Gentechnologie (1986), S. 79-116 Besprechungen zum Thema

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In: Widerspruch Nr. 11 (01/86) Gentechnologie (1986), S. 79-116
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H.M. Baumgartner / H. Staudinger (Hrsg.):
ENTMORALISIERUNG DER WISSENSCHAFTEN?
München - Paderborn - Wien – Zürich 1986
(Physik und Chemie)
H. Lenk (Hrsg.):
HUMANE EXPERIMENTE?
GENBIOLOGIE UND PSYCHOLOGIE
München - Paderborn - Wien - Zürich 1985
(Ethik der Wissenschaften, Band 2 und 3.
Wilhelm Fink / Ferdinand Schöningh)
Die Beiträge der beiden Bände sind hervorgegangen aus Tagungen und
Kolloquien der Arbeitsgruppe „Philosophische Ethik und praktisches
Moralverhalten“ der Werner-Reimers-Stiftung. Hermann Krings hält in
seinem Vortrag „Bedenken zur Wissenschaftsethik“ die Frage nach einer
allgemeinen Wissenschaftsethik für eine kompensatorische Folge der Verwandlung der Wissenschaft in Methodologismus und der Abkoppelung
der Wissenschaft von jeder Sinninstanz. Er plädiert dementsprechend für
eine „Philosophie der Wissenschaft“. Sie müsse zu ihrem Prinzip die Wahrheit (nicht die Hypothesen-Perfektionierung) haben, so daß die „Wissenschaftsethik keine Sonderethik ist“. „Die Grundsätze der sittlichen Vernunft gelten, wie für jedes andere Handeln des Menschen, auch für
sein wissenschaftliches Handeln (23, Bd. 2). Das sittliche Prinzip sei
aber keine positive Norm, sondern eine „negative Instanz“, wonach das,
was ihr nicht widerspricht, prinzipiell erlaubt ist. Hier wird eine Achillesferse dieser Konzeption deutlich: nur faktisch schon vollzogene
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Handlungen lassen sich demnach nachträglich ethisch beurteilen, eine
auf die Zukunft bezogene Handlungsanweisung dagegen ist prinzipiell
ausgeschlossen. Wenn Hegel gegen Kants formalistisches Kriterium der
Widerspruchsfreiheit einer Handlung einwandte, daß es nicht geeignet ist
zur Beurteilung dessen, ob bestimmte Einrichtungen (wie das Kreditgeld
bzw. „Depositum“) überhaupt sein sollen, dann dürfte sich dieser Einwand angesichts der Unumkehrbarkeit gegenwärtiger globaler Entscheidungen in Wissenschaft und Technik noch verschärfen.
Der Physiker Heinz Maier-Leibnitz - von 1974 bis 1979 Präsident der
Deutschen Forschungsgemeinschaft - berichtet in seinem Vortrag
hauptsächlich von seinen eigenen Erfahrungen als Wissenschaftler und
geht dabei sozusagen pragmatisch vor. Er vertritt unter anderem die
Ansicht,
dass Wissenschaftler außerhalb ihres Fachs keine besondere
Kompetenz beanspruchen dürfen. Sehr interessant ist, daß MaierLeibnitz eine Klärung vieler Kontroversen von einer neuen Rhetorik
erwartet, die Regeln für das Überzeugen auszuarbeiten habe. Das ist in der
Tat ein Desiderat ersten Ranges. (Zu den kritisch zu untersuchenden typischen Argumentationsmustern wird z.B. der Topos vieler Diskussionen
gehören, daß man erst mitreden könne, wenn man etwas selbst erfahren
habe, usw. usw.)
Der Chemiker und Unternehmer Kurt Hansen - 1936 in die IG Farbenindustrie eingetreten, 1961 bis 1974 Vorstandsvorsitzender der Bayer AG
- hält in seinem Vortrag „Verantwortung und Ethik in der naturwissenschaftlichen Forschung an Beispielen aus der Chemie und Pharmazie“
die naturwissenschaftlichen Forschungen und ihre Ergebnisse für ethisch,
insofern sie drohende Gefahren für Menschen abwende und das Wohl
der Menschen befördere. Das sei die Regel gewesen. Unethische Konsequenzen - etwa der Atomforschung - habe die Politik zu verantworten.
Der politische Rahmen wird aber von Hansen nicht erörtert. „Nicht Kritisieren und Hinterfragen, sondern aktives Forschen und Bessermachen
hilft uns weiter. Aufgaben und Probleme gibt es genug. Packen wir zu
und helfen wir der Forschung“ (55, Bd. 2).
Hermann Lübbe, für den die wissenschaftliche Forschung letztlich
durch die menschliche Curiositas legitimiert ist, stellt in seinem Vortrag
„Die Wissenschaft und die praktische Verantwortung der Wissenschaftler“
erstens heraus, daß we-
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gen des „abnehmenden Grenznutzens des Forschungsaufwands“ die Wissenschaftler für die von ihnen in Anspruch genommenen Mittel immer
mehr Verantwortung trügen. Zweitens würden die Wissenschaftler ihrer
politischen Verantwortung in der Weise gerecht, daß sie die „Wirklichkeitsannahmen“ der Politiker kritisch untersuchen und ihnen gegenüber
geltend machen, was „der Fall ist“. Drittens weite sich die Forschungsverantwortung „zur Handlungsverantwortung aus, wo die Nutzung
forschungsabhängig sich ergebender Handlungsmöglichkeiten Sache der
Forscher selbst ist“ (69, Bd. 2). Viertens weist Lübbe die Annahme
zurück, daß der „Schluß vom Können aufs Dürfen“ die Ursache der Probleme unserer Zeit sei. „Es ist ungleich plausibler, sich die Dynamik unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation aus der wissenschaftlichtechnischen bedingten Erweiterung unserer Herstellungs- und Handlungsmöglichkeiten zu erklären, die wir in Orientierung an moralisch
erlaubten, ja gebotenen Zwecken genutzt haben“ (72, Bd. 2). Ob künftig
Katastrophen geschehen oder vermieden werden, hängt nach Lübbe davon
ab, ob wir „Opfer der Überschätzung unserer Kräfte“ werden und die
„Grenzen unserer Könnerschaften“ überschreiten oder uns in diese
Grenzen einrichten. Was werden solche Bescheidenheit und Entsagung
bedeuten angesichts des naturwüchsigen Zwangs zum Wachstum in der
kapitalistischen Gesellschaft?
Kurze Stellungnahmen von W. Becker, H. Staudinger, H.-M. Sass, L.
Krüger, H. Poser, H. Lenk, W. Oelmüller und O. Marquard schließen
diesen Band ab. Als Ergebnis haben die Herausgeber schon in der Einleitung unter anderem den Konsens festgehalten, daß eine neue Ethik nicht
als erforderlich angesehen wird und Ethik und Verantwortung „nicht
von außen an Physik und Chemie und die aus ihnen resultierenden Forschungsprozesse herangetragen werden können, daß sie vielmehr der
Selbstreflexion der in diesen Forschungsprozessen stehenden Wissenschaftler, freilich nicht nur ihnen allein, zugemutet werden müssen“ (10, Bd. 2).
Aus Band 3 seien folgende Beiträge hervorgehoben: Friedrich Gramer:
„Erkenntnis und Interesse in der Erforschung des Lebendigen“, HansMartin Sass: „Vom Ethos der genetischen Manipulation“, Hans Lenk:
„Humanexperiment als Tauschvertrag? Ethische Fragen der Experimente mit Menschen unter besonderer Berücksichtigung der Psychologie“. Diese Beiträge haben das Verdienst, daß sie sozusagen weder einer
ethisch-konservativen Tabuisierung der Gentechnologie und Humanwissenschaft noch einer technokratisch-funktionalistischen Enttabuisierung
das Wort reden. Sie können somit der Aufgabe am ehesten gerecht werden,
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die Frage der Selbstbestimmung des Menschen hinsichtlich der Gesellschaft und hinsichtlich der Evolution in Zusammenhang bringen.
(Elmar Treptow)
Bundesminister für. Forschung und Technologie (Hrsg.):
ETHISCHE
UND
RECHTLICHE
PROBLEME
ANWENDUNG
ZELLBIOLOGISCHER
GENTECHNISCHER METHODEN AM MENSCHEN
München 1984
( Schweitzer-Verlag )
DER
UND
Der Band dokumentiert ein interdisziplinäres Fachgespräch von Medizinern, Genetikern, Theologen, Philosophen und Juristen, das Ende 1983
auf Einladung des Bundesministers durchgeführt wurde, und das in erstaunlicher Offenheit die Vielfalt der ethischen Standpunkte zur Gentechnik belegt. Der Diskussion lag ein Papier des Bundesgesundheitsministeriums zugrunde, das die Fachdiskussion in drei Themenkomplexe aufzugliedern versuchte: l) In-vitro-Fertilisation und Gentransfer, 2)
Genomanalyse und 3) Gentherapie in somatischen und Keimbahnzellen.
Während die einleitenden Referate von S. Trotnow, K. Sperling und von R.
Jaenisch den Stand der gegenwärtigen Technologien darstellen, macht den
überwiegenden Teil des Bandes die Protokollierung der anschließenden
Diskussion um die Wert- und Zielvorstellungen der Gentechnologie aus.
Bedarf es zur Bewältigung der durch die Gentechnik geschaffenen neuen
Möglichkeiten einer neuen Gen-Ethik, wie vor allem die professionellen
Ethiker meinen, oder genügen die alten ethischen Grundlagen, und sei es
im Gegenteil „gefährlich“ nach neuen Maßstäben zu suchen, wie dezidiert der Seewiesener Verhaltensforscher W. Wickler meinte? Nicht verwunderlich jedenfalls ist es, daß vor allem die philosophischen und theologischen Ethiker, wie der Protestant U. Eibach, der katholische Moraltheologe Fraling oder der Philosoph R. Löw darauf abzielen, neue
ethische Prinzipien zu postulieren, die aufgrund der Möglichkeiten der
Manipulation des Erbguts erforderlich seien, denen gegenüber sich die
Genetiker jedoch weitgehend zurückhaltend äußern und darauf hinweisen,
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daß, wie schon immer, die Verpflichtung zur Hilfeleistung ihr Handeln
bestimmen würde.
Einer der zentralen Streitpunkte, der in der Diskussion immer wieder
in den Vordergrund rückte, war dabei die Frage, ob eigentlich die Gesundheit bzw. die Verpflichtung, gesundes Leben zu erhalten oder herzustellen, weiterhin Grundverpflichtung des ethischen Handelns sein könne. Während der Philosoph H.-M. Sass und der Genetiker A. Trautner das
Kriterium, „Schmerz, Krankheit auf dieser Welt, wo immer möglich,
zu mildern, oder gar zu beseitigen“ (119), in den Vordergrund stellten und
daran die Gentechnik beurteilen wollten, kam von der Gegenseite der Einwand, ob Gesundheit wirklich das „höchste Gut“ sein könne. Es gäbe
die Gefahr, daß der Wunsch nach Gesundheit Eingriffe legitimieren würde,
die ethisch nicht mehr vertretbar wären, wo die Genomanalyse und die
Gentherapie dazu führten, eugenische Kriterien des wertvollen und unwerten Lebens anzuwenden; dies aber sei mit dem Grundwert der Menschenwürde – auch des Ungeborenen - nicht vereinbar. U. Eibach spitzte
diese Kontroverse sogar zu dem Gegensatz zu, daß hinter der Gentechnik das Verständnis des „Naturalismus, Materialismus, Idealismus und
Marxismus“ (114) stünde, der Mensch sei Schöpfer seiner selbst und
Lenker seines gesamten Lebensprozesses, während die Kritiker der Gentechnik von dem Verständnis ausgingen, daß letztlich Gott - wie R. Löw
meinte - die Entscheidung über die Wünschbarkeit oder Nichtgewünschtheit des Lebens, und damit die Gentechnik ihre unüberschreitbaren Grenzen, habe.
Insbesondere von theologischer Seite wurde daher auch die Auffassung
vertreten, die Gentechnik führe zur beliebigen Manipulation am
menschlichen Erbgut und beinhalte damit eine sittlich verwerfliche
Zielsetzung. Diesem Vorwurf widersetzten sich allerdings ihrerseits die
Genetiker und Mediziner, die diesem Vorwurf entgegneten, es ginge
ihnen nicht um beliebige Manipulationen, sondern um konkrete therapeutische Eingriffe, die nicht ohne den Willen der Beteiligten durchgeführt
würden.
