Manuskript radioWissen Die Zelle - Kleinste Einheit des Organismus‘ AUTORIN: Susanne Hofmann REDAKTION: Gerda Kuhn ERZÄHLERIN: Es ist eine kuriose Szene: Ein Mann liegt bäuchlings auf einem Tisch und rudert mit Armen und Beinen. An seiner Seite: Sein „Schwimmlehrer“, der ihn im Trockenschwimmen unterweist und ihn dazu anhält, Froschbewegungen nachzuahmen. Von neugierigen Besuchern nach dem Sinn seines Treibens gefragt, antwortet der Schwimmer: ZITATOR: „Ich interessiere mich nicht für den praktischen Nutzen. Daran liegt mir nichts. Wissen ist mein letztes Ziel.“ ERZÄHLER: Sir Nicholas ist der Titelheld des Theaterstücks „Der Virtuose“ von Thomas Shadwell, dem Bühnenschlager der Saison im London des Jahres 1676. Eine Komödie über die Auswüchse experimenteller Wissenschaft. Der wunderliche Forscher soll, so sah es das zeitgenössische Publikum, einem realen Wissenschaftler nachempfunden sein. ZITATOR: „Einem Dummkopf, der 2000 Pfund für Mikroskope ausgegeben hat, um die Natur von Aalen in Essig zu erforschen, von Milben im Käse, die er feinsinnig als lebendige Wesen erkannt hat.“ ERZÄHLERIN: Ähm… Entschuldigung… Sollte es hier denn nicht um die Zelle gehen? ERZÄHLER: Ganz richtig, ja. – 2 ERZÄHLERIN: Warum dann dieser Exkurs zu einem Theaterstück über einen verrückten Forscher? ERZÄHLER: Gemach, gemach, das kommt gleich! Wir tasten uns vor, vom großen Sichtbaren, zum kleinen Unsichtbaren. Genauso hat es die Wissenschaft ja auch gemacht. Also: Modell für die lächerliche Komödien-Figur war Robert Hooke. Ein Tausendsassa und das wohl berühmteste Universalgenie des 17. Jahrhunderts in England. Er war Astronom und Architekt, Mathematiker und Geologe; er baute Uhren, Teleskope und Mikroskope; er war ein meisterhafter Zeichner, genauer Natur-Beobachter und bei der neugegründeten Royal Society betraut mit der Durchführung von Experimenten. Nur wenige Jahre vor der Uraufführung des Theaterstücks vor nunmehr 350 Jahren hatte er das breite Publikum durch ein aufsehenerregendes Werk begeistert: „Micrographia“, ein Buch mit detaillierten Zeichnungen und akribischen Beschreibungen kleinster Lebewesen. Es erschien 1665 im Auftrag König Charles II., dem Hooke sein Werk widmete: ZITATOR: „Hiermit erlaube ich mir, diesem mächtigen König, … etwas darzubieten, das der Unerheblichkeit meiner Fähigkeiten angemessener ist: einige der geringsten aller sichtbaren Dinge.“ ERZÄHLERIN: Die „Micrographia“ machte Furore, nicht nur in der Welt der Wissenschaften. Das Werk und vor allem die darin enthaltenen Zeichnungen erschlossen ihren Lesern nichts weniger als eine faszinierende neue Welt. Eine Welt, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Mithilfe eines selbstgebauten Mikroskops gelang es Robert Hooke, unter die Oberfläche der sichtbaren Dinge vorzudringen. Er legte Flöhe, Läuse, Schwämme, Vogelfedern, ja selbst gefrorenen Urin unter den Vergrößerungsapparat und zeichnete, was er sah. Und was er entdeckte, nahm den Lesern den Atem. ZITATOR: „Ehe ich zu Bett ging, saß ich bis 2 Uhr morgens in meinem Zimmer und las Mr. Hookes Mikroskopische Beobachtungen.“ ERZÄHLERIN: …vermerkte sein berühmter Zeitgenosse und Chronist Samuel Pepys in seinem Tagebuch. Sein Fazit: 3 ZITATOR: „Das genialste Buch, das ich je gelesen habe.