Chirurgie peripherer Nerven Erkrankungen der peripheren Nerven Die Krankheitserscheinungen der Nerven gehören zu den ältesten beschriebenen Erkrankungen in der Medizingeschichte. Schon im 3. Jahrhundert vor Christus war die Sonderstellung der Nerven beobachtet worden, unter Galen (129-199 n. Chr.) wurden motorische (=harte) und sensible (=weiche) Nerven differenziert. Leonardo da Vinci hatte trotz erheblicher Widerstände der Kirche sehr differenzierte anatomische Studien an Nerven durchgeführt (Abbildung 1). Abbildung 1: Darstellung des peripheren Nervensytems von Leonardo da Vinci (1489, aus: Die Geschichte der Medizin im Spiegel der Kunst, DuMont Verlag Köln 2003) Auch Funktionsausfälle an den Nerven, die durch Druckeinwirkung entstehen, sind schon lange bekannt, wenn auch die Behandlung von Nervenleiden erst mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert etabliert werden konnte. Tabelle 1: Meilensteine der pathophysiologischen Erkenntnis und Diagnostik von Nervenläsionen Erasistratos (3. Jahrhundert v. Chr.) Galen (2. Jahrhundert n. Chr.) Galvani (1737-1798) Flourens (1797-1864) von Helmholtz (1821-1894) Förster (1928) Smith / Sunderland (1965) Differenzierung Nerven - Sehnen Differenzierung motorische – sensible Nerven Spiritus animalis Froschschenkelversuche Experimentelle Nervennaht Nervenleitgeschwindigkeit Erste Kasuistik von 523 Fällen Mikrochirurgische Techniken Operativ zu behandelnde Erkrankungen des peripheren Nervensystems, der Nerven im herkömmlichen Sinne, haben in den letzten Jahren einen Rückgang verzeichnen können. Gründe dafür liegen in der geringeren Zahl schwerwiegender Verletzungen der Nerven durch Unfälle und Traumen. So hat die Zahl der Nervenläsionen sowohl im Rahmen von Verkehrsunfällen als auch am Arbeitsplatz deutlich abgenommen. Für den betroffenen -2- Patienten jedoch beinhaltet die Störungen der Nervenfunktion eine erhebliche Beeinträchtigung, die mit schwerwiegenden Gebrauchseinbußen der erkrankten Extremität einhergehen kann. Neben den Verletzungen spielen Nerventumoren, Veränderungen am Bindegewebe wie bei den häufigen Gelenkzysten oder Entzündungen eine wesentliche Rolle. Auch die vielfältigen Engpass-Syndrome peripherer Nerven, of mit größeren Schmerzzuständen einhergehend, sollen an dieser Stelle genannt werden. Nicht zuletzt sind bei allen Schäden an den Nervenstrukturen chronische Schmerzzustände denkbar, wenn nicht sogar sehr häufig, die einer intensiven Therapie bedürfen. Aufgaben und Ziele Die Arbeitsgruppe befasst sich hauptsächlich mit der Weiterentwicklung technischer Verbesserungen in der Chirurgie peripherer Nerven und der Standardisierung der operativen Behandlung insbesondere der Nervenkompressionssyndrome. Einteilung peripherer Nervenläsionen Die wichtigsten Ursachen von Nervenläsionen sind neben den Engpasssyndromen immer noch traumatische Verletzungen. Ausdruck einer Nervenverletzung können sowohl sensorische Defizite (Gefühlsempfindungsstörungen), motorische Ausfälle (Lähmungen) als auch vegetative Störungen wie eine Durchblutungsstörung oder Schmerzen an der abhängigen Extremität sein. Vielfältige Entstehungsgründe für Nervenläsionen sind denkbar: • • • • • Engpasssyndrome Traumatische Verletzungen Tumoren und andere raumfordernde Veränderungen Drucklähmungen Polyneuropathien und andere neurologische Erkrankungen Die Einteilung der Schweregrade von Nervenläsionen, die früher in Neurapraxie, Axonotmesis und Neurotmesis erfolgte, beschreibt man jetzt mit der fünfstufigen Einteilung nach Sunderland. Die Grade zwei bis vier nach Sunderland beschreiben dabei unterschiedliche