Immer wieder kreisten die Fragen um das Zentrum „Was ist menschliches
Leben“ und wie läßt sich die jeweilige Definition mit all ihren ethischen
Implikationen begründen? Während die Juristen wie W. Spann oder A.
Eser juristisch, insbesondere mit dem § 218, argumentierten und die Philosophen eher die geschichtlich-kulturelle Evolution der Wertvorstellungen zum Ausgangspunkt nahmen, konnten die Theologen
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nicht umhin, immer wieder allgemeingültige und „ewige“ Maßstäbe eines
gottgewollten „Naturrechts“ anzuführen.
So bietet der Band, gerade weil er die intensiv geführte fachübergreifende Diskussion referiert, eine sehr gute Einführung sowohl in die
wissenschaftlichen Grundlagen der Gentechnik als auch in die vielfältige und gegensätzliche Diskussion der (gen)ethischen Standpunkte.
Merkwürdig erscheint mir allerdings, daß sich die Rollen offenbar
vertauscht haben: während es die Naturwissenschaftler und Genetiker,
wie W. Winkler, A. Trautner oder E. Passarge sind, die darauf verweisen, daß für die Persönlichkeitsentwicklung weit mehr die gesellschaftlichen Einflüsse als die genetische Konstitution prägend und daher viele
Bedenken gegen die Gentechnik überzogen seien, konzentrieren sich die
Ethiker in einer Weise auf die Genetik, als sei die Individualität des Menschen nahezu ausschließlich in den Chromosomen verankert.
(Alexander v. Pechmann)
Erwin Chargaff:
ZEUGENSCHAFT.
ESSAYS OBER SPRACHE UND WISSENSCHAFT
Stuttgart 1985
(Verlag Klett-Cotta)
Der bekannte (österreichisch-) amerikanische Biochemiker Chargaff einer der heftigsten Kritiker der Gentechnologie und nach eigenem Bekunden „voller Mißtrauen gegen Lebensverbesserer“ - legt hier Lesefrüchte
seiner Streifzüge durch die Literatur der Jahrhunderte vor, die einen
assoziativen und betont autobiographischen Charakter haben. (Längere
Ausführungen beziehen sich auf Hölderlins späte Gedichte und Karl
Philipp Moritz.) Weniger wäre mehr gewesen. Die „Zeugenschaft“ ist
jedenfalls eher literarisch als zeitgeschichtlich oder politisch zu verstehen.
Die Grundmelodie ist ein Klagelied über den Zustand unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation, das sich zur Weltuntergangsstimmung steigert, ohne von einer allseitigen Analyse und schlüssigen Diagnose begleitet zu sein. Sprache, Dichtung und Kunst sollen offensichtlich „angesichts unserer gräßlichen Zeit“ der „Wissensexplosion“ und des
„Fortschritts“ einen Halt bieten. Hoffnung knüpft Chargaff dabei noch
an einen „Entschluß“, der „gleichzeitig aus zahllosen Herzen“ kommt,
an eine innere Umorientierung. Aber: „Wenn man sich fragt, woher
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ich das Recht nehme, etwas so Unschuldiges wie die Wissensexplosion mit
etwas so Enormem wie dem Untergang der Menschheit in Beziehung
zu setzen, habe ich eine einfache Antwort. Das Herz des Menschen ist
zentripetal, die Naturforschung ist zentrifugal. Je weiter und schneller diese
fortschreitet, um so mehr muß jenes zerrissen werden. Es gibt eine
Grenze, in allem auf der Welt gibt es eine Grenze“ (153; vgl. 172).
Eine Grenze hat Chargaff überschritten, die Grenze seines Fachs. So
wünschenswert es ist, daß ein Naturwissenschaftler diese Grenze überschreitet, so bedauerlich ist es, wenn er gegen sein Fach die Poesie ausspielt.
(Elmar Treptow)
Wolfgang van den Daele:
MENSCH NACH MAß?
ETHISCHE PROBLEME DER GENMANIPULATION
UND GENTHERAPIE
München 1985
(Beck-Verlag, 285 S., DM 19,80)
Der Autor, Jurist, Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Wissenschaftsforschung an der Universität Bielefeld und Mitglied der EnqueteKommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ des Bundestages,
gibt mit der vorliegenden Veröffentlichung einen kenntnisreichen, allgemeinverständlichen und umfassenden Überblick über den gegenwärtigen
Stand und die absehbaren Entwicklungen der praktischen Anwendungen
gentechnologischer Ergebnisse, sowie über die mit dem fortschreitenden
Erkenntnisprozeß der Genforschung verbundenen Probleme einer Ausdehnung der Experimente an genetischem Material des Menschen. Das
spezifische Verdienst des überaus klar geschriebenen und präzise argumentierenden Buches liegt aber auf einer anderen Ebene: in dem Versuch,
für die gegenwärtig und in absehbarer Zukunft relevanten gentechnologischen Anwendungen einen an den möglichen sozialen Folgen und
normativen Konflikten ansetzenden Empfehlungskatalog rechtlich regelungsbedürftiger Sachverhalte vorzulegen. Dazu arbeitet v.d.Daele bereits
vorhandene und absehbare rechtliche Konflikte auf der Basis der grundgesetzlichen Wertentscheidungen heraus und versucht, normative
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Leitlinien für die moralische und rechtliche Beurteilung gentechnologischer
Forschung und Anwendung zu formulieren. Im einzelnen handelt
v.d.Daele folgende Bereiche in der Reihenfolge der zunehmenden
Eingriffstiefe gentechnisch möglicher Interventionen ab:
Kap. l: Embryonen im Labor und künstliche Familien. Konsequenzen der
Befruchtung außerhalb des Mutterleibes.
Kap. II: Genomanalyse, genetische Tests und ‘Screening’ (= Siebtests an
der gesamten Bevölkerung). Fortschritte der Medizin
und der sozialen Kontrolle
Kap. III: ‘Negative’ Eugenik. Strategien der Bereinigung des menschlichen Genpools.
Kap. IV: Gentherapie. Der Schritt zur Konstruktion des Erbmaterials.
Am Ende jedes Kapitels faßt der Autor seine Überlegungen in Thesenform
übersichtlich zusammen.
Der methodische Ausgangspunkt für die entscheidende Frage nach der
moralischen und politischen Bewertung der mit der gentechnologischen
Entwicklung gegebenen weitreichenden Eingriffsmöglichkeiten ins Individuum wie in den Gesellschaftskörper bildet für v.d.Daele das Modell
der richterlichen Rechtsfortbildung - im Gegensatz etwa zur Position des
rationalen Naturrechts: „Die Anknüpfung der Wertungen an faktische
Entscheidungen in der Gesellschaft ist wichtiger als ihre Begründung
aus einem eigenen Systementwurf“ (15). Die pragmatische Position dieses Rechtspositivismus und eines empirisch wohl begründeten Skeptizismus gegenüber der faktischen Kraft des Normativen knüpft dabei an gesellschaftlich akzeptierte Wertvorstellungen an, die selbst in ihrer historischen
Genese einer nicht-positivistischen Setzung entspringen, wie z.B. die
Selbstbestimmung der Person, das Recht auf körperliche Unversehrtheit,
die Würde des Menschen, die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, der
„andere“ (bereits als Embryo) als Grenze technischer Manipulation, etc. –
alles Werte, die den Wert der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, der Freiheit der Wissenschaft, der Individuellen Handlungsautonomie in spezifischer Weise begrenzen. Freilich erinnert v.d.Daele
daran, daß diese Werte historischen Veränderungen und Verschiebungen
unterliegen und letztlich „ihrerseits an soziale Prozesse zurückgebunden
werden (müssen), nämlich in Diskussionen über akzeptable und wün-
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schenswerte Mittel und Ziele menschlichen Handelns“ (16). V.d.Daele
sieht das Dilemma, in das eine rechtspositivistische Betrachtungsweise
führt: das Problem der historischen Kontingenz von Werten: „Schließlich
können uns moralische Interpretationen, die bislang klare Orientierungen
liefern, gleichsam kulturell abhanden kommen. Sie können durch sozialen
Wandel, auch durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik
unplausibel werden“ (203). Dies gilt insbesondere auch für das Argument, das die menschliche „Natur“, die ja spätestens seit dem 19.
Jahrhundert als gesellschaftlich-historisch produzierte begriffen wird, für
unantastbar erklärt: „Die Berufung auf Tabus der menschlichen Natur hat
jedoch in unserer Kultur etwas Prekäres. Sie widerspricht dem Ansatz
und der Denkweise der modernen Naturwissenschaft. Diese ist geradezu dadurch konstituiert, daß sie ihre Gegenstände nicht mehr als Teile
eines sinnhaft geordneten, den Menschen verpflichtenden Kosmos begreift. Für sie hat keine Natur moralische Qualität ... Unter dem Eindruck
neuer Technik veraltet die bestehende Moral“
(204/5). Diese Überlegungen laufen darauf hinaus, den historischen Sachverhalt anzuerkennen, daß „keine Moral ... den Fortbestand ihrer eigenen
sozialen und kulturellen Voraussetzungen sichern“ kann (208). Dennoch,
so v.d.Daele, stellt die uns verfügbare Moral den einzigen sicheren Bezugspunkt für eine Beurteilung der Mißbrauchsmöglichkeiten, der Gefahren der sozialen Kontrolle, der Herrschaft selbsternannter genetischer
Eliten und gegenüber der Manipulation des Menschen dar. Seine Option
geht dahin, kontrafaktisch die ‘Natürlichkeit’ des Menschen als Grenze
seiner Technisierung in einer entsprechenden „Politik der menschlichen
Natur“ (Kap. V des Buches) abzusichern. Die Begründung für eine solche Begrenzung führt v.d.Daele über das Postulat ein, nur über Sachverhalte gesellschaftlich zu entscheiden, die im Prinzip entscheidungsfähig sind
(das könnte eine Pragmatik der Technologiefolgenabschätzung und der
sozialen Akzeptanzen technischer Innovationen ebenso erfordern wie
eine Wiederherstellung einer diskutierenden politischen Öffentlichkeit,
jenseits der Monologe der Experten): „Begründet man die Norm der
‘Natürlichkeit’ auf diese Weise, so ist ihr Schutzgut nicht das absolut
Heilige, sondern das relativ Sichere“ (209). Diese vorsichtige, gleichwohl mit Blick auf die Selbstläufigkeit technologischer Prozesse und
ihrer Durchsetzung durch professionelle Partialinteressen realistische
Perspektive wird mit einer praktischen Option verknüpft, die im
Schlußkapitel des Buches nur angedeutet, aber argumentativ nicht mehr
durchgeführt ist: die politische Neuverhandlung über die Grenzen des
Krankheitsbegriffs. Gerade weil die fortgeschrittene Gentechnologie die
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Ausweitung ihrer Forschungen und die Erweiterungen ihrer legitimen Interventionsräume medizinisch begründet und damit unter dem Mantel des
hohen Wertes, der in unseren Gesellschaften dem Gut Gesundheit
zugeschrieben wird, die Grenze von der Krankheitsverhütung (z.B. Diagnose und Therapie von Genanomalien) zu einer aktiven gestaltenden
Intervention in Richtung einer Optimierung von Gesundheit und von dort
in Richtung einer - wenngleich noch in ferner Zukunft liegenden - Perspektive einer „Züchtung“ wünschenswerten Erbgutes verschiebt, plädiert v.d.Daele für eine Einschränkung des Krankheitsbegriffs: „Die
Konsequenzen eines Krankheitskonzeptes, in dem die Unterscheidung
zu abweichendem Verhalten und zu subjektiver Hilflosigkeit kategorial
wieder eingeebnet werden, wären erheblich“ (216). Unter der Perspektive einer zunehmend gerade unter Bildungs- und Familienpolitikern und in
der „Neuen Rechten“ wieder zunehmend salonfähigen Diskussion über
die selektive Förderung von Eliten und über überzogene Konzepte einer
allgemeinen gesellschaftlichen Gesundheitshygiene scheinen diese Überlegungen v.d.Daeles alles andere als akademisch.
