NZfM 04/05 Teil 1

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die technik, der neue
akademismus
von konrad boehmer
f e t i s c h
Einer der Gründe für den letztendlichen
Untergang der Sowjet-Union war ihr undialektischer Glaube an technischen Fortschritt.
Um den Kapitalismus – namentlich den dynamischen amerikanischen – überholen zu
können, wurden in rasendem Tempo moderne Fabriken gebaut und mit einem Maschinenpark versehen, dessen Modelle aus den
USA importiert oder abgekupfert waren.
Was hierbei vollkommen außer Acht gelassen wurde, war, dass die Struktur der gesam-
ten Technologie, wie sie in den USA von
Ford und Taylor vorgezeichnet war, den
avanciertesten kapitalistischen Produktionsformen und somit auch Herrschaftsverhältnissen perfekt entsprach. Und so entstand
schon zu Stalins Zeiten die totale Schizophrenie eines Staatsapparats, der den Sozialismus propagierte, selbst jedoch schon längst
kapitalistische Verhältnisse eingeführt hatte.
Der Name der paranoiden Schizophrenie:
Staatskapitalismus.
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u n d
Eine andere Perspektive. Kürzlich berichtete der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Daniel C. Dennett eine amüsante
Anekdote : «Vor einigen Jahren nahm ich in
England an einer Konferenz über cognitive
robotics teil, die durch British Telecom gesponsert war. Warum? Weil dieser Betrieb
ein fabelhaft kompliziertes Netzwerk entwickelt hat, welches es selber nicht mehr versteht. Man wollte untersuchen, ob es möglich
sei, einen Roboter zu entwickeln, der
foto: rolf w. stoll
thema
p r i e s t e r t r u g
menschlich genug wäre, um mit uns zu kommunizieren und gleichzeitig genug Computer, um das Netzwerk verstehen zu können.
Dass sie dieses Thema wichtig genug fanden,
um ein paar Tage darüber zu reden, weist
darauf hin, dass man sich unbehaglich fühlt
über das Ausmaß, in dem man seine eigenen
Erfindungen noch beherrschen kann.»
Beide Beispiele konvergieren in demselben Schluss: Es gibt keine Technologie ohne
gesellschaftliche Implikationen. Umgekehrt:
Jede Technologie zeugt gesellschaftliche Verhältnisse. Auch dann, wenn ihre Adepten
sich einbilden, diese fänden nur im Kopf
statt. Wo die Folgelogik von Technologie
nicht mehr verstanden wird, setzt man neue
Technologie obendrauf.
Nicht anders verhält es sich mit der musikalischen Technologie. Wo sie – als Beherrschungsform des Materials durch den Komponisten – gewissermaßen direkt auf das
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ästhetische Resultat einwirkt, erzeugt sie unmittelbar gesellschaftliches Verhalten (Konzertbesuch, Tanz, Gefühle, Musikwissenschaft), wiewohl dem Komponisten, der solcherlei verursacht, oftmals nicht bewusst ist,
wieweit er Teil dessen ist, was er da lostritt.
Dieser Komponist ist traditionell und von
vornherein abhängig von einer Technik, die
er zu bedienen anweist, die er jedoch selber
nicht beherrscht: der des Instrumentenbaus.
Doch unterliegt auch dieser den Normen
derselben Technik, die auch der Komponist
beherrscht. Zumindest war das so seit dem
Beginn der europäischen Kunstmusik vor etwa einem Jahrtausend.
Das Verhältnis von Komponist und
Technik hat sich in jüngerer Zeit grundlegend geändert; seine gesellschaftlichen Implikationen jedoch nicht im Geringsten. Was in
die historische Entwicklung der Musik einging, war schon auf Musik zugeschnittene
Technik, wohingegen die Technologie der
jüngsten Zeit gewissermaßen von außen an
sie herangetreten ist. Wo einst die Technik
dem folgte, was gewissermaßen über die
avanciertesten Kompositionen hinausschoss,
erfindet heutige Technologie zahllose Verlockungen, denen (auch) der Komponist hinterherläuft, sich darin in nichts vom allgemeinen gesellschaftlichen Trend unterscheidend.
Das Heil rast der Heilsbotschaft ewig voraus,
wie der Igel dem Hasen. Seinen Grund mag
das in der naiven positivistischen Wissenschaftsgläubigkeit mancher junger Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt
haben, doch darf man die damals neuen
musikalischen Vorstellungen von Klangkompositon nicht unterschätzen. Das Problem ist
nur, dass diese nicht ihre eigene Technologie
hervorgebracht haben, sondern dass diese
eine eigene Dynamik neben – oder: über –
den musikalischen Problemstellungen entwickelt hat.