Verletzungsmuster der Nervenhüllen (Axonotmesis) und sind für die Frage einer operativen Behandlungsindikation von Wichtigkeit. Engpasssyndrome Das häufigste Kompressionssyndrom der peripheren Nerven ist mit Abstand das Karpaltunnelsyndrom (KTS) des N. Medianus mit den klinischen Symptomen der Kribbelmißempfiindungen an den Fingern, insbesondere an den Fingerspitzen, und den nächtlichen Schmerzen, die auch den Unterarm einbeziehen können. Das KTS ist ein typisches Tunnelsyndrom durch Druck auf den Nerven in einem knöchern-bindegewebigen Kanal, Dazu gehören auch die Meralgia parästhetica, das Supinatoryndrom, das Tarsaltunnelsyndrom sowie einige andere, sehr seltene Nervenengpasssyndrome (Abbildung 2). -3- Abbildung 2: KTS mit Kompression des N. medianus am rechten Handgelenk. Nach Spaltung des vorderen Querbandes unter Schutz des Nerven mit einer Rinne ist der N. medianus gut entlastet (rechter Bildteil) Demgegenüber kommt bei man manchen Kompressionssyndromen neben dem Tunnel auch ein wesentlicher externer Faktor hinzu, wie zum Beispiel die exponierte Lage des N. ulnaris am Ellenbogengelenk. Oder auch eine ständige Druckwirkung auf den Nerv, wie bei der MortonMetatarsalgie, kann zu Wucherungen führen (Abbildung 3). Abbildung 3: Wucherungen (Neurome) am 3. Interdigitalnerven des Fußes bei der Morton-Metatarsalgie, hervorgerufen durch eine Überbelastung bei einem Sportwanderer. Rechtsseitig die entfernte Nervenaussprossung. Natürlich sind bei beginnenden Kompressionssyndromen, insbesondere bei primär von außen generierten Krankheitserscheinungen wie einer Überbelastung, auch konservative Behandlungsmethoden erfolgversprechend, die neben einer Ruhigstellung des betroffenen Bewegungssegmentes auch medikamentöse Maßnahmen mit einschließen. Bei deutlichen Störungen – und eindeutigen elektrophysiologischen Befunden - sollte jedoch mit der Indikationsstellung zu einer operativen Entlastung nicht zu lange gezögert werden, da die Operation in der Regel sehr erfolgreich ist und überwiegend sehr geringe Komplikationsraten aufweist. Verletzungen Obwohl traumatische Nervenverletzungen sehr viel seltener geworden sind, stellen sie für den Betroffenen nach wie vor eine erhebliche Belastung dar. Der am häufigsten beteiligte Nerv ist der N. ulnaris, gefolgt von N. Radialis, N. Medianus, N. peronaeus und den Armplexusverletzungen. Andere Nervenläsionen, wie zum Beispiel Beinplexusverletzungen sind extrem selten. Leichte Verletzungsgrade von Sunderland-Grad 1-3, bei denen die Nervenhüllen intakt geblieben sind, müssen primär nicht operativ behandelt werden, da sie in der Regel spontan – weitgehend – ausheilen. Ist durch den Verletzungsmechanismus eine totale Durchtrennung der Nerven wahrscheinlich, muss operativ interveniert werden. -4- Ohne auf die vielfältigen Operationsverfahren im Einzelnen einzugehen, ist die wesentliche Aufgabe einer Nervenrekonstruktion, die Kontinuität der Nerven wiederherzustellen. Dabei wird man einzelne Faszikel, Nervenfaserbündel, des proximalen Stumpfes, nach Möglichkeit dem entsprechenden peripheren Pendant zuordnen, eine völlige Wiederherstellung ist davon jedoch nicht zu erwarten. Ein günstiges Ergebnis ist die Verbesserung um einen Grad in der Sunderland´schen Einteilung. Neben direkten perineuralen End-zu-End-Nähten werden auch Faszikelnähte sowie bei größeren, zu überbrückenden Defekten auch Interponate mit autologen Transplantaten durchgeführt (Abbildung 4). Abbildung 4: Darstellung von Nervennähten, hier Faszikelnähte am N. medianus (linker Bildteil) und an den Nn digitales palmares proprii pollicis (N. Medianus). Als Überbrückung