( E. v. Kardoff)
Herta Däubler-Gmelin (Hrsg.):
FORSCHUNGSOBJEKT MENSCH:
ZWISCHEN HILFE UND MANIPULATION
München 1986
(Schweitzer-Verlag )
Das Buch vereinigt Stellungnahmen und Vorschläge der SPD zur Regelung gentechnologischer Methoden am Menschen. Neben der
Grundsatzerklärung des SPD-Vorstandes und Beiträgen der Herausgeberin
sowie des Leiters der Enquete-Kommission des Bundestags zur Gentechnologie, W.-M. Catenhusen, u.a. enthält der Band die Dokumentation
einer Anhörung, die die SPD-Praktion zum Thema „Künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft“ in Bonn am 16.4.1985 durchgeführt hat. Auffallend gegenüber anderen Äußerungen ist, daß es den Vertretern der
SPD offenbar - bei vollem Problembewußtsein
über die gentechnologischen Gefahren - schwerfällt, sich im Detail ethisch
und juristisch festzulegen. So läßt es etwa H. Däubler-Gmelin völlig an
den gewohnten vorschnellen Beurteilungen fehlen und weist nur auf die
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möglichen - und beträchtlichen - Folgen der Gentechnik hin. Auch Catenhusen versucht eher den Rahmen einer möglichen Kodifizierung einer
künftigen Gen-Ethik abzustecken als vorschnelle Ver- und Gebote
auszusprechen.
Die diskussionsfreudige Offenheit der SPD in Sachen Gen-Technologie
macht vor allem die Anhörung über die Probleme der künstlichen Befruchtung und Ersatzmutterschaft deutlich, an der Juristen, Mediziner, Philosophen und Theologen teilgenommen hatten. So einhellig auch die Befürwortung der homologen Insemination war, so weitgehend war zwar die
Skepsis gegenüber der heterologen Insemination, d.h. der künstlichen Befruchtung durch außereheliche Samenspender; aber man war doch überwiegend der Ansicht, daß diese Frage nicht durch strafrechtliche Regelungen
seitens des Staates geklärt werden könnte. Der Jurist Ostendorf etwa
vertrat die Auffassung, daß schon durch die zivilrechtlichen Folgen
(ev. Erbschaftsansprüche oder Unterhaltsforderungen des Kindes), die ggf.
auf den Samenspender zukommen würden, die heterologe Insemination
keineswegs zur Massenerscheinung machen, sondern auf Einzelfälle
beschränkt bleiben würde. Sehr pointiert vertrat dazu die Vertreterin
von „pro familia“ das Recht der Frauen, heterolog inseminierte Kinder
auch allein, ohne männlichen Partner, aufziehen zu können. Statt den
sexual- und familienethischen Zeigefinger zu erheben, respektierte man in
erster Linie den legitimen Kinderwunsch der Frau.
Offen verlief auch die Diskussion über die sog. Ersatzmutterschaft, die
zwar die kommerzielle Ausnutzung ausdrücklich verboten wissen wollte, aber darüber hinaus auch noch auf andere Aspekte hinwies. Während
Ostendorf die Ansicht vertrat, daß die Elternschaft genetisch begründet
sein sollte, vertrat der Philosoph W. van den Daele die Ansicht, daß es im
Fall der „Ersatzmutter“ angemessener wäre, die Gebärende, und nicht
die genetische Mutter, sozial und juristisch als leibliche Mutter zu betrachten. „Mutter ist immer die Frau, die das Kind austrägt“ (60); denn
diese Auffassung „vermeidet eine Überbetonung der Gene. Meines
Erachtens“, so Daele, „läuft es ein wenig auf genetische Ideologie hinaus, in diesem Fall die Anknüpfung am Erbmaterial allein für zwingend zu halten“ (60). Die Konsequenz dieser vorgeschlagenen Regelung
wäre, daß die genetische Mutter allein durch Adoption das Kind erhalten
könnte.
In der Frage der Verwendung von Embryonen zu Forschungs- zwecken
verwies die Diskussion darauf, daß erstens überhaupt nur 30 % der
Embryonen sich zu Föten weiterentwickeln, und daß zweitens die er-
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laubte Methode der Schwangerschaftsverhütung durch die Spirale bzw.
die „Pille danach“ die Keimzelle an der Einnistung in die Gebärmutter
hindern würde, so daß auch in diesem Falle Embryonen abstürben.
Einhellig wurde jedoch die Meinung vertreten, daß, wenn schon, die
Verwendung von Embryonen nur kontrollierten klinisch-medizinischen
Forschungszwecken dienen dürfe.
Gemeinsamer und unhintergehbarer Standpunkt aller Beiträge war, daß der
Grundwert der Menschenwürde im Zentrum der Beurteilung gentechnologischer Verfahren und Experimente stehen müsse. Ob allerdings W.-M.
Catenhusen gut beraten ist, die höhere Sensibilität der Bundesrepublik in
Fragen der Menschenwürde gegenüber dem Ausland historischrelativierend, „aufgrund der Erfahrungen des dritten Reiches“ (44), und
nicht grundsätzlich moralisch (Gibt es national unterschiedliche „Menschenwürden“?) zu begründen, bleibt fraglich.
Insgesamt zeigt sich jedoch in der SPD eine Einstellung, die die offenkundigen Probleme der Gentechnologie in erster Linie nicht durch strafrechtliche Maßnahmen bewältigen will (Ausnahme: Eingriffe in die Keimbahnen), sondern durch die „Suche nach breit konsensfähigen Maßstäben für die Ausfüllung der gesellschaftlichen Verantwortung“ (44). Diese
Maßstäbe könnten nur im gesellschaftlichen Dialog gefunden werden. Angesichts der neuen medizinischen, ethischen und juristischen Probleme sei
die offene Diskussion in der Gesellschaft zur Zeit die angemessene
Form der Lösung. Eine Form, die der Band durch die Vielfalt der Standpunkte in interessanter Weise dokumentiert.
(Alexander v. Pechmann)
Rainer Flöhl (Hrsg.):
GENFORSCHUNG - FLUCH ODER SEGEN?
München 1985
(Schweitzer-Verlag )
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Der Band vereinigt insgesamt 23 Beiträge zum Thema, die an verschiedenen Orten und aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind. Er
kommt dabei nicht umhin, die große Verständnislosigkeit zwischen den
Naturwissenschaftlern einerseits und den Ethikern andererseits zu dokumentieren. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, daß in
dem Band, wieder einmal, fast ausschließlich konservative Philosophen und
- vor allem - Theologen versammelt sind.
So begrüßenswert es ist, daß der Band sich vor allem den ethischen
Problemen, die mit der Genforschung aufgeworfen werden, widmet, so
wäre, bei der Menge der Beiträge, eine größere Meinungsvielfalt durchaus
am Platz gewesen. Zwar erwähnt der Philosoph Walther Zimmerli in
seinem Artikel „Dürfen wir, was wir können?“, daß wir heute in einer Zeit
des Wertrelativismus lebten, in der die christliche Moral ihre Allgemeinverbindlichkeit verloren habe, - in den Beiträgen selbst ist davon allerdings wenig zu bemerken. Im Gegenteil, für den Außenstehenden ist es
überraschend, mit welcher Selbstsicherheit besonders von theologischer
Seite die Geschütze - nicht nur - gegen die Genetik in Stellung gebracht
werden. Da weiß etwa der Moraltheologe J. Hoffmann genau, daß das
Ziel Gottes die Vollendung des Menschen und der Schöpfung ist, und
daher genetische Eingriffe in diesen Heilsplan unstatthaft seien. Da weiß
der Protestant Jürgen Hühner, daß der menschliche Geist seine tiefste Orientierung durch den Geist Gottes, der der Geist der Liebe ist, empfängt
(171) und aus ihm heraus die ethischen Probleme der Genetik zu bewältigen habe. Gar nicht zu reden, von dem in diesen Fragen offenbar allgegenwärtigen Hans Jonas, der dem westlichen Denken pauschal bescheinigt, die Ehrfurcht vor der Natur verloren zu haben, und aus „pervers-neugieriger“ Abenteuerlust die Pandorabüchse des Genpools zu
öffnen gedenkt. Oft weiß der Leser gar nicht mehr, wohin diese theologisch-philosophischen Kritiker der neuzeitlichen Wissenschaft eigentlich zurück wollen: ausgemacht scheint es eh, daß Darwin und Descartes als „Weltentzauberer“ im Grunde dumme Jungs waren, die,
blind für die Folgen ihres Forscherdrangs, die „natürliche Ordnung“
durcheinander gebracht haben. Aber daß selbst der neutestamentliche Satz
„Macht Euch die Erde Untertan“ als ein fataler Auftrag interpretiert
wird, läßt nur mehr schwer nachvollziehen, von welcher Grundlage aus
Theologen eigentlich noch argumentieren. Wenn dann der Katholik J.
Hoffmann implizit die Genesis in Frage stellt, nach der Gott Adam
zunächst aus Lehm geschaffen und ihm erst dann die Seele eingeblasen
habe, sondern von der Leibhaftigkeit des Geistes spricht - um daraus
die personale Würde des Menschen vom Beginn seiner Zeugung an zu
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folgern - wird der Boden schwankend, von dem aus argumentiert wird. So
bleibt denn den Theologen und Philosophen nichts anderes als die ständig
wiederholte Versicherung übrig, daß die Würde des Menschen „von Natur“ fest in den Genen verankert sei, und jeglicher Eingriff in die „genetische Identität“ unsittlich sei.
Aus der Phalanx der versammelten Theo-sophen bricht allein der Bochumer Technik-Philosoph Hans-Martin Sass aus, der als einziger ein historisches Problembewußtsein hinsichtlich der Frage nach der Würde des
Menschen und der Entstehung des Lebens hat. Als einziger übt Sass
grundsätzliche Kritik an der christlich-naturrechtlichen Begründung des
Mensch-Seins und stellt fest, daß in keiner relevanten europäischen und
außereuropäischen Tradition die Personalität des Menschen an die biologische Zeugung und damit an dessen genetische Ausstattung gebunden wurde. Selbst das alte Testament, so Sass, sieht in der Tötung eines Ungeborenen keinen Mord oder Totschlag; für das jüdisch-talmudische, das alte
römische und deutsche Recht ist die Geburt des Menschen der Termin, ihm Würde und Rechte zuzusprechen. Und selbst der „Heilige“
Thomas von Aquin läßt Gott dem menschlichen Fötus erst am 40.
(Mann) resp. 80. Tag (Frau) nach der Fertilisation die Seele schenken.
Vor diesem Zeitpunkt der Animation galt der Fötus nicht als Person und
die Abtreibung nicht als Mord. Sass schlägt daher das Kriterium der Gehirntätigkeit des Fötus als Beginn des personalen Lebens vor - analog
des Endes der Gehirntätigkeit bei der Festsetzung des Tods eines Menschen. Vor diesem Datum, dem 50. Tag post menstruationem, sei der
Fötus ungeschützt, dann aber solle ihm der volle Schutz der Solidargemeinschaft zukommen. Dementsprechend entwickelt er einen Kanon von
Regelungsvorschlägen, mit dem Genetiker etwas anfangen können, und
schließt eine sinnvoll betriebene Erforschung der Keimzellen nicht aus.
So verständnislos die Theologen der Genforschung gegenüber sind und
in ihr nur die mangelnde Ehrfurcht vor der Natur erblicken, so sind
ihnen gegenüber die Juristen, wie E. Benda, A. Kaufmann, A. Eser,
offenbar etwas besonnener. Hätten sie es doch zu verantworten, christlich-theologische Grundsätze in strafrechtliche Normen umzusetzen.
Vor allem Erwin Deutsch zeigt auf, wie schwer es ist, ethische Normen
in rechtliche Rahmenrichtlinien umzusetzen.
Während sich die theologischen und philosophischen Ethiker auf die Unsittlichkeit der Gentechniker einschießen, und die Juristen zwischen ihnen
vermitteln wollen, herrscht bei den Genetikern noch immer weitgehend
Ratlosigkeit. So ist es sicher schön - man hat es aber mittlerweile oft
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genug gehört -, von den vielen beglückenden Möglichkeiten der Gentechnik zu erfahren; aber weder dem Genetiker Ernst-Ludwig Winnacker
noch dem Mediziner Hans-Bernhard Wuermeling fällt zu den ethischen
Herausforderungen der Theologen viel Kluges ein.
