es
nicht um eine »psychoanalytische Leidensgeschichte der Identifikation«, sondern um mimetische Wiederholung. In dieser mimetischen Wiederholung
werden die Kräfte des Begehrens gestärkt oder gebremst. Angerer beschreibt
einen ähnlichen Prozess wie Deleuze, indem sie auf die Verkettung von Affekten, Begehren und Nachahmung hinweist, jedoch von mimetischen Wiederholungen und nicht von einem Werden spricht. Deleuze zufolge »imitiert
man nicht«, sondern bildet einen »Block des Werdens«, in dem verschiedene
Komponenten in einem Gefüge und bestimmte Geschwindigkeiten in Verhältnissen stehen. Bezogen auf die Cyborg etwa können nur jene zur Cyborg
werden, die in bestimmten Relationen zu Maschinen stehen, oder nur jene
können zur New Mestiza werden, die sich zu einem Grenzland in Beziehung
setzen.
Das Phänomen, dass gesellschaftliche und insbesondere geschlechterspezifische Themen über Begriffspersonen problematisiert werden und umgekehrt,
dass Begriffspersonen auf die Empirie zurückwirken, indem gender und queer
Interessierte zu diesen »werden«, kann durch die Konzepte der Identifikation
und Dis-Identifikation nicht hinreichend erklärt werden. Weder das Konzept
eines Begehrens nach Spiegelung in der Identifikation noch die Annahme
eines Wunsches, sich mit anderen zu dis-identifizieren, ist in der Lage, das Bedürfnis nach »Nachahmung« oder »Uneindeutig-Werden« herzuleiten. Möglicherweise werden in den Prozessen von »Dis-identifikation« auch hegemoniale oder gesellschaftlich verworfene Positionen begehrt. Die untersuchten
Begriffspersonen jedoch affizieren ihre Leser_innenschaft und ihr Publikum
durch Uneindeutigkeit, Queerness und Hybridität. Ähnlich dem Phänomen
des Unheimlichen lösen sie beim Publikum durch ein Ereignis »des AndersWerdens« einen Affekt des Un-Begreif baren aus und transportieren einen
Empfindungsblock von queerer Intensität. Das Affizierende der Uneindeutigkeit bzw. Queerness der Begriffspersonen liegt in ihrer Potenzialität. Es beinhaltet die Möglichkeit eines mannigfaltigen Geschlechter-Werdens.
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
4.2.6 Gemeinsam Werden — Multitude Werden
Dem Philosophen Alain Badiou zufolge kann ein Ereignis Menschen miteinander verbinden. Er hat die Auferstehung Christus als ein Ereignis verstanden,
das unterschiedliche religiöse Personengruppen vergemeinschaftet hat. Diesen Verkollektivierungsprozess hat der Philosoph als »Universale Singularität«
bezeichnet, die sich je individuell ereignet, es jedoch Menschen ermöglicht,
sich gemeinsam über dieses Ereignis zu identifizieren. Eine Begriffsperson ist
ein solches Ereignis. Sie ist der Bruch, den sie vollzieht, steht für Differenzen
und wirkt affizierend.
Lag der Fokus im vorigen Kapitel auf dem Verhältnis zwischen Leser_innenschaft und Begriffsperson/en, geht es nun um die Affizierung und Ansteckung der Leser_innen, die dasselbe Ereignis erleben und daher ein Kollektiv bilden. Bemerkenswert ist das Phänomen, dass sich um die jeweiligen
Begriffspersonen unterschiedliche imaginäre Kollektive konstituiert haben,
die sich als Sexuelle Multitude (Nomadic Subject), Chicana-Feminismus, Cyberfeminismus oder Drag Communties bezeichnen. Während die Idee einer
Sisterhood bzw. Schwesternschaft von vorwiegend weißen Feministinnen als ein
homogenes und identitäres Kollektiv imaginiert wurde, grenzen sich queerfeministische communities dezidiert von einem weißen, heterosexuellen »feministischen Wir« ab. Wird im Konzept der »global sisterhood« nach innen
vereinheitlichend gedacht, indem jegliche Differenzen unter Frauen nivelliert
werden und nach außen hin ein klarer Unterschied zu »dem« Patriarchat gesetzt wird, scheinen queer-feministische communities genau das Gegenteil zu
wollen. Jene communities der untersuchten hybriden Begriffspersonen sind
in sich different, heterogen, nicht-identitär und zumeist ursprungslos und ziehen nach »außen« keine deutlichen Grenzen, sondern gestalten sich als offene oder vernetzte Gefüge. Die hier vorgestellten Gemeinschaften befinden
sich im Übergang von Theorie zur Empirie, in einem Überschneidungsfeld, in
dem theoretische Begriffspersonen auf die Praxis einwirken und umgekehrt.
Daher spreche ich sowohl von einer Leser_innenschaft als auch von Aktivist_
innen, die gemeinsam Kollektive bilden, auf einer Ebene, in der sich Theorie
und Praxis verschränken.
In diesem Kapitel sind Fragen danach, was Leser_innen/Aktivist_innen
miteinander verbindet, zentral: Gilt für alle Begriffspersonen, dass sie als
Differenz und Ereignis Vergemeinschaftungsformen bewirken? Welche Vergemeinschaftungsformen gehen aus den jeweils unterschiedlichen Begriffspersonen bzw. Ereignissen hervor? Wie funktionieren diese nicht-identitären,
queer-feministischen, imaginären Kollektive? Wie grenzen sie sich von einem
einheitlichen weiblichen Kollektivkörper bzw. von einem »feministischen
Wir« ab? Gibt es überhaupt dekonstruktive Kollektivkörper, und, wenn ja, was
hält diese zusammen?
