Manuskript Gedenkrede Michael Barczyk

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Gedenkrede im Bad Waldseer Rathaus am Freitag,
24. April 2015, für die in Waldsee ermordeten
Häftlinge des KL "Wüste" vor 70 Jahren
© Michael Barczyk
Lasst uns Menschen machen nach unserem Bilde. Mit
diesem Spruch begann der Pfarrer von Haisterkirch am
3. Juni 1945 seine Predigt angesichts der Morde auf dem
Gebiet seiner Gemeinde.
Diesen Spruch möchte ich ebenso an den Anfang meiner
Rede setzen: Der Mensch als Gottes Ebenbild
Meine Damen und Herren!
Alles fing mit einem kleinen Notizzettel an, den ich im StA
um 1980 fand und nicht verstand.
... es findet am 2. November 1945 eine französische
Trauerfeier für die ... vor Unterurbach ums Leben
gekommenen KZ - Angehörigen ...statt ...
(Der Notizzettel wird kurz herum gezeigt)
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Was war damit gemeint? Hatte es in Waldsee "KZHäftlinge" gegeben? Das nächste KL war doch in
Saulgau? Fragen über Fragen.
Ich machte mir so meine Gedanken, fragte da und dort.
Eine ältere Waldseerin glaubte sich zu erinnern, dass in
den letzten Kriegstagen ein Trupp zerlumpter KZ'ler
durch die Stadt zog, einige schrien "Pain, Pain", aber
niemand rührte sich. Einer der Todesmärsche? Die
kannte ich eigentlich nur aus Ungarn. Mir fiel das
Gedicht von Radnoti Miklós ein "Gewaltmarsch", + 1944
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(wird nicht rezitiert - ist nur im Manuskript abgedruckt)
Fragen über Fragen!
Nach der Ausstellung "Bevor es Legende wird" und
meiner Rede beim Volkstrauertag 2013 platzte der
Knoten: In einer beispiellosen konzertierten Aktion war es
gelungen, den Hergang zu rekonstruieren: Alle Zeitzeugen
machten mit großer Empathie mit - an dieser Stelle seien
genannt:
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Die Initiative Eckerwald
Das Denkstättenkuratorium mit dem Projekt der Denkorte
an oberschwäbischen Erinnerungswegen im Landkreis
Ravensburg
Das Amtsblatt, die Schwäbische Zeitung
Bürger/innen von Bad Waldsee mit Haisterkirch,
Gaisbeuren und Mittelurbach
Was war geschehen, wie kam es zu den
oberschwäbischen Todesmärschen - welche Rolle spielte
Waldsee?
Der Erläuterung bräuchte es viel Zeit. Ich muss mich
sehr kurz fassen, hoffe aber, dass der Zusammenhang
dennoch verständlich wird . Die Informationen basieren
auf Zeugenaussagen bei den Rastatter Prozessen um
1950, Zeitzeugenberichten und Archivrecherchen.
In Waldsee hat der Krieg erst 1945 statt gefunden,
knapp eine Woche lang, Ende April = Ein Blick in eine
apokalyptische Szenerie: grausam und entmenscht.
Angefangen hat es mit dem Autarkiestreben des
3. Reiches, Deutschland wirtschaftlich unabhängig zu
machen:
Ab 1944 sollten die Ölschiefervorkommen auf der
Schwäbischen Alb für die Öl- und Benzinproduktion
ausgebeutet werden ("Kohle-Öl-Union"), deshalb wurde ein
Außenlager des KZ Natzweiler in den Vogesen im Bereich
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Balingen-Spaichingen unter dem Namen "Die Wüste"
eingerichtet (bestand eigentlich aus acht KL).
Das Motto lautete "Vernichtung durch Arbeit".
Durch den Befehl vom 4. April "Kein Häftling darf lebend
in Feindeshand fallen" war das Schicksal vorgezeichnet:
Die Wüste-KZs sollten beim Herannahen der Franzosen
evakuiert werden.
Am 1. April hatten die Franzosen den Rhein überquert,
am 18. April Freudenstadt zerstört, ab 17. April begann
die restliche (!) Evakuierung der acht Wüstelager.
Wie viele waren unterwegs? Die Schätzungen reichen von
1.500 bis 2.000, für Waldsee ca. 700
Als Ziele wurden die KL Dachau, Mauthausen, der
Überlinger Stollen am Bodensee und auch die "virtuelle"
Alpenfestung genannt.
Um es vorweg zu nehmen, Dachau und Überlingen
wurden Ende April befreit, fielen also als Destination weg,
der Todesmarsch bog dann bei Memmingen Richtung
Füssen und Mittenwald - immer Richtung Alpenfestung ab. Der Schörzinger Todesmarsch drehte in Owingen
nahe Überlingen um und lief zurück nach Pfullendorf.