So gibt der Band zwar einen guten Überblick über die reichlich wissenschaftsfeindliche Einstellung vieler Theologen und Philosophen und
recht übersichtliche Zusammenfassungen des Stands der Genforschung;
er hat allerdings die Nachteile, daß - trotz des verbindenden Nachworts
des Herausgebers - die Meinungen recht unvermittelt nebeneinander
stehen bleiben, so daß Wiederholungen anscheinend unvermeidlich
waren, und - daß bei all der Diskussion über das Pro und ‘ Contra
des Schutzes ungeborenen Lebens keine einzige Frau zu Wort gekommen
ist.
(Alexander von Pechmann)
DIE GRÜNEN im Bundestag (Hrsg.):
FRAUEN GEGEN
GENTECHNIK UND REPRODUKTIONSTECHNIK
Dokumentation zum Kongreß vom 19. - 21.4.1985
Der Kongreß „Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik“ war
Ergebnis einer Zusammenarbeit von Frauen der autonomen Frauenbewegung, dem Verein Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für
Frauen, Köln, und dem AK Frauenpolitik der Grünen und stieß als bis
dahin größtes Forum in Europa zu diesem Themkreis auf größere Beteiligung und Resonanz als erwartet.
Inhaltlich waren gewisse Ambivalenzen von vornherein impliziert, und so
bietet diese Dokumentation einen adäquaten Überblick über das Spektrum der Reden, Aufsätze, Protokolle, Arbeitsberichte und Folgeaktivitäten. Sehr wohl wurde die Notwendigkeit erkannt, ein „differenzierteres
Nein“ (35) zu bereits vorhandenen und noch geplanten Entwicklungen
auf den Gebieten von Gentechnologie und Reproduktionstechnologie
auszusprechen, um nicht in eine weder beabsichtigte noch gewünschte
Nachbarschaft zu konservativen Kreisen aus Klerus und Jurisprudenz zu
geraten.
Diese Absage aber ist übergeordnet, auch wenn einzelne Stimmen gegeneinandersprechen und Differenzen zwischen Theologinnen, Philosophin-
Rezensionen zum Thema
nen, Natur- und Sozialwissenschaftlerinnen und Selbsthilfegruppen sichtbar machen. So wird durchaus darüber diskutiert, ob „Technik neutral ist“
(114) oder ob sie etwa „dämonisiert“ (137) werde; Ausgangspunkt ist
immer die dadurch notwendige oder beabsichtigte Unterdrückung der
Frau: „Wenn wir bisher unsere Bevölkerung erhalten konnten, so war
dies während der gesamten Menschengeschichte nur möglich, weil
Frauen unterdrückt und benachteiligt wurden“ (82).
Und dieser Ansatzpunkt erscheint in Jedem Beitrag - unabhängig davon,
welche Intention, welchen Inhalt dieser nun hat. Es ist an dieser Stelle
nicht möglich, proportional den einzelnen Arbeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, deshalb sei darauf hingewiesen, daß die Auswahl unvollständig ist:
Ein wichtiger Argumentationsstrang läuft wider den Primat der Naturwissenschaften gegenüber den Gesellschaftswissenschaften, „eine vergleichsweise kurze Zeit (hätte) ausgereicht, um den Menschen wieder
auf seine Moleküle zu reduzieren“ (65); Gen- und Reproduktionstechnik wird als Fortsetzung und Steigerung der Ausbeutung der Natur gefasst
(85); an die verhängnisvolle Rolle von Eugenik und Zwangssterilisation
wird erinnert (z.B. 66 ff.); die weitere Ausbeutung der 3. Welt und
speziell der dortigen Frauen wird thematisiert (27 ff. und 69 ff.); Zusammenhänge von „neuer Mütterlichkeit“ (83) und „Geburtenrückgang
in den Industrienationen“ (82) werden aufgezeigt.
So bildet sich als Ganzes die Achse Sexismus-Rassismus-Kapitalismus, die
das Nein an Gen- und Reproduktionstechnik untermauert. Diese sind
weit davon entfernt, menschenfreundlich den bedauernswerten, kinderlosen Ehepaaren zu helfen (vgl. den „Soraya-Komplex“), „Heilmittel“
gegen Unfruchtbarkeit zu sein; sie werden von den Kapitalinteressen
der Wirtschaft dominiert, Kinderlosigkeit und Unfruchtbarkeit werden zur
„Krankheit“ gemacht, als „abnorm“ angesehen: „Der Aufwand wird
nicht gemacht, um diesen wenigen, weißen und unverheirateten Frauen
ihr eigenes Kind zu ermöglichen“ (110). Nicht zuletzt diese einfache Überlegung sollte nachdenklich machen und auf den Kern zurückführen:
Geplant wird ein Mensch, der in einer zerstörten Umwelt durch Genmanipulation überleben kann, nicht die Ursache, sondern die Wirkung
wird geändert; einmal mehr wird Frauen vorgeschrieben, ob sie Kinder
oder keine haben sollen. Und dennoch ist es nicht zu spät, „gerade
jetzt, heute können wir damit anfangen, die nie gefragten, grundsätzlichen
Fragen zu stellen“ (117) und „unser Aufruf zum Kampf gegen diese frauenfeindlichen Techniken muß verbunden bleiben mit der Herstellung und
der Einsicht in die Zusammenhänge, die uns weltweit verbinden“ (118).
Rezensionen zum Thema
(Helga Laugsch-Hampel)
Friedrich Hansen / Regine Kollek:
GEN-TECHNOLOGIE.
DIE NEUE SOZIALE WAFFE
Hamburg 1985
(Konkret Literatur Verlag)
Mit der Gentechnologie ist eine neue Qualität der Naturbeherrschung erreicht: die Menschen können ihre biologische Lebensbasis manipulieren.
Den Autoren des Bandes geht es angesichts dieser Fähigkeit vor allem
darum, zu zeigen, wie die Entwicklung und Anwendung der GenTechnik den Weg für die soziale Auslese und gesellschaftliche Diskriminierung „genetischer Abweichler“ bereitet. Dabei gehen die Verfasser in
erster Linie auf historische, soziale und ideologische Zusammenhänge
ein; das Hauptproblem besteht für sie darin, daß diese Technik einem
instrumentellen Denken Vorschub leistet, das individuelle, soziale und
politische Probleme auf technizistische Lösungen reduziert.
Die Methoden der Gentechnik (Reproduktionstechnik, Genomanalyse etc.)
reduzieren nach Ansicht der Biologin Regine Kollek die „untersuchten
Individuen auf die bloße Funktion und ‘Qualität’ ihrer Gene“ (10). Es
geht bei der Analyse von Krankheit nicht mehr um die Erfassung komplexer Lebenszusammenhänge, sondern darum, Krankheiten genetisch
zu klassifizieren und technisch zu bewältigen. Diese Verengung des
Spektrums hat zur Folge, daß nicht nur Erbkrankheiten im traditionellen
Sinn diagnostiziert werden, sondern dass Gene identifiziert werden, „die
scheinbar mit solchen Phänomenen wie ‘Intelligenz’ oder ‘Depression’
zusammenhängen“ (14). Krankheit wird als Defekt der Gene interpretiert; umgekehrt ist dann Gesundheit nichts anderes als ein Resultat
„intakter Gene“. Die Autorin berücksichtigt Jedoch sehr wohl den
Doppelcharakter dieser Techniken, die auf der einen Seite als diagnostische Hilfsmittel große Dienste leisten könnten, auf der anderen Seite aber
die Tendenz verstärken, den Menschen zum bloßen Objekt der Medizin zu
degradieren.
Friedrich Hansen geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern die
Gentechnik der Manipulation von Arbeitsplatzrisiken dient. In den USA
gibt es längst die Praxis, den genetischen Risiken durch gefährliche Arbeits-
Rezensionen zum Thema
stoffe dadurch vorzubeugen, daß durch ‘genetic-screening’ die Arbeiter auf
ihre Belastbarkeit, d.h. Giftresistenz, untersucht werden, und je nach
Ergebnis eingestellt werden - oder auch nicht. An die Stelle der Humanisierung der Arbeitswelt tritt der resistente Arbeiter! Die angeblich genetisch bedingte Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten wird trotz ihrer
wissenschaftlichen Unhaltbarkeit nicht mehr in Frage gestellt. Auch Hansen geht es um die damit verbundene Verdrängung der sozialen Dimension
von Krankheit, aber auch um die Gefahr, daß „der Medizinbetrieb
selbst (... ) zu einem mächtigen direkten Selektionsinstrument (wird), das
die Gesetze des Überlebens zu kontrollieren beansprucht“ (49).
Mit den Auswirkungen der Gen-Technologie auf Krankheitsverständnis
und -definition setzt sich Rainer Hohlfeld auseinander. „Komplexe Lebenszusammenhänge und deren vielfältige Ursachen und Bedingungen
werden zurückgeführt auf rein technische, im Reagenzglas reproduzierbare Effekte und deren Ursachen“ (58). Er nennt diese Reduktion das
Kernproblem des „biomedizinischen Modells“ (57). Die so verfahrende
Medizin ist daher „a-ökologisch, a-historisch und a-sozial“ (58). Das
erhöhte Potential an instrumenteller Verfügungsgewalt führt zur Stabilisierung einer eindimensionalen Medizin. Die Fortschritte in den Wissenschaften zeitigen die absurde Konsequenz, daß die Zahl der Krankheiten steigt, da durch die Aufklärung der genetischen Struktur immer
mehr Abweichungen vom „genetischen Normalfall“ bekannt werden, die
sich zwar phänotypisch meistens nicht auswirken, die aber dennoch
zumindest als „Abnormitäten“ definiert werden müssen. Auf diese Weise
hält die Eugenik wieder Einzug in die Medizin, da gerade durch die neuen
Reproduktionstechniken (in-vitro-Fertilisation) „schlechte Dispositionen“
ausgeschaltet werden sollen. In weiteren Beiträgen werden vor allem die
Folgen für die Stellung der Frau diskutiert. Die Reproduktionstechnik
in der „ersten“ steht in engem Zusammenhang mit der Bevölkerungspolitik in der „dritten“ Welt, wobei die Autorinnen vor allem auf die Zwangssterilisationen geistig behinderter Mädchen und die Sterilisationsmaßnahmen in den sogenannten Entwicklungsländern hinweisen. Die Herrschaft der Männer über die Frauen wird durch die Degradierung der Frau
zur Leihmutter, Ei-Lieferantin etc. zementiert. Diese Form der „Reproduktions-Prostitution“ (118) entzieht den Frauen endgültig die Entscheidung über die Kinder. (Was der Paragraph 216 nicht geschafft hat, die
Reproduktionstechniken von heute ermöglichen es.) Kinder werden asexuell gezeugt (von Männern selbstverständlich) und an würdige Eltern verteilt. Auf diese Weise ist die Gentechnik nur ein weiteres Instrument,
die Herrschaft von Menschen über Menschen zu fixieren.
Rezensionen zum Thema
Um solche Entwicklungen zu stoppen ist es nach Ansicht der Verfasser
unerläßlich, in der öffentlichen Diskussion auf „die Parteilichkeit der
Argumentation der Interessenvertreter“ hinzuweisen und sie zu überschreiten, um die Grenzen von Forschung und Anwendung der Gentechnik
sinnvoll ziehen zu können.
(Manuela Günter)
F.J. Illhardt:
MEDIZINISCHE ETHIK
(unter Mitarbeit von H.-G. Koch)
Berlin - Heidelberg 1985
(Springer-Verlag)
Eigentlich haben wir es hier mit einein „Arbeitsbuch“ für Mediziner
zu tun, mit einem Aufriß von ethischen Problemen, mit denen sich Arzt
und Forscher konfrontiert sehen. Die öffentliche Diskussion aber der
Gentechnik, des § 218, der Sterbehilfe etc. hat das Interesse an medizinischer Ethik weit über deren Status einer bloßen Berufs- oder Standesethik hinauswachsen lassen. In 27 Problem- oder Themenbereichen, die 4
Schwerpunkten (Lebensbeginn, Lebenskrisen, Lebensende, Forschung)
zugeordnet sind, gibt Illhardt einen Überblick über medizinisch-ethische
Fragen. Dessen großer Vorzug liegt erstens im unmittelbaren Bezug zur
Praxis; Illhardt will keine normativen Verhaltens- oder Pflichtenlehren
aufstellen, sondern den Einzelfall als ständige Herausforderung anerkennen. Zweitens werden ethische Prinzipien mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vermittelt, z.B. wird die medizinische Interpretation der „Hirntod’’-These der Frage der Sterbehilfe vorausgeschickt. Drittens ist jeder
Problembereich mit Arbeitsmaterialien ausgestattet, d.h. mit Literaturangaben, mit einer Skizze der jeweils rechtlichen Problematik sowie mit
dem Hinweis auf öffentliche Stellungnahmen (des Deutschen Ärztetages, der Vereinten Nationen, der WHO etc.), die im Anhang gesammelt
und auszugsweise abgedruckt sind. Ein Mangel des Werks besteht darin,
daß der bestehende medizinische Betrieb als solcher vorausgesetzt und
nicht hinterfragt wird. Damit bleiben wichtige ethische Argumente gegen
die Schulmedizin, die „Geräte’’medizin, aber auch die Entwicklung „alternativer“ Heilverfahren sowie das Menschenund Krankheitsbild, das
hinter beiden Formen der Medizin steht, ausgeklammert.