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4. Zusammenführung
4.2.7 Emotional Communities: Schwesternschaft und Chicana-
Feminismus als Raum-Körper
Angerufen wurde die Schwesternschaft/Sisterhood entweder als universell und
einheitlich oder als partikulare Gefüge (weiße, schwarze, religiöse, lesbische,
klassistische), die jedoch im kollektiven feministischen Imaginären meist identitär gedacht wurden. Die imaginierte Gemeinschaft der Schwesternschaft, in
die die angerufenen Leser_innen inkludiert werden, wurden als abgegrenzte homogene, weltumspannende Gebilde vorgestellt, die zu einem globalen
Patriarchat in Opposition treten. Das Innen der Gemeinschaft wurde durch
vermeintlich gemeinsame feministische Werte wie »Gleichheit, Freiheit, Autonomie« einheitlich konstruiert und von einem äußeren Feindbild abgegrenzt.
Dem politischen Theoretiker Ernesto Laclau zufolge besteht Gesellschaft
aus einer Pluralität von partikularen Gruppen und Forderungen (u.a. Laclau 2013). Damit jedoch eine globale Emanzipation entstehen kann, müssen
Äquivalenzen, d.h. eine Gleichwertigkeit der Pluralität von Forderungen,
konstruiert werden, die sich gegen ein antagonistisches »Subjekt« wenden.
Die Schwesternschaft ist Ausdruck der Zusammenführung von unterschiedlichen, aber äquivalenten Forderungen, die gemeinsame Werte vertreten und
sich gegen »das Patriarchat« stellen. Die Äquivalenzen bezeichnet Laclau auch
als eine Spielart von Gemeinwillen, der sich im Hinblick auf die Schwesternschaft wiederfinden lässt (vgl. Laclau 2013: 71).
Das Gebilde der Schwesternschaft bzw. der schwesterliche Gemeinwille
kann mit dem Politikwissenschaftler Benedict Anderson als vorgestellte Gemeinschaft bezeichnet werden. Es geht um ein Kollektiv, das eine bestimmte
Anzahl von Menschen überschreitet. Diese kennen sich untereinander nicht
mehr persönlich, imaginieren sich dennoch als Gemeinschaft. Anderson hat
das Konzept der »imagined communities« in seiner bekannten Studie »Die
Erfindung der Nation« (2005) entwickelt. Er schreibt, dass es dabei um das
Faktum gehe, dass »die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen […] werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung
ihrer Gemeinschaft existiert« (Anderson 2005: 15). Nach Anderson entwerfen sich Nationen durch spezifische gemeinsame Praktiken, Bezugspunkte,
Mythen und Traditionen und konstruieren damit ihre eigene Geschichte und
Genealogie. Es ist die Herstellung eines Wirklichkeitsraumes, die bei Anderson laut Hartmut Rosa im Mittelpunkt steht. Ein solcher Raum kann auch
durch Massenmedien erzeugt werden, »der für das Bewusstsein von Politik
und für die alltägliche Wahrnehmung der Mitglieder der nationalen Gemeinschaft eine entscheidende Rolle spielt« (Rosa 2010: 85). Der sogenannte Wirklichkeitsraum, der zu einem kollektiven Selbstverständnis und Wahrnehmung
der Frauen als Sisters führen kann, wird in feministischen Diskursen u.a. auch
durch wissenschaftliche Texte und andere Medien hergestellt. DiskriminieBrought to you by | Cambridge University Library
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
rungserfahrungen wurden vorschnell weltweit homogenisiert und ermöglichten dadurch das Gefühl, ein gleiches Unrecht und Leid zu erfahren.
Die Herstellung einer feministischen Gemeinschaft durch Anrufung (u.a.
der Leser_innen als Sisters) bezieht sich auf die Imagination, dieselben Erfahrungen von Benachteiligung zu erleben und mit anderen Sisters zu teilen.
Die Vorstellung der Gleichheit meint eine Form der Spiegelung, die für den
Zusammenhalt eines identitären Kollektivitätsverständnisses entscheidend
ist. Dabei spielen nicht nur gemeinsame Inhalte, Kritiken und Politiken eine
wichtige Rolle, sondern v.a. die Erzeugung eines gemeinsamen Gefühls der
Verbundenheit, wie es im Konzept der Schwesterlichkeit, als Form von Familiarität und Solidarität, zum Ausdruck kommt. Deutlich wird, dass auf einer
rationalen Ebene die partikularen Forderungen als gleichwertige miteinander
in Beziehung gebracht werden. Laclau spricht hier auch von Forderungen, die
zu einer gemeinsamen Äquivalenzkette verbunden und gegen ein System in
Stellung gebracht werden (vgl. Laclau 2013: 374). Und an einer anderen Stelle
führt er aus: »Je länger allerdings die Äquivalenzkette ist, umso notwendiger wird ein allgemeines Äquivalent, das die Kette als Ganzes repräsentiert.
Die Repräsentationsmittel sind jedoch nur die existierenden Partikularitäten.
