Rürup fordert längere Lebensarbeitszeit - HEINZL

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WIRTSCHAFT
Freitag, 18. Dezember 2015
Rürup fordert längere Lebensarbeitszeit
Ökonom spricht in Bad Waldsee über alternde Staaten, Flüchtlinge und Zombiefirmen
Von Steffen Range
junktur von den Ausgaben des Staa­
tes für Flüchtlinge. ,,Das kostet viel
Geld und erzeugt kurzfristig viel
Wachstum."
Ein Zuhörer fragt, ob Deutschland
die Zuwanderung Hunderttausender
Flüchtlingen verkraften könne. Die
Arbeitslosenquote werde steigen,
mutmaßt Rürup. Das dürfe die Poli­
tik aber nicht dazu veranlassen; den
Mindestlohn für Flüchtlinge abzu­
schaffen. Seine Begründung: Der
Mindestlohn spielt vor allem in Ost­
deutschland eine Rolle, im Westen
wird meist mehr gezahlt. Flüchtlinge
würden dann womöglich deutsche
Beschäftigte im Osten verdrängen mit fatalen Folgen für die Akzeptanz
der Migranten.
BAD WALDSEE - Die bisher gültigen
Modelle zur Erklärung der Wirt­
schaft haben ausgedient. Viele Lehr­
sätze, auf die sich Ökonomen jahr­
zehntelang berufen konnten, gelten
nicht mehr. Das hat Professor Bert
Rilrup am Mittwoch beim Unterneh­
merforum der Heinzl-Firmengruppe
in Bad Waldsee ausgeführt. Die ge­
genwärtige Situation sei sehr un­
übersichtlich. ,,Auch Wirtschafts-,
weise sind gelegentlich ratlos."
Rürup ist seit 40 Jahren Professor.
Er gehörte dem Sachverständigenrat
an, der die Bundesregierung berät,
war also einer jener „ Wirtschafts­
weisen". Der Forscher zählt sich zu
einer wachsend.eo Gruppe von Öko­
nomen, die den vorherrschenden Re­
chenmodellen nicht mehr so recht
traut. ,,Ich kann die Vergangenheit
nicht mehr als Maßstab nehmen",
sagt Rürup.
Tatsächlich spielt die Wirt­
schaftswelt verrückt. An den Börsen
gibt es beinahe grundlos aberwitzige
Ausschläge, Auf- und �bschwünge
folgen immer kürzer hintereinander.
Die Zentralbanken pumpen unabläs­
sig Geld ins System, doch nichts ge­
schieht. Die Geschäftsbanken schaf­
fen es einfach nicht, das Geld in die
Güterwirtschaft zu bringen. Die
weltweiten Inflationsraten bleiben
„flach wie ein Brett". Stattdessen
profitieren im Euroraum Staaten von
niedrigen Zinsen, die viel höhere Ri­
sikoaufschläge zahlen müssten. Rü­
rup nennt das eine „verkappte
Staatsfinanzierung", die der Euro­
päischen Zentralbank (EZB) eigent­
lich verboten ist.
Digitalwirtschaft gibt Rätsel auf
Rürup sieht in der Geldschwemme
noch weitere Nachteile. Denn der
Wirtschaftskreislauf lebt auch von
der schöpferischen Zerstörung, vom
Entstehen und Vergehen von Unter­
nehmen. Doch je billiger das Geld ist,
desto länger werden marode Firmen
,,Auch Wirtschaftsweise sind gelegentlich ratlos": Bert Rürup.
am Leben erhalten, die den Unter­
gang verdient hätten. Am Ende steht
die Zombiewirtschaft.
Nicht nur untote Firmen verunsi­
chern die Ökonomen. Genauso gibt
die Digitalwirtschaft Rätsel auf.
,,Hier werden Leistungen erbracht,
die keinen Preis haben", sagt Rürup.
Google oder Facebook kosten nichts,
haben aber Auswirkungen auf die
Wirtschaft und das Konsumverhal­
ten des Einzelnen und müssten in die
Modelle eingerechnet werden. ,,Wir
siad in einer neuen Welt angekom­
men, in denen die alten Erklärmuster
FOTO:DPA
nicht mehr gelten."
Wie sich die deutsche Wirtschaft
im kommenden Jahr entwickelt, will
Walter Döring dann trotzdem wis­
sen, der frühere Wirtschaftsminister
Baden-Württembergs, der die Ge­
sprächsrunde moderiert. 1,4 Prozent
Wachstumj!rwartet Rilrup, vor allem
getragen vom Binnenkonsum der
Privathaushalte und der Nachfrage
des Staates. Der für Deutschland so
wichtige Export werde schwächeln.
Nach Ansicht des Ökonomen hat die
Globalisierung eine „Pause einge­
legt". Dagegen profitiere die Kon-
Fachkräfte aus Osteuropa
Döring wirft die Frage auf, ob sich
aus dem Kreis der Flüchtlinge die
Fachkräfte von morgen rekrutieren
könnten. ,,Ich weiß es nicht", sagt Rü­
rup, verweist aber auf die Zuwande­
rung Hunderttausender Menschen
aus Osteuropa zwischen 2010 und
2014. ,,Die Osteuropäer haben die
Facharbeiterlücke in relevantem
Maß geschlossen. Das war ein Segen
für Deutschland."
„Allergrößter Gewinner" wäre
Deutschland laut Rürup auch, sollte
das transatlantische Freihandelsab­
kommen TTIP zwischen Europa und
den USA beschlossen werden. Die­
ses Bündnis findet der Ökonom aber
nur akzeptabel, ,,wenn es keine pri­
vaten Schiedsgerichte gibt". Kapital­
interessen dürften nicht über das
Recht gestellt werden.
Ob sich Deutschland noch länger
einen überbordenden Sozialstaat
leisten könnte, interessiert einen an­
deren Zuhörer... Wir sind eine altern­
de Gesellschaft und alternde Gesell­
schaften sind umverteilungsintensi­
ver", sagt Rürup. Doch auch eine al­
ternde Gesellschaft könne wachsen
und florieren. ,,Aber das geht nicht
mit weniger Arbeit, sondern nur,
wenn wir länger arbeiten."
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