Rezensionen zum Thema
(Konrad Lotter)
Institut für die Wissenschaft vom Menschen - IWM (Hrsg.):
DER MENSCH IN DEN MODERNEN WISSENSCHAFTEN
IWM / Castel Gandolfo-Gespräche
Stuttgart 1985
(Verlag Klett-Cotta)
Seit etlichen Jahren wird Papst Johannes Paul II. nachgesagt, daß er in
der katholischen Kirche eine Restaurationsperiode einleiten wolle. Wiederhergestellt werden sollen nach solchen Behauptungen die vorkonziliaren
Zustände eines Papst Pius XII. Selbstverständlich ist der gegenwärtige
Papst darum bemüht, solchen Anschuldigungen den Boden zu entziehen.
So ist er gerade nicht zu der noch von Papst Pius XII. gepflegten Tradition
zurückgekehrt, den Vatikan nach der Papstwahl nie wieder zu verlassen,
sondern er demonstriert seine Weltoffenheit durch eine äußerst intensive Reisetätigkeit. Während der Papst mit seinen Reisen wohl recht erfolgreich die Herzen und Gemüter breiterer Volksmassen erreicht, hat er sich
für den erwählteren Kreis der Intellektuellen etwas anderes ausgedacht
bzw. ausdenken lassen, denn er weist jeden Verdacht von sich, daß das
Wiener „Institut für die Wissenschaft vom Menschen“ eine kirchliche
Einrichtung und auf seine Veranlassung 1982 gegründet worden sei. „Das
Institut bietet“, glaubt man dem Verlagsprospekt, „renommierten Gelehrten und qualifiziertem Nachwuchs Möglichkeit zu konzentrierter
Forschung und gedanklichem Austausch.“ Der Verlagsprospekt wirbt
weiter: „Es ergibt sich die reizvolle Konstellation, daß das Oberhaupt der
Katholischen Kirche einen Dialog fördert, der in keiner Weise weltanschaulich festgelegt ist - wie es die Namen der Beteiligten auf den
ersten Blick bereits zeigen.“
Die Vielfalt von unterschiedlichen Geisteshaltungen und Bekenntnissen
zeigt sich bereits bei der personellen Besetzung der Institutsleitung. Der
Direktor des Instituts, Krzysztof Michalski, ist Philosoph an der päpstlichen Akademie in Krakau und ist Schüler des ehemaligen Professors
Karol Wojtyla. Der Präsident des Instituts ist Jozef Tischner; er soll
ein persönlicher Freund des Papstes sein. In seinem Beitrag stellt
Tischner den Vorzug des polnischen Denkens heraus, das niemals sich
genötigt sah, nach der Wahrheit in theologischen System zu suchen, daß
es auch aus historischen Gründen nicht gezwungen war, sich mit dem
Rezensionen zum Thema
Protestantismus, dem Positivismus, dem Rationalismus, dem Irrationalismus und dem Szientismus auseinanderzusetzen, sondern daß das polnische Denken seinen Reichtum vor allem in der Literatur in der Weise einer
„denkenden Hoffnung“ zum Ausdruck brachte.
Der Dialog wird bereichert durch den Münchner Philosophen Robert
Spaemann, der bekanntlich nicht deswegen den philosophischen Konkordatslehrstuhl erhielt, weil er ergebener Katholik ist, sondern obwohl er
weltoffener Katholik ist. Seine Frage nach der Natur des Menschen
beantwortet er damit, daß sie seit Descartes’ Dualismus eigentlich nicht
mehr beantwortbar sei, es sei denn, man begreife in der Natur des Menschen die teleologische Dimension. Daß diese Überwindung der Dualität
selbst in einem Medium der Dualität, der Sprache formuliert wird, soll hier
als problematisch zumindest angedeutet sein.
Neben dem jüdisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas nehmen
sich die beiden Protestanten Carl Friedrich von Weizsäcker und Gerhard
Ebeling schon als Exoten aus. Mißt man das, was in dem vorliegenden
Band enthalten ist, an dem Anspruch, die „Überwindung von geistigen
Gettos jeder Art“ zu erreichen, so kann man dem Institut noch ein weites
Betätigungsfeld voraussagen und eine sehr lange - erfolgreiche - Tätigkeit
wünschen.
(Martin Schraven)
Hans Jonas:
I.
ORGANISMUS UND FREIHEIT.
ANSÄTZE ZU EINER PHILOSOPHISCHEN BIOLOGIE
Göttingen 1973
II
DAS PRINZIP HOFFNUNG.
VERSUCH EINER ETHIK FÜR DIE TECHNOLOGISCHE
ZIVILISATION
Frankfurt am Main 1984
III
TECHNIK, MEDIZIN UND ETHIK.
ZUR PRAXIS DES PRINZIPS VERANTWORTUNG
Frankfurt am Main 1985
Rezensionen zum Thema
Hans Jonas, emigrierter Philosoph und Religionswissenschaftler des Jahrgangs 1903, versucht angesichts der ökologischen und atomaren Katastrophendrohung, eine „Philosophie des Lebens“ entwickeln, einer Philosophie
von Freiheit und Gefahr, die im Menschen gipfelt (I, 4). Von der Philosophie des Organismus zur Philosophie des Menschen fortschreitend
legt Jonas in „Organismus und Freiheit“ eine ontologische Auslegung
der biologischen Phänomene vor, die auf der These fußt: „Wenn ...
‘Geist’ von allem Anfang an im Organischen vorgebildet ist, dann
auch Freiheit“ (I, 13/125/132f.). Auf der Grundlage einer neoaristotelischen Naturkonzeption entwickelt Jonas eine „Dialektik der Lebenstatsache“, die „von der Grundpositivität der ontologischen Freiheit
(Form-Stoff) zum Negativum der biologischen Notwendigkeit (Stoffabhängigkeit) und über sie wiederum zum höheren, beide vereinenden
Positivurn der Transzendenz“ des Lebens führt. In dieser habe „die
Freiheit sich der Notwendigkeit bemächtigt und sie durch das Vermögen des Welthabens überboten“. Die Selbsttranszendierung des Lebens in
Richtung auf eine Welt, die in der Sinnlichkeit zum Gegenwärtighaben
einer Welt führt, entspringe, so Jonas, der „primären Antinomie der Freiheit
und Notwendigkeit, die im Sein des Organismus wurzelt“ (l, 133).
In dieser z.T. organizistisch-verkürzten aristotelischen Ontologie bleibt der
Geist, auch in seinen höchsten Ausprägungen, noch dem Organischen
verhaftet, so daß für Jonas die „Philosophie des Lebens“ sowohl die
Philosophie des Organismus als auch die des Geistes umfaßt. Die Philosophie des Geistes schließt nun auch die Ethik mit ein, die „in die Natur des ganzen Seins“ (I, 341) zurückverlegt wird und somit zu einem
Teil der Philosophie der Natur wird. Die Ontologie als die Grundlage
der Ethik soll nun eine „Wiedervereinigung“ des „objektiven“ und „subjektiven“ Reiches bewerkstelligen, die, „wenn überhaupt, nur von der
‘objektiven’ Seite her“ erreicht werden könne, d.h.: „durch eine Revision der Idee der Natur“ (ibd.). Aus dieser will Jonas nun eine Bestimmung des Menschen ermitteln, „gemäß der die Person im Akte der
Selbsterfüllung zugleich ein Anliegen der ursprünglichen Substanz verwirklichen würde“ (ibd.). Das Prinzip der Ethik wird so letztlich begründet in einer „objektiven Zuteilung seitens der Natur des Ganzen“ - der
theologischen ‘ordo creationis’.
Da nun im „technotronischen“ Zeitalter (H. Lenk) die Natur eine neuartige
sei, bedürfe es auch einer neuen Ethik, deren Begründung „in die
Metaphysik reichen (muß), aus der allein sich die Frage stellen läßt,
warum überhaupt Menschen in der Welt sein sollen“ (II, 8). Eine
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solche Grundlegung versucht Jonas in seinem „Tractatus technologicoethicus“, dessen eigentliches Thema die Pflicht (des Menschen im Sein)
Ist, die er im Begriff der Verantwortung zusammenfaßt. Aufgrund der
Pflicht zur Existenzsicherung der Gattung, einer „Pflicht zum Sein gegen
das Nichts“ (II, 82), und der „Lebensmöglichkeit für die Zukunft“
fordert Jonas eine „Notstandsethik der bedrohten Zukunft, (welche) das
Ja zum Sein, das dem Menschen vom Ganzen der Dinge zur Pflicht wird,
in kollektive Tat umsetzen muß“ (II, 250). In der Verantwortung für eine
Zukunft unseres Seins - „nach mehreren Jahrhunderten postbaconischer,
prometheischer Euphorie (der auch der Marxismus entstammt)“ - sei es
notwendig, „dem galoppierenden Vorwärts die Zügel an(zu)legen“ (II,
388). Auf der Suche, wem nun die Macht (der Zügel) zufallen
solle, findet Jonas Gefallen an den „Regierungsvorteilen einer jeden Tyrannis“, die für ihn allerdings „beseelt“ sein müsse (262), wie an den
„asketischen Zügen“ einer sozialistischen Disziplin (D. In Abwägung der
verschiedenen Mittel ergibt sich für ihn ein herrschaftstechnologisches „Plus des Marxismus“ (270) - aber nur, „wenn er seine Rolle
vom Bringer des Heils zum Abwender des Unheils umdeutet, also mit
Verzicht auf ... die Utopie“ (II, 259).
In Ablehnung einer immanenten Vernunft der Geschichte und der Erkenntnis des Wirklichen unter Einschluß des im Gegenwärtigen auf mögliche Zukunft Verweisenden (Jonas hatte sich vorerst Ernst Bloch eigens
zubereitet, um ihn später zu desavouieren), fordert der ‘Postmarxist’
(Jonas über Jonas; II, 229) „das Offensein für den immer ungeheuerlichen und zu Demut stimmenden Anspruch an seinen immer unzulänglichen Träger“ (II, 393), den Menschen. So bleibt ihm als „anrufende Instanz“ nur die (Ehr-Furcht. Nur in ihr entstehe das „Heilige ...,
die Hütung des Erbes in seinem ‘ebenbildlichen’ Ansinnen“ (II, 393; vgl.
III, 200). Und solange sich der Mensch nicht als das sich verantwortende Abbild eines anrufenden, aber ungenannten Originals, das sich in
der Furcht enthüllt, verhält, bedürfe es eben einer entsprechenden „beseelten“ Tyrannis zum Besten der Gattung, welche die neue protestantische
Ethik diktiert.
Den „angewandten Teil“ des ‘Prinzips Verantwortung’ legte Jonas mit
der Aufsatzsammlung „Technik, Medizin und Ethik“ vor, in der er vor
allem auf die Bereiche der Humanbiologie und Medizin Bezug nimmt. Aufgrund des „Antiessentialismus der herrschenden Theorie“ (III, 39) sei die
Metaphysik neu herausgefordert; denn „wir müssen wissen, daß der
Mensch sein soll“ (III, 74). In seiner ethischen Theorie fordert Jonas das
„Recht auf Unwissen“ (194) und damit die Ablehnung „menschlicher Erb-
Rezensionen zum Thema
alchemie“, unter Rückgriff auf das „nüchternste moralische Argument
...: Taten an anderen, für die man diesen nicht Rechenschaft zu stehen
braucht, sind unrecht ... Verhütung von Unglück allein ist hier erlaubt,
kein Probieren neuartigen Glücks. Mensch, nicht Übermensch sei das
Ziel. (Dabei) genügt doch schon die schlichte Anstandsethik der
Sache, um Kunstfreiheiten mit dem menschlichen Genotypen schon in den
ersten Anfängen zu verbieten - ...: schon in der Freistatt experimenteller
Forschung“ (III, 200f.). „Darum bleibe die Büchse (der Pandora; H.M.)
besser ungeöffnet“ (III, 217), denn wir sollten nicht versuchen, „an der
Wurzel unseres Daseins, ..., Schöpfer zu sein“ (III, 218).
