Ane Feine Wort Spur Sie fror nicht einmal. Um sie herum fielen die letzten vergessenen Flocken vom Himmel. Nie kehrte eine von ihnen zurück. Unausweichlich, nach den Gesetzen der Physik. Unaufhaltsam, so wie die Luft aus der Lunge strömte. Ihre Unterlippe berührte für einen winzigen Augenblick die oberen Schneidezähne. Es rauschte, als würde sie mit dem Fuß den Umzugskarton über das kahle Laminat schieben. Ihr Mund entspannte sich - vorübergehend. Sie ließ den Atem beinahe ungehindert hindurchströmen. Die Kehle vibrierte noch, als die Zungenspitze den Gaumen antippte und zu beiden Seiten einen weichen Klang formte. Ein Laut wie in „Liebe“, wie in „lakonisch“, wie in „Langeweile“, wie in „Lösegeld“. Dann fielen Zunge und Kiefer nach unten. Ihre Stimme bahnte sich einen freien Weg nach draußen. Das Zwerchfell wölbte sich nach oben - ein kurzer Weg, aber essentiell. Sie erhöhte noch einmal den Druck in ihrer Lunge. Ungehindert quoll Luft vom Kehlkopf in den Mund. Dort zwängte sie sich durch einen winzigen Spalt und ließ ein angriffslustiges Zischen hören, scharf wie das Rauschen der Kiste, die nach ihrem Fußtritt in Richtung Tür geschossen war. Und endlich legte sich die Zungenspitze an den Gaumen. Kein Hauch entwich mehr ihren Lippen. Nur durch die Nase drang noch ein gedämpfter Ton und ihre kleinen Flügel erzitterten. Ohne Rückkehr hatten die Laute sie verlassen: ein einfaches / f /, weich verschmolzen das / e / mit dem / r /, ein harmloses / l /, ein betontes / a /, ein intensives / s /, das überging in ein silbisches / n /. Ane Feine: WortSpur 1 Es hatte mit einem Aufstieg begonnen. Neuronale Impulse erreichten die Er sah den geschwungenen Amorbogen ihrer Oberlippe und die makellose zerklüftete Oberfläche, reisten zwischen Teilstrecken im Cortex mehrfach hin und her. Zahnreihe, die eine zahnspangenbehütete Kindheit verriet. Darunter ihr schmales Verstörende Botschaften - „Ich bringe ihn um!“ - erfuhren einen Abgleich mit Kinn. Nun stand es still. In diesem Winter, der so ungewöhnlich kalt dahergekommen gespeicherten Informationen. Gänzlich verzichtbare Fakten - „fünfzehn gemeinsame war, formte jeder Satz eine Wolke zwischen ihnen. Jedes Wort, jede Silbe, jeden Jahre“ - schäumten hoch. Unnützes Weltwissen drängte sich dazwischen - „46,3% Laut begleitete der weiße Nebel auf der Expedition von Mund zu Ohr. Wellen aller Ehen werden geschieden“. Episodische Erinnerungen flochten sich ein - „Im unterschiedlicher Dichte und Höhe quollen hervor, breiteten sich kugelförmig aus, wie Sommerurlaub wäre er beinahe in die offene Klinge seines dreifach gehärteten um den Löffel, der den Wackelpudding erzittern lässt - Götterspeisenkreise mit Damaszenermessers gefallen. Es hätte ihr in dem Moment nichts ausgemacht“ - und verhakten sich im Gedächtnis wie Kletten in Wandersocken. Waldmeisteraroma. Als die Luftdruckschwankungen sein Trommelfell erreichten, rüttelten sie an der In einer tiefen Spalte der linken Gehirnhälfte bekam ihr Standpunkt neuronale Schranke und begehrten Einlass. Sie zerrten daran, wenn sie ein Tal durchschritten, Befehle zugewiesen. Neue Stationen wurden eingeplant, verworfen, waren drängten dagegen, wenn sie einen Höhepunkt erklommen hatten. Die Mechanik der schlussendlich wieder auf der Route vermerkt. Ihr Kurzzeitgedächtnis speicherte die Gehörknöchelchen hämmerte auf sein Innenohr. Jedes Rauschen eröffnete als Alternativen einige Herzschläge lang, wog das Risiko gegen die Chancen ab, maß