Folglich muss eine von ihnen die Repräsentation der Kette als Ganzer übernehmen« (Laclau 2013: 375). Die Repräsentation als Ganzes hat der weiße
Feminismus im Sinne einer hegemonialen Setzung als »global sisterhood«
bezeichnet, die sich gegen »das« Patriarchat richtet. Auf einer emotionalen
Ebene jedoch verbinden nicht gemeinsame Ansprüche, sondern ein schwesterliches Gefühl der Verbundenheit Frauen untereinander. Die Anrufung
als Sisters appelliert nach der Soziologin Arlie Hochschild an »feeling rules«
(1979), an eine Praktik des Fühlens, die vorgibt, auf welche Weise gefühlt
werden sollte. Einen ähnlichen Zugang wählt die Soziologin Deborah Gould,
wenn sie von einem emotionalen Habitus spricht und damit meint, dass die
Gefühlslage einer sozialen Gruppe so angerufen werden kann, das sie ein
spezifisches Denken, Handeln und Empfinden bewirkt (siehe Kapitel 2.4 und
2.5).
Das Gefühl von solidarisch-schwesterlicher Zusammengehörigkeit verstärkt das Phantasma eines globalen »feministischen Wirs«. Die Vorstellungen von und Wünsche nach einem einzigen Kollektiv zeigen sich in den transnationalen feministischen Aktionen wie »1000peacewomen« im Jahr 2005
oder »One Billion Rising« im Jahr 2013 (vgl. Friedensfrauen Weltweit o.A.; 1
Billion Rising o.A.). Obwohl innerhalb der feministischen Diskurse auf einer
reflexiven Ebene vielfach eine grundlegende Selbstkritik gegenüber einer »global sisterhood« geäußert wurde, wird auf einer emotionalen Ebene das Begehren nach einem weiblichen Kollektiv bis heute v.a. in diversen Appellationen
und Großdemonstrationen deutlich. Die Emotionsforscherin und Mediävistin
Barbara Rosenwein bezeichnet Gemeinschaften als »emotional communities«
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4. Zusammenführung
(2006), die durch einen gemeinsamen Gefühlshaushalt verbunden sind. Der
emotionale Habitus der Schwesternschaft vereinheitlicht auf einer Gefühlsebene Frauen zu Sisters, die durch gleiche (Leidens-)Erfahrungen auch meinen, gleich zu fühlen. »Emotional community« definiert Barbara Rosenwein
folgendermaßen:
»Whether overarching or subordinate, emotional communities are not coterminous with
just any group. A crowded street does not constitute an emotional community. An emotional community is a group in which people have a common stake, interests, values
and goals. Thus is often a social community. But it is also possibly a ›textual community‹, created and reinforced by ideologies, teachings and common presuppostions. With
their very vocabulary, texts offer examples of emotions belittled and valorized« (Rosenwein 2006: 25).
Das Verbindende unter Sisters habe ich im Exkurs »20.000 für die Cosa Nostra« als Gefühl der Schwesterlichkeit im »Glauben« an ein »Feministisches
Ding« bezeichnet. Dabei wird eine Beziehung zu einem sogenannten »Ding«
aufgebaut, das das weibliche Kollektiv verbinden soll. In Anlehnung an Slavoj Žižeks Analyse der Mechanismen des Gemeinwesens einer Nation kann
sein Konzept auch auf ein identitäres feministisches Kollektivverständnis
übertragen werden (siehe Kapitel 2.6). Wenn Žižek über das »nationale Ding«
schreibt, an das Angehörige des Gemeinwesens bzw. der imagined community
glauben, ohne genau zu wissen, wie es bestimmt ist, weil es eine semantische
Leere sei, so trifft dies gewissermaßen auch auf Teile des Feminismus zu. Es
ist nicht klar auszumachen, was die Sisters untereinander verbindet, nur dass
sie an etwas Gemeinsames glauben. Das Phantasma der »global sisterhood«
bestimmt sich durch das »Feministische Ding« und darüber hinaus durch die
Imagination, ein gemeinsamer schwesterlicher Identitätsraum zu sein. Der
politische Theoretiker Ernesto Laclau und Slavoj Žižek bezeichnen einen solchen referentiellen Bezugspunkt auch als einen leeren Ort. Diese Leerstelle
kann, wie die beiden Theoretiker argumentieren, von einer Vielzahl von Partikularinhalten, die um Hegemonie kämpfen, gefüllt sein. Damit wäre diese
Leerstelle als »das« Allgemeine oder als das »Feministische Ding« neutral:
»Jeder positiv bestimmte Inhalt des Allgemeinen ist das kontingente Ergebnis des hegemonialen Kampfes; an sich ist das Allgemeine völlig leer« (Laclau
2013: 76). Laclau betont weiter, dass in demokratiepolitischer Hinsicht die Offenheit und Unbestimmbarkeit der Leerstelle zentral sei. Es gebe eine Notwendigkeit, so Laclau, der Präsenz leerer Symbole. Die Sisterhood als emotionale
und politische Gemeinschaft kann zu einem Kollektivverständnis führen, das
eine spezifische Partikularität hegemonial setzt, wie im Selbstverständnis der
»weißen« global sisterhood deutlich wird. Oder aber sie kann als offenes Gefüge, aus einer Vielzahl von Partikularinteressen (weiße, schwarze, religiöse,
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
lesbische, klassistische…) zusammengesetzt sein, die sich nicht eindeutig definieren lassen und unbestimmt bleiben.