Philosophisch gesehen fällt Hans Jonas’ „Prinzip der Verantwortung“ in
die alte Metaphysik zurück; politisch-praktisch aber in einen re-aktionären
Autoritatismus.
(Hans Mittermüller)
Theo Löbsack:
DAS MANIPULIERTE LEBEN.
GENTECHNOLOGIE ZWISCHEN
FREVEL
München 1985
(dtv)
FORTSCHRITT
Wolfgang Gehrmann:
GEN-TECHNIK DAS GESCHÄFT DES LEBENS.
Verschlafen die Deutschen eine Zukunftsindustrie?
München 1964
(Goldmann-Verlag)
Ruben Scheller:
DAS GEN-GESCHÄFT.
CHANCEN UND GEFAHREN DER BIO-TECHNOLOGIE
Dortmund 1985
(Weltkreis-Verlag)
UND
Rezensionen zum Thema
Theo Löbsack, der seit vielen Jahren Resultate der wissenschaftlichen
Forschung einem breiteren Publikum zu vermitteln versucht, verspricht jener Diskussion eine sachliche Grundlage zu geben, die durch
die Reizworte Retortenbaby, Kinder mit fünf Elternteilen, Samenbank und
Gen-Technologie verunsachlicht worden sei. Doch leistet Löbsack gleich
durch den Untertitel seines Buches dieser Verunsachlichung Vorschub;
denn über 100 Seiten seines etwa 150 Seiten starken Bändchens sind nicht
der angekündigten Gen-Technik, sondern der künstlichen Insemination
und der In-vitro-Fertilisation vorbehalten, Techniken also, die mit der
Gen-Technik nichts zu tun haben. Neben der Darstellung der künstlichen
Insemination wird versucht, Einblick in die alltägliche Praxis zu vermitteln. In dem Bemühen jedoch, möglichst anschaulich zu berichten, entgeht
Löbsack jedoch nicht der Gefahr, bei der Beschreibung der verschiedenen
Inseminationsmethoden sich allzusehr ins Detail zu verlieren. Auch gelingt
es dem Autor nicht immer, abenteuerliche Spekulationen, auch wenn
sie von Wissenschaftlern stammen, von seriöser Information zu unterscheiden. So plädiert etwa ein Gynäkologe gegen die heterologe Insemination mit dem Einwand, dass zwischen der Unfruchtbarkeit der Frau
und der inneren Ablehnung von Kindern ein Zusammenhang bestehe.
Welcher Zusammenhang gemeint sei und, wenn es diesen Zusammenhang
tatsächlich so gibt, mit welchen Mitteln und Methoden heilend eingegriffen
werden könne, dies läßt Löbsack den Gynäkologen nicht mehr sagen,
und er selbst hält sich in seinem Kommentar sehr zurück.
Noch weitläufiger als bei der künstlichen Insemination geht Löbsack bei
der In-vitro-Fertilisation vor. Ausführlich schildert er diese Technik bei
der Tier- und Fleischproduktion. Das juristische Problem beim Menschen,
daß ein Kind eine biologische, eine genetische und eine juristische Mutter
und zwei Väter, nämlich einen genetischen und einen juristischen haben
kann, wird zwar aufgegriffen, konkreten Lösungsvorschlägen geht Löbsack jedoch aus dem Wege.
Im letzten Drittel des Buches wird die Gentechnik thematisiert. Dabei
kommen die genetische Manipulation an Mikroben ebenso zur Sprache,
wie die Möglichkeiten, mit gentechnischen Mitteln die Nahrungsproduktion
wesentlich zu erhöhen.
Im großen und ganzen läßt Löbsack die Wissenschaftler zu Wort kommen,
die solchen Methoden aufgeschlossen gegenüberstehen; die genetische
Position kommt nur beiläufig zu Wort. Ebenso scheint sich der Autor bei
der Behandlung der ethischen Fragen eher der etwas naiv erscheinenden
Argumentation anzuschließen, wie man sie auch heute noch bei vielen
Rezensionen zum Thema
Naturwissenschaftlern vorfindet. So gibt er etwa bei der Frage nach
den moralischen Grenzen des Forschens und Experimentierens dem gängigen aber dennoch deplazierten Argument Raum, daß es zur Natur des
Menschen gehöre, wißbegierig zu sein. Daß die weit verbreitete Angst,
der Löbsack entgegentreten will, aber unter anderem von einem solchen
naiven Forschergewissen ausgeht, scheint ihn nicht zu kümmern. Im
übrigen wiederholt Löbsack, daß die Forschung sich vor der Öffentlichkeit abspiele und daher unter ihrer Kontrolle stattfände. Daß ein
wesentlicher Teil gerade dieser Forschung nicht In öffentlichen Einrichtungen, sondern in privaten, der öffentlichen Kontrolle entzogenen,
Firmen und Konzernen stattfindet, ist für Löbsack kein Anlaß, die Mär
von der Kontrolle der Öffentlichkeit zu revidieren.
So reißt Löbsack bei der recht summarischen Behandlung seiner drei
Teilgebiete viele Themen an, Antworten auf viele Fragen versucht er sporadisch zu finden, geben tut er sie jedoch nie. Die Behandlung der Themata ist dem einschlägigen Illustriertenjournalismus näher als der versprochenen sachlichen Information. Der Leser, der genaue Information zur
weiteren sachlichen Diskussion benötigt, wird wohl zu einer gründlicheren Schrift greifen müssen.
Einem anderen Aspekt wendet sich der Wirtschaftsjournalist der „Zeit“,
Wolfgang Gehrmann, zu. „Gen-Technik - Das Geschäft des Lebens.
Verschlafen die Deutschen eine Zukunftsindustrie?“ Der Untertitel bestimmt den Tenor des ganzen Bändchens; es Ist eine einzige Jermidiade
auf die versäumten Chancen der bundesdeutschen Industrie. Die Amerikaner haben - wie immer - die Nase vorn, die Japaner haben uns - dank Ihres
Nachahmungstriebs - schon wieder einmal überholt und „wir“, die Deutschen laufen der Weltspitze hinterher, obwohl „wir“ doch so gute
Wissenschaftler hervorbringen. Wo haben wir, die Deutschen versagt?
Mit unversteckter Sympathie schildert Gehrmann das Entstehen der
berühmten „Bio-Boutiquen“, ein Zusammengehen hochkarätiger Wissenschaftler von den Universitäten und risikobereiten Finanziers. Obwohl
auch das Sterben dieser Bio-Boutiquen nach einem anfänglichen Boom
nicht verschwiegen wird, scheint Gehrmann auch für die Bundesrepublik
eine ähnliche Lösung vorzuschweben.
Und wenn es schon um das Wohl „unserer“ deutschen Industrie geht, so
dürfen die Risiken dieser neuen Technik doch nicht überbewertet werden. Diesen Eindruck gewinnt man gerade in dem Kapitel „Angst vor
Frankenstein“, in dem die Gefahren der Gen-Technik behandelt werden
sollen. Der Forscher ist hier mit sich allein; die Gefahren erwachsen den
Rezensionen zum Thema
Mängeln des Forschers oder seinem bösen Willen. Mechanismen, die
außerhalb des forschenden Individuums und seines Labors ihre Wurzeln
haben, sind Gehrmann entweder nicht der Rede wert, oder er sieht sie
einfach nicht. Die Selbstbeschränkung der Wissenschaftler wird beschworen und mit einigen singulären Beispielen „belegt“. Zwar wird - allerdings
in einem anderen Kapitel und unter einem anderen Aspekt - die Konkurrenzsituation geschildert, unter der die vielen „Bio-Boutiquen“ am
Rande der Existenz um ihr Überleben kämpfen, aber eine Gefahr vermag Gehrmann hier nicht zu sehen. Erleichtert stellt Gehrmann fest,
daß die (!) Biotechnik hoffen dürfe, von restriktiven staatlichen
Auflagen nicht allzusehr behindert zu werden, da die deutsche Forschung
und die deutsche Industrie noch weiter gegen die ausländische Konkurrenz ins Hintertreffen geraten würde.
Die Kooperation zwischen der Industrie und den Hochschulen in den
USA ist das leuchtende Beispiel, das Gehrmann der Bundesrepublik
vorhält. Eine Dorothee Wilms, die mit der Novellierung des HRG den
Zugriff des Kapitals auf die Forschungsinstitute der Universitäten der
BRD vorbereitet, wird für diese Schützenhilfe sicher dankbar sein. Es fehle
in der BRD der „Zugriff zu den Ergebnissen der Grundlagenforschung, die im wesentlichen in den Universitäten“ betrieben wird.
Während also Gehrmanns Resultat in der Verherrlichung USamerikanischer Zustände besteht und die gesellschaftliche Bestimmtheit
dieser neuen Technologie kaum erwähnt, geht das Buch von Rüben
Scheller sehr viel gründlicher zu Werke.
Rüben Scheller ist selbst Biologe und hat vor seinem Studium als Schichtarbeiter in der chemischen Industrie einschlägige Erfahrungen gesammelt. Seine Erfahrungen und Kenntnisse waren die Grundlage für ein
Diskussionspapier zur Gentechnologie für den Deutschen Gewerkschaftsbund. Der vorliegende Band ist die erweiterte Fassung dieser Diskussionsgrundlage.
Mit Erfolg versucht er, die wissenschaftliche, die technologische, die
gesellschaftliche und die politische Dimension seines Themas auszuloten.
Es geht Scheller nicht um die Bio-Technik, um die Industrie, um die
Forschung oder den Forscher, sondern es geht ihm um die Gesellschaft als Ganze und der darin lebenden Menschen. Bei jedem Spezialthema ist bei ihm stets das Ganze der Gesellschaft präsent, und bei
aller Detailfreudigkeit stellt er dies in einer Form dar, daß der interessierte
Leser dem Stoff durchaus folgen kann.
Rezensionen zum Thema
In einem einleitenden Abschnitt werden zuerst einmal die Grundlagen
der Bio-Technik, von der alkoholischen Gärung über die Mendelschen
Gesetze, die Entschlüsselung des Genetischen Codes, der Klonierung,
der Enzymtechnik bis zu den monoklonalen Antikörpern dargestellt.
Die Gefahren der Gen-Technik sieht Scheller nicht in der Technik als
solcher, die seiner Meinung nach von verantwortungsbewußten Wissenschaftlern und Labortechnikern einigermaßen sicher gehandhabt werden
kann; gefährlich kann es werden, wenn Forscher in der Angst um ihre
Forschungsfelder die tatsächlich vorhandenen Risiken herunterspielen,
wenn bereits den Studenten in ihrer Ausbildung kaum ein Bewußtsein
über die Risiken und Gefahren vermittelt wird - wenn überhaupt, dann
ist es mit einer kurzen Sicherheitsbelehrung getan - und vor allem dann,
wenn unter dem wachsenden Konkurrenzdruck vor allem in der Industrie, aber auch an den Hochschulen, Sicherheitsvorkehrungen bewußt außer acht gelassen und Arbeitskräfte mit mangelhafter Qualifikation
eingestellt werden. Daß dies nicht bloß aus der Luft gegriffen ist,
zeigt die Praxis: Unter gnadenlosen Konkurrenzbedingungen kämpfen die
Beschäftigten „flexibel“ 70 - 80 Stunden pro Woche erbittert um die
Verlängerung ihrer Zeitarbeitsverträge ( 73 ).