“ ERZÄHLER: Bei bis zu 50-facher Vergrößerung wurden organische Strukturen sichtbar, von denen man bis dahin nichts ahnte. Als Hooke eine hauchdünne Scheibe Kork unter sein Mikroskop legt, entdeckt er ein auffälliges Muster: ZITATOR: „Ich konnte ganz klar erkennen, dass es ganz perforiert und porös war, sehr ähnlich einer Honigwabe, nur dass die Poren nicht regelmäßig waren; diese Poren, oder Zellen, waren nicht sonderlich tief, doch bestanden sie aus sehr vielen kleinen Kästchen.“ ERZÄHLERIN: Mit dieser Beschreibung prägte Robert Hooke einen Grundbegriff der Biologie: Die Bezeichnung „Zelle“ für die kleinste Einheit des Lebens. Er mutmaßte, dass es sich bei diesen wabenähnlichen Kämmerchen um das Transportsystem für Pflanzensäfte handle. Eine Fehlinterpretation, wie wir heute wissen. Was Hooke da unter dem Mikroskop sah, waren die Zellwände des Korks. ERZÄHLER: Die Zelle, von lateinisch cellula, kleine Kammer. Sie bildet den Grundbaustein von sämtlichen pflanzlichen und tierischen Organismen. An der Zelle erkennt man, dass alle Lebewesen auf der Erde miteinander verwandt sind. Die Zelle ist der Ausgangspunkt des Lebens auf diesem Planeten und auch Ursprung jedes individuellen Lebewesens, erklärt die Leiterin der Hauptabteilung Naturwissenschaften im Deutschen Museum, Sabine Gerber. O-TON Sabine Gerber Immer am Anfang steht diese Einzelzelle, auch letztendlich die Entstehung von uns Menschen, wir bestehen aus einer Ei- und einer Samenzelle und damit geht es los und aus dieser befruchteten Eizelle entsteht dann der ganze Mensch mit allen seinen verschiedenen Zellen, und das heißt also auch hier geht das Leben bei seiner Entstehung wieder zurück auf die einzelne Zelle, die dann eben zu dem ganzen Organismus heranwächst. Also an der Zelle kommt man nicht vorbei. 4 ERZÄHLERIN: Die Zelle ist die kleinste selbständig lebende Einheit aller Organismen. Sie kann sich ernähren und Abfallstoffe wieder ausscheiden, sie erzeugt ihre eigene Energie, reagiert auf Reize und kann sich fortpflanzen. So wie alle Lebewesen. ERZÄHLER: Der menschliche Körper setzt sich aus rund 75 Billionen Zellen zusammen. Ihre Größe wird in Mikrometern gemessen, also Millionstel Meter. Eine durchschnittliche kugelförmige menschliche Zelle hat einen Durchmesser von rund 25 Mikrometern, also einem 400stel Zentimeter. Das bedeutet: 60 Millionen Zellen lassen sich bequem in einen kleinen Würfel von einem Kubikzentimeter packen. Wir können menschliche Zellen also nicht sehen. Mit einer Ausnahme: der weiblichen Eizelle, der größten menschlichen Zelle. Sie misst ein Zehntel Millimeter und ist damit für geübte Augen gerade noch erkennbar. O-TON Sabine Gerber Wir stehen hier vor einer Zelle im Deutschen Museum, es ist eine menschliche Zelle, die 350.000-fach vergrößert ist, d. h. sie ist knappe 3m hoch und sie ist etwa knapp 10m lang, das ist also ein sehr, sehr großes Gebilde, das wir auch gleich begehen werden, also eine begehbare menschliche Zelle. ERZÄHLERIN: Eine begehbare Zelle führt im Deutschen Museum Aufbau und Bestandteile einer Körperzelle vor Augen. Für das Modell musste man die Zelle aber nicht nur vergrößern, man hat sie auch stark vereinfacht und beschränkt auf ihre Grundelemente, so die Biologin Sabine Gerber: O-TON Sabine Gerber Eigentlich ist eine Zelle vollgestopft bis oben hin. Wir haben einen – ja – fast leeren Raum erschaffen, in den man eben auch hineingehen kann, wo man sich umgucken kann, aber eigentlich müsste man sich vorstellen, wir sind noch ein bisschen kleiner und wir quetschen uns zwischen dem – ja – endoplasmatischen Ritikulum, also dem in der Zelle liegenden Netz, quetschen wir uns vorbei und gucken uns alles an, was man hier sieht. SPRECHER: Willkommen auf der Expedition