Die Schwesternschaft, die als geschlossener »Raum-Körper« z.B. als »global
sisterhood« oder als »Frauen-Raum« empfunden wird, impliziert das Gefühl
schwesterlicher Nähe, weltweiter Frauensolidarität sowie das Gefühl, als ein
einziger Organismus zu funktionieren und zu spüren. Der Satz von Audre
Lorde »Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie
ganz andere Ketten trägt als ich« (Lorde 1984) beinhaltet die Vorstellung, zu
einem einheitlichen, großen Ganzen zugehören. Auch werden die spezifischen Frauen-Räume wie ein geschlossener identitärer Raum-Körper erlebt,
der von anderen Geschlechtern weder »penetriert« (vgl. u.a. Stryker 2008:
202) noch durchmischt werden darf. Trotzdem kann die Schwesternschaft
nicht als Kollektivkörper interpretiert werden. Die Kulturwissenschaftlerin
Christina von Braun hat das Konzept des Kollektivkörpers im Hinblick auf die
christliche Gemeinschaft und später in Anlehnung an den Historiker Ernst
Kantorowicz auf die Verkörperung des Staates und des Volkes angewandt und
weiterentwickelt. Sie argumentiert, dass die meisten Gemeinschaften durch
eine Analogiebildung zu einem individuellen Körper oder Organismus als
einheitliches Gebilde erscheinen: »Eben weil die soziale Gemeinschaft über
keine ›realen‹ physischen Körpergrenzen verfügt – das Kollektiv hat keine
Haut –, wird diese Analogie zentral für dieses Gefühl von Einheitlichkeit und
Geschlossenheit« (Braun 2001: 291). Dabei verweist von Braun stets auf die
konkrete Vorstellung eines Körpers und führt das Beispiel der heiligen Messe
an, bei der Wein und Hostie sich in das reale Blut und Fleisch des Herrn verwandeln (vgl. Braun 2001: 292). Die Gemeinschaft der Gläubigen werde bei
Paulus als Corpus Christi mysticum vorgestellt, in dem die Gläubigen die Glieder des Leib Christus verkörpern, so von Braun (vgl. Braun 2001: 292). Ähnlich
verhalte es sich auch in den Untersuchungen von Kantorowicz zu den zwei
»Körpern des Königs«. Ihnen zufolge wird der Staat vom königlichen Herrscher repräsentiert und der Repräsentant verleiht dem Staat seine Leiblichkeit.
Eine Analogie zwischen Gemeinschaft und Körper werde hergestellt, die auf
das Volk übertragen werde, das im Staat einen »unsterblichen Körper« besitzt.
Dabei bezieht sich die Lehre von den zwei Körpern des Königs auf den natürlichen verletzbaren Körper (body natural) und den politischen Körper (body
politics), der unsterblich ist. Die Vorstellung eines Kollektivkörpers, wie jenem
der Kirche als verkörperte Gemeinschaft oder dem Staat als verkörpertes Volk,
trifft auf die imaginierte Schwesternschaft nicht zu. Die Sisters als Leser_innenschaft oder Aktivist_innen fühlen sich zwar untereinander verbunden und
verspüren ähnliches Leid, Diskriminierung und auch Loyalität untereinander,
aber konkrete Körpervorstellungen der Schwesternschaft in Form von Bildern
oder Metaphern bestehen nicht. Vielmehr kann die Schwesternschaft analog
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4. Zusammenführung
zur Brüderlichkeit als Teil einer Familienkonstruktion gelesen werden, die
sich jedoch von dieser abgespalten hat und als eine eigene, abgeschlossene,
autonome Einheit, als ein identitärer Raum-Körper, erlebt wird. Sowohl in
der feministischen Science-Fiction-Literatur als auch in der Realpolitik wird
Schwesternschaft mit der Vorstellung von abgegrenzten Frauenräumen (z.B.
Herland/Gilman 1986) in Beziehung gesetzt, die als Raum-Körper empfunden
werden. Die Schwesternschaft unterscheidet sich von herkömmlichen Körpermetaphern, weil zum einen keine konkrete Körperanalogie besteht, wohl aber
Vorstellungen davon existieren, einen gemeinsamen Raum zu bilden. Dieser
Raum wird wiederum mit einem einheitlichen Körper gleichgesetzt, der nicht
»penetriert« werden darf und von anderen Geschlechtern »rein« bleiben soll.
Das Konzept des Kollektivkörpers, das für die Vorstellung und Bildung von
imaginären Gemeinschaften zentral ist, trifft jedoch viel mehr auf den Chicana-Feminismus und dessen Begriffsperson New Mestiza zu (siehe Kapitel
3.3). Das Borderland zwischen Texas und Mexiko wird als Figur »der« Chicana bzw. als Anzaldúas eigener Körper allegorisiert. »Der« Chicana-Körper
ist zugleich das kolonialisierte und verwundete Grenzland. Im Gegensatz zu
Allegorisierungen von Frauenfiguren als Nationen, wie sie in der feministischen Literatur vielfach analysiert wurden (vgl. u.a. Wenk 1996), wird die
»Chicana« jedoch mit keinem eigenen, einheitlichen Staat, sondern mit einer
spezifischen Region, die kulturell und ethnisch hybridisiert ist, gleichgesetzt.
Die Affizierungen der Leser_innenschaft bzw. der Chicana-Feminist_innen
untereinander lassen sich durch Ansteckungen von Gefühlen verstehen, die
vom verletzten und ausgebeuteten Kollektivkörper übertragen werden. Christina von Braun hat auch darauf hingewiesen, dass die Naturalisierung des Kollektivkörpers v.a. durch »Anbindung an physiologische Realitäten«, wie etwa
durch Bilder des gemeinsamen Blutes als Blutsgemeinschaft, verstärkt wird.