des Defektes wurden autologe Nerventransplantate aus dem N. Suralis verwendet (Pfeile). Tumoren oder Ganglien Tumoren an den Extremitätennerven sind mit wenigen Ausnahmen wie bei erblichen Erkrankungen (Neurofibromatose oder M. Recklinghausen) seltene Geschehnisse, sie können und müssen meist operativ reseziert werden. Nur bei den – noch selteneren – malignen Nerventumoren ist neben einer möglichst umfangreichen Resektion des Tumors auch eine zusätzliche Strahlentherapie erforderlich. Abbildung 5: Neurinom des N. Ulnaris links unmittelbar proximal des Ellenbogengelenks. Links im MRT, rechts in der intraoperativen Darstellung. Häufig anzutreffen sind Neurinome oder Schwannome, die mit den heutigen mikrochirurgischen Techniken gut zu entfernen sind (Abbildung 5). Auch Zysten und Ganglien spielen eine wichtige Rolle. Bei den Ganglien handelt es sich um schaumartige Gelenkzysten, die bis ins Epineuralgewebe vordringen können und dort radikal entfernt werden müssen (Abbildung 6). Weitere Tumoren sind neben den schon genannten malignen Prozessen Neuralleistentumoren wie Neuroblastome, oder Hämangiome oder Lipome, die ebenfalls meist gut zu entfernen sind. -5- Abbildung 6: Ganglienzysten mit Kompressionswirkung auf periphere Nerven. Linksseitig die so genannte BAKER-Zyste am Kniegelenk (N. Peronaeus), rechtsseitig eine Ganglienzyste am rechten Handgelenk (N. Ulnaris). Drucklähmungen oder andere neurologische Nervenläsionen Eine der häufigsten peripheren Nervenausfälle überhaupt stellt die Druckparese des N. Radialis am Oberarm dar, die sich mit der leicht zu erkennenden Fallhand bemerkbar macht (Parkbanklähmung). Solche Lähmungen besitzen eine überwiegend sehr günstige Prognose, eine vollständige Erholung der Nerven innerhalb von einigen Wochen ist die Regel. Operative Maßnahmen sind praktisch nie indiziert, ähnliches gilt für die anderen Druckparesen der Nerven. Die Behandlung der Polyneuropathien oder anderer Systemerkrankungen der Nerven richtet sich nach der Grunderkrankung, so bei der Zuckerkrankheit, nach der Normalisierung der Zuckerwerte durch die internistische Therapie. Operative Maßnahmen sind nicht möglich. Aussichten Zwar können moderne mikrochirurgische Operationsmethoden bei der Behandlung traumatischer Nervenverletzungen keine vollständige Erholung der Nervenfunktion erzwingen, jedoch ist zumindest eine deutliche Erholung des betroffenen Nerven möglich. Sehr gute operative Ergebnisse bei einem geringen Risiko des Eingriffs finden sich in der minimalinvasiven chirurgischen Versorgung der Engpasssyndrome, die postoperativ meist vollständig ausheilen. Auch die meisten Tumoren der Nerven sind mit mikrochirurgischen Behandlungstechniken ohne Funktionsausfälle vollständig zu entfernen. -6- Literatur: 1. Steiner H.H., Von Haken M., Steiner-Milz H.G.: Entrapment Neuropathy at the Cubital Tunnel: Simple Decompression is the method of Choice. Acta Neurochir 138 (1996), 308-313. 2. Steiner H.H., Meister C., Steiner-Milz H.G.: Begutachtung peripherer Nervenschäden – Wertigkeit von Schmerzsyndromen. Schmerz 14 (2000), 5-9. 3. Steiner H.H., Von Haken M., Steiner-Milz H.G., Albert F.K., Hamer J.: The Ansa Cervicalis Hypoglossal - Facial Anastomosis for indirect Facial Nerve Reconstruction. Adv Neurosurg 21 (1993), 257-261. 4. Steiner H.H., Steiner-Milz: Das Sulcus-Ulnaris-Syndrom: Ergebnisse der operativen Dekompression im Kubitaltunnel. In: Läsionen peripherer Nerven, Huffmann T., Braune A. (Hrsg.), Einhorn-Presse Verlag (1992), 309-323. 5. Sunderland S.: Nerve Injuries and their Repair. A Critical Appraisal. 2nd Edition, Livinstone, London (1990).