in die Zelle! Wir befinden uns jetzt im Zellzwischenraum, in der wässrigen Umgebung der Körperzellen. Alles, was die Zellen 5 zum Leben brauchen, ist in dieser Flüssigkeit enthalten: Wasser, Nährstoffe und Salze. Eine Zelle ähnelt in ihrem Aufbau - grob gesagt - einer Kirsche. Wie eine Kirsche ist auch die Zelle von einer Haut umgeben – der Membran. Die Membran kontrolliert streng, welche Stoffe hinein- und herausgelangen. Sie schirmt das Zellinnere ab vor den chemischen Reaktionen, die außerhalb der Zelle ablaufen. Wenn wir nun durch die Membran ins Zellinnere treten, sehen wir den Zellkern. Er ist eingebettet in eine wabernde gallertartige Masse, das Zellplasma. Der Zellkern bildet das Herzstück der Zelle. In ihm befindet sich die gesamte Erbinformation, der komplette Bauplan für sämtliche Körperzellen. Im Zellkern steht die genetische „Bibliothek“ des Menschen, die sogenannte DNA. Die Aufgabe des Kerns: Er muss die Bestände der genetischen Bibliothek erhalten und gegebenenfalls reparieren. Wird ein Fehler übersehen, kann das schwerwiegende Folgen für den gesamten Organismus haben. Wird die DNA bei der Zellteilung zum Beispiel falsch kopiert, wird dieser Fehler an die Tochterzellen weitergegeben. Krebs oder Erbdefekte können entstehen. Wie wir sehen, herrscht in der Zelle rege Betriebsamkeit. Es geht zu wie in einer kleinen Fabrik. Die Zellbestandteile werden fortwährend ab- und wieder aufgebaut, elektrische Signale werden erzeugt, Informationen weitergegeben. Während die DNA im Zellkern steuert und kontrolliert, stehen für die Ausführung der verschiedenen Aufgaben etliche „Maschinen“ bereit, die sogenannten Organellen. Unter ihnen herrscht strikte Arbeitsteilung, alles läuft mit höchster Präzision. ERZÄHLER: Damit jedoch überhaupt etwas läuft, braucht die Zelle Energie. Die wird in den sogenannten Mitochondrien erzeugt, den Kraftwerken der Zelle. Wie das funktioniert, erklärt die Biologin Sabine Gerber: O-TON Sabine Gerber: Die Zelle nimmt Zuckermoleküle auf und Sauerstoff dazu, die über die Blutbahn angeliefert werden, bzw. aufgenommen werden, und eben durch die Oxidation von Zucker entsteht Wasser und CO2 und Energie. Und diese Energie wird in der Zelle oder im Organismus in Form von ATP gehalten, also Adenosintriphosphat, und das ist der universelle Energiespeicher der Zelle, der an allen Stellen des Körpers verwendet wird, d.h. alles wird erst einmal so in zuckerartige Moleküle umgewandelt, die werden dann oxidiert und zu ATP gemacht und dieses ATP ist überall im Körper, wo Energie verbraucht wird. Und die werden in diesen Mitochondrien gemacht. 6 ERZÄHLERIN: Die Umwandlung von Energie in ATP nennt man „Zellatmung“. Je energiehungriger eine Zelle ist, desto mehr Mitochondrien besitzt sie. Die meisten Mitochondrien haben Herzmuskelzellen. Aber auch Nerven- und Sinneszellen brauchen sehr viel Energie und verfügen daher über besonders viele Kraftwerke. ERZÄHLER: Die Energie wird zum Beispiel hier dringend gebraucht: in den Ribosomen. Die Ribosomen sind quasi die Werkbank für die Herstellung von Proteinen, den Baustoffen, aus denen die Zelle besteht. Verknüpft sind die Ribosomen – Achtung, noch mehr Fachlatein - mit dem endoplasmatischen Riticulum. Was das ist und welche Funktion es hat, erklärt Sabine Gerber. O-TON Sabine Gerber: Das endoplasmatische Riticulum, auf Deutsch übersetzt: das im Plasma liegende Netzchen, das ist also ein Transportsystem, ein Kanalsystem, was die ganze Zelle durchzieht und was eben tatsächlich