Ausführlich geht Scheller auf die gesellschaftliche Dimension der BioTechnik ein. Sie ist eine neue Produktivkraft der Arbeit, und sie kann
daher unter den gegebenen kapitalistischen Bedingungen zur Arbeitsplatzvernichtung ebenso beitragen, wie sie die genetische Auswahl von
Arbeitern für risikobehaftete Arbeitsplätze ermöglicht. Fast alle Bereiche, in denen die Bio-Technik Anwendung findet bzw. finden kann,
werden behandelt. Bei Umweltschutz kommen die mögliche Schädlingsbekämpfung und die Beseitigung von Umweltschäden ebenso zur Sprache
wie die Bedrohung der Umwelt durch diese Technik. Beim Thema „Entwicklungspolitik“ z.B. wendet sich Scheller gegen die oft unterstellte
Annahme, daß die Bio-Technik (allein) das Problem des Welthungers
beseitigen könne. Weil eben im Kapitalismus heute wie auch künftig die
Nahrungsmittelproduktion ein lukratives Geschäft ist, und der Welthunger auch heute nicht trotz ausreichender Nahrungsmittelproduktion
beseitigt ist, wird auch die Gen-Technik allein hier keine Beseitigung
dieses Problems bringen. Der Welthunger wird durch die Anwendung der
Bio-Technik eher noch zunehmen. Andere Themen, die Scheller noch
behandelt, wie etwa die medizinischen Möglichkeiten, die landwirtschaftliche Nutzung, die In-vitro-Fertilisation (die unbefleckte Empfängnis!), die Forschungspolitik in der Bundesrepublik, oder die mögliche
Rezensionen zum Thema
Produktion neuer Biologischer Waffen können hier nur genannt, aber nicht
näher erläutert werden.
Es ist ein lesenswertes Buch; es ist gut, wenn auch nicht immer ganz leicht
zu lesen, und man hat den Eindruck, dass der Autor bei allem Materialreichtum nie das Ganze der Sache aus den Augen verliert.
(Martin Schraven)
Reinhard Löw:
LEBEN AUS DEM LABOR.
GENTECHNOLOGIE UND VERANTWORTUNG - BIOLOGIE
UND MORAL
München 1985
(Bertelsmann)
Löws Abhandlung umfaßt zwei, in sich gegliederte Teile. Im ersten Teil
(Kap. 1-3) werden die moralischen Prinzipien aufgestellt, diskutiert und
gerechtfertigt, die dann im zweiten Teil (Kap. 4-6), ausgehend von
einem Oberblick über das „neue Können in der Biologie“, der Beurteilung
der Gentechnologie zugrunde gelegt werden. Entsprechend stehen im
ersten Teil allgemein philosophische Fragen der Begründung im Vordergrund, während der zweite unmittelbar in die wissenschaftliche und
technische Praxis der Biologie einzugreifen sowie rechtliche und politische Konsequenzen zu ziehen versucht.
Löw grenzt sich gegen ungebrochenes Vertrauen in die Technik ebenso ab
wie gegen militante Technikfeindlichkeit. An sich hält er die Technik
weder für gut noch für schlecht; ihre Entwicklung im ganzen aber muß
kontrolliert und begrenzt werden. Wodurch? Durch Moral und Recht!
Woher haben wir die Prinzipien der Beurteilung? Nach Löw entweder aus
der Biologie oder aus dem Naturrecht!
Aus der Biologie lassen sich, wie Löw zeigt, keine Prinzipien begründen;
denn aus der Evolution heraus ist das Spezifische des Menschen und der
Moral nicht zu begreifen. Der Fulgurationismus (Lorenz) erkennt zwar
eine authentische Sphäre der Moral an, kann den Übergang von tierischen Vorformen zur menschlichen Moral aber nur als Fulguration („Blitzschlag“) und damit unzureichend erklären. Der Biologismus (Krieg, Bresch)
Rezensionen zum Thema
und die Soziobiologie (Wilson, Dawkins) erkennen keine authentische
Sphäre der Moral an und setzen tierisches (bzw. Genspezifisches) und
menschliches Verhalten hinsichtlich ihres moralischen Gehalts gleich.
Statt die Fulguration als Übergang der biologischen in die soziale Evolution,
als Entstehen einer neuen Qualität in der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit zu begreifen, kanzelt Löw sie billig und unzutreffend
als naturalistischen Fehlschluß ab. Die Möglichkeit einer gesellschaftlichen, geschichtlichen Begründung moralischer Prinzipien, einer Begründung aus der konkreten Sittlichkeit bleibt damit außer Betracht. Nicht
Biologie, also Naturrecht!
Löws (an Ritter und Spaemann orientierte) Auffassung des Naturrechts
entzündet sich am Konkreten, Einzelnen und gründet in der „Bereitschaft
mit sich selbst und anderen in ein vernünftiges Gespräch über die Rangfolge der Gesichtspunkte einzutreten, unter denen eine Handlung als gerechtfertigt erscheinen kann“ (S. 95). Zwar gibt es nichts in der Welt, was
immer und unter allen Umständen gut wäre, doch gibt es Handlungen, die
in jedem Fall schlecht sind. Solche nämlich, die den Menschen zum Objekt
erniedrigen, seinen Personcharakter und seine Würde verletzen. Entsprechend unterscheidet Löw zwei Arten von Konflikten: die einen,
die durch Güterabwägung gelöst werden können und die anderen, die
keine Güterabwägung zulassen, da sie eben die Würde (als absolute
Grenze) verletzen. Welche der beiden Arten vorliegt, wird auf der
Grundtage des „kategorischen Fundaments“ entschieden, der Ansicht
nämlich, daß das menschliche Leben mit der Befruchtung der Eizelle
beginnt. Und nicht nur das, der Mensch ist für Löw darin bereits
vollendet! Der Mensch „ist Mensch von der Befruchtung der Eizelle
an. (...) Die befruchtete Eizelle enthält alles, was die Persönlichkeit
eines Menschen ausmacht, nichts fehlt und müßte etwa nachträglich
hinzukommen“ (S. 154 f). Entwicklung, Sozialisation, menschliche Verhältnisse haben an der Ausbildung der Persönlichkeit also keinen Anteil. Hat man für die Würde des Menschen aber wirklich schon genug getan, wenn man ihn nicht abgetrieben oder seine Keimbahn manipuliert hat?
Aus dem Prinzip der Würde und der durch das kategorische Fundament
eingeschränkten Güterabwägung leitet Löw dann die Beurteilung der
Gentechnik im Einzelnen ab. Bei weitgehender Übereinstimmung mit
den Ergebnissen der „Benda-Kommission“ (Verbot von Klonen, Chimären; bedingte Zustimmung zur Retortenbefruchtung etc.) besteht dazu
doch folgender Gegensatz: Löw lehnt Manipulation an befruchteten
Rezensionen zum Thema
Eizellen sowie Embryonen verbrauchende Experimente (selbstverständlich auch Abtreibung) kategorisch ab, für die Kommission dagegen
sind diese noch Teil der Güterabwägung und für medizinisch relevante
Forschung erlaubt. Der Gegensatz in dieser zentralen Frage erscheint
umso verblüffender, als beide ihre Ergebnisse aus dem gleichen Prinzip
der Würde ableiten. Man könnte zwar (mit Spaemann) gerade den Gegensatz, den Streit als Argument für die Existenz einer Gerechtigkeit oder
Würde „an sich“ betrachten. Man könnte darin aber auch ein Argument
für die Beliebigkeit und den prinzipiellen Opportunismus des metaphysischen Verfahrens sehen, wo aus gleichen Prinzipien die den jeweiligen
ideologischen Bedürfnissen entsprechenden Folgerungen gezogen
werden können.
(Konrad Lotter)
Werner Schloot (Hrsg.):
MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER HUMANGENETIK
Frankfurt 1984
(Campus-Verlag)
Nach der Marburger Tagung von 1969, als sich das erste Mal nach der
Nazizeit die deutschen Humangenetiker wieder getroffen hatten, um über
den Stand und die ethischen und sozialen Polgeprobleme ihrer Wissenschaft zu diskutieren, fand die zweite Tagung 1981 in Bremen statt. Der
vorliegende Band protokolliert dieses Bremer Kolloquium.
Obwohl W. Schloot einleitend deutlich zu machen versucht, daß die Herausforderung für die Genetik heute darin besteht, daß der Mensch durch
die wachsende Erkenntnis seiner eigenen biologisch-genetischen Grundlagen die Evolution des Menschen u.U. auf eine neue Stufe hebt, machen
die Beiträge diese Herausforderung kaum deutlich. Die meisten Beiträge
behandeln fast ausschließlich rein fachspezifische Fragen über den
Ursprung von Erbkrankheiten (H. Ritter, E. Gebhart), über genetische Defekte durch Medikamente (R. Dubbels) oder Umwelteinflüsse (W. Lenz) oder widmen sich den organisatorischen Problemen
des Stands und Ausbaus der pränatalen Diagnostik (J. Bullerdiek) oder den
Verfahren der genetischen Beratung (G.G. Wendt, R. Albrecht).
Allein der Beitrag des Heidelberger Humangenetikers F. Vogel zur „Genetik psychischer Eigenschaften“ nimmt zu dem übergeordneten Problem des
Verhältnisses von genetischer Vererbung und der Umweltprägung Stellung.
Dabei will er einen „vermittelnden Standpunkt“ beziehen zwischen Wat-
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sons Behaviorismus („Gebt mir ein Dutzend Säuglinge, und ich mache
euch Spezialisten jeglicher Art“) und dem unsäglichen US-Erbgutforscher
A. Jensen, dem alle Psyche genetisch bedingt ist. Vogel weist zunächst
einmal alle „gesicherten Ergebnisse“ über die Vererbung von Intelligenz
ins Reich präfaschistischer Wunschträume und schlägt demgegenüber ein
Verfahren vor, die möglichen Zusammenhänge zwischen den zunächst
weit auseinanderliegenden Faktoren der genetisch bedingten Enzymproduktion der Zellen einerseits und des je bestimmten Verhaltens und Befindens des Menschen en detail zu studieren. Vogel meint, Anhaltspunkte
dafür zu sehen, daß etwa zwischen der Menge der Eiweißproduktion im
Gehirn und psychischen Krankheiten, wie Depression oder Schizophrenie,
ein Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang dürfe allerdings
nicht als ein kausaler Mechanismus verstanden werden, sondern zeuge
allenfalls von einer genetischen Disposition zur psychischen Erkrankung.
Reflektierter in Bezug auf das gestellte Thema „Möglichkeiten und
Grenzen der Humangenetik“ erweisen sich die Beiträge des Strafrechtlers
Albin Eser und des katholischen Moraltheologen Johannes Gründel. Eser
unternimmt recht behutsam den Versuch, den Humangenetikern doch
so etwas wie die Tatbestände des Strafrechts nahezubringen. Dabei verfolgt er im großen und ganzen eine Linie, wie sie neuerdings auch in den
Ergebnissen der Benda-Kommission zu finden ist: es sei abzuwägen zwischen dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit und dem der Menschenwürde. Das Klonen von Menschen und die Genmanipulation seien
zu verbieten, weil sie sich gegen „die Einmaligkeit und Unverfälschtheit der
menschlichen Individualität“ richteten. Alles andere hingegen müsse auf
seine eher privat- als strafrechtlichen Konsequenzen hin überprüft werden:
Wer haftet für ein heterolog inseminiertes Kind? Der leibliche oder der
eheliche Vater? usw. Eser fordert dabei, daß die Rechtsprechung in
diesen Fragen sehr zurückhaltend vorgehen solle. Wie kann z.B. die heterologe Insemination verboten werden, solange Kinder straflos durch
„Ehebruch“ oder Prostitution gezeugt und „vaterlos“ geboren werden?
Das Recht, so Eser, könne nur die letzte „Notbremse“ sein und müsse
dem Prinzip der Subsidiarität gehorchen.
Auch Gründel legt eine für katholische Verhältnisse überraschend „liberale“
Auffassung an den Tag. Seine Argumentationsrichtung geht dahin, insbesondere die individuelle Verantwortung, das sittliche Gewissen der Einzelnen zu stärken, statt mit den Dogmensystemen der Kirche zuzuschlagen. Er warnt vor dem Kurzschluß, die künstliche Zeugung deswegen
Rezensionen zum Thema
abzulehnen, weil sie „unnatürlich“ und damit unsittlich sei, da dies eine
„falsch verstandene Metaphysizierung biologischer ... Vorgegebenheiten“
(231) sei. Auch sieht er es als durchaus vertretbar an, darüber zu diskutieren, wann dem ungeborenen Leben der juristische Schutz der Person zukommen soll. Mit dem Beginn des biologischen Lebens bei Verschmelzung
von Eizelle und Samen; nach Ausschluß der Möglichkeit der Mehrlingsteilung; bei Beginn der Gehirntätigkeit? Oder will man gar der aristotelischen
Theorie der „Sukzessivbeseelung“ folgen und einen Werdeprozeß der
Person annehmen, der ein fixes Datum des „Person-Seins“ gar nicht zuläßt? Bei aller christlich-katholischer Grundansicht macht Gründel doch
deutlich, daß eine dogmatisch verfahrende Naturrechtslehre auf sehr
schwankendem Boden ruht.