Zur Naturalisierung und Verweltlichung zählt auch die Verletzbarkeit des Kollektivkörpers. Von Braun zieht als Beispiele die »blutenden Wunden des Heilands« heran, ebenso wie den »Gemeinschaftskörper« in Form von Nationen,
der oft weiblich codiert und dementsprechend verletzungsoffen konnotiert ist.
Der Hintergrund für kollektive Vergewaltigungen von Frauen in Kriegssituationen liege, von Braun zufolge, auch darin, den Gemeinschaftskörper des
Feindes verletzen zu wollen (vgl. Braun 2001: 372).
Auch für das Borderland trifft die Analogisierung der Verletzbarkeit eines
Kollektivkörpers zu. Im Unterschied zu einem nationalen, identitären, abgeschlossenen Gemeinschaftskörper schreibt Anzaldúa von einem hybridisierten
Grenzland und setzt es mit ihrem Chicana-Körper, der sexuell, geschlechtlich
und ethnisch »unrein« ist, gleich. Die New Mestiza, die Anzaldúa als Heils- und
Erlöserfigur stilisiert, soll das verwundete Borderland bzw. ihre verletzte Körperlichkeit heilen. Sie kann die Wunden heilen, »healing the split«, indem sie
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
ein neues mestizisches Bewusstsein hervorbringt. Verletzung, Schmerz, aber
auch Heilung des Borderlands bzw. Körpers affizieren die Leser_innen und
Chicana-Feminist_innen. Sie verbinden sie zu einem nicht-identitären Kollektivkörper, der nicht abgeschlossen ist, sondern einen Zwischenraum bildet.
Das Gefühl der Schwesterlichkeit oder der Verletzbarkeit vergemeinschaftet
Frauen zu einer emotional community. Offen bleibt, ob diese Gefühlsgemeinschaften als einheitliche, identitäre Raumkörper, als »global sisterhood« (oder
als Chicana-Feminismus), erlebt werde oder ob diese Gemeinschaft/en bzw.
ihre »Leerstelle« undefiniert bleibt und verschiedene partikulare Interessen
inkludiert. Judith Butler schreibt, dass je nachdem, wie die Repräsentation der
Leerestelle ausgestaltet wird, eine inkludierende oder eine exkludierende Vergemeinschaftung entstehen kann:
»In jenen Fällen zum Beispiel, in denen das ›Universale‹ seinen leeren Status verliert
und zur Repräsentation einer ethnisch restriktiven Konzeption von Gemeinschaft und
Staatsbürgerschaft wird (Israel), oder in denen es mit bestimmten Organisationsweisen von Verwandtschaft (der heterosexuellen Kernfamilie) oder mit bestimmten ›rassischen‹ Identifikationen gleichgesetzt wird, findet Politisierung nicht nur im Namen der
ausgeschlossenen Partikularitäten statt, sondern im Namen einer anderen Art von Universalität« (Butler 2013: 210).
Sisterhood kann diverse Gestalten annehmen, wenn sie unbestimmt bleibt und
keine ihrer partikularen Teile einen hegemonialen Anspruch erhebt. Darüber
hinaus kann Sisterhood auch in ihren partikularen Interessen (weiße, schwarze,
lesbische, religiöse, klassistische…) hybrid und uneindeutig sein, wie etwa der
Chicana-Feminismus. Das Gefühl der gemeinsamen Verletzung durch immer
wiederkehrende Kolonialisierung verbindet Chicana-Feminist_innen untereinander. Das Besondere ist, dass Anzaldúa das Borderland zwar mit einem Körper gleichsetzt, der jedoch hybrid und durchlässig, wie das Grenzland, bleibt.
Der Übergang von einer »emotional« zu einer »affective community«, auf die
ich im nächsten Kapitel eingehen werde, die nicht durch ein gemeinsames Gefühl, sondern durch ein Ereignis bestimmt wird, ist im Chicana-Feminismus
nicht klar auszumachen.
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4. Zusammenführung
4.2.8 Queere Multituden: singulär plural sein 25
»Das Singuläre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich
auch jeder mit und unter allen anderen. Das Singuläre
ist ein Plural. Sicher hat es auch die individuelle Eigenschaft der Unteilbarkeit zu bieten: aber es ist nicht unteilbar als Substanz, sondern unteilbar in jedem einzelnen Fall, im Ereignis seiner Singularisierung«
(N ancy 2004: 62)
Durch gegenseitige Affizierungen werden queere Gefüge, die in sich vielfältig,
vernetzt und unabgeschlossen sind, erzeugt. Vor allem aber bilden sie Netzwerke und, in Abgrenzung zu identitären Gemeinschaftskonzepten, keinen
abgeschlossenen, homogenen Körperraum. Das Kollektiv der heterogenen Vielen, der »Multitude«, ist ein zusammengesetztes Gebilde von inneren Differenzen und Besonderheiten ihrer Mitglieder, das etwa den Drag Communities
und dem Cyberfeminismus entspricht. Das kollektive Imaginäre dieser Multituden liegt im Paradoxon, als Un-Eindeutige, Nicht-Zugehörige, Andere – als
Singuläres Plurales/Universales – etwas Gemeinsames zu teilen und zu empfinden, das jedoch je nach Begriffsperson unterschiedliche Ausprägungen hat.