Wanderwelle einen Tanz durch die Windungen des Gehörgangs. Die Vibrationen die stillen Gedanken mit den Worten der verstrichen Zeit. ihres Kehlkopfes, das Zischen und der dumpfe Klang zum Abschluss ihrer Äußerung Die Schallwellen stoben in alle Richtungen: die Hauswand hoch in den milchigen Himmel, durch das Wolkendickicht und fort ins Universum zu all den anderen gaben den Takt vor. Die Welle wand sich empor, stieg die Paukentreppe hoch, versetzte die Haarzellen an der Basilarmembran in Schwingungen. gesagten Sätzen. Wo sie den vergangenen „Ich-liebe-Dich“-s hinterhereilten, um sie Von da an brach eine unvorstellbare Beschleunigung los. Mechanisches fand doch nie zu erreichen. Sie fielen hinunter, ein flüchtiges Stück bis zu den Füßen, und über die winzigen Eiskristalle floss ihr schwaches Echo durch die Fußspuren im sich verwandelt in neuronale Information, Schalt- und Kontrollstellen dirigierten Botschaften, leiteten sie weiter an die zuständigen Areale der Großhirnrinde. Schnee. Die Garagenwand neben dem Einfamilienhaus bot den Schwingungen eine Einzelne Laute passten sich in die Umgebung ein und woben ein Netz mit neuen blecherne Angriffsfläche und schob den Gegenhall mit Lamellenprägung zurück. Sinngehalten. Nüchterne Bilanz - „Das ist das Ende unserer Ehe“ - paarte sich mit Auf der molekularen Ebene erhob sich ein kolossales Sprachgebirge. Frequenzberge türmten sich auf. Mehrschichtig drängten Spitzenwerte durch die Anfragen an seine analytische Hirnregion - „wie viel wird mich das kosten?“ Auch das Archaisch-Limbische drängte sich in die Verarbeitung. Es tat weh. Irgendetwas. Ein eingekeilt tiefe Täler erkennen. In unregelmäßigen Abständen tauchten Niederungen verdrängtes Gefühl aus den Schichten des episodischen Gedächtnisses. Die Scham, als ihm Prüfungen misslungen waren, wenn sein Mut zur Lücke mit Pech quittiert von weißem Rauschen auf. Scharfe und sanfte Reibegeräusche begleiteten sie. Wie wurde. Die Erniedrigung auf der Auswahlbank, während man seine Mitschüler in einem von Algen bedeckten Tümpel schwaderten die gedämpft murmelnden nacheinander ins Team wählte. Der Abschied vom geliebten Hund, der eines Nasale dazwischen. Eine Sinfonie aus der schroffen Klippenlandschaft und weichen Morgens tot neben seiner Schultasche gelegen hatte. Das wutverzerrte Gesicht des Vaters, nach dem Rauschmiss aus der Lehre. kalte Luft wie zitternde Seismographennadeln. Im Querschnitt ließen sich darin Tönen. Während sich manche Laute unausgesprochen auf der Zunge zergehen ließen, wanden sich Intonationsverläufe durch das Gesagte. Bisweilen schwollen sie dröhnend an und überfluteten ganze Satzteile. Die Spur eines Wortes grub sich ins Nichts. Alles das dauerte weniger als eine Sekunde und schloss ab, was Jahre zuvor begonnen hatte, mit Botschaften aus dem Limbischen. Unbeschreiblich zunächst - Und schließlich die immer deutlicher werdende Sequenz, in der ihm seine Frau am Ende dieser letzten fruchtlosen Auseinandersetzung gegenüberstand. Er sah, wie ihre Lippen sich schlossen, ihre Nasenflügel fast unmerklich zitterten und wie ein weißer Hauch ihren Mund verließ. Eine Botschaft bohrte sich ins Ziel. Er hörte sie sagen: „Ich werde dich verlassen.“ Gefühle, die sich einen Weg bahnten. Und auf eine Weise, wie er sie nie gehalten hatte, umschlangen die Millisekunden ihre Laute wie Äonen; am Ende dieser Reise zu dritt: Sie und er und in der Luft dazwischen, ein Wort. Ane Feine: WortSpur 2 Ane Feine: WortSpur 3