Abschließend faßt der Ulmer Genetiker Helmut Baitsch den Stand der
humangenetischen Diskussion zusammen. Marburg und Bremen haben
gezeigt, daß die (west) deutschen Humangenetiker sich von den verhängnisvollen Irrtümern der Nazizeit, den rassistischen und völkischen Ideologien befreit habe - zumindest in der Nachkriegsgeneration.
Dennoch sei nicht zu übersehen, daß man jetzt in das andere Extrem
falle und im Grunde nur noch den Bezug zur Diagnose, Therapie
und Heilung des einzelnen Klienten herausstelle. Oft drücke man sich
vor der notwendigen Verantwortung, indem man sie fast ausschließlich
auf den Klienten abwälze. Zu wenig würde berücksichtigt, daß die Humangenetik durch ihre Forschungen und Anwendungen Standards setze,
die eigentlich Teil der politischen Diskussion über ethische Grundfragen
sein müßten und nicht nur situationsbezogen diskutiert werden dürften.
Obwohl der Forschungsstand seit 1981 weiter fortgeschritten ist, insbesondere in der Gentechnologie, gibt das Buch einen guten Einblick in
den Stand der Diskussion der deutschen Humangenetiker.
(Alexander v. Pechmann)
R. Spaemann / P. Koslowski / R. Löw (Hrsg.):
EVOLUTIONSTHEORIE
UND
MENSCHLICHES
SELBSTVERSTÄNDNIS.
Zur philosophischen Kritik eines Paradigmas moderner Wissenschaft.
CIVITAS Resultate Band 6
Weinheim 1964
(Acta humaniora)
Rezensionen zum Thema
Dieser Band enthält vier Referate sowie den Bericht über die Schlußdiskussion eines Symposiums der Gesellschaft „Civitas“ im Jahre 1983, das die
evolutionäre Erkenntnistheorie vor allem von K. Lorenz, R. Riedl und
G. Vollmer zum Gegenstand hatte. Von verschiedenen Voraussetzungen
her - nämlich wissenschaftstheoretischen, sprachanalytischen, transzendentalphilosophischen und ontologischen - wird die Evolutionstheorie
einheitlich als untauglich angesehen, die philosophische Erkenntnistheorie
(und Ethik) zu begründen. Hierbei ist das Vorgehen insofern eher
konfrontationistisch als immanent kritisch, als von vornherein die eigenen
Prämissen jeweils als Maßstab eingeführt werden.
W. Stegmüller legt allerdings in seinem Beitrag „Evolutionäre Erkenntnistheorie, Realismus und Wissenschaftstheorie“ zunächst dar, daß die
philosophische Erkenntnistheorie bzw. die Wissenschaftstheorie und die
evolutionäre Erkenntnistheorie überhaupt nicht miteinander konfrontiert oder durcheinander ersetzt - werden könnten, weil in ihnen die Begriffe
„Theorie“ und „Erkenntnis“ zweideutig verwendet werden: die philosophische Erkenntnistheorie bzw. die Wissenschaftstheorie verstehe unter
„Theorie“ logische Rekonstruktion und unter „Erkenntnis“ produzierte
wissenschaftliche Erkenntnisse, die Evolutionstheorie aber meine mit
„Theorie“ wissenschaftliche Erklärungen und mit „Erkenntnis“ vorwissenschaftliche Fähigkeiten. (Liegt - so gesehen - die Evolutionstheorie
nicht gerade der rekonstruierenden, explikativen Erkenntnistheorie als
notwendige Bedingung zugrunde? Oder in welchem Zusammenhang steht
und begreift sich das Rekonstruktionsverfahren selbst, das ja nicht, wie aus
der Pistole geschossen, einfach da ist?) - In einem zweiten Teil geht Stegmüller auf zwei Grundannahmen der evolutionären Erkenntnistheorie ein,
nämlich auf die Annahme der Bewußtseinsunabhängigkeit der Welt („metaphysischer Realismus“) und auf die Annahme der Korrespondenztheorie
der Wahrheit. Beide sind für ihn unhaltbar. Die evolutionstheoretische
Konzeption der Annäherung an die an sich seiende Struktur der Welt
entkoppele die Wahrheit von dem Wissen bzw. der rationalen Legitimation und führe die externalistische Perspektive eines „Gottesgesichtspunkts“ ein. (Ist beides allgemein und notwendig mit dem erkenntnistheoretischen Realismus verknüpft? Jedenfalls wäre es erstaunlich, wenn
gerade die Materialisten mit ihrer realistischen Erkenntnistheorie unbewußt Theologen sein sollten. Was die Evolutionstheoretiker angeht, so ist
sich der Rezensent noch im Unklaren, ob ihre Äußerungen insgesamt
keine andere Interpretation zulassen.) Mit einer intern-realistischen,
Rezensionen zum Thema
nicht-metaphysischen Erkenntnistheorie dagegen lässt sich nach Stegmüller die evolutionäre Erkenntnistheorie vereinbaren, weil sie ja nur eine
naturwissenschaftlich erklärende und somit eine philosophisch neutrale
Theorie sei. Auf jeden Fall müsse diese aber ihre Kant-Interpretation
aufgeben, d.h. ihre Interpretation des Kantischen Apriori als evolutionäres Aposteriori, da diese Kant-Interpretation eine verfehlte cartesianische Umdeutung sei, indem sie aus Aussagen apriori angeborene Ideen
mache. Hier ließe sich einwenden, daß für Kant nicht nur die reinen Anschauungsformen, sondern auch die Kategorien sowie die Ideen der Totalität primär keine Aussagen sind. Außerdem liegt die Lehre vom Ding an
sich (die schwerlich als nicht-konstitutiv für Kants Konzeption verworfen
werden kann) wiederum auf der Linie des „metaphysischen Realismus“
der Evolutionstheoretiker. Schließlich bleibt fraglich, wie mit einem
internalistischen Ansatz der Wissensimmanenz die Konsequenz des Solipsismus vermeidbar sein könnte. Wer aber aus dem Solipsismus herausfindet, dürfte auch keine Schwierigkeiten haben, die vom „metaphysischen Realismus“ behauptete Bewußtseinsunabhängigkeit der Welt einschließlich der natürlichen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen des Wissens - einzuräumen.
Nach H. M. Baumgartners Darstellung in seinem Beitrag „Die innere
Unmöglichkeit - einer evolutionstheoretischen Erklärung der humanen
Welt“ setzt jede wissenschaftliche Erklärung schon die Vernunft voraus,
und ist „das Faktum der Vernunft nicht hintergehbar“, so daß „die Vernunft aus einer natürlichen Entwicklung des Lebens, d.h. naturgeschichtlich, nicht erklärt werden kann“ (70). Die Evolutionstheorie begehe den
„vitiösen Zirkel“, die Wahrheit bzw. Angepaßtheit der menschlichen Vernunft an die Außenwelt mit Hilfe einer Theorie erklären zu wollen,
die die Wahrheit bzw. Angepasstheit schon unterstellt. Hier wird der
Evolutionstheorie also eine Variante des alten oft widersprochenen idealistischen Argumentationsschemas entgegengehalten, wonach nur innerhalb
des Bewußtseins vom Sein die Rede sein könne. Die absurde Konsequenz
wäre nicht nur der Solipsismus, sondern die Leugnung, daß der Mensch ein
Naturprodukt ist. Wenn es aber zugestanden wird, daß der Mensch ein
Naturprodukt ist, kann nicht vernünftigerweise bestritten werden, daß
auch das Bewußtsein und die Vernunft des Menschen ein Naturprodukt
sind.
Sozusagen noch tiefer in die Naturlosigkeit führt die menschlichen Subjekte
F. Kambartel mit seinem Beitrag „Zur grammatischen Unmöglichkeit
einer evolutionstheoretischen Erklärung der humanen Welt“. Die universelle Evolutionstheorie begehe den Fehler, die Sprache - die Vorausset-
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zung des Weltverständnisses - unterschiedslos auf physikalische, chemische, biologische und menschliche Bereiche anzuwenden. Für die Sprache gelte allgemein: „Die grammatisch neue Situation kann aus dem, was
ihr vorausgeht, dann auch nicht erklärt oder verstanden werden“ (42). Über
„den unerklärlichen Übergang zu neuen Entwicklungen“ könne man
sprachlich nur „erzählen“ oder „berichten“, „wann was gewesen und
geworden, nicht woraus und wodurch es gewesen und geworden ist“
(43). Da aber schon jeder einfache Satz Identität und Differenz vereinigt
(„die Rose ist rot“), kann Kambartel nicht einsichtig machen, warum
die Sprache nicht sowohl den einheitlichen Entwicklungszusammenhang
wie die neuen unterschiedlichen Formen zum Ausdruck bringen können
sollte.
Nach R. Spaemanns Ausführungen unter dem Titel „Sein und Gewordensein. - Was erklärt die Evolutionstheorie?“ läßt sich die menschliche Subjektivität grundsätzlich nicht aus ihren Entstehungsbedingungen ableiten.
Vor allem die „Negativität“ könne von der vergegenständlichenden Wissenschaft der Evolutionstheorie nicht rekonstruiert werden. Diese „Negativität tritt auf drei Stufen auf: l. als Schmerz 2. als Andersheit, als
Nicht-ich 3. als Gedanke des Absoluten“ (85). Das Absolute, Unbedingte
werde im Selbstverständnis des Menschen als einer „individuellen Substanz“ faktisch erfahren und bedürfe definitionsgemäß „keines eigenen
Aufweises seiner genetischen Unkonstruierbarkeit“ (83). Dementsprechend ist also die Subjektivität für Spaemann eine unbeweisbare Voraussetzung. Auffällig ist, daß hier wie in allen Beiträgen des vorliegenden Bandes das Verhältnis von Subjektivität und Entstehungsbedingungen bzw. von Sollen und Sein letztlich nur in der Alternative einer
strikten Trennung oder eines naturalistischen Reduktionismus erörtert
wird, ohne dass der dialektische Gedanke eines nicht-reduktionistischen
Zusammenhangs zur Sprache kommt (zu schweigen von der Dialektik der
absoluten und der relativen Wahrheit, wie sie zuerst in Hegels Konzeption
des absoluten und des objektiven Geistes thematisiert worden ist). Ähnlich dualistisch mutet die Trennung der diskreten Einheiten von der individuellen Substanzen vom kontinuierlichen kollektiven Prozeß an. Wenn
außerdem angenommen wird, daß die menschliche Subjektivität in der
Weise unableitbare Voraussetzung sei, daß wir „nach Analogie zwischenmenschlichen Verstehens“ die Welt außer uns zu deuten haben
(als selbstzweckhafte Einheiten im teleologischen Sinne), dann erscheint
hier insbesondere die Methode der Analogie legitimationsbedürftig.
Nicht zuletzt aber läßt sich gegen das Projekt des Widerstands gegen die
moderne Wissenschaft folgendes Argument vorbringen: Vergegenständli-
Rezensionen zum Thema
chung, Verobjektivierung der Subjektivität erfolgt nicht erst durch die
wissenschaftliche Rationalität (speziell in Gestalt der Evolutionstheorie
oder der technischen Naturbeherrschung), sondern notwendigerweise
in allen sprachlichen Äußerungen, auch in den vernünftigen sokratischen Gesprächen in lebensweltlichen Situationen. Infolgedessen kann
die Verobjektivierung kein Kriterium dafür sein, daß in der Kontroverse
um das menschliche Selbstverständnis die Wissenschaft, speziell die
Evolutionstheorie, zugunsten des Diskurses der Individuen ausscheiden
muß.
Der in den vier Beiträgen zum Ausdruck gekommene Konsens in der
Ablehnung der Evolutionstheorie bzw. ihrer philosophischen Relevanz,
der auch in der Schlußdiskussion hervorgehoben worden ist, scheint massiv
und gleichsam vernichtend zu sein. Aber was bedeutet ein Konsens auf
der Grundlage von größtenteils unvereinbaren Prämissen? Theoretisch
wohl kaum etwas, praktisch aber viel.
(Elmar Treptow)
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