Schon in den Kinderjahren der elektrischen Muse ergab sich aus diesem Zwiespalt
eine Arbeitsteilung wie sie Don Quixote und
Sancho Pansa nicht besser sich hätten ausdenken können. Wo der Komponist – beflügelt von hehren Ideen – im Studio verzweifelte, nutzte der Techniker, der sich in allen
Knöpfen und Schiebern brillant auskannte,
die frei gekommenen Stunden, um selber zu
komponieren. So hat sich im neuen Genre ein
gigantischer Berg von – oftmals brillant realisierten – Stücken angesammelt, die in Konzerten, Sendungen oder Festivals einen wahrhaften Feldzug gegen ästhetisch interessante
Kompositionen antraten. Substanziell hat
sich daran mit dem Einzug digitaler Techniken nichts geändert. Im Gegenteil: Der Vorsprung verlagerte sich in die Richtung derjenigen, die sich – was ja mit musikalischem
Denken nichts zu tun hat – zu Architekten
von Programmen, Soft- oder Hardware spezialisiert haben. Dass diese Konfigurationen
in Hinsicht auf musikalische Produktion ent-
wickelt wurden, steht außer Zweifel. Doch
ist gerade dies einer der Gründe dafür, dass
der Komponist zu einer doppelten Abhängigkeit von ihnen gehalten ist. Es ist nicht
nur die Abhängigkeit von einer Logistik, die
keinerlei musikalische Implikationen enthält,
sondern es geht auch um die Zuspitzung dessen, was sich durch die gesamte Geschichte
der musikalischen Komposition seit mehr als
50 Jahren hindurchzieht: das Auseinanderklaffen kompositorischer Arbeit und materialorganisatorischer Anstrengungen. Je avancierter die Technik, umso mehr ist der Komponist dazu gezwungen, sich diesen organisatorischen Techniken zu widmen. Sofern er
überhaupt eins hat, hat jedoch auch der
Komponist nur ein Gehirn. In dem Maße, in
dem dieses durch technisch-organisatorische
Probleme absorbiert wird, wird der Raum
für die Entwicklung der eigentlichen kompositorischen Arbeit immer geringer. Und aus
dem Fenster, in die Welt hinein, schaut ohnehin keiner mehr.
Der zunehmende Konformismus der Resultate, der immer krassere Widerspruch
zwischen technischer Eleganz und absolutem
Mangel an kompositorischem Vorstellungsvermögen, zeugen von einer Tendenz, die –
wie Pierre Bourdieu es für neue Kunst insgesamt analysierte – auch das Feld der elektrischen Muse soweit einengt, bis seine Urheber
ihr ausschließliches Publikum werden. Kein
Mensch außer ihnen selbst ist interessiert an
– wenn auch perfekten – akustischen Demonstrationen, die vielleicht den neuesten
Stand von Technologie unter Beweis stellen,
nicht jedoch irgend einen Stand musikalischen Denkens, – und die oftmals wie ihre eigenen Lehrbücher oder Gebrauchsanweisungen klingen. Wo die Vernarrtheit in technische Aspekte der elektrischen Musik dahin
führt, mathematische oder naturwissenschaftliche Modelle naiv 1:1 auf Musik zu
übertragen – selbst dafür haben die Amerikaner einen neuen Begriff gefunden, das schauderhafte Wort «sonification» – wird die musikalische Regression erschreckend evident.
Als das vor etwa 20 Jahren mit dem Fetisch
der «Fractals» einsetzte, tanzten plötzlich
leere Quinten und Oktaven in die elektrische
Musik hinein, die wie avanciertes Gregorianisch zu klingen begann. Hochgestochener
Formelkram als Deckmantel ästhetischer Regression …
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Es geht nicht im Geringsten darum, die
Technik zu dämonisieren, sie – wie Heidegger – zu einem «Gestell» zu erklären, oder –
wie Deleuze – zu einem «organlosen Körper», die uns schicksalhaft umfassen. Solcherlei kindische Metaphern tragen zur Lösung der wirklichen Probleme nicht das Geringste bei. Deren Kern liegt, wie Pierre
Schaeffer schon vor etwa 40 Jahren feststellte,
in einem Widerspruch, den es mehr denn je
zu meistern gilt: Er wurzelt in jenem neuen
«wissenschaftlichen» Paradigma, welches die
Musik seit einem halben Jahrhundert besetzt.
Schaeffer hat die beiden Seiten dieses Widerspruchs in den Figuren des «Akustikers» (des
Wissenschaftlers) und des «Musikers» (des
Künstlers) personifiziert, die, wenn sie beide
denselben Klang hören, dies auf vollkommen
unterschiedliche Weise tun. Wo der Akustiker ihn ‹reduktionistisch› hört und zwar in
Hinsicht auf dessen Quantifizierung, hört
der Musiker ihn ‹morphologisch› in Hinsicht
auf seine musikalische Relevanz. Der Widerspruch wird zur Kluft, wenn der Wissenschaftler eine Armada technischer Funde und
Geräte in Richtung des Komponisten
schiebt, die dieser nur allzu leichtfertig für
die Sache selbst hält. Er sieht dabei weder die
Nivellierungstendenzen, die sich unmittelbar
in den Stücken niederschlagen, noch deren
Ursache: Alles, was er verwendet, hat seine
eigene, vorgegebene Struktur, aus der sich
nur befreien kann, wer sie zuvor gründlich
durchschaut hat. So einfach ist das nicht,
denn diese Struktur ist selbst nur Teil einer
viel umfassenderen gesellschaftlichen Wirklichkeit, die weit über musikalische Angelegenheiten hinausgreift und von der man
wahrhaftig nicht mehr behaupten kann, sie
stünde uns gegenüber: Wir leben mittendrin.
Es mutet an, als lebten wir im Würgegriff
von Technokraten, die unsere Welt zur
Stromlinienform verengen und von Intellektuellen, die sie zerreden.
Gesellschaftliche – also auch technische –
Strukturen implizieren Handlungsformen,
und diese wiederum bestimmen das Resultat
der Handlungsabläufe, das Produkt. Auch
das Ästhetische. So mündete etwa die Struktur der mittelalterlichen «Modalität» in zahlreiche fromme Traktate, …
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in Heft 4/2005
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