Proteine, die an der Stelle A hergestellt worden sind, auf die Stelle B transportiert, sie nochmal verändert, verpackt – das endoplasmatische Riticulum ist eng verbunden mit dem Golgi Apparat, diesem grünen Gebilde dort, hier also auch wieder membranumhüllte Hohlräume. Das Ganze wird weitertransportiert, verändert, befüllt, „getagt“ – wie man so schön sagt, also mit einem Aufkleber versehen „Das soll da hin“ – und geht dann am Ende – wie man auch hier sieht – aus der Zellmembran wieder hinaus. SPRECHER: Der Reinigung der Zelle von Reststoffen dienen die Lysosomen, die zelleigene Müllabfuhr. Sie sammeln das nicht mehr benötigte Material ein und bauen es ab. Soweit also unsere kurze Führung durch die Zelle. ERZÄHLER/ERZÄHLERIN: Eizellen, Samenzellen, Nervenzellen, Blutzellen, Hautzellen, Muskelzellen, Bindegewebszellen, Epithelzellen, Lungenzellen, Leberzellen, Gehirnzellen, Drüsenzellen… ERZÄHLER: Ob wir atmen, uns bewegen oder denken, stets sind an diesen Prozessen Zellen beteiligt. Unser Körper besteht aus mehr als 200 Zelltypen mit jeweils bis zu Billionen Einzelzellen. Zellen eines Typs arbeiten meist in Verbänden zusammen, in Organen 7 oder Geweben. Nahezu alle diese Zelltypen haben zwar den gleichen Grundbauplan, unterscheiden sich aber trotzdem deutlich voneinander, Sabine Gerber: O-TON Sabine Gerber: Also man sieht, dass Zellen in ihrer differenzierten, fertigen Form je nach ihren Aufgaben unterschiedliche Größen, unterschiedliche Formen, unterschiedliche Inhaltsstoffe haben, Unterschiedliches machen. Jetzt haben wir links von uns vielleicht die Zelle, die über ihre Funktion am meisten von außen verrät. Ist eine Nervenzelle. Die hat einen Kopf mit so ein paar Auswüchsen dran, einen langen Stängel, wenn man so will, und unten nochmal Füßchen, die sich ausbreiten, das Ganze ist ein Motorneuron, also eine Nervenzelle, die am Ende der Nervenleitung ist und an einem Muskel sitzt. D. h., bei ihren Füßchen kann man sich vorstellen, dass die einen Muskel umgreift, und dem Muskel letztendlich sagt, er soll sich zusammenziehen oder nicht. ERZÄHLERIN: Nervenzellen mit ihren Fortsätzen sind die längsten Körperzellen. Bis zu einem Meter lang sind die Nervenzellen, die vom Gehirn bis ins Rückenmark reichen. ERZÄHLER: Fast alle Zellen können sich durch Zellteilung vermehren. Die Zelle kopiert die Erbinformation und es bilden sich zwei exakt gleiche Zellen. Auf die Weise wächst der Organismus, Gewebe und Organe werden nach Verletzungen regeneriert und abgestorbene oder geschädigte Zellen ersetzt. Das Knochenmark beispielsweise bildet annähernd 160 Millionen rote Blutkörperchen in der Minute. Und das ein Leben lang. Andere Zelltypen dagegen teilen sich nur während einer bestimmten Entwicklungsphase und bleiben dann lebenslang erhalten, z.B. Nerven- oder Muskelzellen. ERZÄHLERIN: Zellen beherrschen das Multitasking. Zum einen erfüllen sie ihre üblichen Aufgaben im Organismus - Hautzellen beispielsweise wehren Bakterien ab, Nervenzellen empfangen und senden Signale und Flimmerzellen befördern Fremdstoffe aus den Bronchien heraus. Zum anderen sind Zellen aber damit beschäftigt, sich zu teilen. Zunächst so, dass sie nur Kopien von sich selbst erzeugen. Einige davon produzieren dann jedoch Abweichungen. In der Entwicklung des Menschen beginnt diese Differenzierung der Zellen schon wenige Teilungen nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Zellbiologe Frank Schnorrer vom Münchner Max-Planck-Institut für Biochemie: 8 O-TON Frank