Rosi Braidotti weist ihrer Begriffsperson des Nomadic Subjects selbst die
entsprechende Community zu. Sie greift die Idee der Multitude (2004), die von
den Philosophen Antonio Negri und Michael Hardt konzipiert wurde, auf und
verortet ihre Begriffsperson in diesem Gefüge. Die Multitude meint eine Vielheit von »Singularitäten«, die ethnisch, geschlechtlich und kulturell verschieden sind und in einer veränderten globalisierten Welt, nach der Auflösung des
West-Ost Konflikts, im System des Postfordismus kontextualisiert sind. Negri
und Hardt definieren die Multitude in Gestalt eines Netzwerkes:
»Die Multitude setzt sich potenziell aus all den verschiedenen Gestalten der gesellschaftlichen Arbeit zusammen. Ein dezentrales Netzwerk wie das Internet ist dabei ein
ganz gutes Bild, eine Art Modell, um die Multitude zu denken, denn erstens bleiben
die verschiedenen Knoten ungeachtet ihrer Verbindungen im Netz in ihrer Differenz bestehen und zweitens sind die Ränder des Netzwerkes offen, sodass jederzeit neue Knoten und neue Beziehungen hinzukommen können« (Hardt/Negri 2004: 11).
Die »Sexuelle Multitude« wird in Anlehnung an Negri und Hardt von feministisch-queeren Theoretiker_innen wie etwa Beatriz Preciado (2003) oder Encarnación Gutiérrez Rodriguez (2007) auf unterschiedliche Weise adaptiert.
25 | Der Titel »singulär plural sein« (2004) wurde dem gleichnamigen Buch von JeanLuc Nancy entnommen.
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Wichtig dabei ist der Zusammenhang von queer-feministischen Subjekten,
die nicht selbstidentisch sind, und den dazugehörigen entsprechenden Communities, die je unterschiedliche Gestalt annehmen können. Sammelt sich
um die Begriffsperson Sister ein imaginäres Kollektiv der Gemeinschaft der
Gleichen, so entsprechen den hybriden Figuren eher Gebilde von Netzwerken oder Assemblagen. Gerade deshalb bringt Braidotti das Nomadic Subject
in Zusammenhang mit der (Sexuellen) Multitude, weil diese auch Ausdruck
für Mannigfaltigkeit und Alterität ist. Sie schreibt, dass die nomadische Alterität multipel sei und ihre Stärke und Besonderheit daraus ableite, dass sie
als »marginalisierte, rassisierte, pathologisierte, kriminalisierte […] ›Andere‹
konstruiert worden […] [ist], und dennoch als andere, als gespiegeltes Doppel
eines Subjekts, das die Vernunft und ihre Macht kolonisiert hat, strukturell
notwendig ist« (Braidotti 2007: 55). In Braidottis Zitat wird nicht nur die Vielfalt innerhalb der Multitude und die nomadischen Momente deutlich, sondern
auch, wie diese als widerständische Kehrseite in einem transnationalen, kapitalistischen System des Empire wirksam wird. Das Affizierende an der Sexuellen Multitude des Nomadic Subjects ist das Gleiche, das auch in Fällen nichtidentitären Communities zum Tragen kommt: das Nicht-Zugehörige. Zum
anderen liegt das affizierende Moment des Nomadischen in der Bewegung
selbst. In Bewegung zu sein ist das verbindende Moment der nomadischen
Subjekte bzw. der Leser_innenschaft und Aktivist_innen. Es meint ein Verändern der Standpunkte und Aufenthaltsorte, durch Reisen oder durch Landstreichen, das einen permanenten Perspektivenwechsel hervorbringt. Darüber
hinaus wird von der feministischen Deleuze-Interpretin Elizabeth Grosz das
In-Bewegung-Sein und Anders-Werden mit Identität in Verbindung gebracht,
die nicht gleichbleibend ist, sondern stets Differenz/en bedeutet. Selbst-Differenz wäre nach Grosz eine pure Differenz. Das Nomadische als Bewegung und
Werden bedeutet Differenz an sich, die jegliche Form von Identität und Einheit
unterminiert, wie Elizabeth Grosz ausführt:
»Difference is the undoing of all stabilities, the inherent and immanent condition for the
failure and identity, or the pressure to develop a new understanding of identity that is
concerned not with coinciding the subject with its past so much as opening the subject
up to its becoming more and becoming other. Difference means that the constraints
of coherence and consistency in subjects, in the identity of things or events, are less
significal than the capacity or potential of change, for being other« (Grosz 2013: 109).
Auch für die Begriffsperson Cyborg und Drag trifft das Begehren nach einem
Anders-Werden zu (siehe Kapitel 4.1.3). Der Moment des Anders-Werdens, der
Zäsur zum Bisherigen, das Eintreten der Unerwartetheit habe ich im letzten
Kapitel als Ereignis interpretiert. Das Ereignis bedeutet eine Differenz und
einen Bruch mit dem Gewohnten und wirkt affizierend, wie ich mit Badiou
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4. Zusammenführung
gezeigt habe. Das Anders-Werden der Begriffsperson ereignet sich als je »Singuläre Universalität« (Badiou) oder als »Singulär Plurales« (Nancy 2004). Das
bedeutet, dass das Nachvollziehen des Anders-Werdens mit einer Begriffsperson sich für Leser_innen je einzeln ereignet, aber diese zugleich mit anderen
Leser_innen zu einem pluralen Universalen verbindet.