Dies zeigt, dass die Evakuierung planlos vor sich ging,
einzelne Züge drehten nicht nur kurzfristig um, sondern
liefen im Kreis, begegneten sich. Auch sind einzelne
Märsche teils schwer zu unterscheiden. So kann nicht
mit Sicherheit gesagt werden, welche durch Waldsee
gezogen sind.
Es kann auch nicht von einer einheitlichen Auflösung
berichtet werden: ein Zug von 200 wird in Altshausen,
einer von 600 in Eichstegen aufgelöst (21. und 22.4.),
gleichzeitig sind in Ebenweiler, Altshausen, Ebersbach,
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Aulendorf mit Zollenreute fast ein Dutzend Ermordete zu
beklagen (der Ebersbacher Pfarrer schreibt in seine
Chronik
"Wer nicht mehr kann, erhält den Genickschuss - aus!").
Die deutsche Landbevölkerung stand den Märschen
verängstigt und hilflos gegenüber. Nur in Ostrach schrien
Frauen die SS'ler an "Was wollt ihr, ihr seid doch Mörder"
- aber da war der Zug bereits in voller Auflösung.
Bad Waldsee: Am Sonntag, dem 22. April, "treibt die SS
Leute durch die Stadt mit Kolbenstößen und Fußtritten
immer weiter" (Grimm). Ein Häftling will an einer
Dachrinne tropfendes Wasser lecken, um den Durst zu
stillen; seine Beine werden von einem Wachmann brutal
zusammengeschlagen ...
Deutsche Truppen ziehen sich vor dem heranrückenden
Feind, der schon in Aulendorf ist, Richtung Bad Wurzach
zurück.
Etwa 40 Gefangene sind erst zu Fuß, dann auf einem
"véhicule" von dem Wüste-KZ Schömberg aus auf den
Weg geschickt worden.
Darunter befanden sich Lucien Monjoin und August
Bonal. Der Wagen hat "im Wald am Ortsrand von
Waldsee" (Richtung Haisterkirch) eine Panne. Die
deutschen Bewacher verlassen aus Angst vor den
Alliierten "das Fahrzeug an Ort und Stelle und suchen das
Weite".
Monjoin und vier Kameraden nutzen diese Gelegenheit
und laufen in den Wald, in dem sie bis zum Mittag des
23.4. bleiben.
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"Lucien Monjoin und August Bonal entschieden, auf
Erkundung zu gehen. Kaum waren sie 50 Meter außerhalb
des Waldes gelaufen, wurden sie von deutschen
Offizieren, die gerade im Auto vorbeifuhren, erschossen
(Eisenbahnunterführung).
Bonal starb sofort.
Lucien Monjoin wurde verletzt"
und verstarb kurze Zeit später durch einen Schuss eines
Mannes des Werwolf (Q: französischer Augenzeuge
Auguste Thibault in Dijon 1946 und Akten der
Kriminalpolizei Ravensburg).
Beide Leichen wurden sofort am Tatort bestattet, Monate
später wurde ein stabiles Kreuz errichtet. Beide Toten
wurden im Herbst 1948 exhumiert und nach Frankreich
überführt.
Nun, Bonal und Monjoin sind bis heute in Frankreich
keine Unbekannte!
Lucien Monjoin
(7. Juni 1921 - 23. April 1945)
Arbeiter bei Peugeot, während des 2. Weltkriegs war er
Unteroffizier der Französischen Streitkräfte des Innern
und in der Widerstandsgruppe von Poligny (im Jura,
Maquis des Juras).
1944 wurde er verhaftet, nach Natzweiler und kurze Zeit
später nach Schömberg deportiert. Sein weiteres
Schicksal kennen wir bereits.
Posthum wurde er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt,
erhielt auch das Kriegskreuz mit Stern und die
Resistance-Medaille.
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Auguste Bonal
(7. Februar 1898 - 23. April 1945)
Einer von acht Managern im Peugeot-Werk in
Sochaux/Montbéliard (1941 bis 1943). Als Dipl-Ing leitete
er das Presswerk, das die Hüllen für die V1-Raketen
herstellen sollte. Er organisierte den aktiven Widerstand
im Werk und sorgte, dass die hydraulischen Pressen
sabotiert wurden.
Im Spionagenetz "Buckmaster" des britannischen
Nachrichtendienstes war er unter dem Decknamen
"Tobus" Agent.
Wie andere Führungskräfte auch wurde er nach
Natzweiler und später nach Schömberg deportiert.
Von dort aus wurde er am 18.4. auf den Todesmarsch
gezwungen.
Am Sonntag, den 22.4., erreichte seine Kolonne Waldsee.
Die Freiheit hatte er schon vor Augen, als er am Tag
darauf ermordet wurde.
Er war ein Gründungsmitglied des Football Club
Sochaux - Montbéliard, weshalb das dortige Stadion
schon drei Monate nach seinem Tod umbenannt wurde
in "Stade Bonal".
Wer hat die Beiden ans Messer geliefert?