Schnorrer: Die verschiedenen Zelltypen entstehen dann in verschiedenen Stadien während dieser Entwicklung, zu bestimmten Entwicklungszeitpunkten werden dann Entscheidungen getroffen, ob man jetzt zum Beispiel in Richtung Nervenzelle differenzieren soll oder Richtung Gliazelle, das ist eine unterstützende Zelle, die die Neuronen mit Nährstoffen versorgt. Und diese Neuron und Glia, die haben eben eine gemeinsame Vorläuferzelle, die dann durch eine asymmetrische Zellteilung, wo dann wirklich die Zelle sich nicht einfach nur in der Mitte durchschnürt, sondern asymmetrisch teilt, das heißt bestimmte Zelldeterminanten gehen sozusagen in den rechten Teil der Zelle, andere Determinanten gehen in den linken Teil der Zelle und wenn dann sich die Zelle durchschnürt bei der Teilung, die dann festlegen können: O. k., diese linke wird jetzt die Gliazelle zum Beispiel und die rechte Zelle wird die neuronale Zelle. ERZÄHLER: Während sich die ersten Zellen des Embryos also noch zu jedem beliebigen Körpergewebe weiterentwickeln können – man nennt sie deshalb „pluripotente Stammzellen“ - sind sie nach zirka einem Tag weitgehend in ihrer Entwicklung festgelegt. Je mehr der Embryo wächst, desto spezialisierter werden seine Körperzellen. Sie kommunizieren miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. ERZÄHLERIN: Was in den einzelnen Zellen im individuellen Organismus während seiner Entwicklung passiert, hat sich auch in der Evolution des Lebens auf der Erde generell vollzogen. Auch hier haben sich die Organismen immer weiter differenziert und spezialisiert und mit ihnen ihre jeweiligen einzelnen Zellen. Sie mussten sich immer wieder neu anpassen, an die Umgebung und aneinander. Was sich bewährte, wurde beibehalten. Deshalb finden wir in der gesamten Fauna ähnliche Zellen. Typische Muskel- und Nervenzellen gibt es auch bei Fischen, Insekten und Würmern. Doch was war der Ausgangspunkt, womit fing die Familien-Geschichte der Zellen an? Frage an den Entwicklungsbiologen Frank Schnorrer. O-TON Frank Schnorrer: Ich schätze, also dass es wahrscheinlich auf eine Zelle zurückgeht, weil alle Zellen den gleichen Mechanismus jetzt benutzen im Prinzip, vom Bakterium zur einzelligen Hefe über die komplexeren Organismen zum Menschen, läuft im Prinzip – wie ne Zelle sich vermehrt, wie sie sich teilt – alles nach dem gleichen Prinzip ab, und deswegen kann man davon ausgehen, dass eine einzige Zelle der Start war. 9 ERZÄHLER: Und woher kam diese eine Urzelle? Wie konnte auf der Erde, die doch vor vier Milliarden Jahren noch wüst und leer war, die Vorstufe des Lebens entstehen? Diese Frage trieb Anfang der 50er-Jahre auch den Chemie-Studenten Stanley Miller an der Universität von Chicago um. ERZÄHLERIN: Methan, Ammoniak, Kohlenmonoxid, Wasserdampf. Das waren die Zutaten zur „Ursuppe“, die Stanley Miller im Labor zusammenrührte. Dazu hohe Temperaturen und viele elektrische Entladungen, um Blitze zu imitieren. Sein Ziel: Einmal Schöpfer spielen, etwas schaffen, das es vorher noch nicht gab: etwas Lebendiges. Nach nur einer Woche dann das atemberaubende Ergebnis: O-TON Frank Schnorrer: Die Sensation war da, dass man eben in relativ kurzer Zeit aus sehr einfachen Bestandteilen wie Methan und Wasser natürlich und ne Stickstoffquelle, dass man dadurch komplexe organische Moleküle aufbauen kann und eben auch welche, eben die Aminosäuren, die in Zellen auch vorhanden sind. ERZÄHLER: Der Versuch bewies also, dass die Ur-Atmosphäre dazu geeignet war, wichtige