Mit der Begriffsperson bzw. der Sozialfigur der Drag lässt sich beispielhaft
zeigen, in welcher Weise Differenzen als Ereignis affizierend wirken. Um die
Drag bilden sich reading bzw. drag communities, die strukturell ebenso dem
Gefüge der Sexuellen Multitude entsprechen, wie etwa der Cyberfeminismus.
Als heterogenes Gebilde setzen sie sich aus queeren Singularitäten zusammen,
die dasselbe an der Drag begehren, nämlich: ihre Subversivität; das affektive
Moment, das Leser_innen und Aktivist_innen verbindet, liegt im Paradoxon
der Ent-Unterwerfung der Drag. Sie vermag durch Travestie und Performance
aufzudecken, wie »echte« Weiblichkeit oder Männlichkeit entsteht. In der Imitation von weiblichen oder männlichen Gesten und Äußerungen der Drag – im
Sinne des Doing Gender – geht es darum, die heterosexuelle Matrix durch
Travestie zu unterwandern. Für Judith Butler hat die Subversion der Drag zur
Folge, dass Geschlechternormen destabilisiert werden, dass Geschlechterkonfigurationen vervielfältigt werden und dass die Naturalisierung der (Zwangs-)
Heterosexualität ihrer zentralen »Protagonisten: ›Mann‹ und ›Frau‹« beraubt
wird (vgl. Butler 1991: 215). Die Faszination und das affektive Moment der Drag
liegen in der Subversion, durch Imitation die Echtheit von Geschlechtsidentitäten infrage zu stellen. Im Sinne Butlers geht es im Imitationscharakter
der Drag darum, die Bedeutung des Originals zu verschieben, indem der geschlechtliche Mythos der Ursprünglichkeit nachgeahmt werde (vgl. ebd. 1991:
203). Im Changieren zwischen Mimesis der Geschlechternormen, die Teil der
Unterwerfung sowie der Herstellung von geschlechtlichen Subjektpositionen
sind, und der gleichzeitigen Verschiebung der Geschlechternormen als EntUnterwerfung liegt das Begehren, etwas Anderes zu werden, mit dem sich die
Leser_innen und Aktivist_innen gegenseitig anstecken. Anders ausgedrückt,
im Paradoxon liegt das affektive Moment der Ent-Unterwerfung, d.h. von Normen und Macht reglementiert zu werden und diese zugleich zu irritieren. Gerade diese irritierende Zwischenposition kann im Sinne von Massumi als Affekt bezeichnet werden, der vorerst noch un-begreif bar ist. In seinem Kapitel
»The Autonomy of Affect« (2002) geht Massumi auf die sinnlichen Irritationen
ein, die Affekte bewirken können: »On the biological level, it is the margin of
undecidability accompanying every percepetion, which is one with perception’s
transmissibility from one sense to another. On the human level, it is the same
undecidability fed forward into thought, as evidenced in the deconstructability
of every structure of ideas (as expressed, for example, in Gödel’s incompletness
theorem and in Derrida’s différance)« (Massumi 2002: 37). Einen ähnlichen
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
Effekt löst die Begriffsperson bzw. die Sozialfigur Drag aus. Die affektive Mobilisierung der Drag liegt in ihrer Subversion, Geschlechternormen zu verschieben und zu destabilisieren, sowie in ihrer Potenzialität des Anders-Werdens.
Denn diese ist die Besonderheit einer geschlechtsspezifischen Singularität
und kann Leser_innen und Aktivist_innen zu einem »singulär-plural-sein«
verbinden.
Diese partikularen Verkollektivierungsformen entstehen durch ein Ereignis als Affekt. Deshalb kann auch von »affective communities« gesprochen
werden. Die affektiven Gemeinschaften unterscheiden sich in mehrerlei Hinsicht von den emotionalen. Ereignis und Affekt verbinden Leser_innen/Aktivist_innen untereinander und nicht ein gemeinsames Gefühl. Differenz/en
und nicht Spiegelung ermöglichen Weisen von Dis-Identifizierungen – auch
im Sinne von Selbstdifferenz. Während Praktiken des Fühlens oder ein emotionaler Habitus Gefühlsgemeinschaften erzeugen, bleiben Affekte diffus, ungerichtet, aber ansteckend. Der Philosoph Félix Guattari versteht unter einer
affektiven Gemeinschaft kein homogenes »Wir«, sondern eine »multiplicity
with oneself«. Das bedeutet, dass Menschen nicht nur innerhalb einer Gruppe divers und plural, sondern in sich selbst different sind: »It is a matter not
only of tolerating another group, another ethnicity another sex, but also for a
desire for dissensus, otherness, difference. Accepting otherness is a question
not so much of right as of desire. This acceptance is possible precisely on the
condition of assuming the multiplicity within oneself« (Guattari zit.n. Genosko
1996: 216).
Affective communities referieren auf ein gemeinsam gedachtes und affektiv nachvollzogenes Ereignis als »Universal Singuläres«, das sich durch einen
Bruch bzw. eine Differenz zum Bisherigen vollzieht. So wie in Badious Beispiel das paulinische Ereignis die Auferstehung Christi ist, vollzieht sich bei
den hier untersuchten Begriffspersonen das Ereignis in deren jeweiligem Tun
und in deren spezifischen Denk-Bewegungen.