Ferdinand Porsche war ab 1939 "Wehrwirtschaftführer".
Ihm oblag die Kriegsproduktion im besetzten Frankreich
zu kontrollieren. Nachdem die Sabotage im Werk in
Sochaux bekannt geworden war, wandte sich Porsche
direkt an Hitler, um Rückendeckung für weiteres
Vorgehen zu erhalten. Und so nahm das Schicksal seinen
Lauf, das in Unterurbach endete.
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Und was geschah am selben Montag wenige Kilometer
weiter in Haisterkirch?
Pfarrer Dolderer hat das in seiner Rede "am Grab zweier
erschossener Häftlinge am 3. Juni 45" zusammen
gefasst:
"... aus einem jener Konzentrationslagern, die von der
Hölle erfunden sind, wurde ein Trupp Gefangener durch
unser Dorf getrieben, die Straße zum Berg empor.
Auf der Höhe wurden zwei Gefangene von ihren Wächtern
erschossen und unbeerdigt ihrem traurigen Schicksal
überlassen.
Hinter diesen beiden unbekannten Männern aber erhebt
sich eine ungeheure Zahl von Menschen, die ebenso oder
noch grausamer ermordet worden sind ..."
Auf Grund der Kennnummern konnte die Identifizierung
der Leichen erfolgen:
Zum einen handelte es sich um Julius Spiegel
* 6. August 1903 in Kaisersdorf im heutigen Burgenland;
er war Deutscher jüdischen Glaubens. In Kaisersdorf war
er als Schuhmacher tätig (Adressbuch 1938). Als
Kontakt-Adresse war Camilla Spiegel, 5 Rue de la
Consolation, Brüssel, angegeben.
Über die KL Groß-Rosen und Buchenwald kam er ins
Wüste-Lager Dautmergen. Leider wissen wir nicht mehr
von ihm (Opferliste von Yad Vashem gibt falsch
"Auschwitz" an).
Zum andern handelte es sich um Karl Panhans
* 12. September 1893 in Thun im Sudetenland; er war
Deutscher. Als Kontakt-Adresse war
Anastasia Panhans, Friedrichstr. 35, Dresden,
angegeben.
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Über Buchenwald kam er ins Lager Dautmergen. Seine
Biografie ist nicht bekannt - aber ich hatte im
Stadtarchiv eine Anfrage eines Namensträgers "Panhans",
die nicht erfolgreich war.
Über die näheren Umstände sind wir aber durch lebende
Zeitzeugen informiert.
1. Frau Krattenmacher, Jahrgang 1925:
Im April 45 beobachtete sie, wie Häftlingsgruppen an
ihrem Haus, das letzte des Dorfes Richtung Haidgau,
vorbei den Berg hinauf getrieben wurden.
Die Männer waren völlig entkräftet und hüllten sich in
graue Decken. Vor dem Haus machten sie Halt und
bekamen vom Vater aus einem Eimer Wasser zu trinken.
Lebensmittel durfte er ihnen nicht geben.
Erst später erfuhr sie, dass Häftlinge an der Steige getötet
worden waren und in einem Graben verscharrt worden
seien.
Diese Stelle zeigte sie mir: Gegenüber dem
Kilometerpfosten 1,4 - Flurstück Haisterkirch 28/2
2. Frau Heinzelmann, geb. Gregg, Jahrgang 1932
Am anderen Morgen klopfte es ans Küchenfenster. Da
stand ein Mann und machte mit einem Zigarettenstummel
Zeichen. Die Fremdarbeiterin aus Weiß-Russland, Maria,
brachte ihn herein. Er konnte kaum noch gehen, war bis
auf das Skelett abgemagert. Er zog die gestreifte Hose
hoch und wies auf die vielen Wunden. Die Mutter
vermutete, dass diese Verletzungen von unzähligen
Schlägen verursacht waren. Sie sagte: "Den Mann können
wir nicht wegschicken, der ist ja schon ganz schwarz im
Gesicht. Der stirbt ja."
Gemeinsam mit Maria brachten sie ihn in den
"Strohschopf" gegenüber des Hauses. Dort versteckten und
versorgten sie ihn.
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Als die französischen Truppen nach Haisterkirch kamen,
wurde der Unbekannte ins Waldseer Krankenhaus
gebracht. Nach drei Monaten wurde er mit einem Transport
von Displaced Persons nach Jugoslawien, seiner Heimat,
gebracht. Die Familie Gregg hat niemals wieder etwas von
ihm gehört, erfuhr nicht einmal seinen Namen.
Das war der Bericht von den in Waldsee ermordeten
Menschen, genau am 23.4.1945 - genau vor 70 Jahren:
Auguste Bonal
Lucien Monjoin
Karl Panhans
Julius Spiegel
Wir gedenken ihrer!
Anmerkung: Die zeitgenössische Abkürzung "KL" entspricht der heute üblichen
"KZ"
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