Lebensbausteine hervorzubringen. Aminosäuren alleine machen jedoch noch keine Zelle. Sogar die primitivste Zelle muss aus mehreren Protein-Molekülen bestanden haben und – vor allem – in der Lage gewesen sein, sich selbst zu vermehren. Zufälle und viel Zeit waren dazu wohl nötig. Man nimmt an, dass die Moleküle im Laufe der Evolution irgendwann in winzige Fettbläschen eingeschlossen wurden, die ihnen Schutz boten und aus denen sich dann später die Membran bildete. Derartige einfache einzellige Lebewesen, die sich reproduzieren konnten, entstanden vor knapp vier Milliarden Jahren. Im Laufe ihrer Geschichte haben sie sich immer weiter auseinanderentwickelt. Der riesige Schritt von der sogenannten Einzelligkeit zur Vielzelligkeit hat den Weg geebnet für die Entstehung der überwältigenden Fülle von komplexen Lebensformen auf der Erde. Dieser Prozess vollzog sich vor 800 Millionen Jahren, so Thomas Junker, Biologiehistoriker an der Universität Tübingen. O-TON Thomas Junker Das Erstaunliche ist, dass es so spät passiert ist. Das heißt, es ist offensichtlich relativ kompliziert. Jede unserer Zellen hat ja ein eigenes Erbmaterial und jetzt müssen Sie die dazu bringen, zusammenzuarbeiten, zusammenzubleiben und sich arbeitsteilig an 10 dieser Fortpflanzung und an diesem Leben zu beteiligen. Das heißt, sie müssen Kontrollmechanismen haben, sie müssen Mechanismen haben, wie die sich absprechen, kommunizieren untereinander, und das ist sehr, sehr kompliziert und ist deshalb wahrscheinlich erst so spät entstanden – eben nach fast drei Milliarden Jahren der Evolution. ERZÄHLERIN: Die Zellen, diese kleinsten lebendigen Organismen in unserem Körper, bewältigen Aufgaben von immenser Komplexität und das ununterbrochen und mit hoher Präzision. Das Innenleben der Zelle findet auf unvorstellbar kleinem Raum statt. Darin sind etwa zwei Meter DNA-Strang in einem Zellkern untergebracht, der nur einen Durchmesser von wenigen Tausendstel Millimetern hat. Die menschliche DNA wiederum besteht aus 25.000 Genen. Sie enthalten die Anleitung für die Ausbildung von Protein-Molekülen, den winzigen Baustoffen und Maschinen unseres Körpers. Zigtausende davon gibt es in jeder Zelle, sie erledigen lebenswichtige Aufgaben. ERZÄHLER: Tag für Tag arbeiten die Zellen so für (ihr und) unser Überleben. Sie sind dabei ständigen Angriffen aus der Umwelt ausgesetzt: Strahlen, Chemikalien oder Giften, die unser Genmaterial schädigen können. Die meisten dieser Schädigungen oder Mutationen erkennt die Zelle und bessert sie aus. Versagt der Reparaturmechanismus, können Proteine in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Ein einziges fehlerhaftes Protein kann den gesamten Organismus gefährden und zu Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Parkinson führen. Trotzdem, so betont Sabine Gerber, ist für uns nicht eine Gen-Mutation die größte Gefahr. O-TON Sabine Gerber: Woran wir heute sterben, ist im Wesentlichen Verschleiß, irgendwann kommt der Mechanismus des Nachbildens nicht mehr nach, die Zellteilung wird langsamer, das ist vielleicht die größte Gefahr jetzt für uns heute. ERZÄHLERIN: Wie für unseren ganzen Organismus ist Leben auch für alle unsere Zellen ein ständiger Kampf, ein Ringen um die bestmögliche Anpassung an die Erfordernisse der Umwelt. Zellen habe sich als Erfolgsmodell der Evolution erwiesen. Ein Erfolgsmodell mit einer vier Milliarden Jahre alten Tradition, das jenseits unserer Aufmerksamkeit unermüdlich weiter an seiner Perfektion arbeitet. stopp