4.2.9 Die »happy objects« der Gender und Queer Studies/
Communities
Es ist notwendig, zwischen Begriffspersonen und Begehrensfiguren innerhalb
der Gender und Queer Studies zu unterscheiden. Letztere stellen Produkte
eines Idealisierungsprozesses dar, der sich an verkörperten Formen von Begriffspersonen orientieren kann. Im Sinne Sara Ahmeds können diese Idole
als »happy objects« (Ahmed 2010) der Gender und Queer Studies bezeichnet
werden. Da Begriffspersonen und »happy objects« unter den gleichen Namen
auftreten, ist ihre Unterscheidung ausschließlich über den unmittelbaren Kontext möglich. Als Idole stellen sie das Bindeglied dar bzw. sind das gemeinsame Begehrensobjekt einer »emotional community«. Als Begriffsperson sind
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4. Zusammenführung
sie das Ereignis, um das sich eine »affective community« bildet. Durch beide
können Kollektivitäten entstehen, wenn auch unterschiedliche.
Sara Ahmed schreibt in ihrem Beitrag »happy objects«, dass an bestimmte
Objekte ein Versprechen wie etwa Freude geknüpft sei und diese Objekte wie
ein Kollektivgut zirkulieren würden. Das »Objekt« sei mit positiven Affekten
behaftet, die sich in ihm akkumulieren und mit ihm weitergegeben werden.
Affekte sind Ahmed zufolge »sticky«, klebrig, und haften an Ideen, Werten
und Objekten (vgl. Ahmed 2010: 29). Aus ihrer Perspektive würden sich Sisters,
Cyborgs, Drags u.a. als Begehrensfiguren verstehen lassen, an denen sich frei
flottierende Affekte festsetzen können. Sie schreibt, dass nicht nur das Objekt
selbst, sondern auch der Kontext, der es umgibt, begehrt und etwa mit »Freude« assoziiert wird. Zudem seien diese Objekte als gut oder böse konnotiert
und würden entsprechend Glück oder Unglück weitergeben. Der Zusammenhalt von Gruppen orientiert sich daher an einem gemeinsamen Objekt, das
etwa Freude ausstrahlt und für ein Versprechen steht, das verbindend wirkt.
Ahmed kritisiert mit dem Konzept der »happy objects« vor allem universale
Glücksvorstellungen, wie sie anhand der Familie ausführt.
Sie meint aber keineswegs, dass ein Objekt wie etwa die Familie an sich
glücklich ist oder mit Glück affiziert wird. Entscheidend sei vielmehr die kollektive Vorstellung und Wertehaltung, die im Hinblick auf Familie geteilt werde. Dieser gemeinsame Horizont würde das gestalten, was wir tun. Nicht der
Gegenstand an sich löst eine bestimmte Stimmung wie etwa Freude aus, so
Ahmed, sondern erst im Nachhinein wird das Objekt als sogenannter antizipatorischer Grund dafür genannt. Diese Antizipationen sind bestimmte Erwartungen. So ist es z.B. der Hochzeitstag, der eine spezifische Stimmung oder
ein Gefühl vorgibt, wie er zu sein hat.
Indem Ahmed hier deutlich erkennt, dass es eben nicht ein (Begehrens-)
Objekt ist, dass heldenhaft eine Tat vollbringt, sondern es umgekehrt ein subjektloses Tun ist, welches ihm postwendend zugesprochen wird, lässt sich Ahmeds denkerischer Ansatz mit jenem von Badiou schlussendlich doch in Deckung bringen. Aus einer badiouschen Sichtweise sind die hier untersuchten
Figuren nicht lediglich »happy objects«, die zu Träger_innen von präexistenten
Affekten werden können, sondern sie sind Ereignisse: Es ist also nicht so, das
sich ein Affekt des Vernetzens an der Figur der Cyborg festsetzt, sondern dieser
Affekt beginnt erst mit dem Auftauchen der Cyborg zu existieren. Somit sind
Begriffspersonen als schöpferischer Bruch selbst affektgeladen und affizierend.
Als Begriffspersonen sind sie eben keine Objekte, sondern die Personifikation
jener Denkbewegungen, die eine Immanenzebene konstituieren.
Vergemeinschaftungsprozesse können also auf zwei unterschiedliche Weisen explizit auf die Figuren der Sisters, Cyborgs, Drags u.a. Bezug nehmen. Im
Zentrum des community building steht entweder ein Ereignis, das den Namen
einer Begriffsperson trägt und eine affective community entstehen lässt, oder es
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Sisters – Cyborgs – Drags. Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies
konstituiert sich eine emotional community um eine Begehrensfigur herum.
Für Letztere sind die geteilten Imaginationen wesentlich, die Kollektive wie
Sisterhood, der Sexuellen Multitude, des Chicana- und Cyberfeminismus oder der
Drag Communities begründen können. Ähnlich wie bei den »happy objects«
bestimmen in diesen Fällen gemeinsame Gefühlszustände oder (auf das Begehrensobjekt übertragene) Affekte ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Anders als (Anti-)Held_innen, die als happy objects erst im Nachhinein eine
wichtige Rolle für das Gemeinsam-Werden spielen und ihrem Versprechen
vorauseilen (und nicht umgekehrt), wirken die Figuren der New Mestiza, der
Cyborg, des Nomadic Subjects und der Drag – wenn sie als Begriffspersonen
auftreten – als bloße Ereignisse, die durch ihr Anders-Werden affizierend und
ansteckend wirken.
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